Je tiefer der Wald - Daniel Kohlhaas - E-Book

Je tiefer der Wald E-Book

Daniel Kohlhaas

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Beschreibung

Bei einem Spaziergang im oberbergischen Wald verschwindet die dreijährige Leni spurlos. Zurück bleiben ihre Eltern Julia und Sebastian, die sich durch einen Alltag voller Schuldzuweisungen, Trauer und Hoffnung winden. Die eine Frage beherrscht fortan ihr Leben: Wo ist unsere Tochter? Zehn Jahre später taucht aus dem Nichts in einer Nacht ein junges Mädchen auf. Das einzige Wort, das es spricht, ist sein eigener Name: Leni. Dr. Vinzenz Reker, ein erfahrener Kinder- und Jugendpsychologe, betreut das Mädchen. Nach kurzer Zeit vertraut es ihm eine ungeheure Wahrheit an und alle beginnen sich zu fragen: Wer ist diese Leni? "Je tiefer der Wald" ist ein Psychothriller mit Figuren zum Anfassen, die die Leser an die Hand nehmen und am Ende nicht mehr loslassen.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für meinen Kollegen Daniel Juhr

Die Geschehnisse in diesem Roman bleiben reine Fiktion. Sämtliche Handlungen sind frei erfunden.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025dotbooks GmbH, Max-Joseph-Straße 7, 80333 Mü[email protected]/dotbooks/CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von Adobe StockSatz: CW Niemeyer Buchverlage GmbHEPub Produktion durch CW Niemeyer BuchverlageeISBN 978-3-8271-8745-1

Daniel KohlhaasJe tiefer der WaldPsychothriller

Prolog

Patsch. Patsch. Patsch. Der schlammige Waldboden schluckt ihre Schritte und sie versinkt mit den Füßen im Matsch. Irgendwo da hinten hat sie einen ihrer Schuhe verloren. Er steckt tief in einem Morast aus aufgeweichten Blättern, Nadeln und totem Holz. Doch sie rennt. Rennt weiter. Immer weiter. Schritt für Schritt für Schritt.

Die Schwärze um sie herum wird dichter, während sie tief hängenden Ästen ausweicht, die nach ihrer Haut schnappen, sie kratzen und aufscheuern. Doch sie weiß, dass sie nicht anhalten darf. Nein. Denn die Angst sitzt ihr im Nacken, treibt sie an. Weiter. Weiter. Immer weiter.

Es fällt ihr immer schwerer, den Boden zu erkennen, den das einsetzende Dunkel zunehmend verwischt. Sie lauscht in das hinein, was um sie herum passiert, auf Stimmen, auf Rufe, auf ein Röcheln, direkt hinter ihr. Aber da ist nichts. Nur sie und die Bäume. Der Wald.

Plötzlich stolpert sie, fängt sich gerade noch, hüpft auf einem Bein, streift den zweiten Schuh ab, der sie mehr stört, als dass er ihr hilft, und läuft auf Socken weiter durch das Gehölz. Sie wird sie ruinieren. Aber sich darum Gedanken zu machen, dafür hat sie jetzt keine Zeit.

Tränen rinnen ihr über das Gesicht, trotzig zieht sie den Rotz nach oben und wehrt mit erhobenen Armen ein paar Zweige ab. Sie weiß nicht, wie lange sie schon läuft, wie weit sie gekommen ist. Ihre Lunge brennt, ihre Beine gehorchen ihr nicht mehr wirklich und deshalb bleibt sie kurz stehen. Stemmt die Arme in die Seiten, stützt sich auf den Knien ab und hört ihr eigenes Keuchen. Viel zu laut. Sie japst nach Luft, richtet den Blick nach oben und reckt die Arme hoch.

Dann ein Knacken. Sie fährt herum, hektisch blickt sie sich um, doch da sind nur die Bäume. Nur der Wald. Die Stämme knirschen und ächzen wie alte Knochen. Das Mädchen atmet tief ein. Nur einen Augenblick will sie ausruhen. Sie taumelt, lehnt sich an, rutscht an einem Stamm hinab und lässt sich auf dem Boden nieder. Um sie herum wird es still. Ihr Puls beruhigt sich, trotzdem spürt sie ihr Herz, das in ihrem Brustkorb pocht. Sie schließt die Augen, fühlt die runzelige Rinde im Rücken, greift mit den Händen in den Waldboden. In der Ferne verschallt der Ruf eines Käuzchens.

Doch dann beginnt das Rascheln, das Fiepen, das Keckern. Sie springt auf, stößt sich den Kopf, hastet wieder los. Sie hätte nicht anhalten sollen, nicht ausruhen, weil sie dann gefunden wird, und das darf auf keinen Fall passieren. Also rennt sie, so schnell sie nur kann. Weiter, weiter, tiefer in den Wald, zwischen die Äste und Stämme. Bis die Schwärze sie gänzlich verschluckt.

Was ist das? Ist das ein Licht? Sind das Stimmen? Sie dreht sich um, doch das Licht ist überall, rechts von ihr, links von ihr. Sie nimmt eine Kurve, an einem umgefallenen Baum vorbei, dessen Wurzeln wie Klauen in die Nacht ragen, blickt noch einmal über ihre Schulter hinweg, als sie den Schlag spürt. Schmerzhaft. Tief unten an ihrem Schienbein, knapp über dem Fuß. Sie versucht, sich abzufangen, knickt mit dem anderen Fuß um, verzieht vor Schmerz das Gesicht, schreit auf, streckt die Arme nach vorne aus, doch es ist zu spät.

Aus dem Nichts schält sich ein Schatten, der wie ein Ungetüm vor ihr lauert. Sie will warnen, doch platzen nur unförmige Laute aus ihr heraus.

Mit voller Wucht prallt sie gegen einen Körper, der mit ihr gemeinsam nach hinten kippt. Gleichzeitig ist da Schmerz. Überall. Am Kopf, an den Armen, an den Beinen und vor allem auf der Haut, wie sie aufscheuert und aufplatzt, als sie über den Teer schlittert. Sie hört einen Schrei, der nicht ihrer ist, Stimmen, und dann ist alles still. Sie will die Augen öffnen, wissen, was passiert ist, doch das Dunkel hält sie auf. Langsam öffnet sie die Lippen, wispert leise: „Leni.“ Dann ist alles schwarz.

Kapitel 1

Julias Körper zuckt und bebt, mit den Beinen stößt sie die Bettdecke nach unten, ihre Augen schnellen unter den Lidern hin und her. Sie stöhnt auf.

