Vier spanische Jungen - Ruth Rewald - E-Book

Vier spanische Jungen E-Book

Ruth Rewald

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Beschreibung

Spanischer Bürgerkrieg 16. Juni 1937. Vor den Linien des Tschapajew-Bataillons der XI. Internationalen Brigade in der südspanischen Sierra Morena tauchen vier Jungen auf. Sie sind aus dem von Franco-Truppen besetzten Städtchen Penarroya fortgelaufen und melden sich als jüngste "Überläufer" bei den Internationalen Brigaden. Auf dieser wahren Begebenheit fußt die Handlung des vorliegenden Buches. Das einzige deutschsprachige Jugendbuch aus dem Spanienkrieg wurde 1938 von Ruth Rewald verfasst. Das von der Gestapo beschlagnahmte Manuskript konnte gerettet und in einem Archiv aufgestöbert werden. Fast 50 Jahre nach seiner Entstehung wird das Buch erstmals veröffentlicht. "Das ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter, aufregender Fund." (Prof. Dr. Frithjof Trapp, Leiter der Hamburger Arbeitsstelle für Deutsche Exilliteratur) Ruth Rewald war eine deutsch-jüdische Schriftstellerin, die vor 1933 sehr erfolgreich war und R noch 1923 begeistert mit Erich Kästner verglichen wurde. Aber 1933 war das überholt. Die Nazis waren an der Macht, und die Autorin musste flüchteten..In Frankreich erschien 1934 ihr Roman Janko, der Junge aus Mexiko. Ruth Rewald und ihre siebenjährige Tochter wurden 1942 im Konzentrationslager Auschwitz von den Nazis ermordet.

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ruth Rewald

Vier spanische Jungen

Spanischer Bürgerkrieg 16. Juni 1937. Vor den Linien des Tschapajew-Bataillons der XI. Internationalen Brigade in der südspanischen Sierra Morena tauchen vier Jungen auf. Sie sind aus dem von Franco-Truppen besetzten Städtchen Penarroya fortgelaufen und melden sich als jüngste "Überläufer" bei den Internationalen Brigaden. Auf dieser wahren Begebenheit fußt die Handlung des vorliegenden Buches. Das einzige deutschsprachige Jugendbuch aus dem Spanienkrieg wurde 1938 von Ruth Rewald verfasst. Das von der Gestapo beschlagnahmte Manuskript konnte gerettet und in einem Archiv aufgestöbert werden. Fast 50 Jahre nach seiner Entstehung wird das Buch erstmals veröffentlicht. "Das ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter, aufregender Fund." (Prof. Dr. Frithjof Trapp, Leiter der Hamburger Arbeitsstelle für Deutsche Exilliteratur) Ruth Rewald war eine deutsch-jüdische Schriftstellerin, die vor 1933 sehr erfolgreich war und R noch 1923 begeistert mit Erich Kästner verglichen wurde. Aber 1933 war

Impressum

 

 

 

 

 

 

 

Ruth Rewald

Vier spanische Jungen

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: Neuer Deutscher Verlag im vss-verlag

Jahr: 2022

 

 

 

Lektorat: Peter Altvater

Covergestaltung: Hermann Schladt

 

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

1

 

Nur selten kämpfte sich der Mond durch die Wolken. Der Wind sauste eisig über die Berge. Hie und da blinkten zwischen den Wolkenfetzen Sterne hervor. Zwölf Mann tappten mühsam die steile Höhe empor. In dem schwachen Lichtschimmer vereinzelter Sterne türmte sich die Bergwand wie ein endloses Ungeheuer vor ihnen auf und verschmolz mit dem nächtlichen Himmel. Die Kälte packte die Männer, als wären sie nackt. Der schwere Soldatenmantel, der cape-artige Umhang, der den Spaniern zugleich als Decke dient, die wollene Mütze und der Schal konnten gegen diesen Feind nicht schützen. Vorsichtig setzten die Soldaten ihre Füße. Mit jedem Schritt konnten sie in einen Felsriss stürzen oder auf dem glatt gefrorenen Schneehang abrutschen. Am Tage brannte die Sonne glühend auf die Schneeberge, aber nachts gefror der geschmolzene Schnee und wurde spiegelglatt.

