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Jede der in diesem Band versammelten Geschichten zeigt eine Mischung aus Mystery, Phantasie und Realismus. Jeder dieser Erzählungen entführt den Leser auf eine Reise durch das Reich der Ängste, Hoffnungen, Wirklichkeiten und Alpträume. Geschichten über Gut und Böse, Liebe und Hass, Hoffnung und Enttäuschung, Neid und Missgunst wechseln sich ab mit Erzählungen, die von Abenteuer, verpassten Chancen, Erlösung und Vergebung handeln.
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Seitenzahl: 309
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Mein Dank gilt Beni Haller, der in mühevollerund zeitintensiver Kleinarbeit, meineGeschichten durchgelesen hat und sieverbesserte; und sie dadurch nur nochinteressanter machte.
Danke Beni
Vorwort
Endlose Liebe (Demenz)
Zukunft
Kreatur
Regulator
Wald
Erlösung
Die Frau die sich teilte
Wächter der Zeit
Der Mann an der Ecke
Erinnerungen
Lamia
Die Frau am Fenster
Zweite Chance
Bis ans Ende der Welt
Wenn man eine Geschichte schreibt, gibt es meiner Ansicht immer nur drei Möglichkeiten.
Erstens: Es handelt sich um eine wahre Begebenheit.
Zweitens: Sie ist einfach nur erfunden.
Drittens: Es ist eine Mischung aus beidem.
In diesem Buch werden sie 15 Geschichten vorfinden, in dem alle drei Möglichkeiten vereint sind und die mich alle irgendwie beschäftigt haben oder es noch tun. Es sind Geschichten, die ich entweder selbst erlebt habe oder die auf eine gewisse Weise etwas mit mir und meinem Umfeld zu tun haben.
In Endlose Liebe schreibe ich über meine Mutter, die schon seit einigen Jahren an Demenz leidet. Vor einigen Monaten war es dann soweit. Ein Heimaufenthalt war unumgänglich und seit dem lebt sie mehr schlecht als recht in ihrer eigenen Welt. Es wird wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, dann wird sie diese Welt für immer verlassen und ich weiß nicht, ob ich mich für sie freuen oder ob ich weinen soll.
In Zukunft schreibe ich ein klein wenig von mir selbst. Wenn mich die Dämonen meiner Angst und des Selbstzweifels heimsuchen, fühle ich genau so.
In der Geschichte Kreatur erzähle ich die Erfahrungen wieder, die ich als Kind bzw. Jugendlicher in meiner Schule gemacht hatte. Ich war weder der Klassenliebling, noch war ich der Außenseiter, dennoch habe ich sehr viele unliebsame und unschöne Dinge erlebt, die ich am liebsten heute noch ausgleichen möchte.
Bei Regulator und Zweite Chance versuche ich meine Gefühle wiederzugeben, die ich manchmal habe, wenn ich an die Vergangenheit denke. Jeder von uns hatte sich bestimmt schon einmal eine Zeitmaschine gewünscht, um damit in seine eigene Vergangenheit zu reisen. Entweder um einen Fehler wieder gut zu machen oder um eine andere Entscheidung zu fällen.
Bei Wald hatte ich die Idee, meine Angst nieder zu schreiben, die ich vor nunmehr über 35 Jahren gehabt hatte. Es war im Schullandheim und die Lehrer hatten uns ein Spiel vorgeschlagen. Während die eine Gruppe ein befestigtes Depot bewachte, mussten die anderen dieses erobern. Ich gehörte zu denjenigen, die es erobern musste. Wir waren kaum ein paar Minuten im Wald, als uns schon die anderen überfielen und fast alle „gefangen nahmen“. Ich konnte mit ein paar anderen fliehen, doch kurz darauf war ich im Wald allein. Ich weiß nicht, wie lange ich in diesem herumgeirrt bin und wie ich mich orientiert hatte, aber in dieser Zeit habe ich Dinge gehört und auch gesehen, die mir keiner geglaubt und auch je glauben wird. Irgendwann schaffte ich es, aus diesem Wald zu entfliehen und zu dem Depot zu gelangen. Die Aufregung war groß, als ich wie aus dem Nichts erschien (man hatte mich schon vermisst) und es mir als einziger gelang, dieses Spiel zu gewinnen.
Erlösung hat keine großartige Gemeinsamkeit mit mir, außer das es die erste Geschichte war, die ich geschrieben hatte. Das ist jetzt mehr als 30 Jahre her und ich habe mir gedacht, sie passt hervorragend dazu.
In Die Frau die sich teilte ist es wiederrum so, dass wir uns alle irgendwie doch wünschten, immer das Richtig zu tun bzw. uns für das Richtig zu entscheiden. Doch manchmal ist es besser, alles so zu belassen, wie es ist.
Wächter der Zeit hätte eigentlich ein eigenständiger Roman sein sollen, doch als ich anfing, zu schreiben, merkte ich schnell, dass es dafür leider nicht reichte.
Bei Der Mann an der Ecke und Die Frau am Fenster habe ich mich von den Sehnsüchten und dem Verlangen leiten lassen, die ein jeder hat, der mit seiner eigenen Situation und seinem Leben nicht immer zufrieden ist. Es gibt immer Punkte in seinem Leben, wo man sich was anderes wünscht, um aus seinem klagvollen Leben zu entfliehen.