„Schschsch ... alles ist gut, ich bin bei dir.“ Die tiefe Stimme führt sie langsam heraus aus dem Dickicht des Traumes, der sie nur widerwillig freizugeben scheint. Auf ihrer Schulter spürt sie das Gewicht seiner Hand. „Es ist nur ein Traum, Julia. Nur ein Traum.“

Nur ein Traum. Das Gewächshaus. So nennt sie den Raum, wenn sie ihm davon erzählt. Das Gewächshaus mit den schwarzen Scheiben. Wenn es beginnt, sie darin steht, sich umsieht, dann weiß sie genau, was jetzt passieren wird. Doch ganz egal, wie sehr sie sich schon darauf vorbereitet hat, wie klar ihr ist, dass das Ganze nur ein Produkt ihrer Fantasie ist, kann sie die Angst, die sie in diesem Moment erfasst, nicht kontrollieren. Vor allem nicht dann, wenn sie auftauchen. Die Gesichter.

Aus dem Nichts kleben sie an den Scheiben, wirken, als leuchteten sie von innen. Und aus den Augen. Die Augen sind das Schlimmste. Sie starren sie an, fixieren sie dort, wo sie steht. Schutzlos und allein. Und wenn sie dann an sich hinabschaut, ist sie nackt. Und so sehr sie auch versucht, ihre Blöße zu bedecken, den einen Arm um ihre Brust schlingt und mit der anderen Hand ihre Scham bedeckt, scheinen diese Augen durch sie hindurchzusehen. In diesem Moment wissen diese Gesichter alles, kennen jeden Gedanken, jedes Gefühl. Dann versucht sie zu schreien. Will sie vertreiben. Doch aus ihrem Mund, den sie so weit aufreißt, wie sie nur kann, entweicht nur ein erstickender Laut.

Jakob hat ihr erzählt, dass sich ihr ganzer Körper im Schlaf verkrampfe und dann anfange zu zittern und zu zucken und sie Laute von sich gebe, die ihm eine Gänsehaut bescheren würden.

„Hey, guten Morgen. Willkommen zurück“, haucht er jetzt und küsst sie auf die Schulter, als sie ihre Augen endlich öffnet. Sie braucht einen Moment, um sich an das Licht zu gewöhnen, das durch den Flur in das Schlafzimmer fließt.

„Wie ... wie spät ist es?“, fragt sie und sehnt sich nach einem Schluck Wasser.

„Wenn du mich fragst, ist es noch mitten in der Nacht“, lacht Jakob. „Gerade mal sechs Uhr. Du hast wieder ... du hast mich aufgeweckt.“

„Ich habe Durst.“

„Soll ich dir was bringen?“

„Nein, nein ... danke“, murmelt sie und legt ihm zur Entschuldigung ihre Hand auf die seine, weil sie sich selbst über ihren rauen Ton wundert. Sie schält sich aus dem Bett, greift nach ihrem Morgenmantel, der an einem stummen Diener in der Ecke des Schlafzimmers steht, verlässt es und zieht die Tür hinter sich zu.

Der schmale Flur, der in den offen gestalteten Wohnbereich führt, wirkt kalt und Julia schlingt den Mantel enger um ihren schmalen Körper. Sie mag kein künstliches Licht, daher führt ihr Weg sie in die Küche bis zur Dunstabzugshaube, an der sie die zwei kleinen, runden Lampen anschaltet. Sie stützt sich einen Moment an der Arbeitsplatte ab, schluckt, greift dann nach einer angebrochenen Flasche Wasser, die darauf steht, öffnet sie und trinkt. Immer wieder flackern in ihrem Kopf Bilder der Nacht auf. Die Gesichter. Die leuchtenden Augen.

Julia verlässt die Küche und betritt das nebenan liegende Wohnzimmer. Das Panoramafenster, das am Tag einen Blick über den angrenzenden Wald bietet, reflektiert ihr Spiegelbild. Sie sieht sich an. Das blonde Haar fällt ihr strähnig ins blasse Gesicht. Erneut trinkt sie aus der Flasche, versucht dabei, das zu erkennen, was hinter ihrem Bild liegt.

Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie sich niemals vorstellen können, hier zu wohnen. Hier am Wald. Das Rauschen des Windes, das Zwitschern der Vögel, jedwedes Geräusch wirkte wie ein Trigger, brachte Erinnerungen zurück, kratzte den Schorf der Wunden auf, die zumindest halbwegs verheilt schienen. Doch Jakob hatte gemeint, dass sie genau das brauche, um sich eben diesen Erinnerungen endgültig zu stellen. Um nachhaltig heilen zu können, wie er es nannte.

Jetzt steht sie hier, sieht, wie das erste Licht des Tages hinter den Stämmen lauert, und spürt, wie ihr die Tränen kommen. Denn nichts ist verheilt, nur notdürftig verbunden. Sie erinnert sich daran, als sie selbst Kind war. An den Tag im Garten, als sie auf dem wackeligen, alten Küchenstuhl stand und Beeren pflückte. Die Sonne knallte vom makellos blauen Himmel herab, als sie sich nach einer der Beeren reckte und der Stuhl kippte. Wie sie auf dem Gras aufkam und sofort spürte, dass da etwas nicht stimmte. Ihr Unterarm pochte und schmerzte. Wie sie zu ihrer Mutter rannte und tapfer versuchte, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.

Was ist denn jetzt schon wieder passiert? Zeig her! Das wird wieder ...

Sie stellt die Flasche auf dem Tischchen neben sich ab, streicht sich mit Zeige- und Mittelfinger gedankenverloren über die Stelle ihres rechten Unterarms, der damals gebrochen war. Das wird wieder ...

Tage hatte es gedauert, bis ihre Mutter endlich mit ihr zum Kinderarzt gegangen war, der sich den Arm anschaute und lachend verkündete, dass er gebrochen sei. Das wird wieder ...

Noch immer kann sie die Stelle ertasten. Eine kaum wahrnehmbare Wölbung. Eine Erinnerung. Der Knochen ist verheilt, doch die Stelle geblieben. Eine frühe Episode im Buch ihres Lebens, stellvertretend für so vieles, das noch kaputtgehen würde.

Mit dem Handrücken wischt sie sich die Tränen von der Wange und kehrt zurück in ihr Schlafzimmer. Jakob liegt auf seiner Seite des Bettes. Er ist wieder eingeschlafen und sie legt sich vorsichtig neben ihn, um ihn nicht aufzuwecken. Dann schließt sie die Augen. Versucht, an etwas anderes zu denken, nicht an den Wald, an gebrochene Knochen oder das Gewächshaus. Und in dem Moment, als der Schlaf seine Netze auswirft, zieht ihre Stirn Falten, weil sie meint, etwas gehört zu haben. Ein Rufen. Ein Rufen im Wald. Da hinten bei den Bäumen. Sie versucht, sich darauf zu konzentrieren, und sinkt tiefer und tiefer.

Kapitel 2

Zehn Jahre zuvor

Der Boden ist hart. Hart und kalt. Sie liegt einfach nur da, auf Erde, Laub und Nadeln. Sie will schreien. Um sich schlagen, aufwachen oder verschwinden. Versinken in der Erde. Wieso? Wieso? Wieso? Wieso hast du nicht aufgepasst?