„Achtung, halt“, rief im Flüsterton Fidel, der Anfüh­rer. Die anderen fassten unwillkürlich an ihre Gewehre. Keiner rührte sich. Gespanntes Lauschen. Was war dort oben, vielleicht 50 Meter vor ihnen? Der Feind? Faschistische Vorposten? Etwas bewegte sich.

„Zurückbleiben!“ befahl Fidel. Er selbst warf sich in den harten Schnee und schob sich geräuschlos höher und höher. Das Etwas wuchs und wurde zu einer kompakten Masse. Fidel stellte fest, dass es sich gar nicht bewegte. Es war ein steinerner Schuppen. Fidel schlich sich heran, das Gewehr gegen die Öffnung gerichtet und schaute hindurch. Stockfinster.

„Jemand hier?“

Niemand rührte sich. Er leuchtete eine halbe Sekunde mit der Taschenlampe hinein.

„Vorwärts! Leerer Schuppen!“ rief er hinab. Fidel ging hinein. Er stieß an einen harten Gegenstand, tastete ihn ab. Eine, zwei, ... sechs Holzkisten mit Ledergriffen an beiden Seiten. Munition. Die anderen krochen einer nach dem anderen hinein.

„Jungens, faschistische Munition!“

„Die werden wohl nicht weit von hier stecken.“

„Sanchez, du stopfst gerade mit deinem lieben Bauch die Tür aus. Bleib stehen, dann kann man wenigstens mal eine Zigarette rauchen.“ Der hagere, vor Kälte zitternde Molero gab seinem Freund einen Schlag auf die Schulter und schob den kleinen dicken Sanchez so vor die Öffnung, dass er sie ausfüllte.

„Für dich lass ich mir nicht den Rücken abfrieren, aber Fidel hat's verdient.“

Einer entzündete eine Taschenlampe. Alle drehten sich Zigaretten, entzündeten sie an dem langen Docht ihrer Feuerzeuge. Fidel saß zusammengesunken auf einer Munitionskiste. Er hatte nicht mehr die Kraft, seine Zigarette zu rauchen. Er war so erschöpft, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie er sich noch einmal von diesem Platz erheben würde. Er machte diese mühselige Patrouille durch die Sierra Nevada zum zweiten Mal.

Sein Bataillon, das hinter den Bergen, die sie jetzt überwunden hatten, im Tal lag, musste wissen, welche Gebirgsdörfer vor ihnen die Faschisten noch besetzt hielten. Um das herauszubekommen, war vor drei Tagen die erste Patrouille aufgebrochen. Nachdem sie einen ganzen Tag und eine Nacht geklettert, durch Schnee gewatet, Hänge herabgerutscht waren, ohne von dem Feind eine Spur zu entdecken, erblickten sie morgens auf der ihnen gegenüberliegenden Höhe ein Dorf. Der Anführer, der Kommandant Santiago, sah seine Leute erschöpft und hungrig und gestattete ihnen eine kurze Rast. Er selbst als alter Bergsteiger wollte inzwischen den bequemsten Weg auskundschaften. Er stieg bis zur Kuppe und verschwand hinter den Bergrücken. Die Soldaten aßen ihr Brot und Büchsenfleisch und rauchten Zigaretten. Allmählich fühlten sie sich munterer. Sie sprachen von den letzten Kämpfen und ihren eigenen Erlebnissen dabei. Santiago kehrte noch nicht zurück. Die Sonne stieg höher. Es wurde heiß, der Schnee glitzerte. Die Berge ragten scharf in den blauen Himmel. Zwei Mann wurden ausgeschickt, um dem Anführer entgegen zu gehen. Nach Stunden kamen sie ohne ihn wieder. Sie waren bis zu dem Dorf gelangt, ohne Santiago zu begegnen. Die Soldaten warteten bis zum Abend und stiegen ohne ihren Kommandanten ins Tal zurück. Das Bataillon sandte in der nächsten Frühe eine neue Patrouille aus, um Santiago zu suchen oder wenigstens zu erfahren, ob er in die Hand der Faschisten gefallen wäre. Als einer von der alten Mannschaft verlangt wurde, um der neuen den Weg zu weisen, erbot sich Fidel. Er hatte sich kaum mehr als zwei Stunden ausgeruht.