Die Grundidee zu Erinnerungen hatte ich einmal in einem Film gesehen, indem dies am Rande erwähnt wurde, aber mich hat das sofort fasziniert. Der Hauptdarsteller beschrieb dort die Erinnerung an einem Mädchen, dass er am Bahnhof gesehen hatte. Er hatte sich sofort in sie verliebt und sich nicht getraut, sie anzusprechen. Kurz darauf entschwand sie und er wusste sofort, dass es ein Fehler war. In den folgenden Wochen war er zur gleichen Zeit immer wieder da, um sie vielleicht wieder zu treffen, aber sie kam nicht mehr wieder. Er denkt noch heute daran und er würde zu gerne wissen, was aus ihr geworden ist. Ich habe die Idee aufgenommen und sie ein wenig ausgeschmückt, so nach dem Motto: Was wäre gewesen, wenn? Aber ich glaube, meistens ist es besser, wenn man die Vergangenheit, aber besonders die Zukunft nicht verändert, sondert einfach nur ruhen lässt.
In Lamia habe ich mich von meiner Lieblingsband Genesis führen lassen. In ihrem epochalen Werk „The Lamb lies down on Broadway“ besteht ein kleiner Abschnitt, wo diese fremdartigen Wesen beschrieben werden. Ich habe mir da die Freiheit genommen und habe eine eigenständige Geschichte darüber geschrieben.
Bis ans Ende der Welt soll die liebevolle Beziehung der Großeltern meiner Frau erzählen. Selten habe ich so eine Liebe und Zuneigung gesehen und gefühlt, wie sie diese zwei Menschen zueinander gehabt hatten. Leider weilen sie nicht mehr unter uns, doch ich weiß, da oben sind schon längst wieder vereint.
Er fragte sie, was sie heute gerne tun würde, doch sie antwortete ihm nicht.
Schon lange nicht mehr, aber es machte ihm nichts aus.
Früher, ja, früher, als noch alles in Ordnung war, da hatte es ihn ein wenig geärgert, wenn sie ihm auf seine Fragen nur spärlich antwortete, doch heute?
Nein, es war schon in Ordnung.
Er ging zu ihr ans Bett und hob sie sanft auf, dann trug er sie in ihren Stuhl.
Sie liebte es am Fenster zu sitzen und dem Treiben auf der Straße zu folgen, doch ihr Blick war leer.
Schon lange.
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages brachen sich im Glas und fluteten den Raum, kleinste Partikel stoben im Zimmer umher und vollführten einen kunstvollen Tanz.
Auch das liebte sie, aber konnte sie noch genießen?
Er wusste es nicht.
Es war Frühling und der kalte und erbarmungslose Winter, der dieses Jahr im Land gewütet hatte, machte Platz für neues Leben.
Er holte ihren Teppich und legte ihn auf ihren Schoß, denn er wusste, dass sie immer fror, egal welche Jahreszeit es war.
Er wusste viel von ihr.
Als sie sich vor über 60 Jahren getroffen hatten, verliebte er sich sofort in sie. Bei ihr war es anders, doch im Laufe ihrer Freundschaft, die es für sie am Anfang nur war, kamen auch bei ihr Gefühle von Zuneigung und Leidenschaft auf, die schlussendlich in ihrer Liebe zu ihm endete.
Sie liebte die Blumen.
Sie liebte die Tiere.
Sie liebte die Natur.
Sie setzte sich für jeden Schwachen ein, der sich nicht selbst wehren konnte.
Sie genoss gutes Essen.
Sie war offen, herzlich und sah sofort, wenn er Sorgen hatte.
Sie mochte den Frühling, genoss den Sommer, freute sich auf den Herbst und hasste den Winter.
Sie las gerne, diskutierte über jedes Thema und hatte immer einen hilfreichen Rat zur Hand.
Es gab noch viele andere Dinge, die er von ihr wusste, doch in den letzten Jahren wurde ihr Interesse immer weniger, bis es ganz versiegte.
Genauer gesagt, vor zwei Jahren.
Da hörte sie ganz auf, zu existieren.
Es war schwer für ihn.
An manchen Tagen unerträglich schwer, aber im Laufe der Monate gewöhnte er sich daran. Was sollte er auch machen?
Er schaute sie an und betrachtete sie eingehend.
„Wie schön du immer noch bist“, sagte er sanft, dann zog er ihr den Teppich ein wenig höher.
Er drehte sich von ihr weg und ging in die Küche. Sein Gang war langsam und schwer. Seine Gicht machte ihm wieder zu schaffen, aber das war das kleinste Problem, das er hatte.
Es war der Krebs, der in ihm wütete.
Vor 5 Monaten hatte er angefangen, Blut zu spucken. Verängstigt und aufgeregt ging er zu einem Spezialisten und bekam, nach unzähligen Untersuchungen, die traurige Mitteilung.
Krebs im Endstadium.
Er wusste es, dachte noch Scheiß Raucherei, und warum ich, aber eigentlich war es ihm egal.
Er war 82 Jahre alt und hatte sein Leben gelebt.
Sein Arzt riet ihm, trotz der eindeutigen Ergebnisse, zu einer Operation mit nachfolgender Behandlung.
Chemotherapie.
Falls er die Operation überlebte.
Der Arzt sagte ihm, die Chancen stünden nicht schlecht, 1:10, das er den Eingriff überlebte.
Aber wenn nicht?
Was wurde aus ihr werden, wenn er unter dem Skalpell der Ärzte starb?
Was würde mit ihr geschehen, wenn er sich nicht mehr um sie kümmern konnte?
Wer würde für sie sorgen, wenn er nicht mehr da war?
Ihre Kinder?
Ihr erstes Kind, ein Junge war schon kurz nach der Geburt verstorben, was für sie beide ein schwerer Schlag war, ihre Tochter hatte sich mit ihnen verkracht.
