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Menschlichkeit und Kunst in Zeiten des Umbruchs Teju Coles neue Essays kreisen um die Frage, wie wir in Zeiten der Dunkelheit unsere Menschlichkeit bewahren und uns für die Menschlichkeit anderer öffnen. Cole ist ein literarischer Meister des Essays, und er variiert seine Form, um sie immer wieder neu für menschliche Erfahrung – individuelle und kollektive – empfänglich zu machen. Dunkelheit ist nicht leer: Indem er über Begegnungen mit verstörender Kunst, die Rolle von Schriftstellern in Zeiten des politischen Umbruchs, die Verwendung von Schatten in der Fotografie oder über die Verbindungen von Literatur und Aktivismus nachdenkt, indem er scheinbar weit auseinanderliegende Themen miteinander verbindet, entfaltet er neue Wahrnehmungen von blackness und entwirft ein tiefgründiges, multiperspektivisches Bild unserer Gegenwart.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Black Paper
Teju Cole, geboren 1975, wuchs in Lagos auf. Er ist Schriftsteller, Kritiker, Kurator und Fotograf. Für seine Bücher, darunter der Roman Open City, erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem den PEN/Hemingway Award, den New York City Book Award, den Windham Campbell Prize und den Internationalen Literaturpreis. Teju Cole ist derzeit Professor für Kreatives Schreiben an der Harvard University. Er lebt in Cambridge, Massachusetts.
Anna Jäger ist Kuratorin, Herausgeberin und Übersetzerin aus dem Englischen und Kiswahili. Sie ist Mitglied von SAVVY Contemporary, einem Ort für epistemologische Vielfalt und radikale Gastlichkeit.
Uda Strätling lebt in Hamburg und übersetzt seit rund dreißig Jahren englischsprachige Literatur und Lyrik, darunter Werke von Emily Dickinson, Henry David Thoreau und Gertrude Stein, von Chinua Achebe, Claudia Rankine und John Edgar Wideman.
Menschlichkeit und Kunst in Zeiten des Umbruchs
Teju Coles neue Essays kreisen um die Frage, wie wir in Zeiten der Dunkelheit unsere Menschlichkeit bewahren und uns für die Menschlichkeit anderer öffnen. Cole ist ein literarischer Meister des Essays, und er variiert seine Form, um sie immer wieder neu für menschliche Erfahrung – individuelle und kollektive – empfänglich zu machen. Dunkelheit ist nicht leer: Indem er über Begegnungen mit verstörender Kunst, die Rolle von Schriftstellern in Zeiten des politischen Umbruchs, die Verwendung von Schatten in der Fotografie oder über die Verbindungen von Literatur und Aktivismus nachdenkt, indem er scheinbar weit auseinanderliegende Themen miteinander verbindet, entfaltet er neue Wahrnehmungen von blackness und entwirft ein tiefgründiges, multiperspektivisches Bild unserer Gegenwart.
Teju Cole
Schreiben in dunkler Zeit
Aus dem Englischen von Anna Jäger und Uda Strätling
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de
The Randy L. and Melvin R. Berlin Family Lectures
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Black Paper bei der University of Chicago Press.
Der Ullstein Verlag dankt allen Rechteinhaber:innen für die Erlaubnis, aus den Werken zu zitieren. Trotz intensiver Bemühungen war es nicht möglich, alle Rechteinhaber:innen zu ermitteln. Wir bitten diese, sich gegebenenfalls an den Verlag zu wenden.
© 2021 by Teju Cole© der deutschsprachigen Ausgabe2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: zero-media.net, München nach einer Vorlage von Isaac TobinUmschlagmotiv: © Teju ColeAutorenabbildung: © Maggie Janik | Harvard GSDE-Book-Konvertierung powered by pepyrus
ISBN 978-3-8437-2899-7
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Titelei
Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Vorwort
Die Essays
1. Teil
Wie Caravaggio
2. Teil: Elegien
Raum 406
Mamas Totentuch
Vier Elegien
Zwei Elegien
Brief an John Berger
Quartett für Edward Said
3. Teil: Schatten
Gespinstige Welt: Über Santu Mofokeng
Beschwörung Marie Cosindas’
Nachbilder
Geborstenes Glas
Was heißt Hinsehen?
Tatort Grenze
Schattenkabinett – die Kunst Kerry James Marshalls
Nächtige Farbe: Zum Werk Lorna Simpsons
Wie schwarz ist der Panther?
Im Dunkeln bleiben
4. Teil: Mit allen Sinnen
Erfahrung
Epiphanien
Ethik
5. Teil: In dunkler Zeit
Haltung bewahren
Wehrt euch, weigert euch
Durch die Tür
Nord-Passagen
Vom Tragen und Getragenwerden
Epilog
Black Paper
Anhang
Bildteil
Danksagung
Literaturverzeichnis
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Vorwort
Für Sasha
Die Essays in diesem Band nehmen die vielfältigen Bruchlinien unserer Zeit aus wechselnder Warte in den Blick. Der Großteil der Texte entstand im Laufe von drei Jahren, genauer seit Ende 2016. Sie widmen sich einer Vielzahl von Themen: der Farbe Schwarz in der bildenden Kunst, der Bedeutung von Schatten in der Fotografie, der tröstlichen Kraft von Musik und Architektur, ferner dem Gedenken, mal sehr persönlich, mal eher förmlich, und der schwierigen Beziehung von Aufruhr, Literatur und Aktivismus.
