Jenseits des Existenzminimums - Conrad de Buer - E-Book

Jenseits des Existenzminimums E-Book

Conrad de Buer

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Beschreibung

Vielen von uns dürfte die Stimmung vertraut sein: Eine Unzufriedenheit mit einem Teil der eigenen Persönlichkeit. Benjamin Nautilius, der Held unserer Erzählung, ist auf den ersten Blick ein unauffälliger Zeitgenosse. Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen von 2013 wird dann aber doch schnell ersichtlich, dass der subalterne Angestellte einer Bank mit seinem Hang zur Selbstbeschau sich in eine fixe Idee hineingesteigert hat. Mehr und mehr kristallisiert sich heraus, dass ihm die eigene Persönlichkeit nicht ganz geheuer ist. Sind seine Vorstellungen wahnhaft oder bloß zugespitztes Resultat einer radikalen Selbstanalyse? Nach dem plötzlichen Tod seines Freundes Fred, eines erfolgreichen Investmentbankers, macht Benjamin die Bereinigung seiner Existenzkrise für sich zur lebensfüllenden Aufgabe. Durch Spekulation am Aktienmarkt bis zum Platzen der Dotcom-Blase sichert er sich nach der Jahrtausendwende die berufliche Unabhängigkeit und kann sich daher ganz der Aufgabe seiner Selbstbefreiung widmen: Mit einem überraschenden Finale.

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Seitenzahl: 172

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Jenseits des Existenzminimums

5. September 2013: Sorry, ein verpatzter Einstieg6. September: Versöhnliches7. September: Als Bittsteller in der Welt8. September: Hinein ins Erwerbsleben9. September: Existenz - ein Ding an sich10. September: Mein persönliches Existenzminimum11. September: Huch, da sind ja noch andere12. September: Beginn einer Feindschaft13. September: Gescheiterte Abwehr14. September: Ins Fettnäpfchen getreten15. September: Der Pudel Atman und das Ende der Lehrzeit16. September: Anecken im sozialen Raum17. September: Susi und Susanne18. September: Ein Date19. September: Linda oder die Existenz auf dem Siegertreppchen20. September: Erstes Verständnis - EXISTON21. September: Onkel Valentin22. September: Existenzlos23. September: Fred – mein Freund24. September: Fred - mein Vorbild25. September: Finanzielle Unabhängigkeit26. September: Freundschaft und Einsamkeit27. September: Ein panischer Vogel bringt die Erleuchtung28. September: Das Tier in mir29. September: Feldzugsplan I30. September: Feldzugsplan II1. Oktober: Bringen wir’s hinter uns8. Oktober: Es ist vollbrachtImpressum

5. September 2013: Sorry, ein verpatzter Einstieg

Es fällt mir schwer, mit etwas halbwegs Gescheitem in eine Unterhaltung einzusteigen. Das ist sogar dann der Fall, wenn ich, wie jetzt, gar keine Rückmeldung bekomme, ob und wie stark ich mich blamiere. Ein Grundproblem. Am geschicktesten ist es, ich tu so, als hätte es den Einstieg gar nicht gegeben und wir wären bereits mittendrin in der Unterhaltung. Der Trick funktioniert meistens erstaunlich gut.

Mit der Geselligkeit und ihren faden Kunststücken, so ist das nun einmal, verhält es sich ähnlich wie mit der Musikalität: Entweder man ist dafür veranlagt oder nicht. Gegen die Vorgaben der Natur wirst du bei Nichtbegabung weder in dem einen noch in dem anderen Fall groß herauskommen. Ich sehe nur den hilfreichen Unterschied, dass man sich in der einen Eigenschaft leichter als Talent tarnen kann als in der anderen.

Nun bin ich als Persönlichkeit alles andere als eine gesellige Natur. Deshalb ist es in meiner Lage nicht unbedingt hilfreich, allerlei Erwartungen zu hegen, die gewöhnlich an einen erfolgreichen mitmenschlichen Umgang gestellt werden. Dennoch hätte ich gern noch einmal in meinem Dasein erlebt, dass einer ausschert aus dem ewigen Konversationseinerlei und die dämliche Frage Wie geht es dir? tatsächlich passender und geschickter stellt.