„Trink das, Fidel, dann geht's wieder.“ Molero reichte ihm seine Feldflasche. Es waren nur ein paar Schluck Wein, aber sie wirkten Wunder. Fidel sprang auf. „Los, wir müssen weiter. Und die Munition wird mitgenommen. Je zwei Mann eine Kiste.“ Aber seine beiden Heimatgefährten Sanchez und Molero - sie stammten alle drei aus dem Bergwerkstädtchen Penarroya ließen es nicht zu, dass er auch noch Munition schleppte. Abwechselnd trugen sie seine Kiste auf ihren Schultern.

Die zwölf Mann stapften wieder über das Eis. Der Mond leuchtete jetzt schwach durch einen milchigen Nebelschleier hindurch. Leichte Schatten kletterten mit den Männern den Berg empor. Sanchez, der die Munition trug und dazu seinen runden Bauch, konnte hie und da ein leises Ächzen nicht unterdrücken. Die anderen fuhren zusammen.

„Sei still!“

Sanchez glitt aus. Die Kiste rollte hinab und der Mann hinterher. Fluchend mussten zwei zurück. Einer kam mit der Kiste wieder, der andere mit dem hinkenden Sachez. Es ging weiter. Da, ein langgezogener Schrei. Ein feindliches Signal? Waren sie umzingelt? Alles warf sich auf den Boden. Noch einmal derselbe Schrei.

„Unsinn, ein Nachtvogel.“ Fidel sprang wieder auf. So ging es lange Zeit vorwärts bis auf die Kuppe. Oben schauten sie in einen Bergsattel.

„Seht ihr dort? Ein Licht.“ Ein schwacher rötlicher Schimmer. Ein Lagerfeuer der Faschisten? Ein Dorf? Noch vorsichtiger bewegten sie sich vorwärts. Ein zweites, schwächeres Licht ein wenig über dem ersten.

„Ein bewohntes Haus.“

„Vielleicht von den Faschisten besetzt.“

Das Haus lag einsam, sonst nirgends ein Lichtschimmer. Das Dorf war wohl jenseits des gegenüberliegenden Bergrückens.

„Jungens“, sagte Fidel, „das Haus müssen wir haben. Liegt hier eine faschistische Vorhut, so müssen wir sie überwältigen und von ihr herausbekommen, wo die Faschisten liegen. Wenn nicht, werden uns die Bewohner Auskunft geben.“

Fast völlig geräuschlos glitten sie die Schneewand hinab. Als sie in der Mulde ankamen, lag das Haus un­gefähr 150 Meter vor ihnen.

„Bis auf 20 Meter heran.“

„Halt!“

„Vier Mann suchen die Umgebung ab.“

Vier Gestalten huschten gebückt im Umkreis des Hauses umher. Dort ein Graben bis fast zum Rand mit Schnee gefüllt. Dahinter ein paar Steineichen. Die Äste knackten unter der weißen Last. Nirgends ein menschliches Wesen. Die vier Späher kehrten zurück.

„Ihr vier stellt euch jeder an eine Ecke fünf Meter vom Haus entfernt. Ihr zwei richtet eure Gewehre auf das untere erleuchtete Fenster links. Sanchez, du auf das obere. Ihr drei zielt auf die breite Holztür. Molero, du folgst mir, fünf Meter Abstand.“

Fidel schlich sich an das Haus heran. Er hörte Männerstimmen. Er duckte sich unter das Fenster, versuchte das Gespräch zu verstehen. Unmöglich. Man sprach seltsam leise da drin. Er trat noch einmal zurück und schaute sich um. Einer der vier Posten stolperte, fiel, sein Gewehr schlug gegen den hartgefrorenen Schnee. Fidel unterdrückte einen Fluch, er lauschte, aber alles blieb ruhig. Er ging zur Tür, Molero folgte ihm in der befohlenen Entfernung. Mit einem plötzlichen Ruck drückte Fidel den eisernen Hebel an der Tür nieder. Sie war verschlossen. Er schlug derb mit der Faust gegen das Holz. Die Leute drin verstummten. Nichts rührte sich.