Sie hält die Augen geschlossen. Als könne sie so die Wahrheit ausblenden, die, wenn sie die Augen öffnet, aus den Ästen, Kiefernzapfen und Rinden tropft. Tropf. Tropf. Tropf. Du hast sie verloren. Du hast nicht aufgepasst. Du bist verantwortlich. Du bist ihre Mutter!

Ihre Gedanken spielen verrückt. Sie will das nicht, will sich dieser Wahrheit nicht stellen. Welche Mutter verliert ihr Kind? Aus den Augen. Öffne deine Augen. Aus dem Sinn. Du musst jetzt an sie denken.

„Julia?“ Sie spürt seinen Schatten. Sebastian. „Schatz, los, komm, steh auf!“ Und sie weiß genau, wie er da jetzt steht, in seinem viel zu großen Pullover.

„Lass mich“, knurrt sie. „Ich will nicht.“ Jetzt klingt sie selbst wie ein Kind. Ein quengeliges Kind, das keine Lust hat, auf die Eltern zu hören, weil sie nerven. Tränen steigen ihr in die geschlossenen Lider, laufen über, rinnen über ihre Wangen, rot von der Kälte. „Das wollte ich nicht“, flüstert sie.

„Ich weiß“, antwortet Sebastian ruhig und streichelt ihre Hand. „Aber du musst jetzt aufstehen, du musst mir helfen, sie zu finden. Ich ... ich meine ... oh Mann, was für eine Scheiße, was für eine verdammte Scheiße!“

Julia umgreift seine Hand, zieht geräuschvoll die Nase hoch und öffnet die Augen. Die Helligkeit steht der Kälte in nichts nach. Sticht rücksichtslos zu. „Wir haben doch schon alles abgesucht, Sebastian! Diesen ganzen verdammten Scheißwald! Was willst du denn noch machen?“

Sebastian steht auf, fasst sich mit beiden Händen an den Kopf, fährt sich durch die Haare, presst die Lippen aufeinander. Dann schaut er sie an und nickt. „Wir rufen jetzt die Polizei.“

„Und was willst du denen sagen?“

„Das, was passiert ist! Was denn sonst? Julia, wir haben jetzt fast eine Stunde nach ihr gesucht. Sie ist weg. Verstehst du? Leni ist weg. Allein. Ganz alleine in diesem verdammten großen Wald und es dauert nicht mehr lange, dann ... dann ist es hier stockfinster und sie ...“

Julia erhebt sich, tritt an ihn heran, greift nach seinem Schal, den er locker um den Hals gebunden trägt. Sie schaut ihn an, sieht die Panik in seinen Augen. Erkennt sich darin. „Wir müssen jetzt Ruhe bewahren. Weit kann sie ja nicht sein. Vielleicht ... ja, du kennst doch Leni ... sie versteckt sich nur.“ Jetzt klingt sie wie ihre eigene Mutter. Und warum? Weil sie es ist, an die sie denken muss. An ihre Reaktion und an all die Fragen. Fragen, die so weh tun wie die Helligkeit und die Kälte.

„Verstecken? Ruhe bewahren? Sag mal, hörst du dir überhaupt selbst zu? Leni ist da draußen. Sie versteckt sich nicht hinter irgendeinem der verdammten Bäume und kichert, weil wir zu doof sind, sie zu finden! Nein, wir haben sie verloren. Irgendwo da!“ Er windet sich aus ihrem Griff und gestikuliert wild in Richtung der ersten Baumreihe.

Julia tritt einen Schritt zurück, senkt den Blick. Sebastian versteht sie auch jetzt nicht. Wie soll er? Niemand versteht sie.

„Wie kalt ist es? Sieben, vielleicht acht Grad? Wenn die Sonne untergeht, dann wird es hier nicht nur dunkel, sondern auch arschkalt. Wir brauchen jetzt Hilfe, Julia! Sofort!“ Er greift in seine Manteltasche und fischt sein Handy daraus hervor.

Julia greift nach seinem Arm, doch bevor sie ihn erwischt, zieht er ihn nach oben, schaut sie irritiert an und öffnet wortlos den Mund.

„Jetzt verstehe ich“, sagt er und nickt leicht. „Du ... ich meine ... all das, was du eben gesagt hast, all deine ...“

Und noch bevor er weitersprechen kann, schlägt sie zu. Fast ansatzlos trifft ihn ihre flache Hand im Gesicht. „Halt deinen Mund!“, zischt sie. „Das darfst du nicht einmal denken, ist das klar!“

Sebastian schluckt schwer, greift gedankenverloren nach seiner Wange, auf der sich rote Striemen abzeichnen. „Aber ...“

„Nichts aber!“ Julia stößt einen Seufzer aus. „Das hier hat nichts damit zu tun“, flüstert sie. „Und ich würde nie ... und das weißt du auch.“

„Aber warum soll ich dann nicht die Polizei rufen?“

„Weil, weil ... verdammt, Sebastian! Du weißt genau warum!“ Wieder Tränen. Verbittert verzieht sie den Mund, verschränkt ihre Arme vor dem Oberkörper und tritt nach einem Stein.

„Deine Mutter“, sagt er nüchtern. Von hinten tritt er an sie heran, schlingt die Arme um sie und in diesem Moment spürt Julia, wie sich ihr Körper verkrampft. „Es geht jetzt nicht um sie, Julia! Es geht um Leni. Um Leni und um uns! Wir müssen Leni finden! Hörst du? Wir müssen sie finden und deswegen rufe ich jetzt die Polizei.“

Unzählige Gedanken fluten in diesem Moment ihren Kopf, der sofort anfängt zu schmerzen. Welche Mutter verliert ihr Kind? Du.

Du bist ihre Mutter. Und du hast sie verloren.

Kapitel 3

Vinzenz lässt seine Schultern kreisen, hält inne, bewegt den Kopf nach links und rechts. Es knackt kurz. Er gähnt, streckt seine Arme nach oben. War er kurz eingeschlafen? Er erhebt sich langsam aus seinem Lieblingssessel, greift nach dem leeren Glas, das auf dem Nierentisch neben ihm steht, und macht sich auf den Weg in die Küche. Er dreht den Hahn auf, lässt das Standwasser ablaufen, hält prüfend den Zeigefinger unter den kälter werdenden Strahl, um dann das Glas volllaufen zu lassen. Die Leitungen sind alt. Alt wie das Haus.

Er trinkt einen kräftigen Schluck, wischt sich mit dem linken Handrücken über den Mund und blickt auf die Junghans Küchenuhr. Sie ist stehen geblieben. Wie passend, denkt er. Denn genau das denken die Menschen, die sein Haus betreten und vorher nicht wissen, wie er lebt. Dass inmitten dieser Mauern die Zeit stehen geblieben sei. Er wird sie später aufziehen müssen.