Nein, eigentlich mit ihm.
Sie wussten nur vage, wo sie sich gerade aufhielt. In Kanada, (oder war es Australien?), hatte sie selbst eine Familie, für die sie sorgen musste, da hatten sie beide keinen Platz.
Die Familie, die Verwandten?
Alle schon tot.
Die Freunde?
Entweder auch schon verstorben oder sie hatten selbst ihr Päckchen zu tragen
Der Staat, das Amt, die Fürsorge?
Am Anfang ihrer Erkrankung, kamen sie oft, dann immer seltener, bis sie nur noch sporadisch auftauchten.
Es war auch kein Wunder, wurde die Pflege doch immer intensiver.
Sie muss ins Pflegeheim, sagten sie zum Schluss, wir können es nicht mehr alleine tragen.
Der Staat auch nicht.
In einem offiziellen Schreiben teilten sie es ihm mit.
Wenn er sich nicht entschloss, seine Frau ins Pflegeheim zu geben, würden alle Leistungen eingestellt werden. Sie waren herzlos.
Aber waren sie das?
Er wusste, was er zu tun hatte, konnte es aber nicht.
Er erkannte es eindeutig, brachte es aber nicht über das Herz.
Er verstand es, wollte es aber nicht erkennen.
Es war keiner mehr da.
Wer also, würde sich ihrer annehmen?
Er wusste die Antwort.
Niemand.
Also war die Möglichkeit, sich unter das Messer zu legen (und höchstwahrscheinlich zu sterben), keine Option. Er blickte wieder zu ihr, dann stand er auf.
Er machte das Frühstück.
Kaffee, zwei gekochte Eier und ein paar Brötchen, dazu etwas Schinken und Käse. Das war alles, was sie noch an Essen hatten.
Eigentlich müsste er heute noch einkaufen gehen, aber wozu?
Er hatte für heute, für diesen Tag, eine Entscheidung getroffen.
Eine endgültige.
Er goss den Kaffee in zwei Tassen, dann legte er die Brötchen, den Käse und den Schinken auf ein Teller und kehrte damit zu ihr zurück.
„Frühstück ist fertig“, sagte er freundlich.
Sie starrte ihn wortlos an.
Er war es gewohnt, keine Antwort zu bekommen.
Er stellte alles auf den Tisch, dann holte er aus dem Schlafzimmer ihren Rollstuhl.
Als bei ihr die ersten Anzeichen einer Demenz einsetzten, war sie gerade 70 Jahre alt geworden.
Viel zu jung, dachte er damals, aber er belog sich selbst.
Es war jenes Alter, in dem die meisten Menschen diese Erkrankung bekamen, also musste er sich nicht wundern.
Am Anfang war es noch harmlos.
Ein vergessener Geburtstag, häufiges Fragen (was hatten wir noch einmal zum Mittagessen oder was für einen Tag haben wir heute?) und hin und wieder kleine Aussetzer, indem sie nicht wusste, wo sie war.
Dann wurde es schlimmer.
Sie nahm die Wäsche, steckte sie in den Backofen und wunderte sich später, warum sie immer noch dreckig war. Oder sie zog sich die Unterhose über die Jeans, holte Bettlaken aus der Kommode und überzog damit den Tisch oder biss in jedes Lebensmittel, das sie ergreifen konnte, um es dann doch nur achtlos liegen zu lassen.
Dann wurde es furchtbar.
Sie trippelte durch die Wohnung und hastete von einem Fenster zum anderen, machte sich in die Hose und weigerte sich vehement, sich zu waschen.
Am Schluss kreischte sie, wenn man sie nur anfasste.
Das war der Zustand, wo sie sich vom irdischen Leben verabschiedete und an einen Ort verschwand, wo sie niemanden hereinließ.
Auch ihn nicht.
Es war schwer.
Sehr schwer.
Unsagbar schwer.
Aber er liebte sie.
Immer noch.
Für immer.
Denn sie hatten sich etwas geschworen.
Als sie beide heiraten, war es ihr beider Gelübde gewesen, immer für einander da zu sein, wie in Guten, so auch in schweren Zeiten.
Daran hatte sie sich gehalten, als er krank wurde und es war nun an ihm, seinen Teil zu erfüllen.
Er versorgte sie, so gut es ging.
Am Anfang mit der Hilfe von Sozialstationen, die ihm Pflegekräfte schickten, dann, als diese Stütze wegbrach, versuchte er es allein.
Er wusch sie, obwohl sie schrie, er gab ihr zu Essen, obwohl sie das meiste wieder erbrach, er befreite sie von ihrer Notdurft, obwohl sie kurz darauf wieder die Windeln beschmutzte und er wieder von vorne beginnen musste.
Aber er tat es.
Weil er sie liebte.
Weil er sie immer lieben würde.
Sein Leben lang.
Er ging zu ihr und hob sie behutsam aus ihrem Stuhl und setzte sie in den Rollstuhl, dann fuhr er sie an den Tisch.
„Hier, dein Kaffee“, sagte er liebevoll und stellte die Tasse vor sie hin.
Sie reagierte nicht.
Er achtete nicht darauf, sondern schnitt eines der Brötchen der Länge nach auf und legte eine Scheibe Käse, sowie eine Scheibe Schinken darauf.
Er reichte es ihr, doch sie nahm es nicht an.
„Ich lege es dir da hin“, meinte er und lächelte, dann legte er das Brötchen neben die Tasse.
Er selbst trank nur einen Kaffee.
„Heute ist ein schöner Tag, ich glaube, er ist perfekt“, sagte er und lächelte erneut.