Herzstück der Sammlung sind die Randy L. and Melvin R. Berlin Family Lectures, die ich im Frühjahr 2019 an der University of Chicago halten durfte, eine große Ehre. Diese Vorlesungsreihe, der ich den Titel »Mit allen Sinnen« gab, wird hier erstmals in leicht veränderter Fassung abgedruckt.
Sich auch nachts zurechtfinden und angemessen reagieren zu können – im Dunkeln sehen, im Dunkeln hören –, ist von jeher überlebenswichtig gewesen. Diese Essays plädieren eindringlich für eine Haltung der wachen Sinne – wach für Erfahrungen, für Epiphanien, für ein lebendiges Bewusstsein ethischer Verantwortung. Black Paper erzählt von der Hilfe, die ich bei denen gesucht und gefunden habe, die fotografieren, dichten, malen, komponieren, übersetzen, reisen, trauern und um die Weisheit wissen, die im Dunkeln liegt.
Michelangelo Merisi di Caravaggio, Ende 1571 in Mailand geboren, ist der Inbegriff des unkontrollierbaren Künstlers, des Genies, für das normale Regeln nicht gelten. »Caravaggio«, der Name des norditalienischen Dorfes, aus dem seine Familie stammte, liest sich wie die Verbindung zweier Wörter, nämlich Chiaroscuro (Hell-Dunkel-Malerei) und Braggadocio (Prahlerei): grelles Licht gemischt mit tiefem Dunkel auf der einen Seite, ungebremste Arroganz auf der anderen. Caravaggio wuchs in der Stadt Mailand und im Dorf Caravaggio in einer Familie auf, von der manche sagen, sie habe an der Schwelle zum Kleinadel gestanden. Er war sechs Jahre alt, als er am selben Tag seinen Vater und seinen Großvater durch die Pest verlor. Im Alter von etwa dreizehn Jahren ging er bei Simone Peterzano, einem Maler aus der Region, in die Lehre, von dem er die Grundlagen gelernt haben muss: Vorbereitung der Leinwände, Mischen der Farben, Perspektive, Proportion. In dieser Zeit schien er eine Vorliebe für Stillleben zu entwickeln, und vermutlich nahm er während seines Studiums bei Peterzano die besonnene Stimmung von Leonardo da Vinci und großen norditalienischen Malern des sechzehnten Jahrhunderts wie Giorgione und Tizian auf.
Sehr wahrscheinlich ging Caravaggio zum ersten Mal 1592 nach Rom. Grund dafür mag seine Verwicklung in einen Vorfall in Mailand gewesen sein, bei dem ein Polizist verletzt wurde (die Einzelheiten sind, wie so vieles in seinem Leben, nebulös). Das sollte bei Weitem nicht das einzige Mal sein, dass er aus einer Stadt verschwinden musste. Es dauerte nicht lange, bis er sich in Rom sowohl Anerkennung als auch einen schlechten Ruf verdient hatte. Mitte der 1590er-Jahre hatte er als Maler zu dem Stil und den Themen gefunden, die wir oft als caravaggesk bezeichnen: Lautenmusikanten, Kartenspieler, eine Schar grübelnder androgyner Jugendlicher. Renommierte Sammler, darunter Kardinal Scipione Borghese und Kardinal Francesco Maria del Monte, wetteiferten um seine Werke. Der Erfolg stieg ihm zu Kopf, oder vielleicht löste er nur etwas aus, was schon immer da gewesen war. Seine Sprache wurde gröber, der Alkoholkonsum nahm zu, er geriet häufig in Schlägereien und wurde mehrfach verhaftet.
1604 war Caravaggio zweiunddreißig Jahre alt. Er hatte bereits eine Reihe von unvergesslichen Meisterwerken für römische Mäzene und Kirchen geschaffen: Das Abendmahl in Emmaus, Die Berufung des Heiligen Matthäus in der Contarelli-Kapelle, Die Bekehrung Pauli in der Cerasi-Kapelle, Die Opferung Isaaks, Der ungläubige Thomas. In diesem Jahr vollendete er auch Die Grablegung Christi, ein Werk von tiefer Trauer und erstaunlicher Ausführung, selbst für Caravaggios ohnehin schon hohe Ansprüche. Was sein persönliches Verhalten anging, so blieb er jedoch rücksichtslos. »Manchmal suchte er nach einer Gelegenheit, sich das Genick zu brechen oder das Leben eines anderen in Gefahr zu bringen«, schreibt Giovanni Baglione, Zeitgenosse und einer seiner ersten Biografen. Giovanni Pietro Bellori, ein Schriftsteller des siebzehnten Jahrhunderts, berichtet: »Er pflegte mit einem Schwert durch die Stadt zu ziehen, gerade so wie ein Waffenknecht, einer jedenfalls, der sich keineswegs mit dem Malen beschäftigte.« Eines Tages bestellte er zum Mittagessen in einer Taverne acht Artischocken, und als sie ihm serviert wurden, wollte er wissen, welche mit Butter und welche mit Öl zubereitet worden waren. Der Kellner schlug dem Gast vor, an ihnen zu riechen, um die Antwort selbst herauszufinden. Caravaggio, stets eine Beleidigung witternd, sprang auf und warf dem Kellner den Steingutteller ins Gesicht. Daraufhin griff er zu seinem Schwert, der Kellner nahm Reißaus.