Vorher stellt er das Glas ab, geht zurück ins Wohnzimmer, kniet sich vor das Regal mit seinen Platten und greift zielsicher nach einer LP. Er hält das Cover zwischen seinen Fingern, nimmt es in beide Hände und hält es ein Stück weit von sich weg. Will es in Gänze sehen können, die in Nebel gehüllte sepiafarbene Berglandschaft im Hintergrund eines Sees. Ein Schwarm Vögel zieht durch den Dunst davon und unten links prangt der Name seines Lieblingskomponisten. Arvo Pärt.

Vorsichtig kippt er die LP aus der Hülle und legt sie auf den Plattenteller. Er weiß genau, welches Stück er jetzt braucht. Behutsam führt er den Arm des Plattenspielers an die passende Rille und setzt die Nadel auf. In den Lautsprechern knackt es leicht und nur einen kurzen Augenblick später setzt die Musik ein.

Feine Klaviernoten, drei aufsteigende Töne, innerhalb derer sich Vinzenz zurücklehnt, bis er flach auf dem Teppich liegt, kurz an die Decke des Wohnzimmers sieht und die Augen schließt. Die lang gezogenen Töne der Geige bringen ihn dazu, die Luft anzuhalten, dann langsam und tief einzuatmen.

Jetzt sieht er sie vor sich. Ihr Gesicht. Die schmale Nase, die hohen Wangenknochen und die blonden Haare. Wie sie verloren in dem Krankenhausbett liegt und mit ihren wachen Augen alles um sich herum wahrnimmt, ohne auch nur einen einzigen Ton von sich zu geben.

Medizinisch gebe es keinen Grund, warum sie nicht sprechen können sollte, haben ihm die Ärzte versichert. Nicht der heftige Aufprall in der Nähe der Bastei, keine neurologische oder organische Fehlfunktion. Nichts. Und somit bleibe nur ein Trauma.

Was hast du erlebt, Leni? Ist das überhaupt dein Name? Leni?

Alle Menschen, die eine geliebte Person vermissen, hoffen auf ein Wunder. Manche jahrelang, aber die Welt schenkt ihnen nicht gerade viele davon, denkt er. Er hat das Gerede gehört, das Getuschel und den Namen, der so vielen in diesem seltsamen Moment eingefallen ist. Natascha Kampusch. Die Jahre in den Händen ihres Entführers gelebt hatte, die ihm auf eine bizarre Art und Weise verfallen gewesen zu sein schien. Und sich dann in die Freiheit losgerissen hatte, als sich ihr die Chance bot. Ist es das? Bist du geflohen, Leni?

Vinzenz überstreckt den Hals, pustet seine Backen auf und stößt dann die Luft aus. Im Hintergrund kreisen Violine und Klavier um den Grundton a. Berühren sich zart. Deshalb hat er das Stück ausgesucht. Und wegen des Titels. Spiegel im Spiegel.

Als man ihm die Phantomzeichnung gezeigt hatte, verschwanden die letzten Zweifel. Dort, in diesem zu großen Krankenhausbett, liegt Leni. Leni Kämpf. Seit nahezu zehn Jahren vermisst. Zehn Jahre.

Als er von Simone Brandschröder kontaktiert worden war, die den Fall leitet, hatte er sich sofort auf den Weg in die Dresdner Innenstadt gemacht, um sich ein eigenes Bild von dem Mädchen machen zu können. Es kennenzulernen. Doch auch ihm ist es bisher nicht gelungen, zu ihr durchzudringen. Zu erfahren, wer sie ist, ob sie die ist, die auf der Zeichnung zu sehen ist. Woher sie kommt, was sie erlebt hat. Aber das wird ihm gelingen. Ganz sicher.

Vinzenz spürt, wie die Müdigkeit wiederholt Besitz von ihm ergreift, wie alles, was ihn beschäftigt, zusammenschrumpft, und er entspannt sich vollends. Er mag es, auf dem harten Boden einzuschlafen. Die knappen zehn Minuten, die das im Jahre 1978 komponierte Stück andauert, werden ausreichen, und so lässt er es zu. Und wenn er aufwacht, dann wird er Julia Kämpf anrufen und ihr sagen, dass es sein kann, dass mitten im Elbsandsteingebirge ihre seit zehn Jahren vermisste Tochter aufgetaucht ist. Zehn Jahre.

Kapitel 4

Als sich Jakob neben ihr aufrichtet, weiß sie sofort, dass es ein Fehler war, sich noch einmal hinzulegen. Ihr ganzer Körper gibt ihr zu verstehen, dass er nichts anderes will, als einfach nur liegen zu bleiben.

„Konntest du noch ein wenig Schlaf nachholen?“, fragt Jakob.

„Schön wäre es.“

Jakob schlägt die Decke zurück, schwingt seine Beine aus dem Bett und reckt seine Gliedmaßen. Julia lächelt. Sie mag den karamellfarbenen Teint seiner Haut, die dunklen Haare auf Armen und Beinen. Jakob greift nach einem Haargummi und bändigt seine dunkle Mähne.

„Was?“ Er schaut sie herausfordernd an.

„Nichts“, sagt sie und senkt kurz den Kopf. „Ich habe nur darüber nachgedacht, was für ein verdammtes Glück ich doch habe.“

„Das Glück geht jetzt in die Küche und macht dir einen Kaffee, okay?“

Glück. Substantiv. Neutrum. Fünf Buchstaben. Eine Lüge.

Julia kann nicht anders. Ihr Kopf kann nicht anders. Ihre Gedanken gönnen ihr scheinbar kein Glück.

Während Jakob in der Küche die Kaffeemaschine befüllt und das Radio einschaltet, greift sie nach ihrem Smartphone auf dem Nachttisch. Sie hat es extra ausgeschaltet, da Jakob die Strahlung nicht mag, aber vor allem, weil sie keine der unsäglichen Nachrichten mehr lesen will. Die Nachrichten seit dem letzten Mittwoch. Dem Abend der Sendung.

Sie hat sie sich nicht angesehen. Genauso hat sie es im Vorfeld abgelehnt, irgendwelche O-Töne oder aktuellen Bilder zu liefern. Aber dass die Sendung Wellen schlagen würde, war ihr natürlich bewusst. Und so hagelte es kurz nach dem Ende der Ausstrahlung schon erste Nachfragen und Meldungen von Menschen, die Julia seit Monaten oder Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Als sie das Telefon einschaltet, traut sie ihren Augen nicht, als im Display der Absender einer neuen Nachricht erscheint. Sebastian.

Es widerstrebt ihr, auf das Symbol zu klicken. Sekundenlang sitzt sie aufrecht in ihrem Bett, den Zeigefinger ausgestreckt in der Höhe, und starrt auf den Bildschirm.

„Julia? Kaffee ist fertig“, schallt es aus der Küche.

Sie verzieht den Mund, knallt das Smartphone auf ihren Nachttisch, greift nach dem Morgenmantel und steuert die Küche an.