Ja, dachte er, er ist wie geschaffen dafür.
Die Schmerzen kamen langsam wieder.
Gestern Nacht konnte er sie durch eine Morphiumtablette besänftigen, doch jetzt schlichen sie sich wieder an ihn heran.
Er konnte sie kaum beschreiben, so vielfältig waren sie.
Sie waren manchmal stechend, dann wieder quälend und beißend, dann wieder brennend und ziehend. Manchmal kamen sie wie ein Orkan über ihn, manchmal schlichen sie sich heimtückisch an.
Nur eines blieb immer gleich.
Sie waren raubend.
Kräfteraubend.
Lebensraubend.
Er leerte die Tasse, dann stand er langsam auf und ging ins Bad. Als er dort mühsam angekommen war, öffnete er den Arzneischrank und nahm aus einem Regal ein kleines Päckchen heraus.
Er steckte es sich in seine Tasche und kehrte zu ihr zurück.
Als er wieder bei ihr war, setzte er sich wieder auf den Stuhl und kramte das kleine Päckchen hervor und legte es auf den Tisch.
„Valoron“, las er leise.
Er konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als ihm sein Arzt dieses Medikament verschrieben hatte.
Nur eine Tablette am Tag, nicht mehr, hatte er gemeint.
Doch er nahm schon seit längerem zwei, in den letzten Wochen sogar drei.
Die Schmerzen, die der Krebs verursachte, waren bestialisch. Am Anfang wirkte dieses Medikament noch gut, aber schon nach kurzer Zeit hatte sich der Körper so daran gewöhnt, dass er mehr benötigte. Erst halfen zwei, aber ihre Wirkung war bald verflogen, so dass er auf den Tag verteilt noch eine dritte benötigte.
Aber auch das half nicht lange.
Bald muss ich die ganze Packung fressen, damit sie noch helfen, dachte er oft und jedes Mal, wenn er das dachte, fielen ihm die mahnenden Worte seines Arztes ein:
Fünf dieser Tabletten, hauen ein Pferd um, 10 davon und sie schlafen ihr Leben lang und 20, ja, 20 mein Freund, dann haben sie es geschafft.
Er wusste, was sein Arzt meinte.
Er drückte eine Tablette aus der Blisterpackung und schluckte sie ohne Wasser hinunter.
„10 Minuten“, sagte er leise, doch er belog sich selbst. Sie brauchten jetzt immer länger, bis sie wirkten und sie hielten nicht lange an.
Das Schlimme aber war, sie vertrieben die Schmerzen nicht mehr.
Der pochende, meist quälende Schmerz blieb immer Gast in seinem Körper und ließ sich nicht mehr verbannen.
Auch das hatte ihm sein Arzt damals schon gesagt.
Irgendwann wird es soweit sein, das dieses Morphium nicht mehr hilft, meinte er.
Auf die Frage, was dann noch möglich wäre, schüttelte dieser resignierend mit dem Kopf.
Manchmal muss man keine Antwort geben, eine Geste reicht oft aus.
Er hatte verstanden.
Er schloss die Augen und versuchte, sich dem Schmerz zu stellen. Am Anfang gelang es ihm noch gut, dann aber verlor er langsam, aber stetig den Kampf. Kraken artig breitete sich der Schmerz um seine Lungen aus, dann drückte er gnadenlos zu. Er versuchte krampfhaft nach Luft zu schnappen, aber je mehr er es versuchte, desto weniger Luft durchströmte seine von Metastasen befallene Lunge.
„Scheiße“, ächzte er, während Schweiß an seinem schmerzverzerrten Gesicht hinablief.
Krampfhaft ballte er seine Hände zu Fäusten und hämmerte auf den Tisch, bevor er benommen auf diesen herab sank.
Immer noch nach Luft ringend, zuckte sein ganzer Körper, dann nach gnaden- und hoffnungslosem Kampf, erschlaffte er.
Er wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war.
Auch dies war egal.
Er musste bald handeln, sonst….
Die Anfälle kamen jetzt immer öfter. Auch das hatte ihm sein Arzt prognostiziert.
Wenn sie nicht rechtzeitig etwas dagegen tun, wird einer dieser Anfälle der letzte sein.
Er hatte damals nur genickt, mehr nicht.
Weil er wusste, dass es nicht soweit kommen würde.
Dafür würde er sorgen.
Und er hatte vorgesorgt.
Er erhob sich mühsam aus seinem Stuhl, dann wankte er auf sie zu.
„Meine Liebe, bald ist es soweit“, hauchte er sie an. Er schob ihren Rollstuhl wieder an das Fenster, dann kehrte er ihr den Rücken zu und verschwand abermals in das Badezimmer. Zum wiederholten Male öffnete er das Schränkchen und holte weitere Päckchen des Morphins hervor und steckte sie in seine Tasche.
20 mein Freund und sie haben es geschafft, hörte er seinen Arzt sagen.
Er lachte.
Er ging ins Schlafzimmer und legte die Arzneipäckchen auf sein Nachtkästchen, dann ging er in die Küche und holte sich ein Glas Wasser. Als er das Wohnzimmer durchquerte, sah er sie an.
„Wie friedlich sie doch ist“, sagte er leise, dann ging er zu ihr.
Er streichelte sie sanft an ihrer Wange, dann gab er ihr zärtlich einen Kuss.
„Ich liebe dich“, hauchte er, dann verließ er sie wieder. Als er im Schlafzimmer zurück war, stellte er das
Wasserglas auf sein Kästchen, nahm sich ein Arzneipäckchen und öffnete es. Behutsam löste er eine Tablette nach der anderen aus der Blisterpackung und legte sie alle auf die Bettdecke.