In Lagos verbrachte ich als kleiner Junge Stunden damit, seine Werke in Büchern zu studieren. Die Wirkung, die diese Gemälde auf mich haben, die Art und Weise, wie sie mich anrühren und gleichzeitig beunruhigen, lässt sich nicht nur auf die lange Vertrautheit mit ihnen zurückführen. Andere Lieblingsmaler aus dieser Zeit, wie Jacques-Louis David, begeistern mich heute kaum noch, während Caravaggios Faszinationskraft sogar noch zugenommen hat. Und das kann nicht nur an seiner technischen Meisterschaft liegen. Die Gemälde haben sogar häufig Schwächen hinsichtlich ihrer Komposition und perspektivischen Verkürzung. Ich vermute, dass es daran liegt, dass er mehr von sich selbst, von seinen Gefühlen in die Gemälde einfließen ließ, als jemals irgendwer vor ihm.
Die Themen in einem Caravaggio-Gemälde mögen aus der Bibel oder einem Mythos stammen, aber dennoch ist es unmöglich, auch nur für einen Moment zu vergessen, dass dieses Gemälde von einem bestimmten Menschen erschaffen wurde, einem Menschen mit spezifischen Gefühlslagen und Vorlieben. Der Maler ist in einem Caravaggio-Gemälde stets anwesend. Wir spüren, dass er zu uns spricht. Die Zeitgenossen mögen an den biblischen Lektionen des zweifelnden Thomas interessiert gewesen sein, doch wir sind heute von Thomas’ Ungewissheit fasziniert, die wir in gewisser Weise als die des Malers verstehen.
Doch geht es bei Caravaggio um mehr als Subjektivität: Die ihm ganz eigene Form von Subjektivität legt den Fokus auf die bitteren und unangenehmen Seiten des Lebens. Sein dichtes Œuvre ist von Gefahr, Verführung und Ambiguität durchdrungen. Warum malte er so viele Märtyrertode und Enthauptungen? Das Grauen ist ein Teil des Lebens. Wir können nur hoffen, es nicht allzu oft erleben zu müssen, aber da es existiert, müssen wir manchmal hinsehen. Wie Sophokles oder Samuel Beckett oder Toni Morrison – und doch anders als sie alle – ist Caravaggio ein Künstler, der uns an die schmerzhaften Orte der Wirklichkeit führt. Und wenn wir mit ihm dort sind, spüren wir, dass er kein bloßer Wegweiser ist. Wir erkennen, dass er in diesem Schmerz tatsächlich zu Hause ist, dass er dort lebt. Genau da sitzt das Unbehagen.
Ende Mai 1606, zwei Jahre nach dem Artischocken-Vorfall, verlor Caravaggio gegen einen Mann namens Ranuccio Tomassoni eine Wette auf ein Tennisspiel. Es kam zu einem Kampf, an dem sich zahlreiche andere beteiligten. Caravaggio wurde am Kopf verletzt, er jedoch tötete Tomassoni mit einem Schwerthieb. Nachdem er sich zwei Tage in Rom versteckt gehalten hatte, floh er aus der Stadt, zunächst auf das Grundstück der Familie Colonna in der Nähe von Rom, und später, gegen Ende des Jahres, nach Neapel. Er war auf der Flucht.
Caravaggios spätere Karriere kann in zwei Phasen unterteilt werden: die römische Periode und alles, was auf den Mord an Tomassoni folgte. Es ist ein Wunder, dass er in diesem zweiten Akt, während er auf der Flucht war, so viel vollbringen konnte. Seine Arbeiten veränderten sich – die Pinselführung wurde freier, die Sujets morbider –, aber er blieb produktiv und wurde von seinen Mäzenen weiterhin geschätzt. Er arbeitete in Neapel, auf Malta, in drei verschiedenen Städten auf Sizilien und wieder in Neapel, bevor er sich in der Hoffnung auf eine Begnadigung durch den Papst auf den Weg nach Rom machte. Er verstarb vor der Ankunft.
Im Sommer 2016 hatte ich vor, beruflich nach Rom und Mailand zu reisen. Der US-amerikanische Präsidentschaftswahlkampf war in vollem Gange und lief auf allen Kanälen, die Gesellschaft befand sich in einem Zustand des kollektiven Nervenzusammenbruchs. Donald Trump konnte sich mit seiner bizarren Kandidatur entgegen allen Erwartungen durchsetzen. Überall auf der Welt waren rechte Bewegungen auf dem Vormarsch. Auf der Flucht vor Krieg und wirtschaftlichen Notlagen starben Tausende von Menschen im Mittelmeer. Die Brutalität von ISIS hatte Videos von Enthauptungen zu einem Teil der alltäglichen visuellen Kultur gemacht. Was mir von diesem Sommer in Erinnerung geblieben ist, ist das Gefühl, dass das Unheil nicht nur immer näher kam, sondern bereits eingetroffen war. (Es war bereits da, hat sich dann allerdings weiterentwickelt, und das gegenwärtige Übel ist, vier Jahre später, wieder ein anderes.)