Auf der Arbeitsplatte, an der sie sich noch heute Nacht festhalten musste, steht eine dampfende Tasse, nach der sie viel zu schwungvoll greift. Die braune Flüssigkeit schwappt über den Rand. „Verdammt!“, flucht Julia, setzt die Tasse ab und steckt sich den rechten Zeigefinger in den Mund. Den Finger, der eben noch beschwörend über der eingegangenen Textnachricht schwebte. „Warum ist die so voll“, nuschelt sie und bevor Jakob sie in den Arm nehmen kann, fährt sie zusammen, als das Telefon in der Diele klingelt.

Kapitel 5

„Wenn Sie von der verdammten Presse sind ...“

„Frau Kämpf, bitte, hören Sie mich an!“

„Ihr seid so versessen auf die Geschichte, versessen darauf, euch an dem ganzen Scheiß, den ich durchgemacht habe, aufzugeilen! Das widert mich so an! Du widerst mich an!“ Die letzten Worte speit sie in den Hörer, den sie fest an ihr Ohr presst. So fest, dass das Weiß ihrer Knöchel unter ihrer Haut hervortritt.

Jakob kommt aus der Küche, hebt eine Hand, bedeutet ihr, sich zu beruhigen. Aber das will Julia nicht. Sie wusste genau, dass dies passieren würde. Dass die Sendung alles wieder nach oben spült, die Aasgeier und die Blutsauger. Sie würde sich nicht wundern, wenn draußen vor dem Haus schon die ersten Ü-Wagen stünden, live berichteten, wann welcher Rollladen nach oben gezogen wird, welche Klamotten sie trägt, wenn sie das Haus verlässt, ob geschminkt oder nicht. „Woher haben Sie überhaupt diese Nummer? Das ist eine Geheimnummer, und wenn ich rauskriege, bei welcher Zeitung oder bei welchem Sender Sie arbeiten, dann ...“

„Von der Polizei.“

„Dann ... was?“ Julia stockt. „Von der Polizei?“ Sie greift mit der anderen Hand nach dem Türrahmen. „Wieso sollte Ihnen ...“

„Frau Kämpf, mein Name ist Vinzenz Reker. Ich bin Kinder- und Jugendpsychologe. Ich rufe aus Dresden an, dort arbeite ich.“ Der Anrufer macht eine kurze Pause. „Frau Kämpf, die Polizei hat mich gestern Nacht verständigt, weil hier in der Nähe ein Mädchen aufgefunden wurde.“

Julia schluckt trocken. Sie starrt Jakob an, der noch im Türrahmen steht und sie verständnislos anblickt.

„Ein ... ein Mädchen?“, fragt sie.

„Genau. Ein Mädchen. Und wir haben Grund zu der Annahme, dass es sich dabei um Leni handeln könnte.“

Julia steht nur da. Langsam nimmt sie das Telefon von ihrem Ohr, drückt es sich kurz an die Brust.

„Was ist?“, fragt Jakob. Julia taumelt kurz, in ihren Ohren klingelt es. Aus dem Hörer drängen gedämpft die Fragen. Hallo? Hallo? Sind Sie noch dran?

„Ich ... ich ...“ Julia ringt nach Worten. Frau Kämpf? Hören Sie mich? „Da ist ein Mann dran. Aus Dresden. Er meint, sie hätten ... sie hätten Leni gefunden.“ Sie taumelt einen Schritt zur Seite. Jakob greift nach ihrer Schulter, kurz blicken sie sich in die Augen.

„Gib mir den Hörer“, fordert Jakob und greift danach. Doch Julia löst sich aus seinem Griff, tritt rückwärts einen Schritt zurück und hebt dann den Hörer wieder an ihr Ohr.

„Herr ... Herr Reker?“, fragt sie.

Am anderen Ende der Leitung vernimmt sie einen tiefen Seufzer. „Gott sei Dank, ich dachte schon ... ich dachte, Sie hätten ...“

„Herr Reker, meine Tochter ... Leni ... sie ist seit zehn Jahren verschwunden.“

„Ja, das weiß ich, Frau Kämpf. Es gibt da diese Seite im Internet woistleni.de und daher haben wir auch die Zeichnung. Und dieses Mädchen ...“

„Zeichnung?“

„Ach so, ich dachte, Sie wüssten ... ich meine die Bilder, die Leni so zeigen sollen, wie sie heute aussehen müsste, und das Mädchen, das hier aufgetaucht ist ... es sieht ihr wirklich sehr ähnlich.“

„Und Sie glauben tatsächlich, dass es sich bei dem Mädchen um Leni handelt?“

„Nun ja, noch können wir das nicht mit Bestimmtheit sagen, weil sie leider nicht mit uns spricht. Aber als sie gefunden wurde, hat sie nur ein Wort gesagt.“

„Nur ein Wort?“ Julia drängt sich an Jakob vorbei und tritt vor das große Panoramafenster, vor dem sie im Morgengrauen gestanden hat, sieht den Wald. Oder das, was davon noch übrig ist. Die kahlen Bäume, aufgerissene Rinden. Sie muss an ihren Arm denken. An den Sturz vom Stuhl und das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte. Sie glaubt, die Stelle spüren zu können, wie die Nerven sich melden. Das Draußen beginnt zu zittern, zu wackeln und zu beben. Julia greift nach der Lehne eines Stuhls, verfehlt ihn und macht einen unbeholfenen Schritt nach vorne.

„Ja. Das einzige Wort, das sie gesagt hat, ist Leni.“

Der Wald kippt. Die Bäume fallen auf die Seite. Das Klingeln in ihren Ohren wird lauter. Nur ein Wort. Julia fällt der Hörer aus der Hand, Plastikteile fliegen umher, als das Gerät auf den Holzdielen aufschlägt. Sie spürt ganz genau die Stelle. Diesen Knubbel unter der Haut. Dort, wo die Knochen gebrochen waren.

Und als ihr ganzer Körper in sich zusammensackt, da wird es in ihr mucksmäuschenstill. Sie hört nicht Jakobs erschreckten Ausruf, spürt nicht den Schmerz, als ihr Kopf auf den Boden prallt, nur das eine Wort leuchtet hinter ihren Augen auf. Wie ein blinkender Cursor. Leni.

Kapitel 6

Zehn Jahre zuvor

„Leni? Leni? Kannst du mich hören? Leni? Wo bist du?“ Julia hört Sebastians Rufen. Mehr ist es nicht, nur ein Rufen. Sebastian ist eben Sebastian. Er ist in den entscheidenden Momenten zu leise. Über Gefühle zu sprechen ist nicht seins und deswegen geht er diesen Gesprächen nur allzu gerne aus dem Weg. Heute konnte er das nicht. Denn heute ist sie es gewesen, die ihn dazu gezwungen hat, ihr zuzuhören.

„Leni? Schatz, wo bist du? Du musst jetzt rauskommen! Hörst du?“, schreit sie selbst zwischen die Stämme und hört das Echo der letzten Silben, das die Natur ihr zurückwirft. Sie muss da draußen sein. Sie muss sie hören.