„20“, sagte er leise, ein weiteres Päckchen nehmend. Er wiederholte das Spiel.
„Doppelt hält besser“, meinte er lächelnd. Als er auch damit fertig war, nahm er die ganzen
Tabletten und schüttete sie in das Wasser.
Gespannt beobachtete er, wie sich die Tabletten nach und nach auflösten und dabei kleine sprudelnde Wirbel im Wasser verursachten.
Erleichtert genoss er den Anblick.
Warum?
Weil er wusste, dass er sich richtig entschieden hatte.
Nichts anderes war wichtig.
Denn dieser Weg, war der einzige, der ihm noch blieb.
Er drehte sich ab von diesem Schauspiel und schloss die Augen.
Was hatten sie nur für glückliche Tage erlebt.
Ihre erste Liebesnacht, in der er (und nicht sie) seine Unschuld verlor, die Geburt ihrer Tochter, die unbeschwerten und fröhlichen Urlaube, die sie gemeinsam genossen hatten, das liebevolle Miteinander, welches sie tagtäglich vollzogen und noch vieles andere mehr.
Seit er mit ihr zusammen war, schwamm er in einem Meer von Glückseligkeit und er dankte es ihr mit grenzenloser Treue und Liebe.
„Wir werden immer beisammen sein“, sagte er leise und weinte.
Tränen liefen an seinem von Falten übersäten Gesicht hinab, dann versiegten sie.
Er fasste sich wieder.
Er nahm seine Handfläche und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, dann ging er wieder zu ihr. Als er bei ihr angekommen war, legte er sacht seine Hand auf ihre Schulter.
„Ich wäre soweit“, sagte er leise.
Sie gab keine Antwort.
Das brauchte sich auch nicht.
Er wusste warum.
Schon seit langem.
Die Erkrankung seiner Frau schritt unaufhörlich fort, bis sie nur noch ein lebloser Mensch, ein Stück Fleisch war.
Aber das störte ihn nicht.
Er liebte sie weiterhin.
Vielleicht auch deswegen.
Sie war seine Frau, seine Geliebte, seine Gefährtin, sein Seelenpartner, sein Schatz.
Seine Liebe.
Das würde sie ewig sein.
Er gab ihr noch einige Minuten, in denen er wortlos neben ihr stand, dann legte er abermals seine Hand auf ihre Schulter.
Komm` meine Liebe“, sagte er.
Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte er ihren Rollstuhl vom Fenster weg, dann trug er sie behutsam ins Schlafzimmer.
Sie war leicht.
Federleicht.
In den letzten beiden Jahren hatte sie immer mehr an Gewicht verloren, bis sie schließlich so leicht war, das ein Windhauch sie hätte fortwehen können.
Irgendwann einmal, vor langer Zeit, hatte sich ihr Gehirn noch einmal aufgebäumt. In einem letzten klaren Gedanken hatte sie einmal zu ihm gesagt, während draußen ein Sturm tobte:
„So ein Herbstwind nimmt mich noch einmal mit“.
Kein Wunder, hatte er oft gedacht.
Das Essen, wenn man es überhaupt so nennen konnte, bestand eigentlich nur aus Brei und Suppe. Feste Nahrung konnte sie schon lange nicht mehr zu sich nehmen; der Schluckmuskel hatte seinen Dienst aufgegeben. Noch so ein Schicksalsschlag, den sie einstecken musste. Als wenn das nicht schon schlimm genug war, erbrach sie sich auch noch des öfteren. Mehr als sie gegessen hatte. Schlussendlich musste sie durch eine Sonde mit sogenannter Astronautennahrung ernährt werden, weil alles andere nicht mehr half.
Aber auch das hielt nicht lange an.
Er legte sie achtsam auf das Bett, dann zog er ihr die Kleider aus. Als er damit fertig war, faltete er diese sorgsam zusammen und verstaute sie dann in den Kleiderschrank.
„Ich ziehe dir deine Lieblingskleider an“, sagte er und lächelte sie verliebt an.
Er nahm aus dem Schrank eine Jeans und eine geblümte Bluse, die sie sehr oft und gerne getragen hatte. Als er wieder an das Bett trat, strahlte er sie an.
„Ich bin gleich fertig, meine Liebe“, meinte er, dann fing er an, sie wieder anzuziehen.
Es dauerte nur wenige Sekunden, dann war er fertig.
Wieder strahlte er sie an.
„Du siehst wunderhübsch aus“.
Sie erwiderte nichts.
Sie brauchte ihm nicht zu antworten, denn er sah es.
Er sah es in ihren Augen, in ihrem Gesichtsausdruck, in ihrem Wesen, was sie sagen wollte.
Ja, ich bin hübsch und ich liebe dich auch. Lass es uns tun.
Er nickte zufrieden.
Er ging um das Bett herum, dann legte er sich ganz nah zu ihr.
„Ja, ich liebe dich auch“, antwortete er, dann griff er nach ihrer Hand.
Als er sie umschloss, fühlte und spürte er ihre Wärme, ihre Zuneigung und Hingabe zu ihm.
Er fühlte und spürte ihre grenzenlose Liebe.
Er sah sie noch einmal an, dann drehte er seinen Kopf und nahm das Wasserglas in die Hand.
Er führte das Glas an den Mund, dann setzte er es wieder ab.
Für einen Moment zögerte er.
Nein, sein Zögern bedeutete nicht, dass er es nicht tun wollte.
Für einen kurzen Augenblick zog er Revue.