Früher, als ich noch unter Menschen weilte, als ich mich schon rein beruflich mit ihnen einlassen musste, war ich häufig mit dieser Frage konfrontiert worden. Sie gehörte bei einer Begegnung einfach dazu. Nur, was sollte ich darauf anders antworten als: Gut. Gut geht es mir. Instinktiv checkte ich mich durch: Innereien in Ordnung. Kondition stark. Nur mäßige Molesten mit dem Stützkorsett. Krebszellen haben sich noch nicht geoutet. Und Demenz wird sich vielleicht erst dann einstellen, wenn ich mein Leben ohnehin beinahe ausgedünstet habe. Alles in allem der Kerl also noch ein klasse Biotop.

Nun bin ich zwar keine gesellige, aber eine im Großen und Ganzen aufrichtige Natur. Und deshalb sagte ich damals von Mal zu Mal - und ich würde das jetzt noch genauso sagen, wenn eine mitmenschliche Begegnung tatsächlich eine Aussprache zu dem angemerkten Thema heraufbeschwören würde: Gut.Gut geht es mir. Dabei denke ich mir sogleich – auch das damals genauso wie ich das heute denken würde: Wenn der doch nur gefragt hätte: Wie fühlst du dich?

Das wäre nach meiner Auffassung sofort eine völlig andere Frage gewesen. Jedenfalls hätte ich sie in einem anderen Sinne aufgefasst. Die zweite Variante wäre zudem eine viel geschicktere Frage gewesen, die mir als dem Befragten weniger Ausflüchte erlaubte. Rhetorisch geschmeidig in die Enge getrieben, hätte ich womöglich erst einmal gestutzt und gezögert, hätte mich gesammelt und nervös überlegt, welche Strategie ich mit meiner Antwort denn überhaupt einschlagen sollte: Ehrlich? Unehrlich? Unentschlossen drum herumeiern?

Vielleicht hätte ich mich für ehrlich entschieden. Sicher, auf jeden Fall hätte ich mich für ehrlich entschieden. Das kann ich hier verlässlich sagen, wo ich weiß, dass ja doch keiner so fragt und wo ich zudem gar nicht mehr unter Menschen komme, die dergleichen fragen könnten. Allerdings, das betone ich ausdrücklich, spricht auch meine naturgegebene Aufrichtigkeit für eine ehrliche Haltung.

Nehmen wir also einmal an, es hätte tatsächlich jemand in der weitaus geschickteren Weise gefragt. Und ich hätte mich für eine ehrliche Antwort entschieden. Dann hätte diese meine ehrliche Antwort gelautet: Sorry. Ich fühle mich wie in die Welt geschissen.

Um Gottes Willen! Ich will jetzt bloß keine falschen Vorstellungen wecken. Der Eindruck richtet sich nicht gegen die Mutter. Und er richtet sich auch nicht gegen den Geburtsvorgang. Der soll nämlich völlig normal gewesen sein. Das Gefühl hat sich im Grunde erst später, in deutlichem Abstand zu meiner Geburt, bei mir eingenistet. Zu jenem späteren Zeitpunkt war eine mentale Begegnung mit der Welt beim besten Willen schon nicht mehr zu vermeiden gewesen. Zugleich hatte mir ungut zu schwanen begonnen, mit dem Existieren womöglich in eine Unternehmung einbezogen zu sein, die schwer zu überblicken war und die möglicherweise nicht gut ausgehen konnte.

