Janko, der Junge aus Mexiko - Ruth Rewald - E-Book

Janko, der Junge aus Mexiko E-Book

Ruth Rewald

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Beschreibung

Eine deutsche Kleinstadt am Anfang der dreißger Jahre des letzten Jahrhunderts. Ein Neuer kommt in die Schulklasse:Janko. Der der kommt aus Mexiko, ist Waise und von einer Verwandtschaft, die ihn nicht mag, ausgerissen und abenteuerlich über New York in die deutsche Kleinstadt gelangt. Hier ist er fremd und wird von seinen neuen Mitschülern als der »Indianer« verspottet. Allmählich entdecken diese aber, dass er viel zu bieten hat. So wird er zu ihrem Freund. Dann aber braut sich Unheil zusammen. In Mexiko und den USA streitet man sich aus politischen Gründen um den staatenlosen Jungen. Und in Deutschland? Da soll er auf einmal nicht mehr bleiben dürfen. Janko erträgt seine Lage nicht - und verschwindet, um selbst zu entscheiden, wo sein Zuhause ist. Ruth Rewald war eine deutsch-jüdische Schriftstellerin, die vor 1933 sehr erfolgreich war und R noch 1923 begeistert mit Erich Kästner verglichen wurde. Aber 1933 war das überholt. Die Nazis waren an der Macht, und die Autorin musste flüchteten..In Frankreich erschien 1934 ihr Roman Janko, der Junge aus Mexiko. Ruth Rewald und ihre siebenjährige Tochter wurden 1942 im Konzentrationslager Auschwitz von den Nazis ermordet.

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Seitenzahl: 137

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Ruth Rewald

Janko, der Junge aus Mexiko

Impressum

 

 

 

 

 

 

Janko, der Junge aus Mexiko

 

 

 

 

 

 

Ruth Rewald

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: Neuer Deutscher Verlag im vss-verlag

Jahr: 2022

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Chris Schilling

Covergestaltung: Hermann Schladt

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

Der Neue

 

Nach den Ferien kam ein Neuer in die Klasse, ein großer, kräftiger Junge mit wettergebräuntem Gesicht. Aus schwarzen offenen Augen beobachtete er neugierig die Jungens. Er kannte niemanden von ihnen, und niemand kümmerte sich um den Jungen mit den wilden schwarzen Haaren, der hinten im Klassenzimmer stand und wartete. Er trug ein weißes Hemd, eine schwarze Samthose und seltsame, hellgelbe Sandalen. Strümpfe schienen überflüssiger Luxus.

Als der Lehrer Brakenburg eintrat, blieb der Neue hinten an der Wand stehen. Die Jungen vor ihm setzten sich.

»Du, da hinten«, fragte Brakenburg, »warum setzt du dich nicht?«

Die einundzwanzig Jungen der vierten Klasse drehten sich erstaunt um. Da stand dieser unbekannte Junge, lehnte sich lässig an die Wand und antwortete auf die Frage, ohne seine Haltung zu verändern:

»Ich bin heute zum ersten Mal hier in der Schule.«

Seine Worte klangen sicher und laut durch das Zimmer. Er hatte eine tiefe Stimme, aber die Aussprache der Worte war fremdländisch. Sie klang hart, das >R< rollte er mit der Zunge, und das >S< zischte er wie im Englischen. Die Sprache schien ihm noch Schwierigkeiten zu machen. Die Blicke der Jungen auf den Bänken blieben ununterbrochen auf ihn gerichtet. Dieser Neue mit seiner südländischen Hautfarbe und seiner gebrochenen Aussprache des Deutschen stand mit einer seltsamen Ruhe da. Es schien ihm nichts auszumachen, in eine neue Umgebung zu kommen und von einundzwanzig Augenpaaren angestarrt zu werden. Die Sicherheit, mit der er die Worte setzte und dabei ruhig stehen blieb, etwas breitbeinig und immer noch angelehnt, ließ ihn noch fremder und abenteuerlicher erscheinen.

»So, du bist also nagelneu bei uns«, sagte Brakenburg und griff nach dem Klassenbuch, »setz dich hinten auf die leere Bank. Wir müssen erst mal Bekanntschaft schließen. Wie heißt du?«

Brakenburg hatte das Klassenbuch geöffnet, um über den Neuen die notwendigen Eintragungen zu machen.