Im aberwitzigen Tempo raste sein Leben mit ihr an ihm vorbei. Die glücklichen Tage, die schweren Stunden und die unbeschwerten Momente lösten einander ab, bis er im Heute, in der Gegenwart wieder ankam.
Eine Zeitreise der Liebe, dachte er und lächelte.
„Ja, es war schön mit dir“, hauchte er und nickte. Er setzte das Glas erneut an, dann schloss er die Augen und trank.
Die Flüssigkeit verteilte sich in seinem Körper und Minuten später, spürte er schon die Wirkung.
Das Glas, das er immer noch in der Hand hielt, fiel aus dieser und landete auf dem Läufer, der vor dem Bett lag. Er konnte noch genau den dumpfen Laut hören, als es aufschlug, dann entfernte sich sein Geist mehr und mehr aus seinem Körper.
Er fühlte sich wohl.
Wie schon seit Jahren nicht mehr.
Endlich wieder schmerzfrei, dachte er noch, dann verabschiedete sich auch dieses Gefühl.
Ein seidiger Kokon, der sich samtig und kuschelig wohl anfüllte, umschloss ihn und er nahm das Geschenk dankbar an.
Im Dämmerzustand, in welchem er sich nun befand, hatte alles keine Bedeutung mehr. Nichts war mehr wichtig, nichts hatte mehr Sinn und nichts war mehr zu erledigen.
Er wusste nur, dass er nun befreit war.
Befreit von all den Sorgen.
Befreit von all den Ängsten.
Befreit von all den Schmerzen.
Aber was noch wichtiger war.
Er würde bald bei ihr sein.
Nichts wünschte er sich sehnlicher.
Er glitt durch seinen Zustand und war bald dort, wo er nur noch wenige Sekunden zu leben hatte. In diesem Stadium konnte er nicht mehr denken, fühlen oder spüren; alles lief so ab, wie sein Arzt es erklärt hatte.
Er würde einfach sterben.
Er würde einfach aufhören, zu existieren.
Er würde dorthin zurückkehren, wo er einst herkam.
Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Doch bevor er in einen endlos währenden Schlaf glitt, hatte er in seiner allerletzten Sekunde ein Bild vor Augen.
Ein Bild von ihr, wie sie ihm zu lächelte.
Ein Bild von ihr, das ihre kristallblauen Augen zeigten.
Ein Bild von ihr, wie ihre leicht gewellten blonden Haare an ihr herunterhingen.
Ein Bild von ihr, wie ihre Lippen etwas formten.
Er bekam das Geschenk, es hören zu dürfen.
„Ich liebe dich“.
Dann hörte er auf zu leben und verschwand ins Nichts.
Einige Wochen später
Vier Wochen brauchte man, bis man sie fand.
Vier lange Wochen hatte man sie nicht vermisst.
Vier geschlagene Wochen fragte keiner nach ihnen, obwohl sie schon seit Jahrzehnten in dem Haus wohnten.
Niemand kümmerte sich um sie.
Niemand vermisste sie.
Niemand.
Erst der Gestank der Verwesung, der sich nach und nach im Haus ausbreitete, brachte einige Bewohner dazu, endlich bei ihnen zu klingeln. Als keiner öffnete und auch auf Zuruf niemand antwortete, erst da, wurde die Polizei informiert.
Als die Beamten die Tür aufbrachen und in den Flur eintraten, kam ihnen der Schwall des Todes entgegen.
Sie waren vorbereitet, hatten so was schon oft mitgemacht und waren nicht aus Zucker, aber was sie diesmal erlebten, würden sie ihr Leben lang nicht vergessen.
Als sie dem Gestank folgend ins Schlafzimmer kamen und sahen, wer auf dem Bett lag, konnten sie sich das ganze Ausmaß der Geschichte noch nicht erklären. Sie sollten später erst erfahren, was hier geschehen war.
Zuerst waren sie nur angewidert, dann schockiert, dann von Ekel erfüllt.
Es war makaber.
Es war grausam.
Es war schauerlich.
Der Leichenbeschauer kam und bevor er sich an die Arbeit machte, musste er erst einmal schlucken.
„So etwas habe ich noch nie gesehen“, meinte er betroffen.
Er fing an, die Leichen zu untersuchen und konnte kurz darauf den Beamten ein vorläufiges Ergebnis mitteilen.
„Ich bin mir nicht sicher, genau kann ich das erst sagen, wenn ich sie in der Leichenhalle habe, aber …“, meinte er und verstummte mitten im Satz.
„Was?“, fragte der leitende Kommissar.
„Wissen sie, wer diese Menschen waren?“, fragte der Leichenbeschauer, ohne auf die Frage des Kommissars zu antworten.
„Wir wissen nur wenig. Die Frau hatte Alzheimer und der Mann Krebs im Endstadium, mehr nicht“.
Der Leichenbeschauer nickte, dann lächelte er.
„Dann weiß ich, was passiert ist“.
Er packte seine Instrumente wieder zusammen und legte sie in seinen Arztkoffer, dann kam er wieder zum Kommissar zurück.
„Der Mann dürfte so vor einem Monat gestorben sein, die Frau schon vor über einem Jahr“, sagte er nur, dann ging er zum Ausgang.
Der Kommissar stand mit offenem Mund da und blickte ihm nach.
Er wollte etwas sagen, doch es fiel ihm nichts ein, erst als er wieder auf die Leichen starrte, da kam ihm ein Gedanke.
Er war nur flüchtig und nicht von langer Dauer, dennoch setzte es sich in ihm fest.
„Endlose Liebe“, sagte er leise, dann folgte er dem Leichenbeschauer.