Ich hatte vor, mir die Gemälde von Caravaggio in Rom und Mailand erneut anzusehen. Er würde mir immerhin etwas Wahres über den Untergang mitteilen, und ich würde bei ihm die Atempause finden, die uns manche Künstlerinnen und Künstler in dunklen Zeiten bieten können. Da kam mir eine alte, lang gehegte Idee wieder in den Sinn: Wie wäre es, wenn ich weiter in den Süden reiste und alle Orte besuchte, an denen sich Caravaggio in den Jahren seines Exils aufgehalten hatte? Viele der Werke, die er an diesen Orten erschaffen hat, sind erhalten, manche befinden sich sogar noch an ihrer ursprünglichen Stelle. Neapel, Valetta, Messina und möglicherweise Palermo. Je länger ich über diese Idee nachdachte, desto dringender wollte ich sie in die Tat umsetzen. Es ging mir nicht um einen luxuriösen Sommeraufenthalt. Die Orte, an denen Caravaggio im Exil gelebt hatte, waren allesamt zu Brennpunkten der Einwanderungskrise geworden, was nicht ganz zufällig war: Er war dorthin gegangen, weil es Hafenstädte waren. Häfen sind für Ankunft und Flucht die geeignetsten Orte. Orte, an denen ein fremder Mensch die Möglichkeit hat, sich weniger fremd zu fühlen. Ich hatte zwei gewichtige Gründe für meinen Entschluss, die Reise zu unternehmen: Erstens sehnte ich mich nach dem inneren Aufruhr, den ich vor den Gemälden Caravaggios in den Museen und Kirchen, in denen sie aufbewahrt wurden, verspüren würde. Und zweitens wollte ich etwas von dem sehen, was in diesem Moment draußen, jenseits der Mauern, geschah.
Ich kam Ende Juni mit dem Zug aus Rom in Neapel an. Ich war zum ersten Mal in der Stadt, und der Taxifahrer, ein Mann mittleren Alters, muss das geahnt haben. Er erklärte mir, dass der Festpreis zwischen dem neapolitanischen Hauptbahnhof und jedem Ziel in der Stadt fünfundzwanzig Euro betrage. Als der Hotelportier beteuerte, dass die Fahrt nicht mehr als fünfzehn Euro kosten sollte, war der Taxifahrer längst verschwunden. Später an diesem Abend kam ich in der Via Medina, nur ein paar Straßen von meinem Hotel entfernt, an einer Frau vorbei, die auf dem Boden schlief. Ihr Körper war fast vollständig mit einer Decke zugedeckt, aber ihre Füße ragten hervor, was mich an die nackten und schmutzigen Füße der Jungfrau Maria erinnerte, die die ersten Kritiker von Caravaggios Der Tod der Jungfrau so erzürnt hatten. Am nächsten Tag war die schlafende Frau nicht mehr da, aber ich sah eine andere Frau in der Nähe sitzen, die die Vorübergehenden mit verwirrten Worten anschrie, die vermutlich selbst für diejenigen, die Italienisch sprachen, unverständlich waren.
Neapel bildet eine Klammer um Caravaggios Jahre im Exil. Der erste Besuch fand Ende 1606 statt, der zweite 1609, und beide brachten ihm bedeutende Aufträge ein. Bereits im Oktober 1606 wurde er mit Angeboten überhäuft und in den höchsten neapolitanischen Künstlerkreisen willkommen geheißen. Eines seiner ersten Werke war für die damals junge Wohltätigkeitsgesellschaft Pio Monte della Misericordia bestimmt. Bei der Arbeit, für die er umgehend bezahlt wurde und die er schnell ausführte, handelt es sich um ein großes Leinwandgemälde mit dem Titel Die Sieben Werke der Barmherzigkeit. Im Zentrum der Stadt, auf der Via dei Tribunali, ist es noch heute in der Kirche zu sehen, für die es in Auftrag gegeben wurde. Die Sieben Werke der Barmherzigkeit ist ein komplexes Gemälde, das versucht, sieben verschiedene Vignetten, allegorische Gegenstücke zu den sieben Todsünden, auf einer vertikalen Ebene unterzubringen. In Abbildungen wirkt das Bild wie ein überladenes Durcheinander. Wenn man es aber im wirklichen Leben in einem kleinen achteckigen Gebäude in der Höhe von über dreieinhalb Meter hängend betrachtet, ist es unheimlich fesselnd.
Die Figuren treten aus dem Dunkel hervor, um ihre jeweiligen Rollen zu spielen, und sie scheinen sich wieder in die Finsternis zurückzuziehen, wenn das Auge der Betrachtenden zu einem anderen Abschnitt des Gemäldes weiterwandert. Auf der rechten Seite findet sich die Allegorie der Caritas Romana: Der alte, inhaftierte Cimon wird von seiner Tochter gestillt. Hinter ihr wird eine Leiche herausgetragen (von der wir nur die Füße sehen), was die Pflicht zur Bestattung der Toten darstellt. Im Vordergrund gemahnt ein zu Füßen des heiligen Martin liegender Bettler mit nacktem Oberkörper an das Gebot, die Nackten zu bekleiden. Mit seiner verschachtelten Erzählung und seinen Lichteffekten sollte Die Sieben Werke der Barmherzigkeit einen beeindruckenden Einfluss auf die neapolitanische Malerei nach Caravaggio haben. Hier zeichnet sich eine Art Muster ab: In jeder Stadt, in der er lebte, schlug er ein wie ein Blitz, eine verblüffende, aber kurze Erleuchtung, nach der nichts mehr so war wie zuvor. Als ich aus der Kirche auf die Via dei Tribunali trat, schienen sich Die Sieben Werke der Barmherzigkeit mit ihren wogenden Bewegungen und der scharfen Trennung von Hell und Dunkel auf der belebten Straße fortzusetzen.