Wie lange ist es her, dass Sebastian die Polizei verständigt hat? Sie schiebt ihre Jacke über das linke Handgelenk und schaut auf die Uhr. Angestrengt blickt sie gen Horizont, dorthin, wo die Sonne die ersten Baumkronen berührt.

Julia stapft zwischen den Bäumen umher und dann sieht sie ihn. Sebastian. Wie er da steht, die Arme auf die Oberschenkel gestützt. Er sieht müde aus, kaputt, so, als sei er geschrumpft, in sich zusammengefallen. Sebastian ist kein Herkules. Er ist groß, schlank, seine Arme scheinen einen Tick zu lang zu sein, weshalb er kaum Pullover findet, die ihm passen, und deswegen trägt er welche, die ihm ein stückweit zu groß sind.

„Sebastian? Hast du sie?“, ruft sie ihm entgegen und weiß selbst, wie dumm ihre Frage erscheint.

Sebastian hebt den Kopf, schaut sich um, und als er Julia zwischen den Ästen ausmacht, kommt er mit großen Schritten auf sie zu. Auf dem Weg schüttelt er unentwegt den Kopf, und als er vor ihr steht, zeigen die geröteten Augen, dass er geweint hat.

„Nein“, flüstert er. „Nein, sie ist weg. Einfach weg.“

Julia reibt sich die Stirn. „Wir sollten zurück zum Weg gehen. Die Polizei dürfte gleich da sein und dann werden wir sie finden. Ganz bestimmt.“

Sebastian rudert unbeholfen mit den Armen. „Ganz bestimmt? Ganz bestimmt nicht! Das hier ist ein verdammter Albtraum, Julia! Ich hoffe die ganze Zeit, dass ich aufwache, das Babyphone auf dem Nachttisch stehen sehe und darin ihr Atmen hören kann. Das hier ... das kann einfach nicht wahr sein! Das passiert nicht wirklich, oder? So etwas passiert doch eigentlich nur anderen! Aber nicht uns!“ Mit jedem Wort wächst seine Verzweiflung und Julia kann förmlich sehen, wie jedwede Zuversicht seinen Körper verlässt. Und doch wehrt ihr gesamter Organismus sich dagegen, ihn in die Arme zu schließen.

„Sebastian, bitte! Lass uns zurück zum Weg gehen und auf die Polizei warten.“ Julia weiß, dass sie jetzt stark sein muss, dass es auf sie ankommen wird. „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass man sich hier in diesem Waldstück so sehr verlaufen kann, dass man nicht gefunden wird?“, versucht sie es mit der einzigen Sprache, die Sebastian in der Lage ist, zu verstehen.

„Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses eines Experiments ist gleich dem Quotienten aus den Mächtigkeiten des Ereignisses und des Ergebnisraums“, murmelt Sebastian, während er sich in Richtung Weg aufmacht.

„Was?“

„Laplace“, antwortet er und senkt den Kopf. Unvermittelt dreht er sich um. Seine geröteten Wangen glühen. „Weißt du was, Julia? Ich weiß, dass ich ... dass dieser ganze Gefühlskram nicht mein Ding ist, und ich hatte mir heute wirklich vorgenommen, nur für dich da zu sein. Nur dir zuzuhören, mich voll und ganz auf dich zu konzentrieren und eine Lösung zu finden. Aber das hier?!“ Sebastian schlägt mit der flachen Hand an den Stamm eines Baumes. „Das hier, das ist zu viel für mich, zu viel für meinen Kopf. Und weißt du warum, Julia?“ Die Röte weicht einer zunehmenden Blässe. „Weil ich nicht weiß, was ich der Polizei sagen soll, wenn die mich fragen, welche Farbe Lenis Jacke hat. Weil ich nicht einmal weiß, welche verdammte Jacke wir ihr eben angezogen haben.“ Sebastian sinkt auf die Knie, vergräbt das Gesicht in seinen Händen.

Julia kniet sich vor ihn, schlingt dann doch die Arme um ihn und Sebastian beginnt hemmungslos zu weinen. Julia presst die Lippen aufeinander und fragt sich, ob sie sich, seit Lenis Geburt, jemals so nah gewesen sind. Seit Leni da ist, leben sie nebeneinander statt miteinander. Ihr kommt es vor, als hätten sie ihre Liebe nicht nur geteilt, sondern aufgeteilt und das nicht einmal gerecht.

„Ich drehe gleich völlig durch“, wispert er.

„Ich auch.“

Dann hebt er den Kopf, richtet seinen Oberkörper auf, blickt sich um. „Mein Vater hat mir mal erzählt, dass Bäume schüchtern sind.“ Irritiert schaut Julia auch nach oben. „Ich dürfte damals ungefähr so groß gewesen sein.“ Sebastian richtet seine Hand auf Schulterhöhe aus. „Er ist neben mir in die Hocke gegangen, hat mir einen Arm um die Schulter gelegt und nach oben gezeigt.“ Er macht es ihm nach. „Siehst du das? Die Kronen der Bäume berühren sich nicht.“

Und dann sieht sie es, den Himmel, der sich wie ein grauer Fluss zwischen den Buchen zeigt. „Und weißt du, warum sie so sind?“ Julia schüttelt den Kopf. „Damit sie sich nicht verletzen, wenn der Wind sie aneinanderdrückt.“

Sie blicken sich in die Augen. Julia kann sich nicht daran erinnern, wann sie einander das letzte Mal so lange angesehen haben. Richtig angesehen. In Sebastians Augen erkennt sie, dass er genau dasselbe denkt.

Dass sie wie die Bäume geworden sind. Und ihre Gefühle zu Wind. Der im Streit zum Sturm wird.

Sebastian geht genau dann auf Abstand, sobald ihm etwas zu nahegeht. Indem er sich zurückzieht, schützt er die Zweige und Blätter seiner Liebsten. Erreicht damit aber genau das Gegenteil.

„Wir dürfen nicht aufgeben.“

Sebastian nickt. „Geh du zurück zum Weg und warte auf die Polizei. Ich gehe noch einmal los.“ Als Sebastian sich erhebt und losgeht, verschlucken ihn nach wenigen Schritten der Wald und der Dunst, der aus dem Boden aufzusteigen scheint. Unter ihm knacken Äste, ächzt der Boden und über ihm zerteilen Flügelschläge die Stille. „Leni? Hörst du mich? Leni?“, ruft er.

Julia senkt kurz den Kopf, steht dann auf, und als sie den Waldrand erreicht, kann sie das Blaulicht erkennen. Ein Satz ihrer Mutter kommt ihr in den Sinn. Das wird schon wieder ...

Bevor sie ihre Arme hebt, sie über den Kopf kreuzt, um auf sich aufmerksam zu machen, tastet sie nach der Stelle unter der Haut. Als sie die kleine Beule fühlt, weiß sie, dass das hier mehr schmerzen wird als alles je zuvor. Aber sie muss jetzt durchhalten. Stark sein. Wie immer. Für Leni.