Er hatte Geburtstag.
Heute.
Aber freute er sich?
Nein, er hatte keinen Grund dazu.
Warum?
Die Gründe waren vielfältig.
Zum einen, weil er mal wieder arbeitslos war.
Es war nicht seine Schuld (diesmal nicht), dass er seine Arbeitsstelle verlor. Der Konzern (ein Multiunternehmen) hatte sich infolge der Bankenkrise verzockt. Milliardenschulden blieben übrig und das Ende war unausweichlich. Ausnahmslos alle Angestellten wurden entlassen, dann wurde das, was noch übrig blieb, unter den Gläubigern verramscht.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als zum Arbeitsamt zu gehen und um Unterstützung zu bitten, doch aufgrund diverser Verstöße (wie so oft, hatte er in der Vergangenheit vergessen, sich bei seinem Berater zu melden), wurden ihm die Leistungen versagt. Er hatte kein Geld.
Dann war da noch die Scheidung.
Sie hatte sich von ihm getrennt, weil er sie angeblich misshandelt, ihr kein Haushaltsgeld gegeben und sie scheinbar mit einer anderen betrogen hat (dabei war sie es, die einen anderen gehabt hatte).
Es stimmte alles nicht (außer ihrem neuen Stecher), aber die Richter glaubten nur ihr.
Sie bekam alles, er nichts.
Auch das Sorgerecht für ihren gemeinsamen Sohn, den er über alles liebte.
Aber es kam noch schlimmer.
Es folgte der nächste Schlag.
Der härteste.
Es war nicht sein Sohn.
Sie hatte es ihm im Gericht gesagt.
Fast beiläufig.
Er glaubte es nicht, lachte noch, verwünschte sie und bestritt es vehement.
Man sah es dem Kind, seinem Sohn doch an, dass er von ihm stammte.
Doch ein Vaterschaftstest brachte es an den Tag.
Er war nicht von seinem Leib.
Das brachte ihn fast um.
Noch nicht.
Er hatte heute Geburtstag.
Den 40-sten.
Ein Grund zum Feiern?
Nicht für ihn.
Die Depression, die ihn vor einem Jahr (genau an dem Tag, an dem er das Ergebnis mitgeteilt bekam), befallen hatte, verließ ihn nicht wieder.
Sie war wie ein ungebetener Gast.
Ein Geschwür, das in seinem Kopf wütete.
Ein Übel, das ihm seine ganze Kraft raubte.
Er hatte keine Freude mehr am Leben und es war ihm auch egal, wie die Zukunft für ihn aussah.
Zukunft?
Was für eine?
Wenn er daran dachte, musste er sich angeekelt schütteln.
„Scheiße“, fluchte er, „ich habe keine“.
Ja, er hatte keine.
Bevor er sich das eingestand, stellte er sich in Gedanken einen Weg vor, der schlammig und mit Dornen überwuchert war.
Das war sein Weg.
Doch je weiter er ging, desto mühsamer wurden seine Schritte, und als er es dennoch schaffte, weiter zu gehen, kam er an eine Mauer.
Seine Mauer.
Sie war hoch.
Viel zu hoch.
Aber er gab nicht auf.
Er versuchte, die Mauer zu erklimmen, doch er rutschte immer wieder an der glatten Oberfläche ab und fiel unsanft zu Boden. Einmal, ja einmal, hätte er fast das Ende erreicht, doch als er es bis nach oben geschafft hatte und seine Hand auf den Rand legte, da schrie er gequält auf.
Er starrte auf seine blutbefleckten Hände.
Scherben und Stacheldraht.
Es waren rasiermesserscharfe Scherben und spitziger Draht.
Scherben seiner Kindheit und der Stacheldraht seiner Ehe.
Sie schlummerten in seinem Innersten und jetzt traten sie unheilvoll zu Tage.
Die Misshandlungen, die Demütigungen und die Martern seiner Kindheit.
Das Verlogene, das entwürdigende Verhalten, die Untreue seiner Frau.
Sein Kuckuckskind.
Er prallte hart auf den Boden, doch er richtete sich wieder auf und ging die Mauer entlang.
Er hatte noch Hoffnung.
Hoffnung, das Ende der Mauer zu erreichen, um weiter zu gehen.
Doch die Mauer endete nicht.
Aber er gab immer noch nicht auf.
Sein Wunsch, sein Glaube, auf eine Tür zu treffen, durch die er hindurchgehen konnte, um dahinter seine Zukunft zu finden, trieb ihn an, aber auch dies war vergebens.
Es gab keine.
Aber es musste doch Abzweigungen auf seinem Weg geben, dachte er oft.
Es gab sie.
Und er folgte ihnen.
Doch auch hier endeten die Wege immer an einer Mauer, die noch höher und die noch mit mehr Scherben und Stacheldraht gesichert waren.
Er musste sich eingestehen, dass sein Weg zu Ende war.
Endgültig.
Er musste handeln.
Und er tat es.
Er kramte sein letztes Geld zusammen (ganze 128,--Dollar und ein paar Cent) und ging in die Großstadt. Dort wollte er sein Schicksal besiegeln.
Er ging in die Klubs, hörte die Musik und ließ sich treiben. Er trank ein paar Bier, kaufte sich dann vom letzten Geld einen Joint und ließ sich in einer Seitengasse nieder.
Er wollte die letzten Minuten seines Lebens alleine genießen, als er sie plötzlich sah.
Sie kam wie aus dem Nichts.
Als sie vor ihm stand und er in ihre Augen sah, wusste er, dass sie sein Ende war.