Wie alt ich da war? Kann ich nicht genau sagen. Später werde ich aber darauf zurückkommen. Ich halte das mit dem Alter übrigens nicht für besonders wichtig. Mir kommt es mit meiner Feststellung eher darauf an glaubhaft zu machen, dass die geschilderte Empfindung damals tatsächlich mein allererster bewusster Eindruck vom Leben war und dass außerdem der Eindruck nachhaltig geblieben ist bis heute. Deshalb bin ich überhaupt erst darauf gekommen, darüber zu berichten, weil es andernfalls absolut nichts geben würde, was in irgendeiner Weise in meinem Dasein berichtenswert wäre.

Als ich diesen Plan fasste, darüber zu berichten, nahm ich mir fest vor, unbedingt ein passendes Beispiel zu finden, das mein Urempfinden wenigstens geistig ein wenig miterlebbar machen könnte. Das Ereignis meiner Geburt ist – wenn ich jetzt dieses Beispiel als Ergebnis meines Nachdenkens einmal einbringen darf - bei aller äußerlichen Schmerzfreiheit gut vergleichbar mit einem Sturz, bei dem ein Unglücklicher während eines Waldspaziergangs mit der Nase zuerst in einen frisch geschlagenen Holzstoß fällt und für eine Weile ganz benommen ist. Irgendwann später, wenn seine Nase längst verheilt ist, wird er immer wieder, wenn er in den Wald geht, einen Geruch von frischem Holz in seiner Witterung haben. Da kann er gar nichts gegen tun. So ähnlich scheint das mit mir und der Welt zu sein. Da hat der Geburtsvorgang einen traumatischen Wiedererinnerungsmechanismus ausgelöst, bei dem es nun aber gar nicht nach frischem Holz riecht, sondern eben nach …   aber das deutete ich ja bereits an.

Diejenigen Mitexistierenden, die sich mit womöglich unangebrachten Erwartungen auf die Lektüre meines Berichtes eingelassen haben, werden ihn womöglich schon wieder kopfschüttelnd beiseitegelegt haben: Pure Negativität! Ätzend! Gar nicht aufbauend! Keine Weltsicht, die mir zusagt.

Stimmt. Na und? entgegne ich. Ich habe zweifellos Schwierigkeiten mit dem Existieren. Man konnte das heraushören. Man sollte das auch heraushören. Ich will den Eindruck überhaupt nicht leugnen. Doch ich habe, wie jeder andere Mitexistierende auch, ein Recht auf mein eigenes Weltempfinden. Und darin eingebettet, verströmt das Leben für mich auch nur bei oberflächlicher Teilhabe ein Aroma, das nicht auf meinen Geschmack ausgerichtet ist. Das Leben zeigt vielmehr Charakterzüge, die mir eindeutig missfallen. Das ganze anmaßende Prinzip des Lebens, so sehe ich das nun einmal, zwingt mir eine Existenz auf, in die ich freiwillig niemals eingetreten wäre.

Du musst dir selbst einmal, werter Mitexistierender, die absonderliche Story deines In-der-Welt-seins unvoreingenommen vor Augen führen: Ein hinterhältiger Vorgang unter ausschließlich fremder Beteiligung löst eine biologische Gärung aus, die dich hervorbringt, bevor du nur den Ansatz einer Chance hattest, etwas dagegen einzuwenden (oder meinetwegen auch darin einzuwilligen). Du kannst nichts von dem ganzen Geschehen rückgängig machen. Du kannst nicht stornieren, was für dich auf deine Kosten bestellt wurde. Du kannst keinen Deut an den Voreinstellungen deines Persönlichkeitsprogramms verändern. Und dennoch, die meisten, sicherlich, halten ihr Leben für ein Geschenk. Sie sagen das. Sie denken das vielleicht auch. Dennoch habe ich meine Zweifel, dass sie sich wirklich mit dem Problem auseinandergesetzt haben.