„Aufmachen, oder ich schieße!“

Drinnen ein ängstliches Hin- und Herrennen. Fidel schlug mit dem Kolben gegen die Tür. Endlich hörte er zaghafte Schritte. Ein Schlüssel quietschte im Schloss. Die Tür wurde vorsichtig geöffnet und durch den Spalt lugte eine alte Frau mit einem schwarzen Kopftuch. Als sie Fidel mit dem Gewehr im Anschlag sah, schrak sie zusammen und wich zurück. Die kleine Öllampe flakkerte in ihrer zitternden runzligen Hand. Fidel stieß die Tür auf, fasste das bebende Mütterchen um die Schultern und zog es vor das Haus.

„Hiergeblieben, Mutter. Dir passiert nichts, wenn du mir antwortest. Wenn du lügst, dann . . .“ Er zeigte drohend auf sein Gewehr. „Sind Soldaten im Haus?“

Die alte Frau schaute ihn entsetzt aus ihren rotumränderten tränenden Augen an und versuchte zu erfassen: Faschisten oder Republikaner?

„Antworte!“

Sie schüttelte den Kopf. „Halt sie fest, Molero!“

Fidel ging ins Haus. Links war die Küche. Er drang mit vorgehaltenem Gewehr ein.

„Keiner rührt sich!“ Ein alter Bauer und ein zweiter, etwas jüngerer, sprangen mit verbissener Miene von ihren Stühlen am Herdfeuer auf. In dem Feldbett neben dem Herd fuhren zwei Kinder hoch, ein Junge und ein Mädchen, und schauten mit angsterfüllten großen Augen auf den drohenden Soldaten.

In dem Raum über der Küche war das Licht ausge­löscht worden. Der Mann, der dort in dem Bett hunde­müde und erschöpft einschlafen wollte, hörte plötzlich ein seltsames Geräusch und darauf ein paar leise Tritte vor seinem Fenster. Es war doch niemand aus dem Haus gegangen. Der Bauer hatte vorhin die Tür abgeschlossen. Man hätte das Öffnen hören müssen. Der Mann sprang aus dem Bett und sprang ans Fenster. Er sah eine Gestalt im Mondlicht vorbeihuschen. In kurzem Abstand eine zweite. Er lief leise zum Tisch, tastete nach seinem Revolver. Er duckte sich unterhalb der Fensteröffnung, soweit, dass er noch hinabschauen konnte, und hielt den Revolverlauf nach unten gerichtet.

Verfluchte Schweinerei. Hatte ihn die Bande verra­ten. Und wie hatte sie es verstanden, aufrichtige antifaschistische Gesinnung zu heucheln. Schon lange in der Landarbeitergewerkschaft, der jüngere. Der Bursche hatte ihn umarmt, fast geweint vor Freude. - Aus. - Hier kam er nicht mehr lebend heraus. Und nicht im offenen Kampf fallen. Nein, verraten, abgeknallt.

