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»Mühelos erzählt und voll sinnlicher, bisweilen magischer und aufwühlender Bilder – große Literatur.« Jan Wilm, FAZ Ein junger Mann kehrt nach einigen Jahren in Amerika heim nach Lagos in Nigeria, an den Ort seiner Kindheit, den er vor vielen Jahren verlassen hat. Er kommt bei Verwandten unter, trifft alte Freunde, lässt sich durch die Straßen treiben. Lagos ist anstrengend und korrupt, Verheißung und Zumutung in einem, voller Geschichten von spiritueller Größe und Verkommenheit. Jede Nacht ist ein vergeblicher Versuch, Ruhe zu finden. Und jeder Tag ein Spiegel, in dem er sich selbst immer klarer sieht. Soll er bleiben oder fliehen? In Teju Coles leuchtenden Sätzen, in denen eine große, gebrochene Liebe zum Ausdruck kommt, entsteht das poetische Porträt eines bedrückten Landes und der größten Metropole in Afrika.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Jeder Tag gehört dem Dieb
TEJU COLE, geboren 1975, wuchs in Lagos auf. Er ist Schriftsteller, Kritiker, Kurator und Fotograf. Für seine Bücher, darunter der Roman Open City, erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem den PEN/Hemingway Award, den New York City Book Award, den Windham Campbell Prize und den Internationalen Literaturpreis. Teju Cole ist derzeit Professor für Kreatives Schreiben an der Harvard University. Er lebt in Cambridge, Massachusetts.
Von Teju Cole sind in unserem Hause außerdem erschienen:Tremor · Open City
»Ein phantastisches Buch.«VOLKER WEIDERMANNEin junger New Yorker kehrt zurück nach Nigeria, an den Ort seiner Kindheit, den er vor vielen Jahren verlassen hat. Er kommt bei Verwandten unter, trifft alte Freunde, lässt sich durch die Straßen von Lagos treiben. Die Stadt ist anstrengend und korrupt, Verheißung und Zumutung in einem. Jede Nacht ist ein vergeblicher Versuch, Ruhe zu finden. Und jeder Tag ein Spiegel, in dem er sich selbst immer klarer sieht. Soll er bleiben oder fliehen?»Mühelos erzählt und voll sinnlicher, bisweilen magischer und aufwühlender Bilder – große Literatur.«JAN WILM – FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Teju Cole
Roman
Aus dem Englischen von Christine Richter-Nilsson
Ullstein
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Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024© 2007, 2014 by Teju ColeAlle Rechte der deutschen Übersetzung von Christine Richter-Nilsson © Carl Hanser Verlag München.Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Every Day Is For the Thief bei Random House, New York. In einer früheren Version erschien der Text 2007 bei Cassava Republic Press, Abuja, Nigeria.
Das Motto The window was one of many, ... stammt aus Maria Benets Gedicht »Three American-Style Studies of a Landscape Rendered Foreign«, in Mapmaker of Absences, Sixteen Rivers Press, San Francisco 2005.Das Zitat zu Beginn von Kapitel 19 Es darf nicht erwähnt werden, ... stammt aus Tomas Tranströmers Gedicht »Minusgrade«, aus dem Schwedischen von Hanns Grössel, in Sämtliche Gedichte, Carl Hanser Verlag, München 1997.
Umschlaggestaltung: Marion BlomeyerTitelabbildung: © Teju ColeAutorenfoto: © Maggie Janik | Harvard GSD
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ISBN: 978-3-8437-3120-1
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Das Buch
Titelseite
Impressum
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Social Media
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Cover
Titelseite
Inhalt
1
Für Karen
und für meine Eltern
und Jeremy und Bibi
The window was one of many,
the town was one. It was the only one,
the one I left behind.
Maria M. Benet, Mapmaker of Absences
Gbogbo ojo ni t’ole, ojo kan ni t’oni nkan.
Jeder Tag gehört dem Dieb, doch ein Tag
gehört dem Besitzer.
Sprichwort der Yoruba
Am Morgen meines Konsulatsbesuchs wache ich spät auf. Während ich meine Unterlagen zusammensuche, rufe ich im Krankenhaus an und gebe Bescheid, dass ich erst am Nachmittag komme. Dann steige ich in die U-Bahn und fahre zur Second Avenue. Das Konsulat ist problemlos zu finden. Es erstreckt sich über mehrere Stockwerke eines Wolkenkratzers; ein fensterloses Zimmer im achten Stock dient als Büro für konsularische Dienste. Es ist Montagvormittag, und die meisten Besucher sind Nigerianer mittleren Alters. Die Männer sind kahlköpfig, die Frauen aufwendig frisiert, und ich zähle doppelt so viele Männer wie Frauen, dazwischen ein paar unerwartete Gesichter: ein großer, italienisch aussehender Mann, ein Mädchen ostasiatischer Herkunft, Afrikaner anderer Nationalitäten. Jeder Besucher zieht beim Betreten des düsteren Raumes eine Nummer aus einer roten Maschine. Die Auslegeware ist schmutzig und hat dieselbe undefinierbare Farbe wie überall sonst in öffentlichen Räumen. An der Wand hängt ein Fernseher. Das Bild ist schlecht, aber man erkennt, dass eine Nachrichtensendung läuft. Nach einigen Minuten sind die Nachrichten zu Ende, und die Übertragung eines Fußballspiels zwischen Enyimba und einem tunesischen Klub beginnt. Die Leute im Raum füllen Formulare aus.