Ich halte aus meinen Gründen also strikt dagegen. Ich halte das Leben für eine Bürde. Ich halte mein Leben für meine Bürde. Ich halte sogar, wenngleich ich keineswegs vorhabe, mich rechthaberisch in deine persönlichen Angelegenheiten einzumischen, dein Leben, werter Mitexistierender, für deine Bürde. Haftet dir nämlich die Existenz erst einmal an, dann wirst du sie so schnell und auf keinen Fall leicht wieder los. Zwar, irgendwann, lässt sie ganz von allein wieder von dir ab. Doch das kann dauern. Und über alle Stationen hinweg wirst du bis ins Ende unsanft mitgezerrt. Mit welchem Ergebnis? Zu welchem Zweck? Na, dass nach deinem Existieren dasselbe ist wie davor, nämlich NICHTS.

Ein gelehrter Mitexistierender, der seinerzeit viel nachgedacht hatte, obwohl er gar nicht sehr alt geworden ist, bezeichnete einmal das Existieren als einen Hiatus zwischen zwei Nichtsen. Du fällst, so lege ich mir den Spruch aus, in einen zufälligen, zeitlich bedeutungslosen Materiespalt des Nichts. Und wohl die meisten, die davon betroffen sind, denen es also genauso ergeht, dass sie plötzlich existieren müssen, komme, was da wolle, halten diesen Aufenthalt dann für ungeheuer bedeutsam, sehen ihn in ihrem Habitus der Wichtigtuerei für ein ALLES an, obwohl er doch nur eine Unterbrechung des Nichts, eine zufällige Pore im universalen Chaosgefüge darstellt.

Im Prinzip zwar steht jedem Existierenden gleichwertig und gleichberechtigt eine ganze Ewigkeit zur Verfügung. Doch nur dieser eine kleine Spalt, dieses lächerliche Etwas deiner an sich banalen Existenz hat es für dich wirklich in sich. Das gewaltig lange Davor und Danach lässt sich demgegenüber einfach und leicht verkraften. Nur die Lebenden, nicht die Toten, machen bekanntlich ein Aufheben davon. Das sollte uns zu denken geben.

Niemand würde doch die komfortable Position im unbeschwerten Nichts bei vollem Bewusstsein freiwillig aufgeben. Nur deshalb hat die Natur - oder wer oder was immer hinter dem universellen Spektakel stecken mag, blieb der Natur vielleicht auch gar nichts anderes übrig - den hinterhältigen Vorgang eingeführt, ohne den die zwangsweise Existenzgründung als Massenphänomen und dauerhafte Einrichtung in der Populationsfolge nicht funktionieren könnte.

Da verabreden sich nach dem immer ähnlichen Tatmuster zwei also zur Spaßstunde, die am Ende dann oft genug für einen Akteur oder sogar für alle beide zur Enttäuschung wurde. Und plopp, ist dir die Existenz aufgepfropft. Plopp, ist deine Geburt bewerkstelligt. Und plopp, beginnt die mächtige Wucherung, die man gemeinhin das Leben nennt, ohne dass deiner Existenzmaschine ein Hebel beigegeben wäre, mit dem bei Bedarf die Funktion abzuschalten wäre.

Ich kann nichts dafür, und ich mag mich auch gar nicht dafür entschuldigen, aber so sehe ich das. Wenn jetzt auch noch die anderen Mitexistierenden meinen Bericht beiseitelegen wollen: Nur zu!

6. September: Versöhnliches

Ich bin übrigens Junggeselle und heiße Benjamin Nautilius, wenn ich das jetzt einmal einstreuen darf, um nach der zurückliegenden Urteilsschärfe meinerseits, die den einen oder anderen Mitexistierenden vielleicht befremdet hat, etwas Persönliches und Versöhnliches zu meiner Geschichte beizusteuern. Denn eine Geschichte ohne etwas ganz Persönliches, das geht nicht. Da lässt sich keiner drauf ein, die zu lesen. Persönliches – das ist wie Grießbrei mit Himbeersaft. Natürlich nur für denjenigen, der Grießbrei mit Himbeersaft gern mag. Die anderen können sich meinetwegen etwas anderes aussuchen, was sie gern mögen. Dann kommen auch sie auf ihre Kosten.