Am Tag meiner Ankunft in Neapel sah ich ein paar junge afrikanische Männer, die direkt vor dem Hauptbahnhof Hemden und Hüte verkauften. Am Nachmittag ging ich vom Castel Nuovo hinunter zum Castel dell’Ovo, wo eine Gruppe von Jungs vom Damm ins Wasser der Bucht sprang. In der Nähe des Burgeingangs verkaufte ein Mann Souvenirs. Er war Senegalese, übersetzte gelegentlich auch Bücher. Er sprach fließend Französisch, Italienisch und Englisch. In seinem aktuellen Projekt, erzählte er mir, beschäftige er sich mit der afrikanischen Bevölkerung in Italien. Ich fragte ihn, wo sich die Afrikaner:innen in Neapel aufhielten, und er antwortete, dass ich vielleicht einige auf der Piazza Garibaldi antreffen würde. Das sei allerdings keine Gegend, fügte er hinzu, in der ich mich nach Einbruch der Dunkelheit aufhalten sollte.
Stattdessen spazierte ich an diesem Abend durch die Quartieri Spagnoli, das belebte »Spanische Viertel«, in dem Caravaggio gelebt hatte und in dem er jene Kombination aus Hochkultur und niederem Milieu gefunden hatte, die ihn so reizte. Die Gassen des Viertels waren eng, die Häuser hoch; viele Mauern waren mit Graffiti verziert. Man konnte sich leicht vorstellen, dass das Leben hier lange Zeit ungestüm und fröhlich gewesen war, dass es ein Ort der Verschwiegenheit und Ungezwungenheit war – genau das Richtige für einen Mann auf der Flucht. An diesem Abend waren die Quartieri Spagnoli sehr belebt, voller Anwohnender, Studierender und Reisender. Mein Kellner in der Pizzeria, in der ich zu Abend aß, war ein jovialer junger Mann mit der Tätowierung veni, vidi, vici auf dem Arm. Es war natürlich eine Anspielung auf Julius Cäsar, aber es könnte auch, wie ich später herausfand, ein Erkennungszeichen für die Mitglieder der wiederauflebenden rechtsextremen Bewegung in Italien gewesen sein, ein Zeichen ihrer Nostalgie für Mussolinis Faschismus.
Am nächsten Morgen ging ich zum Museo di Capodimonte, das sich im nördlichen Teil der Stadt in einem Gebäude befindet, das früher der Palast der bourbonischen Herrscher von Neapel und Sizilien war. Durch eine lange, gerade Abfolge von Räumen gelangte ich zu Caravaggios Die Geißelung Christi (Abbildung 1). In Lebensgröße steht Christus an der Geißelsäule, und um ihn herum drei Schergen, von denen zwei an ihm zerren und der dritte vornübergebeugt die Peitsche vorbereitet. Wie so oft bei Caravaggio wird eine Situation dargestellt, aber die intensive Stimmung geht darüber hinaus und sprengt diese, durch den Einsatz von unnatürlichen Schatten, einem vereinfachten Hintergrund und einer begrenzten Farbpalette. Es ist ein Bild von brutaler Ungerechtigkeit, ein Bild, das uns vor die Frage stellt, warum überhaupt irgendwer jemals gefoltert werden sollte.
1 Caravaggio, Die Geißelung Christi. Öl auf Leinwand. Museo di Capodimonte, Neapel.
Als ich das Museum verließ und bei einem Abendspaziergang durch die geschäftige Stadt den Capodimonte-Hügel hinunterging, war ich beunruhigt. Ich stellte mir vor, dass ich von Menschen in den Hauseingängen und an den Fenstern beobachtet wurde. Ich dachte darüber nach, dass Caravaggio nach seiner Flucht ins Exil nie wieder ruhig schlafen konnte, aber ich dachte auch an all jene in der Stadt, die in diesem Moment auf die eine oder andere Art prekäre Gäste waren: die Frau im Hauseingang auf der Via Medina, der Souvenirverkäufer am Castel dell’Ovo, die vielen jungen Afrikaner, die ich am Hauptbahnhof gesehen hatte.
Neapel hatte mir zwei überwältigende späte Gemälde von Caravaggio geboten, aber mein Versuch, ein drittes zu sehen, wurde vereitelt. Das Martyrium der Heiligen Ursula, das als sein letztes Gemälde gilt, wurde gerade als Leihgabe andernorts ausgestellt. Ich beschloss, am nächsten Tag nach Palermo aufzubrechen. Ich reiste in der falschen Reihenfolge: Caravaggio ging von Neapel nach Malta, erst dann nach Sizilien und schließlich zurück nach Neapel. Aber intuitiv beschloss ich, mit Malta, als abgelegenem Höhepunkt einer Traumreise, bis fast zum Schluss zu warten.