»Ich heiße Janko Dubirof.«

Brakenburg trug den Namen ein und fragte weiter:

»Wie heißt dein Vater?«

»Dubirof.«

»Vorname?«

»Den Vornamen weiß ich nicht.«

»Aber das ist doch unmöglich, du kennst doch den Vornamen deines Vaters.«

»Ich habe meinen Vater nie gesehen.«

Brakenburg blickte längere Zeit auf den Neuen. Dann fragte er:

»Und deine Mutter?«

»Sie ist gestorben, als ich drei Jahre alt war.«

»Welche Staatsangehörigkeit hast du denn?«

»Keine.«

»Keine? Aber das ist ja heller Unsinn.« Brakenburg wur­de ungeduldig.

»Aus welchem Lande kommst du denn?«

»Aus Mexiko.«

»Dann bist du doch Mexikaner.«

»Nein, das bin ich nicht, ich bin in den Vereinigten Staaten geboren. Aber als ich noch ganz klein war, bin ich schon nach Mexiko gekommen.«

»Ja«, meinte Brakenburg, »bist du denn staatenlos, oder willst du dich zu Hause nach der Staatsangehörigkeit erkundigen?«

»Staatenlos.«

Das war ein unbekanntes Wort für die Jungen. Sie sahen erst Brakenburg an, und dann wandten sie sich nach dem neuen Klassengenossen um, der aus einer anderen Welt zu ihnen kam. Ein Junge ohne Vater, ohne Mutter, ohne Vaterland ... Brakenburg fragte weiter: »Warum bist du nicht Amerikaner, wenn du in den Vereinigten Staaten geboren bist?«

»Ja«, sagte der Neue ruhig, »das ist eine lange Geschichte.«

»Das macht nichts, erzähle nur ruhig.«

»Als meine Mutter gestorben war, kam ich zu entfernten Verwandten auf eine Hazienda. Das ist eine Farm, die Weißen gehört und wo viele Indianer arbeiten. Dort blieb ich sechs Jahre ...«

Janko hatte zögernd gesprochen, dann aber setzte er schnell fort, und man merkte ihm an, dass er nicht zu viel sagen wollte: »Dann kam ich nach Mexiko-City, von da nach New York und von dort hierher.«

Brakenburg guckte eine Weile in das Klassenbuch. Es war ganz ruhig in der Klasse. Dann unterbrach er die Stille und sagte:

»Das ist natürlich keine Erklärung dafür, dass du staatenlos bist. Aber das wirst du selbst ja wohl kaum wissen. Wann bist du geboren, und wo wohnst du hier?«

Der Neue hatte gerade gesagt, dass er am 7. Dezember 1918 geboren sei und bei Frau Sauerland wohne, da klopfte es. Der Schuldiener Braun steckte seinen Kopf durch den Türspalt und bat Brakenburg, sofort zum Direktor zu kommen. Der Schuldiener zwinkerte den Jungen vergnügt zu, und die Tür schloss sich wieder. Brakenburg stand auf und ging schneidig und elastisch in einem eng sitzenden, tadellos gebügelten Anzug aus der Klasse. Es war feierlich still im Schulgebäude während der Unterrichtszeit. Seine Schritte hallten durch die Gänge.

 

*

Direktor Linde saß hinter seinem Schreibtisch, als Brakenburg eintrat. Er stand langsam auf und schüttelte ihm die Hand:

»Verzeihen Sie, lieber Herr Kollege, dass ich Sie mitten im Unterricht stören muss, aber ich habe vergessen. Sie über den neuen Schüler Ihrer Klasse zu informieren. Vor allem möchte ich nicht, dass Sie ihn vor den anderen Jungen nach seinen privaten Verhältnissen befragen. Ich habe alle Einzelheiten seines Lebenslaufs und seiner Herkunft in einem besonderen Aktenstück niedergelegt.«

»Ja«, meinte Brakenburg, »dieser Junge macht in der Tat einen merkwürdigen Eindruck auf mich.«

»Sehen Sie, lieber Kollege«, fuhr Direktor Linde fort, »ursprünglich wollte ich ein so fremdes Element gar nicht in meine Schule aufnehmen. Der Junge ist in Mexiko aufgewachsen unter Verhältnissen, die von den unseren himmelweit verschieden sind. Man weiß nie, was für Ideen ein solcher Junge mitbringt und wie weit er sich an unsere Lebensanschauungen anpassen kann. Er scheint aber auch sonst ein außergewöhnliches Kind zu sein. Mit zehn Jahren ist er seinen Verwandten davongelaufen, hat sich herumgetrieben, sich durch eigene Arbeit durchgebracht, und so ist er nach New York gekommen. Dort wurde er von einer Wohlfahrtsbehörde aufgegriffen. Es lässt sich nicht einmal feststellen, welche Staatsbürgerschaft der Junge hat. Ich habe mir wirklich lange überlegt, ob ich ein Kind ohne geregelte Beziehungen zu seinem Vaterland oder seiner Familie mit unseren Schülern zusammenbrin­gen kann.«