Kapitel 7

Vinzenz steht vor den Aufzügen. Zwei Mal haben sich die Türen schon geöffnet, doch entweder stand darin ein großes Bett, oder ein Patient saß im Rollstuhl, immer begleitet von zwei Pflegern, sodass er noch eine Chance abwarten wird, bevor er die Treppe nimmt.

Neben ihm steht ein jüngerer Mann in zerrissener Jeans, mit einer Wollmütze auf dem Kopf und dem typischen Rundnacken. Er starrt auf sein Smartphone, wischt und drückt und das, was er nicht sieht, lässt Vinzenz grinsen. Dieses Gesichtsgulasch, das der Junge betreibt, während er dösig auf den kleinen Bildschirm guckt.

Und genau das ist es, denkt Vinzenz, das ist es, was mit dir passiert. Du steigst in deine Blase, die dich sanft in deine virtuelle Welt hebt, koppelst dich ab und lässt nur noch deinen Körper hier zurück, der sabbernd und vor-und-zurück-wiegend vor der Aufzugstür steht.

Das lässt ihn an dieses Computerspiel denken, dass er in seinen Jugendtagen mit seinem Freund Michael stundenlang gespielt hat. Damals waren sie es, die Blasen aus den Mäulern der zwei kleinen Drachen abfeuerten, um die Gegner darin einzusperren und besiegen zu können. Sie hatten es geschafft, gemeinsam alle 99 Level gemeistert und in Level 100 den gemeinsamen Feind Baron von Blubba besiegt.

Ein kurzes Signalgeräusch ertönt und langsam schieben sich die beiden schweren Türen zur Seite. Niemand steht, sitzt oder liegt in der Kabine und so bewegt Vinzenz sich gemeinsam mit dem Rundnacken hinein und drückt auf die Drei. Das Stockwerk, in dem Leni liegt. Diese Wahl scheint auch für den jungen Mann in Ordnung zu sein, da er keine eigene trifft.

Als sich die beiden Türen wieder öffnen, zögert Vinzenz einen Moment, doch der junge Mann bewegt sich keinen Zentimeter und so tritt er auf den Flur, dreht sich um und schaut ihn stirnrunzelnd an. Die Türen schließen sich wieder, ohne dass der junge Mann ein einziges Mal von seinem Smartphone aufgesehen hat. Kopfschüttelnd wendet sich Vinzenz ab und biegt in den Stationsflur ein.

Sein Blick fällt auf Simone Brandschröder, die kurz aufblickt, ihm kaum merklich zunickt und sich dann wieder der Krankenpflegerin zuwendet. Langsam bewegt er sich auf die beiden Frauen zu.

„... kein Wort“, hört er die Schwester noch sagen, bevor sie aufschaut und ihn aus freundlichen Augen ansieht. „Herr Doktor Reker, guten Morgen.“

„Guten Morgen“, erwidert er freundlich.

„Ich habe gerade der Frau Kommissarin erklärt, dass Leni weiterhin kein Wort spricht. Und gegessen hat sie auch nichts.“

„Was gab es denn?“, fragt Vinzenz.

„Zum Frühstück? Zwei Scheiben Vollkornbrot. Eine Scheibe Käse, Butter und Marmelade. Kein Gaumenschmaus, ich weiß, aber wir wissen ja nicht, was sie mag.“

„Tja, dann kann ich die Feuerbach-Methode wohl auch getrost sein lassen.“ Beide schauen ihn verständnislos an. „Ludwig Feuerbach?“, fragt er. „Nein? Der hat vor etwa 150 Jahren den Satz geprägt: Du bist, was du isst.“

„Sollte das ein Scherz sein?“, fragt Simone Brandschröder.

Vinzenz’ betretene Miene quittieren die beiden Frauen mit einem Lachen, bevor die Polizistin wieder einen ernsten Ton anschlägt. „Konnten Sie die Familie Kämpf erreichen?“

Vinzenz wiegt den Kopf kurz hin und her. „Im Grunde schon.“ Erwartungsvoll schauen ihn die beiden Frauen an. „Julia Kämpf ist zuerst davon ausgegangen, dass ich von der Presse sei, und hat mich kaum zu Wort kommen lassen. Doch dann konnte ich ihr sagen, dass wir glauben, Leni gefunden zu haben, und dass sie hier bei uns im Krankenhaus liegt. Nur ...“ Er macht eine Pause, schürzt die Lippen. „Leider ist sie dann zusammengebrochen.“

„Kein Wunder bei der Nachricht“, entfährt es der Krankenschwester. Vinzenz hat sie als die Frau mit den Stiften in den Haaren abgespeichert, da sie gestern kein Namensschild trug. Doch heute kann er ihren Namen auf dem Plastikschild an ihrem weißen Outfit ablesen: Regine.

„Geht es ihr gut?“, fragt Simone Brandschröder.

„Ich konnte mit ihrem Partner sprechen“, antwortet Vinzenz. „Er hat mir zugesichert, mich zurückzurufen, sobald es Julia Kämpf besser geht.“

„Ihr Partner?“, fragt Simone Brandschröder verwundert.

„Ja, er heißt Jakob van der Beek. Von Sebastian Kämpf lebt sie wohl getrennt. Er hat mir aber versichert, dass sie ihn kontaktieren werden.“

„Ok, und wie geht es ihr jetzt?“

„Besser. Sie ist zur Beobachtung ins Krankenhaus gebracht worden, aber natürlich will sie so schnell wie möglich hierherkommen.“

„Die muss echt einiges wegstecken. Ich meine, wie lange wird Leni vermisst? Zehn Jahre? Kein Wunder, dass das zu viel für sie ist“, merkt Regine an.

„Wie glauben Sie, wird Leni auf sie reagieren?“

„Das hängt vor allem davon ab, ob wir mit unserer Vermutung recht haben, dass Leni tatsächlich die ist, die damals verschwunden ist.“

„Glauben Sie mir, wir alle hätten gerne schon jetzt die Sicherheit, die wir uns wünschen. Es ist mir unerklärlich, warum die Kollegen aus Gummersbach keinen Zugriff mehr auf die DNA-Spur von vor zehn Jahren haben. Somit hoffe ich sehr darauf, dass uns Julia Kämpf weiterhelfen kann“, führt Simone Brandschröder aus. „Das Jugendamt hat auf meine Anfrage nach einem DNA-Test noch nicht reagiert und ich habe keine Ahnung, wann ich damit rechnen kann. Sollte Frau Kämpf Leni erkennen, dann stellen sich natürlich gleichzeitig viele weitere Fragen“, vervollständigt Simone Brandschröder ihre Gedanken.

„Da bin ich raus!“ Die Krankenschwester hebt entschuldigend die Hände, lächelt, greift dann nach einem Stift, der in ihren zusammengebundenen Haaren steckt und wendet sich ab.