Was war das? Die Stimme kannte er. Unmöglich, er musste sich täuschen. Aber war das nicht Fidel? Schon wollte er aufspringen und rufen. Doch der Mann bezwang sich und lauschte angespannt. Da hörte er: „Halt sie fest, Molero!“ Der Mann sprang hoch, warf sich über die Fensterbrüstung und rief in die Nacht: „Salud, Jungens, wisst ihr, wen ihr hier gefangen setzen wollt?“

„Santiago, Santiago, Salud! Du lebst! Hurra!“

„Ist ja schön von euch, dass ihr mich hier aufgestöbert habt, Kameraden. Aber geklappt hat das nicht so ganz. Eine Umzingelung muss man so vornehmen, dass auch nicht ein Schatten eines Geräusches zu hören ist. Also das nächste Mal besser, verstanden?“

Unten in der Küche hörten Fidel und die Männer, die er gerade gepackt hielt, überrascht die freudige Be­grüßung. Fidel ließ die Arme los und schaute die beiden fragend an. Die finsteren Mienen der Bauern entspannten sich. „Wir sind Antifaschisten“, riefen sie, und mit einem herzlichen Lachen schüttelten sie dem Soldaten, der ihnen eben noch mit Erschießen gedroht hatte, die Hände. Fidel rief den Rest der Mannschaft heran. Er führte selbst das immer noch zitternde Mütterchen herein und streichelte ihre verwelkten, verarbeiteten Hände.

Zwei Posten blieben draußen und hielten Wache. Die anderen kamen in die warme Küche, sie rieben sich die Hände, sie stampften mit den Füßen den Boden und drängten sich dicht um das Feuer. Der alte Bauer holte einen riesigen Tonkrug voll Wein. Das Mütterchen hatte sich inzwischen erholt und schleppte Brot und Zwiebeln herbei. Santiago setzte sich unter stürmischer Begrüßung dazu. Er erzählte von seiner Irrfahrt durch die Schneeberge. Er hatte seine Leute nicht gefunden. In zwei Dörfern hatte er faschistische Vorposten gesehen. Verhungert und erschöpft war er hier gelandet und voller Freude aufgenommen worden. Der alte Bauer berichtete alles, was er über die Stärke, die Bewaffnung und die Aufstellung der Faschisten wusste. Man trank Wein, und Wärme strömte allmählich in die erfrorenen Glieder. Später wurden die Wachtposten abgelöst und auch sie wärmten sich langsam auf.

Fidel trat an das Bett der Kinder. Sie waren wieder beruhigt eingeschlafen. Er strich sachte über ihre schwarzen Haare. Sanchez und Molero kamen dazu. Die drei Männer standen stumm über das fremde Kinderbett gebeugt. Sie dachten alle das Gleiche, an ihre Kinder, die sie in Penarroya zurücklassen mussten, als sie vor den Faschisten flohen. Schliefen sie auch so friedlich? Hatten sie zu essen? Dachten sie noch an ihre Väter, die sie seit vielen Monaten nicht mehr gesehen hatten?

Ein paar Tage später wurden die beiden faschistischen Dörfer im Sturm genommen.

 

2. Acht Monate zuvor.

 

Die Kirchturmuhr schlug viermal ungeduldig bim-bim- bim-bim und zweimal tief und behaglich baum-baum. Der Glockenklang verhallte langsam in der Mittagsstille. Auf die Plaza von Penarroya brannte die Junisonne unerbittlich herab, dass man meinte, die hohen alten Häuser mit den verschnörkelten Gittern vor den Fenstern müssten wie erhitztes Blei dahinschmelzen. Das kleine Städtchen suchte sich vor der Sonne zu verstek-ken. Die Holzläden vor den Fenstern und Läden waren geschlossen. Die Stühle und Tische der Taverna standen zusammengeklappt an die Hauswand gelehnt. Erst am Abend werden sie wieder die halbe Plaza einnehmen. Die Männer und jungen Leute werden Domino spielen, die Arme auf den Tisch gestützt, die Beine weit von sich gestreckt, damit der Schuhputzer sie eine halbe Stunde lang spiegelblank putzen kann. Jetzt saßen nur einige Unermüdliche in der dunklen, verhältnismäßig kühlen Schenke. Sie lasen halb träumend die Zeitung, verscheuchten die unzähligen frechen Fliegen, schlürften aus hohen Gläsern schwarzen Kaffee und bliesen den Zigarettenrauch träge vor sich hin. Der dicke Wirt, Antonio Cabanillas, strich seine fetten roten Backen, zog mit einem Kämmchen vorsichtig die geöl­ten Wellen seines dichten schwarzen Haares nach und stöhnte:

„Die Hitze! Es passiert auch gar nichts mehr in Penarroya.“

Der Brauereibesitzer und Bürgermeister Lopez Delgado blinzelte ihn listig mit seinen Schweinsäuglein an:

„Du kannst dich doch nicht beklagen. Bei dir trifft sich doch alles. Du hörst alles. Du weißt sozusagen schon einen Tag vorher, wenn am nächsten Tag beim Müller Molina eine Feuersbrunst das ganze Getreide vernichtet.“

Der Wirt sagte nichts, antwortete nur mit einem bedeutsamen Blick und mit einem ganz kleinen verschmitzten Lächeln in den Mundwinkeln. Der hagere Schwätzer, der Friseur Martinez, klopfte Antonio derb auf die Schultern und lachte schallend: „Da hat er dir also erzählt, der Dummkopf, der das Feuer angezettelt hat, wann er‘s tun wird?“

„Unsinn, Lopez macht nur schlechte Witze.“

Der Friseur vertiefte sich wieder in seine Zeitung. Einen Augenblick später sagte er: „Morgen soll doch in Barcelona diese Olympiade, wie nennen sie die, Arbeiterolympiade, stattfinden. Was da jetzt nicht alles möglich ist bei dieser neuen Regierung. Da gibt sie noch Gelder, damit die Arbeiter sich in Barcelona herumtreiben, statt zu arbeiten.“ Und er versank von neuem in seine Lektüre.

Der Wirt ging hinter die Theke und winkte dem Brauer Lopez. Laut sagte er: „Kennst du diese Marke von echtem französischem Champagner?“ Er holte von dem höchsten Ständer eine bauchige Sektflasche herunter. Lopez, noch weit umfangreicher als Antonio, schob umständlich den Korbstuhl zurück und tappte langsam zum Schanktisch. Der Friseur las gerade den Bericht vom letzten Stierkampf in Sevilla und war nicht zu sprechen. Antonio hielt Lopez die Flasche entgegen und flüsterte mit seinen dicken Lippen: „Wird‘s klappen?“

Lopez Delgado kniff seine Äuglein zu, schnalzte mit der Zunge, legte den Kopf genießerisch nach hinten und sagte: „Ich denke, heute Abend . ..“, er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort, „. .. werden wir den Champagner trinken.“

Über die Plaza ertönte heller Kindergesang. Die drei Männer schauten durch die Wirtshaustür auf den in der Sonne flimmernden Platz. Drüben an den kleinen weißen Häusern der ausländischen Ingenieure von der Kohlen-Grube Alina leuchteten die roten Geranien. Noch war kein menschliches Wesen zu erblicken. Ein großer Hund mit langen Ohren, zottigem Fell und drollig kurzem Schwänzchen wälzte sich, alle Viere von sich gestreckt, auf den Gemüseabfällen der verlassenen Marktstände.

„Dieser Schlingel Jeronimo vom Schlächter Perez“, rief der Friseur und deutete auf den kleineren der beiden Buben, die auf ihren Maultieren langsam über den Platz trotteten. „Gestern um diese Zeit, als ich hier meinen Kaffee trank, hat sich der Bengel in meinen Laden geschlichen. Gerade als ich zurückkam, flitzte er heraus. Ich denke, was ist das? Seit wann gibt es Chinesen bei uns in Penarroya und dazu noch in meinem Geschäft? Ich sehe ihm verwundert nach. Da ist er schon davon. Und was soll ich euch sagen. Ich finde auf dem Toilettentisch eine Unordnung wie bei einer Primaballerina. Puder, Schminke, schwarze Tusche, alles hat sich der Bengel herausgeholt und sich wie ein Chinese angemalt. Aber das muss ich ihm lassen. Er hat‘s so gut gemacht, dass selbst ich darauf hereingefallen bin.“