Direktor Linde dachte nach. Er strich sich mit der Hand über die Stirn. Dann fuhr er fort:

»Nun, es ging nicht anders. Sie kennen Frau Sauerland, die Gattin meines verstorbenen Vorgängers. Sie arbeitete damals im Wohlfahrtsamt in New York und hat den Jungen mit herübergebracht. Ich konnte es ihr nicht abschlagen, ihren Pflegesohn in meine Schule aufzunehmen. Aber ich habe mir vorbehalten, den Jungen jederzeit wieder zu entfernen, wenn ich sehe, dass sein Einfluss auf unsere Schüler ungünstig ist. Er ist also nur probeweise aufgenommen. Deshalb bitte ich Sie, den Schüler besonders im Auge zu behalten.«

»Selbstverständlich«, sagte Brakenburg, »ich werde auch mit meinen Kollegen darüber sprechen.«

Als Brakenburg aus dem Direktorszimmer kam, wunderte er sich über die Ruhe. Sonst, wenn er die Klasse allein ließ, erhob sich sofort ein wüstes Geschrei und Geschwätz. Aber heute schien die Anwesenheit dieses Neuen mit seinem abenteuerlichen Schicksal die Gemüter zu beschäftugen, die Jungen ebenso sehr wie die Lehrer.

 

*

Als Brakenburg die Klasse verlassen hatte, blieb alles still. Die Jungen sahen sich an, und alle dachten nur an den Neuen, von dem sie eine Welt des Geheimnisvollen, eine Welt unbekannter Erfahrungen trennte. Ein Fremder war unter ihnen.

Der dicke Gustav Klemm auf der dritten Bank vorn flüsterte mit seinem Freund Bruno:

»Das ist aber mal eine Attraktion, ein Indianer. Er sieht aber auch wie ein Vagabund aus«, meinte Gustav, allgemein Fässchen genannt, weil er dauernd futterte und dementsprechend dick war.

»Eine Haut hat er wie unser Fußball«, äußerte Bruno, ein aufgeschossener, schlaksiger Junge mit Sommersprossen im Gesicht, »da können wir hundert Stunden in der Sonne braten, so braun werden wir nie.«

Beide drehten sich wieder um und staunten den Neuen aus Mexiko an. Fässchen kaute dabei an seinem Käsebrot. Mit vollem Munde fragte er:

»Ob die Rothäute auch heute noch die Weißen skalpieren? Ich muss den Indianer mal danach fragen. Er sieht aus wie ein Cowboy.«

»Wieso«, fragte Bruno und drehte sich wieder um, »ich habe noch nie einen gesehen.«

»Du musst dir mal den Douglas Fairbanks im Kino ansehen. Er galoppiert auf wilden Pferden ohne Zaumzeug und Sattel und fängt mit dem Lasso Rinder oder Büffel ein. Das ist viel aufregender als deine ewigen Detektivfilme.«

Damit waren die beiden zum Alltag zurückgekehrt, zu den Sachen, die sie gewöhnlich beschäftigten.

Hinter ihnen saß Fritz Klatte. Weil er der kleinste von ihnen war, wurde er zuerst das Küken genannt. Daraus wurde dann Klassenküken, und das wurde wieder zu Klattki abgekürzt. Er sah sehr blass aus. Er dachte auch an den Jungen aus Mexiko. Zu seinem Nebenmann Werner Buchholz sagte er:

»Der muss uns aber erzählen, wie die Indianer wirklich sind; ich glaube nicht, dass sie jetzt noch bunte Federn tragen und in Zelten wohnen. Das ist jetzt sicher ganz anders. Früher hatten sie ein großes Reich, das von Sonnenkönigen beherrscht wurde. Die wohnten in riesigen Palästen. Ich habe das in einem Buche über Ferdinand Cortez gelesen, der Mexiko für die Spanier erobert hat. Sie hatten einen eigenen Kalender, und vom Sternenhimmel wussten sie mehr, als die Weißen damals wussten. Aber sie konnten sich gegen die Weißen nicht halten. Ich glaube, die Indianer sind sehr stolz. Sie haben sich nicht zu Sklaven machen lassen wie die Neger.«