Als ich in mein Hotelzimmer zurückkehrte, war die Nacht bereits angebrochen. Unter mir lag die Stadt mit ihren dicht gedrängten Häusern in der Dämmerung, deren Lichter wie eine Wolke aus Glühwürmchen bis zum Wasser mit seinen Fähren und Kreuzfahrtschiffen flimmerten – und dahinter lagen in fast völliger Dunkelheit der Golf von Neapel, der Vesuv, die Insel Capri und das Mittelmeer.
Das Oratorio di San Lorenzo in der Via Immacolatella in Palermo befindet sich in einem Gewirr aus so engen und verwinkelten Gassen, dass ich beinahe direkt vor dem Gebäude stand, ohne es zu sehen. Zweimal bog ich falsch ab, bevor ich endlich den Eingang fand. Jahrhundertelang hing Caravaggios Christi Geburt mit den Heiligen Franziskus und Laurentius über dem Hauptaltar in der Kapelle dieses Oratoriums. Caravaggio schuf das Gemälde wahrscheinlich im Jahr 1609, obwohl der etwas biedere Stil (einige Elemente der Komposition erinnern an sein deutlich früheres Werk Berufung des Heiligen Matthäus) sowie die spärlichen Unterlagen diese Datierung infrage stellen. Sicher ist, dass das Gemälde vor 1610 entstand und zu den Schätzen Palermos zählte, bis es in der Nacht des 17. Oktober 1969 von Unbekannten aus dem Rahmen geschnitten und von da an nie wieder gesehen wurde.
Es wird allgemein angenommen, dass die Mafia höchstwahrscheinlich in diesen Diebstahl verwickelt und für das endgültige Schicksal des Gemäldes verantwortlich war. Was aber war dieses endgültige Schicksal? Es kursieren verschiedene Geschichten. Es wurde weiterverkauft; es wurde an Schweine verfüttert; es verbrannte in einem Feuer. Aber niemand weiß es mit Gewissheit. An seinem Platz über dem Hauptaltar des Oratoriums hängt nun eine Kopie, die 2009 in Auftrag gegeben und nach Fotografien des Originals gemalt wurde – eine mutige Reproduktion, die einem echten Caravaggio nicht im Geringsten ähnelt. Vielleicht fordert die Broschüre die Besucher:innen deshalb dazu auf, ihren Blick woanders hinzulenken und sich am »wunderschönen marmornen Boden« zu erfreuen, den »die Marmorkünstler Francesco Camanlino und Alojsio Mira 1716 gestaltet haben«. Ich war aber nicht hierhergepilgert, um einen Marmorboden zu sehen. Es gibt so wenige Caravaggios – die Fachleute gehen von etwa achtzig aus –, dass sich die fehlenden wie eine Wunde anfühlen: jene von Autoren des siebzehnten Jahrhunderts erwähnten Werke, die entweder nicht mehr erhalten sind oder nicht zugeordnet werden können, die drei Arbeiten, die 1945 in Berlin im Feuer zerstört wurden, und das Gemälde, das im Oratorium in Palermo herumspukt.
Der Sommer meiner Reise fiel in eine schwierige Zeit in Italien, aber Sizilien hatte noch einmal ganz eigene Schwierigkeiten. Ich war mir beispielsweise unsicher, ob sich die vielen Graffiti mit dem Wort »Ultras«, die ich sah, auf radikale Fußballfans, rechtsextreme Verbrecher oder vielleicht auf eine Kombination aus beidem bezog. In der Nachmittagshitze schlenderte ich über den Ballarò-Markt, an dessen bunten Ständen Obst, Gemüse und Billigwaren verkauft wurden. Als ich zurückkam, ging die Sonne unter, und die Stadt hatte sich gewandelt. Die Marktstände waren geschlossen, die Straßen beinahe still. Es kursierten Geschichten über die Konflikte, die einige Nigerianer:innen in Palermo mit der Mafia hatten, über ihre Verwicklung in die Prostitution, über grauenhafte Gewalttaten, die sie sowohl erfuhren wie verübten, über Messerstechereien und Morde. Nichts davon war an diesem Abend während meines Spaziergangs über den Ballarò-Markt zu sehen, aber die Stimmung war angespannt, und ich wollte mich dort nicht länger aufhalten.