Ich als Junggeselle mag gern fast-Food. Wegen der Zeitersparnis bei der Nahrungsmittelzubereitung. Aber jung bin nicht mehr wirklich. Da führt das von mir gebrauchte Wort doch sehr in die Irre. Man sagte das früher meistens so, wenn jemand nicht verheiratet war: Der ist Junggeselle. Single klingt heute wesentlich moderner. Ist deshalb auch viel mehr verbreitet, das Single-Dasein, als früher das Junggesellendasein es war. Menschen schämen sich wohl nicht mehr so stark wie früher, wenn sie allein leben.

Vielleicht, so erkläre ich mir das Wort Junggeselle noch von einer anderen Seite, war man früher der Meinung, dass es den Mann jung erhält, wenn er eine Frau entbehren darf. Heutige Statistiken wollen bemerkenswerterweise einen entgegengesetzten Eindruck belegen. Angeblich leben Mann und Frau in der gegenseitigen Abhängigkeit einer ehelichen oder einer eheähnlichen Beziehung durchschnittlich länger als ihre freischwebenden Artgenossen. Ich als Junggeselle oder Single müsste demnach einen zeitlichen Abschlag auf das Existieren in Kauf nehmen. Nun, mir macht das nichts. Ich würde nicht einmal dann um einen Zuschlag nachsuchen, wenn das machbar wäre.

Wie auch immer man meinen Zustand nun deklarieren will: Ich lebe jedenfalls allein. Zwar habe ich eine hübsche Frau auf meinem Schreibtisch stehen. Aber die ist nicht aus Fleisch und Blut. Trotzdem ist sie sexy. Wenn wir beiden intim miteinander werden, was bisweilen geschieht, dann darf ich sicher sein, mich nicht an einem dieser hinterhältigen Vorgänge zu beteiligen, die letztendlich jemandem eine Existenz aufzwingen, die derjenige später einmal genauso beklagen mag wie ich die meinige in der Jetztzeit.

Eine solche Verantwortung könnte ich nicht ertragen. Zumindest würde sie mich dauerhaft belasten. Deshalb bin ich meiner attraktiven Susanne – so habe ich nach längerem Hin- und Her-Überlegen die Skulptur auf meinem Schreibtisch genannt – gefühlsmäßig sehr verbunden und eingestandenermaßen ein wenig dankbar für ihre vornehme Zurückhaltung, durch die ich nicht in Bedrängnis gebracht werde. Gewiss, Susanne schenkt mir nicht alles. Doch sie hält mich stets erfolgreich von dem alles entscheidenden Schritt zurück.

Existenzen zu zeugen hat, meinen eigenen Vorbehalten zum Trotz, noch längst nichts an Faszination eingebüßt. In der Angelegenheit gebe ich mich keinen Illusionen hin. Ich selbst habe ein gelegentliches Verlangen nach sexueller Triebbetätigung selbst im Bunde mit Susanne noch immer nicht vollkommen hinter mir gelassen. Nun hat aber der Fortschritt – man mag den Zustand beklagen oder nicht - es im Einzelfall ermöglicht, dem hinterhältigen Vorgang seine existenzbildende Spitze zu nehmen. Davon wird bekanntlich massenhaft Gebrauch gemacht und damit dem Zeugungsimpetus unweigerlich zugearbeitet.

Hinterhältig ist seither der Vorgang pikanterweise für die Evolution geworden, die damit einmal ganz andere Absichten als einen bloßen Spaßeffekt für die Evolutionsteilnehmer verfolgt hatte. Die Evolution mag daher enttäuscht sein, wenn sie von ihren eigenen Geschöpfen nun derart ausgetrickst wird. Andererseits, wenn man sich die Maßstäbe nur einmal zurechtrückt, ist für sie speziell das gezielte Zeugungsvermeidungshandeln von Teilen der menschlichen Spezies ohne größere Wirkung. In diesen Teilen der Welt meinetwegen, wo ich zufälligerweise ins Dasein getreten bin, erfreut es sich großer Beliebtheit. Dafür wird in anderen Teilen der Welt umso kräftiger an der spontanen Fortpflanzung weitergearbeitet. Von einem drohenden Mangel an immer neu hinzukommenden Existierenden kann unter dem Strich keine Rede sein.