Walter Buchholz schien sich dafür weniger zu interessieren. Er war ein großer Naturwissenschaftler. Zu Hause hatte er ein großes Aquarium, in dem es von bunten Fischen schillerte. Er zog Schildkröten und Blindschleichen auf und ging, wenn sie einen Schulausflug machten, immer danach auf die Jagd, allerhand Tiere zu fangen. Er antwortete Klattki:

»Ich muss den Indianer mal nach den Kakteen in Mexiko fragen. Die sollen so groß werden wie hier die Bäume. Und dann gibt es da viele Vulkane und dauernd Erdbeben.«

Aber Klattki dachte immer noch an die Indianer und wie es sein musste, als Junge unter ihnen zu leben. Dann sagte er:

»Denk mal, der Janko ist staatenlos, ich habe gar nicht gewusst, dass es so etwas gibt.«

»Ja«, meinte Walter Buchholz, »ich habe auch gedacht, jeder gehört in ein bestimmtes Land.«

»Und er hat nicht einmal ein Land, das sein Zuhause ist.«

Beide dachten darüber schweigend nach. Das war ein Problem, das sie nicht lösen konnten ...

Als Brakenburg wieder in die Klasse kam, sagte er nur kurz:

»Dann wollen wir die unbekannte Größe Janko Dubirof in Frieden lassen.«

Und die vierte Klasse bekam eine saftige Mathematikaufgabe.

 

Janko lernt Larsen kennen

 

Als es zur Pause läutete, drehten sich die Jungen noch einmal nach dem Neuen um. Er war ihnen zu fremd. Sie ließen ihn allein sitzen und gingen mit ihren gewohnten Freunden auf den Hof. Unten gab es keinen anderen Gesprächsgegenstand als Janko. Sie beneideten ihn. Er hatte schon so viel gesehen. Die primitivsten Menschen in Mexiko und die fortgeschrittenste Technik in New York mit seinen Wolkenkratzern und dem riesigen Verkehr. Er schien weder da noch dort zu Hause zu sein. Wohin gehörte er eigentlich? In das exotische Land, das durch das Erscheinen dieses Jungen plötzlich ganz nahe gerückt war, von dem sie alle schon so viel gelesen hatten? Was sie jetzt miterlebten, gab ihnen dasselbe aufregende, prickelnde Gefühl wie eine Lederstrumpfgeschichte. Aber im Grunde waren sie froh, dass sie hier in der Stadt, in dem Lande ein Zuhause hatten und mittags zu ihren Eltern zum Essen gehen konnten. Der heimatlose Janko Dubirof hatte das nicht.

Beim Heraufgehen sagte Fässchen:

»Ich werde schon herauskriegen, was mit dem Indianer los ist, verlasst euch auf mich.«

»Sein gerolltes >R< ist furchtbar komisch«, rief Bruno, »wir wollen jetzt bei Larsen alle das >R< rollen wie er.«

»Habt ihr alle gehört, wir wollen jetzt in der Geschichtsstunde alle das >R< rollen wie der Indianer.«

»Grrroßartig, Rrrrollsrrroyce, Rrrrhabarber, Rrroland der Rrriese von Brrremen.« Das ganze Treppenhaus war von dem gerollten >R< der vierten Klasse erfüllt.

Als Larsen in die Klasse trat, brüllten ihm zwanzig Jungen entgegen: »Morrrgen, Herrr Larrrsen, Morrrgen, Herr Larrrsen.« Das nahm kein Ende. Larsen lächelte zuerst. Dann winkte er mit der Hand.

»Schon gut, ich bin ja nicht taub!« Aber seine Stimme setzte sich nicht durch, es sah aus, als flüstere er. Er klopfte mit dem Lineal auf das Katheder. Es half alles nichts. Die Jungen hatten frische Kräfte aus den Ferien mitgebracht. Auch Larsen war mit neuem Mut zum Unterricht gekommen. Er wollte heute erzählen von den mythischen, sagenhaften Begebenheiten des grauen Altertums, die Jungen allmählich in die historisch greifbaren Geschehnisse im alten Ägypten, in Babylon und Assur einführen und sie begeistern für die Geschichte Griechenlands, seine Freiheitskämpfe und seine Kultur und ihnen dabei die Zusammenhänge zeigen, die zwischen der politischen Macht großer Staatsmänner und Parteien und dem Wohl und Wehe des Volkes bestehen. Da stand er vor einer Horde johlender Jungen und wartete, bis es ihnen zu langweilig wurde und das Geschrei endlich abnahm. Schließlich trat einigermaßen Ruhe ein.