Zwei Dinge waren mir klar geworden, als ich am nächsten Morgen mit dem Zug entlang der sizilianischen Küste von Palermo – vorbei an mir unbekannten Orten wie Cefalù, Capo d’Orlando, Gioiosa Marea und Barcellona – nach Messina fuhr. Die erste Einsicht war, dass ich meine Erkundung von Caravaggios Jahren im Exil nicht länger von dem trennen konnte, was ich um mich herum im heutigen Italien sah: Das Meer war dasselbe, die Eindrücke von Gefahren an allen Ecken reimten sich. Zweitens war ich nach meinem gescheiterten Versuch, Das Martyrium der Heiligen Ursula in Neapel zu sehen, sowie nach der vorhersehbaren Enttäuschung über die Replik der Geburt Christi in Palermo mehr als bereit dafür, wieder vor einem echten und prächtigen Caravaggio-Gemälde zu stehen. Am Bahnhof in Messina stieg ich in ein Taxi. Der Fahrer sagte: »Na, Sie sind wohl ein Fußballspieler?« Ich lachte. Ja, was sollte ein junger Afrikaner auf dem Weg in ein Hotel auch sonst sein? »Nein, ich bin hier, um mir Gemälde von Caravaggio anzuschauen.« »Ah Caravaggio«, sagte er wenig überzeugt. »Caravaggio. Großartig.«
In Messina traf ich mich mit Alessandra Coppola, einer Journalistin aus Neapel, die sich bereit erklärt hatte, mich auf Sizilien als Reiseführerin zu begleiten. Nach dem Mittagessen spazierten wir durch die Stadt, die keiner der Städte ähnelte, die ich bisher in Italien gesehen hatte: bescheiden, modern, voller mehrstöckiger Häuser mit Flachdächern und ohne jegliche Verzierung. Dafür gab es einen guten Grund: Im Dezember 1908 hatte ein Erdbeben Messina erschüttert, neunzig Prozent seiner Gebäude zerstört und siebzigtausend Menschen in der Umgebung getötet. Die Stadt, die danach wieder aufgebaut worden war, war schlichter und rationaler als die meisten anderen italienischen Städte dieser Größe. Viele der neuen Gebäude wurden so errichtet, dass sie zukünftigen Erdbeben standhalten konnten.
Am späten Nachmittag besuchten Alessandra und ich das Museo Regionale di Messina, ein schlichtes Gebäude auf einer Anhöhe in der Nähe der Meerenge, die Sizilien vom Festland trennt. Auf dem Gelände verstreut befanden sich Bäume sowie antike Skulpturen. Unser Besuch fiel auf einen Mittwochnachmittag, und außer uns war fast niemand da. Wir schätzten uns glücklich, als wir durch die ruhigen Galerien gingen. Nachdem ich einen großen grauen Saal betreten hatte, stand ich plötzlich, ohne Fanfaren oder Vorwarnung, vor der Auferweckung des Lazarus (Bildtafel 2). Es erwischte mich wie ein unerwarteter Windstoß. Ich erinnere mich nicht, ob ich damals aufschrie, aber ich weiß, dass ich zu zittern begann. Ich näherte mich dem Gemälde und versuchte, seine Bedeutung auszumachen – ein grell ausgeleuchtetes, beängstigendes Bild, ein Gewirr von Gliedmaßen, ein unaufgeklärtes Drama –, und dabei bemerkte ich, dass in diesem Raum noch ein zweites Bild, ebenfalls von Caravaggio, hing: seine Anbetung der Hirten. Ein ruhigeres Werk, das aber auch von großem Format ist und ein ganz eigenes Kraftfeld besitzt.
Ich saß auf einer Bank in der Mitte des Raums, die beiden Gemälde hingen in einem rechten Winkel zueinander. Gefangen zwischen diesen beiden unermesslichen Größen fühlte ich mich ehrfürchtig, atemlos. Der bloße Akt des Betrachtens eines alten Gemäldes kann an sich schon seltsam sein. Es handelt sich um eine Aktivität, die mit Klassenzugehörigkeit und sozialen Ambitionen verbunden ist. Manchmal fühlt es sich an wie ein unterhaltsames – oder irritierendes – Wandeln unter den Vorfahren der Weißen. Es kann aber auch wunderbar sein und Betrachtenden die Möglichkeit bieten, sich von der Genialität oder Erkenntnis eines fremden Menschen beschenken zu lassen. Nur selten geschieht etwas noch Besseres: Ein Gemälde, das vor Hunderten von Jahren in einem fernen Land erschaffen wurde, bei dem sich die sorgfältige Aufmerksamkeit und turbulente Erfahrung eines Künstlers in die aufgespannte Leinwand einlagerten, springt aus der Vergangenheit hervor, um dich – dich – in der Gegenwart auf sich aufmerksam zu machen, um dich zu verwirren, indem es dir sowohl ein Gefühl des Schreckens als auch des Trosts entlockt, um dir ein Bewusstsein von dir selbst zu vermitteln, wodurch du etwas erlebst, das sich dem Zugriff der Sprache entzieht, etwas, ohne das du nicht leben wolltest.
Die Auferweckung des Lazarus, um 1609 entstanden, wird im oberen Bereich von einer dunklen Fläche dominiert. Darunter befindet sich, wie von einem Scheinwerfer beleuchtet, die Szene der Auferstehung. In der Mitte liegt, diagonal ausgestreckt, zwischen Leben und Tod, der blasse, beinahe grünliche Körper des Lazarus. Ein Mann stützt ihn, und zur Rechten befinden sich seine trauernden Schwestern. Auf der linken Seite ist die Figur Christi zu sehen, dessen Kopf von hinten beleuchtet wird und der seinen rechten Arm ausstreckt, um den Toten ins Leben zurückzurufen. Goldenes Licht fällt auf Hände und Gesichter, Arme und Beine.