Ich sehe genauso viele blaue amerikanische Pässe wie grüne nigerianische. Die meisten der Anwesenden lassen sich einer der folgenden drei Kategorien zuordnen: eingebürgerte US-Amerikaner, Personen mit amerikanischer und nigerianischer Staatsbürgerschaft, und Nigerianer, die ihre amerikanischen Kinder zum ersten Mal mit in die alte Heimat nehmen. Ich gehöre zur Gruppe der doppelten Staatsbürger und bin hier, weil ich einen neuen nigerianischen Pass brauche. Nach zwanzig Minuten wird meine Nummer aufgerufen. Während ich mich mit meinen Formularen dem Schalter nähere, nehme ich dieselbe Bittstellerhaltung an, die ich bei den anderen beobachtet habe. Der schroffe junge Mann hinter der Glasscheibe fragt, ob ich die Zahlungsanweisung mitgebracht habe. Nein, sage ich. Ich dachte, man könne bar zahlen. Er deutet auf einen Hinweis an der Scheibe: »Bitte kein Bargeld, wir akzeptieren ausschließlich Zahlungsanweisungen.« Der Mann trägt ein Namensschild. Laut Website des Konsulats beträgt die Gebühr für einen neuen Pass fünfundachtzig Dollar, doch nirgendwo steht, dass man nicht mit Bargeld zahlen kann. Ich verlasse das Gebäude und laufe zur fünfzehn Minuten entfernten Grand Central Station, stelle mich an, kaufe eine Zahlungsanweisung und laufe wieder fünfzehn Minuten zurück zum Konsulat. Als ich ankomme, sind vierzig Minuten vergangen, und das Wartezimmer ist voll. Ich ziehe eine neue Nummer, stelle die Zahlungsanweisung auf das Konsulat aus und warte.
Eine kleine Gruppe hat sich um den Schalter versammelt. Einer der Männer bearbeitet lauthals den Beamten, nachdem dieser ihm mitgeteilt hat, sein Pass sei um fünfzehn Uhr fertig. Inständig bittet er:
– Abdul, mein Flieger geht um fünf, bitte, ich brauche den Pass sofort. Ich muss nach Boston zurück, bitte, geht es nicht schneller?
Seine Stimme klingt flehend, er strahlt Verzweiflung aus, was durch sein schäbiges Äußeres – braune Hose und braunes Polyestersweatshirt – betont wird. Ein strapazierter Mensch in strapazierten Klamotten. Abdul spricht durchs Mikrophon:
– Was soll ich machen? Der Beamte, der unterschreiben muss, ist noch nicht hier. Kommen Sie um drei wieder.
– Hier, hier, mein Ticket. Bitte, Abdul, sehen Sie. Mein Flug geht um fünf. Ich darf ihn nicht verpassen. Ich darf ihn auf keinen Fall verpassen.
Der Mann bettelt weiter und schiebt ein Stück Papier unter der Scheibe hindurch. Abdul betrachtet das Ticket mit demonstrativem Widerwillen und spricht dann mit gereizter, gedämpfter Stimme in das Mikro:
– Was bitte soll ich machen? Der Zuständige ist nicht hier. Wenn es unbedingt sein muss, setzen Sie sich. Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber ich kann nichts versprechen.
Der Mann schleicht davon, woraufhin sofort mehrere andere aufspringen und mit ihren Dokumenten zum Schalter drängen.
– Bitte, ich brauch meinen auch gleich. Bitte, können Sie meinen nicht einfach zu seinem legen?
Abdul ignoriert sie und ruft die nächste Nummer auf. Einige der Männer tigern weiter vor seinem Schalter hin und her, andere setzen sich wieder auf ihre Plätze. Einer von ihnen, ein junger Mann mit einer himmelblauen Mütze, reibt sich immer wieder die Augen. Einige Reihen vor mir stützt ein älterer Herr seinen Kopf in die Hände und sagt laut, ohne jemanden anzusehen:
– Das hier sollte ein freudiger Anlass sein. Ist es nicht so? Eine Heimkehr ist ein Grund zur Freude.
Zu meiner Rechten füllt ein Mann die Formulare für seine Kinder aus. Von ihm erfahre ich, dass er vor Kurzem seinen Pass erneuern ließ. Ich frage ihn, wie lange es gedauert hat.
– Na ja, normalerweise dauert es vier Wochen.
– Vier Wochen? In drei Wochen geht schon mein Flug. Und auf der Website steht, ein Reisepass wird innerhalb einer Woche ausgestellt.