Das Konzept zur ständigen Fabrizierung einer arteigenen Blaupause bleibt also erfolgreich, ungeachtet des Image-Verlustes, den die Evolution durch das Hineinfummeln des Menschen in ihre Geschäfte erlitten hat. Ein anderes, vielleicht mehr von Selbstbestimmung geprägtes Konzept, ist auch gar nicht in Reichweite. Von einer Art demokratischer Beteiligung oder Willensbildung, wenn es um den Einstieg in das persönliche Existieren geht, sind wir immer noch so weit entfernt wie Adam und Eva im Paradies das waren. Und diese beiden waren den Quellen zufolge schon etwas reiferen Alters, als der Herr sie dem Existieren preisgab. Sie waren nach heutigen Maßstäben mündig und volljährig und hätten problemlos zu der schwerwiegenden Sachlage befragt und auf ihr unveräußerliches Widerrufsrecht hingewiesen werden können. Nichts dergleichen ist überliefert.

Um nicht wiederum falsche Vorstellungen aufkommen zu lassen, stelle ich einmal klar: Ich glaube nicht an die Geschichte von Adam und Eva und ihre exklusive Erschaffung. Ich erwähne sie allein wegen ihrer Popularität. Ich glaube auch nicht an Gott. Dennoch unterhalte ich mich gelegentlich mit dem alten Herrn. Für mich in meiner Lage hat auch noch das einseitige Gespräch hin und wieder etwas Beruhigendes. Manchmal gestehe ich mir sogar ein, dass solche Gespräche noch viel beruhigender für jemanden sein müssen, der von der Anwesenheit seines Gesprächspartners tief überzeugt ist. Ich nehme meine Eingebung gern als Beweis dafür, wie groß im Allgemeinen das Bedürfnis für die Existierenden ist, ihrer Existenz einen inbrünstigen imaginären Sinn zu stiften, der über die Dürftigkeit des realen Existierens geschickt hinwegzutäuschen vermag.

Wie gesagt, ich entziehe mich, bis auf die eingestandenen gelegentlichen Gesprächsfetzen, derartiger Selbst-Illusionierung. Ich will, so habe ich mir das fest vorgenommen, das Sein ungeschminkt erleben; so, wie es ist und uns entgegentritt: Kalt. Erbarmungslos. Einsam und undurchdringlich. Und völlig leidenschaftslos. Realistisch sollte ich mich, so schwebt mir das vor, empfinden wie ein bloß zufällig in all das Dasein hineingeratener Teilnehmer an dem unwahrscheinlichen Geschehen, das wir einer unwahrscheinlichen Materieexistenz mit hoch komplexer Selbstorganisation zu verdanken haben.

Es erregt mich aufs Höchste, wenn ich in einem derartigen Gedankengang schließlich ein so ungeheuerliches Maß an Nichtigkeit gewinne, dass ich augenblicklich zerbrechen sollte und zermalmt sein müsste, um auf diese Weise von der Existenz erlöst zu sein. Doch zerbreche ich nicht. Fatal. Ich werde nicht wunschgemäß zermalmt. Sehr misslich. Meine Existenz bleibt inmitten meiner exaltierten Stimmung ungerührt und unbeschädigt. Ich hingegen leide ohne großes Aufheben stoisch und unauffällig weiter am Existieren, wenn die Konvulsion im überstandenen Nichtigkeitsschauer erst einmal überwunden ist.

Allerdings – das will ich nun nicht verschweigen - mache ich mit der Zeit mehr und mehr auch die Erfahrung, mit derartigen gedanklichen Verrenkungen des Verstandes dem Dasein meinerseits für eine kurze Zeit etwas unbefangener und vor allem beherzter entgegentreten zu können. Wenngleich das, zugegebenermaßen, nur in einem ganz beschränkten Rahmen funktioniert.