Das machte ihm nichts aus, hatte er doch mit seinem Leben abgeschlossen, aber wollte er es wirklich?
Ihm blieb keine andere Wahl.
Sie beugte sich zu ihm hinunter und reichte ihm ihre Hand.
Er nahm sie dankend an und erhob sich.
Als er abermals in ihre nachtschwarzen Augen sah, sah er sein Leben darin.
Es war düster und rußfarben.
„Komm“, hauchte sie.
Er nickte, dann zog sie ihn fort.
Sie brachte ihn an Orte, die er noch nie gesehen hatte.
Sie führte ihn in einen Raum, wo Schatten geheimnisvoll tanzten, in einen Raum, wo Licht ihn umhüllte und in einen Raum, wo Gestalten ihn liebkosten.
Er sog gierig die Gefühle in sich hinein und stöhnte lustvoll:
„Mehr, meeeeeeeeeehr“.
Er bekam es.
Seine Begierde steigerte sich ins unermessliche und als er kurz vor dem Höhepunkt angelangt war, da zog sie ihn weg.
„Komm´ zu mir, ich gebe dir alles, was du willst“, säuselte sie ihm sinnlich ins Ohr.
Voller Leidenschaft folgte er ihr und sie brachte ihn an einen Ort, denn sie ihr Zuhause nannte.
Es war eine Nebenstraße, und sie war kalt und dreckig.
Es war ihr Nest.
Sie lehnte sich an die Wand, dann zog sie ihren Mantel aus.
Völlig nackt winkte sie ihn zu sich.
„Nimm mich“, raunte sie und er trat näher.
Er blickte sie voller Wollust an, dann zog auch er sich aus.
Als er bei ihr war, blickte er auf sie.
Sie hatte etwas dämonisches, etwas unheimliches, aber er wusste es ja.
Sie war sein Verderben und …
… sie war seine Rettung.
Er drang in sie ein.
Seine Leidenschaft trieb ihn an und unaufhörlich stieß er auf sie ein.
Sie stöhnte ekstatisch auf:
„Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa“.
Er machte immer weiter, während er mit einer Hand ihre wohlgeformte Brust knetete.
Sie stöhnte erneut auf:
„Weiter so, das ist gut“.
Er machte weiter.
Er wusste nicht, wie lange seine Vereinigung mit ihr dauerte, doch plötzlich umklammerten ihre Füße die seinen.
„Bald bist du mein“, flüsterte sie leise.
Er wusste nicht, ob er nickte, aber es war auch egal, denn er ahnte, dass sein Ende bald kommen würde.
Immer noch stieß er auf sie ein, dann fühlte er ihre Hände auf seinem Rücken.
Für einen kurzen Moment erschauderte er, dann verließ ihn dieses Gefühl wieder.
Ab diesem Augenblick spürte er nichts mehr.
Auch dann nicht, als sich ihre Finger in Krallen verwandelten und langsam sein Fleisch durchbohrten.
Er spürte keinen Schmerz.
Er fühlte nur Erlösung.
Sie riss ihren Kopf nach hinten und entblößte ihre
Zähne. Sie waren spitz und lang, und sie waren tödlich.
Sie schnellte nach vorne, dann biss sie zu.
Seine Halsschlagader wurde durchtrennt und das Blut strömte literweise aus seiner Kehle.
„Ahhhhhhhhhhh“, schrie sie auf, während sein Lebenssaft sie besudelte, doch sie genoss es.
Ihre Krallen bohrten sich noch tiefer in sein Fleisch, dann zog sie ihn näher zu sich.
Er hob seinen Kopf und schaute sie ein letztes Mal an.
Was er sah, erfreute ihn.
In ihren Augen sah er Hoffnung.
Er sah Trost und Liebe.
Er sah Zuversicht und Glaube.
Er sah wieder eine Zukunft.
Sie drückte erneut zu, klammerte sich noch mehr an ihn und trieb ihre Klauen tiefer und tiefer in ihn hinein, bis sie fast ganz in ihm aufgegangen war.
In einem letzten klaren Gedanken dachte er an das, was vor ihm lag.
Meine Zukunft.
Mehr dachte er nicht, denn kurz darauf war er tot.
Sie ließ nicht von ihm ab, sondern drückte und drückte solange, bis man sie nicht mehr voneinander unterscheiden konnte, erst dann ließ sie ab.
Als die ersten Sonnenstrahlen die Nacht vertrieb und sie noch immer vereint waren, da verschmolz er und wurde eins mit ihr.
Sie saß in ihrem Zimmer und rekapitulierte den heutigen Tag.
Er war wieder schlimm gewesen.
Die Beschimpfungen, die sie erdulden musste, waren wieder einmal böse und verletzend.
Fette Kuh und Igitt, wie die stinkt und sie mal, wie die aussieht waren noch harmlos, aber als Jennifer kam und sie anspuckte und sie eine verdammte Hexe nannte, konnte sie es kaum noch ertragen.
Warum taten sie das nur? dachte sie oft, sie kennen mich doch gar nicht.
Nein, sie kannten sie nicht und sie wollten es auch nicht, das hatte sie in den letzten Wochen mehr als einmal erfahren.
Sie war ein Neuling, so nannten sie diejenigen, die erst seit kurzem in der Schule waren.
Vor vier Wochen waren sie umgezogen und fast genauso lange war sie jetzt schon an dort. Kaum hatte sie sich ihr Zimmer in der neuen Wohnung eingerichtet, schon musste sie sich beim Rektor vorstellen. Als er sie das erste Mal sah, zuckte er mit den Augenbrauen. Sie hatte es genau gesehen, verstanden hatte sie es nicht.