– Theoretisch schon. Praktisch auch, aber nur wenn man eine Expressgebühr von fünfundfünfzig Dollar bezahlt. Mit Zahlungsanweisung.
– Davon ist auf der Website keine Rede.
– Natürlich nicht. Aber so habe ich es gemacht. Ich hatte keine Wahl. Und ich bekam meinen Pass in einer Woche. Natürlich ist die Expressgebühr nicht offiziell. Die Leute hier, das sind Gauner. Sie nehmen die Zahlungsanweisung, und zwar ohne Quittung, dann buchen sie den Betrag aufs Konto, und von dort aus wandert er in ihre eigenen Taschen.
Er macht eine Geste mit der Hand, als würde er eine Schublade herausziehen. Genau das habe ich befürchtet: die direkte Konfrontation mit Korruption. Ich bin mental darauf vorbereitet, ihr am Flughafen von Lagos zu begegnen, aber hier in New York trifft mich die dreiste Aufforderung zur Bestechung unvorbereitet.
– Ich werde darauf bestehen, dass sie mir eine Quittung ausstellen.
– Mein Junge, warum willst du dir Stress machen? Das Geld knöpfen sie dir sowieso ab, aber du kannst vergessen, dass sie dir deinen Pass pünktlich ausstellen. Mal ehrlich: Willst du den Pass, oder willst du ihnen was beweisen?
Er hat recht, und dennoch: Hat nicht genau diese beiläufige Komplizenschaft unser Land so tief sinken lassen? Die Frage steht uns beiden vor Augen, doch sie bleibt unausgesprochen. Als meine Nummer endlich aufgerufen wird, ist es elf durch. Alles läuft genauso ab, wie er es mir vorhergesagt hat. Der Beamte verlangt eine Expressgebühr von fünfundfünfzig Dollar, zusätzlich zu den fünfundachtzig, die der Pass kostet. Die Beträge sollen auf zwei Zahlungsanweisungen verteilt werden. Zum zweiten Mal an diesem Morgen verlasse ich das Gebäude, um eine Zahlungsanweisung zu kaufen. Ich beeile mich und kehre erschöpft Viertel vor zwölf zurück, fünfzehn Minuten bevor der Schalter schließt. Diesmal ziehe ich keine Nummer. Ich remple mich zum Schalter vor und reiche Abdul das Formular mit den erforderlichen Anweisungen. Er sagt, der Pass sei in einer Woche abholbereit. Er stellt eine Quittung aus, aber nur über den ursprünglichen Betrag. Schweigend nehme ich sie entgegen, falte sie zusammen und stecke sie ein. Am Ausgang neben den Aufzügen hängt ein halb zerrissenes Blatt mit der Aufschrift: »Helfen Sie uns bei der Bekämpfung von Korruption! Sollte ein Konsulatsbeamter Sie zur Zahlung von Schmiergeld auffordern, wenden Sie sich bitte diskret an den Generalkonsul.«
Doch es ist weder eine Telefonnummer noch eine E-Mail-Adresse angegeben. Mit anderen Worten, ich kann den Generalkonsul nur durch Abdul oder einen seiner Kollegen erreichen. Und der Generalkonsul hält wahrscheinlich selbst die Hand auf. Vielleicht gehen dreißig oder fünfunddreißig Dollar der »Expressgebühr« direkt an den Big Boss. Beim Hinausgehen sehe ich noch einmal Abduls Gesicht. Er ist bereits mit anderen Antragstellern beschäftigt. Das alles ist eine Farce – getarnt durch die gepflegte Aufforderung: »Bitte kein Bargeld.«
Es ist früher Abend, als sich die Maschine den Elendsvierteln außerhalb der Stadt nähert. Sanft und stufenweise sinkt sie zur Erde, als würde sie langsam eine unsichtbare Treppe hinabschreiten. Vom Rollfeld aus wirkt der Flughafen trostlos. Er ist nach einem toten General benannt und der Inbegriff schlechter Siebzigerjahre-Architektur. Mit dem schmuddeligen weißen Anstrich und den endlosen Reihen kleiner Fenster ähnelt das Hauptgebäude einem billigen Mietshaus. Der Airbus der Air France setzt auf. Mit der hereinströmenden Luft macht sich sofort Erleichterung in den Kabinen breit. Ein paar Fluggäste applaudieren. Kurze Zeit später drängen wir in Richtung Ausgang. Mit schweren Taschen beladen, versucht sich eine Frau durch den Mittelgang zu schieben. »Warte«, ruft sie ihrem Reisebegleiter nach, so laut, dass alle es hören, »ich komme.« Und in diesem Moment spüre auch ich sie, die Ekstase der Ankunft, dieses irrationale Gefühl, dass jetzt alles gut wird. Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit; so lange war ich nicht zu Hause. Sie fühlt sich noch viel länger an, wenn man sich davongestohlen hat.
Ausstieg, Passkontrolle und Gepäckausgabe rauben uns mehr als eine Stunde. Der Himmel füllt sich mit Schatten. Ein Mann beschwert sich bei einem lustlosen Zollbeamten über die Ineffizienz.