„Was haben Sie jetzt vor?“

„Es langsam angehen lassen. Für solch einen Fall gibt es kein Patentrezept, kein Handbuch, nach dem ich vorgehen kann. Nach meiner Erfahrung bringt es überhaupt nichts, ihr irgendwelchen Druck zu machen. Die letzten Stunden haben ihr ganz schön zugesetzt.“ Er macht eine kurze Pause. „Wir wissen einfach nicht, was sie durchgemacht hat. Zudem werden alle Ansätze, die ich jetzt wähle, Makulatur, je nachdem wie Leni auf Julia Kämpf reagiert. Es gilt sie vor allem irgendwie auf das vorzubereiten, was heute auf sie zukommt. Das sehe ich erst einmal als meine Hauptaufgabe für heute an. Einen ersten Zugang zu ihr finden und auf den Besuch von Frau Kämpf vorbereiten.“

„Und ihr Vater? Kommt der nicht?“

„Darüber weiß ich noch nichts, aber ich gehe davon aus. Ich meine, er wird doch auch wissen wollen, was hier los ist.“

„Ich fahre kurz noch einmal zurück ins Präsidium. Die Kollegen sollen dort die Nummer des Vaters ermitteln und ich versuche, ihn persönlich zu erreichen. Vielleicht kann uns da ja Gummersbach mal helfen. Melden Sie sich bei mir, wenn Sie etwas Neues wissen. Ich will auf jeden Fall hier sein, wenn Julia Kämpf ankommt. Zudem hoffe ich, dass wir die Presse noch ein wenig zurückhalten können. Wenn das Ding rauskommt, stürzen die sich auf die Geschichte wie die Fliegen. Der Staatsanwalt sitzt mir aber im Nacken, er will unbedingt zeitnah eine Pressekonferenz abhalten.“

Sie verabschieden einander und Vinzenz bleibt noch einen Moment auf dem Flur zurück, bevor er sich in Richtung von Lenis Zimmer aufmacht. Vor ihrer Tür bleibt er kurz stehen und hält einen Moment inne. Erst dann drückt er die Klinke nach unten und betritt den Raum.

Leni liegt in ihrem Bett. Die Augen geschlossen, die schmalen Arme über der Bettdecke liegend. Neben dem Bett steht auf dem Beistelltisch noch das unangetastete Frühstück. Vinzenz klopft vorsichtig an das Innenblatt der Tür und Leni öffnet die Augen.

„Hallo, Leni.“

Sie schaut ihn an, folgt ihm mit den Augen, als er die Tür schließt und an ihr Bett tritt. Er legt seine Hände auf das kalte Metallgestänge und lächelt. Sie verzieht keine Mine. Die Augen wachsam und doch ein wenig scheu.

„Regine hat gesagt, dass du gar keinen Hunger hast. Aber sie auch nicht wissen, was du magst. Sie würden dir gerne etwas zu essen geben, worauf du Lust hast.“ Keine Reaktion. Die dunklen Augen ruhen auf Vinzenz, der den Blickkontakt hält. Don’t blink.

Jetzt fühlt er sich wie der Doktor aus der Serie Doctor Who, vor ihm im Bett liegt ein weinender Engel, und sobald er die Augen schließt, wird er berührt werden, in die Vergangenheit geschickt, in eine Zeit vor der seinen.

Leni liegt wie in Stein gemeißelt da. Bisher haben sie kaum Zeit miteinander verbracht und doch glaubt Vinzenz zu wissen, dass Leni ihn nicht ablehnt. Doch um zu ihr durchzudringen, braucht es weitaus mehr. Sie muss ihm vertrauen und auf dem Weg dorthin darf er sie auf keinen Fall verlieren. Das weiß Vinzenz. Er kann nur schlecht verlieren.

„Wenn du alleine sein möchtest, kannst du mir das einfach sagen. Wir haben viel Zeit. Aber ich muss mit dir etwas besprechen, etwas sehr Wichtiges und dafür brauche ich deine volle Aufmerksamkeit.“ Vinzenz nimmt kurz die Mütze von seinem Kopf, fährt sich mit der flachen Hand über die Glatze, spürt die feinen Stoppeln und verdeckt sie anschließend wieder unter dem Stoff. „Du musst nicht mit mir reden, wenn du nicht willst. Aber ich wüsste gerne, ob du mich verstehst, und daher würde ich gerne etwas ausprobieren.“ Er hebt die rechte Hand an, spreizt den Zeigefinger ab und schaut Leni aus großen Augen an. „Also, pass auf: Ich stelle dir von nun an nur noch Fragen, die du mit Ja oder Nein beantworten kannst. Lautet deine Antwort auf die Frage ‚Ja‘, dann blinzelst du einfach einmal mit deinen Augenlidern. Sollte die Antwort ‚Nein‘ lauten, dann blinzelst du einfach zweimal. Okay?“

Wieder muss Vinzenz an Doctor Who denken. An die Statuen, die näher kommen, sobald man für nur einen Moment die Augen schließt. Leni erinnert ihn an sie, wie sie da liegt, ihn fixiert und doch hält Vinzenz den Blick. Langsam nimmt er die Hand herunter und gerade, als er sich etwas Neues überlegen will, blinzelt Leni einmal.

Kapitel 8

Die Welt schwankt, als Julia mühselig aus dem Auto aussteigt und ein Windstoß sie erfasst.

„Du sollst doch auf mich warten!“, ruft Jakob, wirft die Tür hinter sich zu und hastet zur Beifahrerseite, um sie zu stützen. Hinter ihnen rauscht ein Wagen hupend vorbei.

Wäre Julia aufgefordert, eine Tabu-Karte für diese Straße in Gummersbach zu entwerfen, die die Begriffe enthält, die bei einer Beschreibung nicht genannt werden dürften, so lauteten diese: Asphalt, Beton und trist.

Julia blickt an der schmutzigen Fassade hoch, der graue Himmel drückt von oben auf das Flachdach und die verhängten Scheiben strahlen Ablehnung aus. Sie weiß, dass sie hier nicht willkommen ist. Als Leni verschwand, gab es zwei Szenarien, zwei Wege. Mit oder ohne Sebastian. Niemals hätte sie daran geglaubt, mit ihm noch einmal über diesen Tag sprechen zu müssen. Sie zieht ihr Smartphone aus der Tasche ihrer Jacke und ruft Sebastians letzte Nachricht auf. Sie ist es nicht.

„Alles okay bei dir?“, fragt Jakob und schließt die Beifahrertür.

Julia nickt. Wie so oft spricht sie nicht das aus, was sie denkt, was sie beschäftigt. Alte Gewohnheit. Schlechte Gewohnheit.

„Und hier wohnt Sebastian? Bist du dir sicher?“ Jakob runzelt die Stirn, schaut sich missmutig um. „Was für eine heruntergekommene Gegend. Na ja, aber irgendwie auch passend.“

„Jakob, bitte!“

„Was denn?“