Janko betrachtete den Lehrer Larsen aufmerksam. Er hatte es in seinem Leben gelernt, alles, besonders aber die Menschen, mit denen er zu tun bekam, ernsthaft zu beobachten und sich seine Gedanken über sie zu machen. Dieser Larsen erschien ihm merkwürdig. Der hellgraue Anzug hing etwas schlaff an ihm herab. Die mageren Hände fuhren nervös von der Hosentasche zur Rocktasche, von der Uhrkette zur Krawatte. Das Gesicht war scharf geschnitten, er hatte eine hohe Stirn, einen weichen Mund und sehr große, hellblaue Augen.

»Also, wir haben Zuwachs bekommen«, sagte Larsen zu Janko, »wie heißt du?« Da schrie wieder alles durcheinander:

»Unser Indianer, unser Mexikaner...«

»Das kann er mir selber sagen«, meinte Larsen, und als Janko, ärgerlich über das Geschrei der Jungen und die vielen Fragen, kurz und unfreundlich seinen Namen genannt hatte, fühlte Larsen, dass der Junge nicht weiter ausgefragt werden wollte. Er meinte nur:

»Hoffentlich lebst du dich hier bei uns im Norden bald ein, und wir wollen versuchen, dir dabei zu helfen. Nicht wahr, Jungens?« Und dann ging er zu seinem Thema über:

»Jetzt will ich von einer Zeit sprechen, in der es so etwas wie Geschichte noch nicht gegeben hat. Die Menschen standen damals auf einer so niedrigen Kulturstufe, dass sie sich kaum von den Tieren unterschieden. Eine Zeit, die sich über Hunderttausende von Jahren erstreckt und viele Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung liegt.«

Und die Jungen, die sich vorgenommen hatten, den Lehrer Larsen jede Minute durch ihre rollenden Zwischenbemerkungen zu stören, vergaßen ihre >R's< und wurden immer mehr gepackt und verwundert. Sie hörten von Höhlenmenschen, deren Schädelknochen man nach 100 000 Jahren gefunden hatte und die mehr denen von Affen als von Menschen glichen. Diese Menschen kannten noch nicht einmal die Kunst, ein Feuer anzumachen, und erst als sie dies erlernt hatten, zeigte sich ein allmählicher Fortschritt ihrer Technik. Larsen gab Abbildungen von kindlichen Zeichnungen, die man in Höhlen gefunden hatte, herum. Verwundert betrachteten die Jungen diese ungelenken Tier- und Menschenbildnisse, ähnlich denen kleiner Kinder. Als Larsen ihnen am Schluss der Stunde vorschlug, zusammen in ein Museum zu gehen, wo sie viele Funde aus diesen Urzeiten, Schmuck, Gefäße und Werkzeuge sehen konnten, stimmten sie begeistert zu.

Die dritte Stunde, Englisch, gab Herr Petermann. Er wurde Teddy genannt, weil er einmal mehrere Monate in England gelebt hatte und sich seitdem für einen vollendeten >Englishman< hielt. Er legte den größten Wert auf eine gute Aussprache und ließ immer wieder das >th<, >thi-etsch<, üben. Er war englisch gekleidet und erklärte immer wieder, dass die gute Haltung die Hauptsache bei allen Dingen sei. Deshalb ließ er die Jungen immer gerade sitzen, war streng zu ihnen, und es regnete Strafen.

Als Petermann feststellen musste, dass Janko fließend englisch sprach, schien ihm das gar nicht sehr angenehm zu sein. Er unterbrach ihn sofort:

»Ihr dürft euch die Aussprache dieses Jungen nicht zum Muster nehmen. Er spricht das schlechte, breite Amerikanisch.« Janko wurde in dieser Stunde nicht mehr gefragt, und auch später kam er bei Teddy nie mehr dran. Unter allen schriftlichen Arbeiten stand eine gute Zensur, aber sonst existierte dieser Schüler nicht mehr für Teddy.

Mittags, als die Schüler in dichten Haufen die Treppen hinunter tobten, hielt es Fässchen an der Zeit herauszubekommen, was mit dem Indianer eigentlich los ist. Eigentlich wohnte er am anderen Ende der Stadt als Janko. Er ging eine Zeit lang neben ihm her, und schließlich sagte er:

»Ich glaube, wir haben den gleichen Weg.«

»Dann gehen wir zusammen.«

Fässchen überlegte krampfhaft, wie er den Indianer zum Reden bringen sollte. Schließlich platzte er heraus:

»Woher kannst du denn so gut Englisch?«

»Ich war ein halbes Jahr in New York.«