Die Geschichte von Lazarus, wie sie im Johannesevangelium erzählt wird, hat mich immer sehr berührt. Die Grundform der Erzählung ist bekannt und nachempfindbar: Jemand stirbt, und die untröstliche Familie bittet darum, dass ihr Verlust rückgängig gemacht werde. Im Fall von Lazarus ist Christus von der Trauer der Familie so bewegt, dass er in die natürliche Ordnung der Dinge eingreift und eine einzigartige Ausnahme gewährt: Er erweckt den Toten wieder zum Leben. Dies macht die Szene zu einem Beispiel für kosmische Gunst, auf die wir alle hoffen, wenn wir aufs Schlimmste verwundet und verletzlich sind. Caravaggio reduziert die Szene auf ihre wesentlichen Elemente: die verwirrten Gesichter der Umstehenden und die niedergeschlagenen Gesichter der Schwestern, der nekrotische Körper des Lazarus, die übernatürliche Macht von Christus.
Das sich in der Anbetung der Hirten abspielende Drama ist im Vergleich deutlich ruhiger. Was lässt sich mit dem Stall anfangen, in dem das Jesuskind geboren wurde? Vielen Künstler:innen gelingt es nicht, das Märchengepäck der Geschichte abzuwerfen, doch durch Caravaggios Hände wird die Erzählung erneut zum Leben erweckt. Der Schlüssel ist auch hier wieder sein Vertrauen in den Realismus: Zeige, wie die Dinge aussehen, und die Emotionen werden folgen. Das Gemälde ist eine Lache aus gebrannter Umbra, die das Plazentarot der Gewänder der Jungfrau und eines der Hirten umgibt. Dies ist keine liebliche Familienszene, sondern vielmehr ein Zeugnis von Härte und Not. Warum sollten sich ein Neugeborenes und seine Mutter an einem so schmutzigen Ort aufhalten, der ihnen kaum Schutz vor der Witterung bietet? In welche Ecke eines Geflüchtetenlagers erhalten wir hier Einblick? Warum haben diese Leute kein Zuhause?
1607 verließ Caravaggio Neapel und kam Ende 1608 auf Sizilien an, wo er in Syrakus, Messina und wahrscheinlich auch Palermo Auftragsarbeiten annahm. Zwischen seinem Aufenthalt in Neapel und seiner Ankunft auf Sizilien verbrachte er mehr als ein Jahr weiter südlich, auf Malta. Neapel musste er aus unbekannten Gründen verlassen. Und dann, Caravaggio blieb sich treu, musste er aus Malta fliehen, nachdem er dort ein Verbrechen begangen hatte. Und als er Sizilien verließ, war er notgedrungenerweise in Eile, diesmal fürchtete er um sein Leben. Er kehrte aus Sizilien nach Neapel zurück, von wo aus er sich auf den Weg nach Rom machte. In diesen verwickelten letzten Jahren und Monaten war er produktiv, aber auch sehr mitgenommen und obdachlos. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass er ein tiefes Mitgefühl mit der Heiligen Familie empfunden haben mag, als er die Anbetung der Hirten malte. Sie hatten es schließlich mit einem der einfachsten und doch kompliziertesten aller menschlichen Bedürfnisse zu tun: einen passenden und sicheren Ort für die Nacht zu finden.
Im Hotel in Messina las ich in der Morgenausgabe des Corriere della Sera von einem Boot, das vor über einem Jahr mit siebenhundert Menschen an Bord gesunken war. Die italienische Küstenwache hatte dieses Boot nun geborgen. Es war hochgeholt worden und wurde zum Hafen von Augusta in Sizilien gebracht. Ich beschloss, nach Augusta zu fahren und das Anlegen des Bootes zu beobachten. An einem klaren sonnigen Morgen, der den Blick auf die rauchende Spitze des Ätna über weite Strecken zu unserer Rechten freigab, fuhren wir von Messina aus die Küste entlang, vorbei an Taormina und Catania. Als wir die Stadt Augusta erreichten, war sie hell und menschenleer. Wir aßen dort in einem Café zu Mittag, konnten aber nichts über das geborgene Boot in Erfahrung bringen. Also fuhren wir weiter, an Syrakus vorbei, in den Ferienort Pozzallo an der südlichsten Spitze der Insel. Ein Leichenwagen fuhr vorüber, dem eine große Menschenmenge zu Fuß folgte.
Am Strand von Pozzallo trafen wir uns mit italienischen und amerikanischen Bekannten und fuhren dann zum Hafengebiet, wo die Fähren und Containerschiffe liegen. Das Tor stand offen, doch weder am Fenster des Pförtnerhäuschens noch auf dem Gelände war jemand zu sehen. Zwischen der Anlegestelle und der Straße, eingezäunt hinter dem Hafengelände und knapp fünfzig Meter von uns entfernt, lagen acht große Holzboote auf dem Parkplatz. Sie waren blau, weiß und rot gestrichen und lagen eng beieinander, jedes auf die Seite gekippt, wobei einige aneinanderlehnten. Ich ließ meine Gruppe zurück und ging auf die Boote zu. Die Bootsdecks waren über und über mit orangefarbenen Schwimmwesten bedeckt, und als ich die Boote erreichte, war der starke Geruch, den sie verströmten, zu einem üblen Gestank geworden. Die Boote schienen aus dem Meer gezogen worden zu sein, ohne jeden Versuch, sie danach zu reinigen. Sie waren nicht nur mit Unmengen von schmutzigen Schwimmwesten übersät, sondern auch mit Plastikflaschen, Schuhen, Hemden und all dem Dreck, den tagelanges Zusammenleben auf engstem Raum mit sich bringt.