7. September: Als Bittsteller in der Welt

Heutzutage wird erregt darüber gestritten, zu welchem Zeitpunkt ein menschliches Leben genau beginnt und für schützenswert zu erachten ist. Reicht es, wie viele meinen, wenn vier Zellen beisammen sind? Oder sollte, wie andere befinden, das ethische Urteil besser abwarten, bis der Embryo deutlichere Konturen angenommen hat? Vielleicht ist aber auch erst der Austritt aus dem Mutterleib ein passables Datum, weil alles in allem die Daseinszustände vor der Geburt doch noch recht provisorisch sind. Eine solche Meinung wird nämlich auch vorgetragen.

Nun, die Diskussion gehört zum zivilisatorischen Prozess, auf den sich die Spezies Mensch nun einmal eingelassen hat. Darin versteckt sich, auch wenn ich mich mit dieser Bemerkung jetzt um ein weiteres Mal unbeliebt mache, eine gehörige Portion kollektiver Wichtigtuerei. Für mich persönlich haben die nach hierhin oder nach dorthin geneigten Ansichten ohnehin keinen Stellenwert.

Ob nun meine ersten vier Zellen, nach ihrer enthusiastischen Verschmelzung, sich wieder voneinander abgelöst hätten, weil sie doch nicht miteinander warm wurden; ob meinem wandlungsfähigen Vorläuferorganismus im Mutterleib etwas Tragisches zugestoßen wäre; ob ich bei der Geburt oder doch erst später mit 1, 2, oder gar 3 Jahren aus dem Existieren vertrieben worden wäre, das hätte für mich als Existierenden im Erlebensfall eines dieser Szenarien jetzt überhaupt keine Bedeutung mehr, die zu beklagen ich imstande sein könnte.

Was aber schwerer wiegt: Niemals während der genannten, weit zurückliegenden Zeitabschnitte, habe ich meine Existenz je spüren können. Sie mag meinetwegen da gewesen sein – wie eine zarte, unfertige Wetterwolke im atmosphärischen Gebräu. Sie mag mir angehaftet haben – wie eine mäßig verunreinigte Haut; die spürst du nicht, solange die Flöhe ausbleiben. Erst wenn dich deine Existenz überraschend angesprungen hat, wenn sie dir eindrucksvoll begegnet ist und du vor ihr erklärtermaßen erschrickst, dann wird es ernst. Von da an haftet sie dir aber auch nicht an wie eine Haut, sondern wie ein Nessushemd.

Ich bin mir unbedingt sicher, dass in einer ganz zudringlichen Weise zu einem bestimmten Zeitpunkt in respektvollem Abstand zum Geburtstermin meine Existenz über mich gekommen ist und von mir Besitz ergriffen hat. Die Begegnung traf mich damals unvorbereitet. Sie hatte sich nicht angekündigt. Sie inszenierte sich dafür aber so nachdrücklich und messerscharf, dass es mir unwillkürlich entfuhr: Huch! Ich bin da!

Von jenem Augenblick an träufelte sich die Existenz zäh und dickflüssig in mein Gemüt. Seither hänge ich an ihrem Tropf. Und erst dann, um damit einmal kühn den Blick in die Zukunft zu wagen, wird es Aussein mit mir, wenn ich sie nicht mehr spüre, weil sie aus dem Gemüt restlos verdampft ist. Bis dahin werde ich den unaufhörlichen Existenzfluss notgedrungen ertragen müssen.

Mittlerweile halte ich nach langem Nachdenken dafür, so um die acht Jahre alt gewesen zu sein und vor den Schaufenstern eines Spielwarengeschäftes gestanden zu haben, wo ich die Auslagen bestaunte. Gern hätte ich den Laden betreten, um mir einen schönen bunten Kreisel zu kaufen für ein wenig Geld, das ich gar nicht hatte. Just in jenem Moment widerfuhr mir meine Existenz, wie ich das vorhin etwas unbeholfen auszudrücken versuchte.