„Wenn‘s nur das wäre“, sagte Delgado giftig. „Aber diese Jungensbande stört regelmäßig unsere Versammlungen. Sie schreien, pfeifen auf Schlüsseln, trampeln und lachen. Ich habe schon oft genug verlangt, man sollte sie ein paar Tage einsperren. Aber diese Dummköpfe von Polizisten erklären mir, es sind doch Kinder, sie machen Unsinn. Ja, sie lachen selbst über diese von ihren Vätern abgerichteten Störenfriede.“

„Ja, ja, am schlimmsten ist dieser Alvarez, der Sohn von dem berüchtigten Fidel Mogales.“ Der Wirt Antonio meinte den dunkleren und größeren der beiden Mulireiter, die eben um die Ecke verschwanden.

„Überhaupt, die Polizei hier bei uns“, murmelte Delgado. „Man muss sie von Grund auf reinigen. Sie hat zuviel Sympathien für den Pöbel. Na ja . ..“, und auch er versank wieder hinter seiner Zeitung.

 

3.

 

Die Mulis trotteten gemächlich durch die Hauptstraße, die jetzt still und verlassen war. Die Hufschläge hallten weithin. Die Jungen hatten in den großen roten Tonkrügen, die in strohgeflochtenen Ständern zu beiden Seiten der Mulis herabhingen, Wasser vom großen Brunnen geholt. Jeronimo ließ den Hals seines Tieres los, presste die Beine fester an den Leib und rollte vor­sichtig Tabak in ein feines weißes Blättchen.

„Zum Teufel mit der Hitze“, schimpfte er, „das Pa­pier klebt nur so an den Fingern. Man kann nicht mal ‘ne Zigarette drehen.“

„Wo hast du denn schon wieder Tabak her?“

„Ganz einfach. Vater ist nach dem Essen auf seinem Stuhl eingeschlafen. Als Mutter aus der Küche ging, holte ich mir den Tabak aus Vaters Rocktasche. Hab schon Übung. Hast du ein Streichholz?“

„Nein, auch nicht.“

Ein paar Meter entfernt sah Jeronimo den Bäcker­meister vor der Ladentür sitzen. Er rauchte und beobachtete schläfrig einen Mückenschwarm, der in der Luft tanzte und flimmerte. Jeronimo sprang von seinem Muli und lief auf ihn zu.

„Bitte wollen Sie mir Feuer geben, Signor Gonzales.“

Der Bäcker reichte dem Jungen gleichmütig seine Zigarette, ohne den Blick zu wenden. Die brennende Zigarette pfiffig in den linken Mundwinkel geklemmt, kletterte Jeronimo wieder auf das geduldige Tier. Er war ein kleiner schlanker Kerl von knapp 12 Jahren. Die blonden Haare hingen ihm in die hohe Stirn. Seine goldbraunen Augen leuchteten vergnügt. Beim Gehen pendelte er mit Armen und Beinen, so dass die langen braunen Reithosen, die bis zu den Fußspitzen reichten, immer um ihn herum schlenkerten. Die Hemdsärmel trug er frech aufgekrempelt. Alvarez, ein Jahr älter, war derber und breiter. Wie Borsten starrten seine schwarzen Haare in die Höhe. Fuhr man aber mit der Hand über seinen Kopf, fühlten sie sich wie ein weicher Seidenteppich an. Seine Lippen waren trotzig aufgeworfen, und die Hände leicht geballt. Der Junge sah aus, als habe er sich in seinem Leben schon kräftig zur Wehr setzen müssen.

„Du, Rubio [Blonder]“, sagte er, während sie in ihre schmale Gasse einbogen, „Vater hat erzählt, in der Grube sprechen sie jetzt von dem neuen ausländischen Chefingenieur. Er ist empört, dass es hier bei uns kein fließendes Wasser gibt.“

Rubio streifte bedächtig mit dem Finger die Asche von seiner Zigarette und gab sie Alvarez. „Fließendes Wasser? Was, er ist böse, dass das ,Agua Negra‘ [kleiner Fluß bei Penarroya, eigentlich schwarzes Wasser, schwarz vom Kohlenstaub] ausgetrocknet ist? Was die nicht alles für Wünsche haben. Am liebsten möchten sie noch selbst Regen machen.“