Das war damals, aus der Rückschau betrachtet, der Ausgangspunkt unserer immer noch andauernden Schicksalsgemeinschaft gewesen. Die Gelegenheit, bei der sich mein Eindruck tief festsetzte, war bestimmt zufällig. Es hätte statt vor einem Schaufenster auch beim Mittagessen oder auf der Schaukel passieren können. Die Zeit war offensichtlich reif geworden für meine folgenschwere innere Begegnung. Doch denke ich auch, dass ich es mit einer sehr günstigen Gelegenheit zu tun bekommen hatte, weil mich der nachhaltig gebliebene Eindruck vor dem Schaufenster eines Ladens tiefer ergreifen konnte als an jedem anderen Ort. Denn so war viel besser gewährleistet, dass das spätere Grundempfindens meines In-der-Welt-seins ganz praktisch etwas von der Haltung eines Kunden annahm, der sich enttäuscht darüber im Klaren ist, dass sein Einkaufsbudget nicht für das alles reicht, was er braucht oder auch nur gerne hätte. Zwar heutzutage, wenn ich ein wenig abschweifend meinen Vergleich einmal etwas näher erläutern darf, wird einem Anbieter selbst ein zahlungsmatter Kunde willkommen sein, dem man im Zweifelsfall einen Konsumentenkredit aufnötigt. Der Kunde ist, nach so vielen mageren Jahrhunderten und einem geflügelten Wort zufolge, endlich König geworden. Etwas exakter und wissensorientierter sollte man sagen können, dass der Konsument im modernen volkswirtschaftlichen Geschehen gegenüber allen früheren Zeiten nunmehr eine radikal veränderte, eine gewissermaßen herausgehobene Stellung innehat. Das war früher ganz anders. In meiner Kindheitserfahrung war ein Kunde, wenn er ein Geschäft betrat, um etwas einzukaufen, ein Bittsteller. Er wollte schließlich etwas haben. Und der Ladenbesitzer, die Verkäuferin – sie waren so gnädig, ihm das Gewünschte zu gewähren.

Ich selbst hatte früh beginnen müssen, für meine Mutter kleine Einkäufe zu erledigen. Da bekam ich als etwas zart besaiteter Junge reichlich Gelegenheit, die merkwürdigen Erwartungen, die an mich gerichtet waren, schnell zu verinnerlichen. Man betritt einen Laden. Man wird ins Visier genommen. Wenn man angesprochen wird, sofern man angesprochen wird, dann klingt das ungefähr wie: Wollen Sie etwa etwas? Nein, ich glaube, nicht nur einem Kind gegenüber klang das so. Und selbstverständlich hat man mich auch nicht gesiezt. Das unterwürfige Erleben, das, was damals den Akteuren widerfuhr, war noch ein Stück vom alten Zeitgeist, der die Wirtschaftswunderjahre letztendlich nicht überdauert hat. Die Menschen haben sich später bekanntlich schnell an ihre moderne großspurige Konsumentenrolle gewöhnt und sich selbstgefällig darin eingerichtet.

Mir geht es hier aber gar nicht um Gesellschaftskritik. Das für mich persönlich ausgesprochen Beunruhigende in der vorgebrachten Angelegenheit ist etwas anderes, was mir später erst in ganzer Tragweite klar geworden ist: Durch meine zahlreichen Erlebnisse als kleiner Kunde in einem kleinen Laden war mir das unangenehme Bittstellergefühl bereits vertraut.

Es war zum Bestandteil meiner instinktiven Weltsicht geworden. Du kannst es mir glauben, werter Mitexistierender , mit dieser retardierenden Haltung, mit diesem beschränkten, zu einem Verzicht auf ein begehrtes Gut stets bereiten Lebensgefühl, hatte ich die Welt, den ganz großen Laden, unbewusst schon längst betreten. Mein schwärendes Gefühl als erwachsen gewordenes Individuum: Ich habe Ansprüche an mein Leben und meine Existenz will sie mir nicht gewähren