„Ach, du Dummkopf. Fließendes Wasser ist ganz etwas anderes. Das gibt‘s in Madrid, in Cordoba und sonst auf der ganzen Welt. Vater hat‘s in Frankreich gesehen. Da gibt‘s in den Häusern Rohre. Du drehst auf, das Wasser läuft heraus. Du drehst zu, da läuft‘s wieder weg. Da brauchen wir nicht mehr das Wasser vom Brunnen zu holen. Du hast‘s bei dir in der Küche.“

„Und sowas will sich der Ingenieur einrichten?“

„Sie sind schon richtig dabei. Auf dem Berg hinter der Alina-Grube bauen sie Gräben.“

„Los, Alvarez, das müssen wir uns ansehen.“

„Gut, aber vorher muss ich noch Feuer machen und Garbanzos [die murmelgroßen spanischen Erbsen] kochen.“

Sie waren vor dem kleinen Fleischerladen von Jeronimos Vater angelangt, da sahen sie ihre zwei Freunde die Straße herabkommen. Jeder schleppte einen prallen Sack. Der schmale, zarte Jose trug ihn auf dem Rücken und ging gebeugt unter der Last. Der stämmige Rodriguez, der älteste von allen, hatte ihn über die rechte Schulter gelegt und winkte vergnügt den beiden Reitern zu. Sie hatten, wie jeden Tag, Kohlenrückstände auf der Alina-Grube gehackt und gesammelt. Wie bei Negerkindern leuchtete das Weiße der Augen aus den vom Kohlenstaub geschwärzten Gesichtern. Die Schweißtropfen hatten sich hellbraune Kanäle gebahnt.

„Ihr kommt heute aber spät“, sagte Alvarez.

„Ja, der Kleine“, Rodriguez zeigt auf Jose, der sich zu lächeln bemühte, „hat bei der Hitze schlappgemacht. Da hab ich für zwei schuften müssen.“

„Ihr kommt mich nachher abholen“, sagte Jeronimo. „Wir gehen uns ansehen, wie man fließendes Wasser baut.“

„Was baut?“ Alvarez erklärte noch einmal das Funktionieren einer modernen Kanalisationsanlage. Rodriguez und Jose waren einverstanden. Zum Schlächter Perez kamen sie besonders gern, da fiel manchmal ein Wurstende oder ein Stück Speck für sie ab.

Die Jungen brachten jeder ihre Vorräte nach Haus. Sie wohnten alle in der Calle Andalusia.

Jeronimo führte sein Muli durchs Haustor an dem schmalen dunklen Laden vorbei in einen Raum, der zugleich als Vorratskammer und als Stall diente. Die drei Ziegen, die sonst vor der Wand an Pfählen angebunden standen, waren mit der großen Herde auf der Weide vor der Stadt. Im Stroh raschelten die Hühner. Von dem Holzbalken hingen Büschel von weißem Knoblauch und lange Ketten von roten Pfefferwürsten herab. In der Mitte stand ein großer runder trichterförmig ausgehöhlter Stein. Darüber war ein anderer kegelförmiger an zwei Pfählen und einer Querstange befestigt, der in die Öffnung hineinpasste. Es war eine Olivenölmühle. Vater Perez hatte früher Olivenöl hergestellt und verkauft. Aber als die Ausländer eine große Ölfabrik mit modernen Maschinen betrieben, konnte er mit den neuen billigeren Preisen nicht Schritt halten und eröffnete seinen Metzgerladen. Jeronimo schleppte die beiden Tonkrüge voll Wasser in die Küche.

„Wo bleibst du nur so lang, Rubio. Man kann dich zu nichts gebrauchen.“ Concha Perez war eine kleine blonde Frau mit hellen Augen. Sie kam aus dem Norden, aus der Provinz Asturien, und wurde von all den braunen und schwarzäugigen Andalusiern nur „Ru- bia“, die Blonde, genannt. Und dieser Name ging auch auf ihren Sohn über.