Belinda - Conrad de Buer - E-Book

Belinda E-Book

Conrad de Buer

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Beschreibung

Nach den beiden Romanen "Auf fremden Beinen" und "Kelvins Geheimnis" legt Conrad de Buer einen Band mit fünf Erzählungen vor. Auch in diesen Texten begegnen wir Menschen, die nur schwer in ein Schema zu bringen sind. Hier sind es Männer außerhalb der gängigen Klischees, die in skurrile und extreme Situationen geraten. Stichling ist durch äußere Umstände aus der bürgerlichen Normalität herausgefallen in die schutz- und schonungslose Obdachlosigkeit. Benjamin Nautilus kappt freiwillig alle Bande zu seinem bürgerlichen Dasein und begibt sich, besessen von der Idee eines perfiden Handicaps, in die Selbstisolation. Am Ende unternimmt er einen verzweifelten Befreiungsschlag. Zwar lebt der alternde Heiko Kramer in einer soliden Beziehung mit seiner Frau Belinda, die ihm die nötige Bodenhaftung sichert, aber sein Geist verliert sich zunehmend. Gideon Walter ist ein eingefleischter Single. Ausgerechnet eine attraktive Frau nimmt sich seiner ungewöhnlichen Suchterkrankung an, die seinen Kuraufenthalt vor große Herausforderungen stellt. Die letzte Geschichte "Johannes" kann als Parabel dafür gelten, wie weit ein soziales Umfeld zu gehen bereit ist, wenn es sich eine Projektionsfläche zur Kompensation der eigenen Schwäche erhalten will. Auch wenn die Figuren dieser Erzählungen nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen und ihre Schwächen schonungslos pointiert werden, schildert Conrad de Buer die Schicksale auf eine berührende und durchaus komische Art, sodass ihr Scheitern erträglicher erscheint.

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Seitenzahl: 501

Veröffentlichungsjahr: 2022

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INHALT

Ein ruhiger Tag

Jenseits des Existenzminimums *

Belinda in spe

Fliegenpizza

*

Johannes

* Die Erzählungen „Jenseits des Existenzminimums“ und „Fliegenpizza“ erschienen erstmalig 2020 als E-Book. Für diesen Sammelband wurde der Text stilistisch noch einmal überarbeitet.

EIN RUHIGER TAG

Stichling blickte der Frau nach. Kurzer, enger Rock; lange Beine, die sich nervös überholten. Ein heißes Fahrgestell, dachte er. Dann bog die Gestalt um die Ecke. Er hörte noch eine Weile das Klacken der Absätze auf den Steinfliesen der Passage.

Stichling sackte wieder in sich zusammen. Er betrachtete seine Hand. Eine kleine Fleischwunde, aber wohl nicht bedeutend. Es blutete leicht. Ihre hohen Absätze hatten ihn erwischt, als er nach dem Zehncentstück griff. Die erste Berührung durch eine Frau seit über drei Jahren. Er sollte sich also nicht beklagen.

Schade, dass er ihr Gesicht nicht gesehen hatte. Aber so war das: Beine bestimmten sein Leben. Mit Gesichtern konnte er nur wenig anfangen. Sie waren entrückt. Der erste Eindruck von einem Menschen war immer seine Schuhgröße. Die Haarfarbe stand am Ende jeder Musterung. Wenn es überhaupt so weit kam.

Stichling kramte in einem kleinen Rucksack, der neben ihm lag und holte ein schmutziges Taschentuch hervor. Er zögerte, dann wickelte er das Tuch um die Wunde am kleinen Finger. Es lohnt kaum noch, dachte er. Donnerwetter! Bei ihrem Temperament hätte sie ihn schlimmer erwischen können.

Nicht einmal umgedreht hatte sie sich. Sonst hätte er vielleicht auch ihr Gesicht gesehen. Bestimmt hatte sie gar nichts mitgekriegt von dem Vorfall. Stichling suchte nach einer Entschuldigung für die Gleichgültigkeit der Frau.

Mit Frauen ging er im Allgemeinen milder um, wenn sie ihn nicht richtig behandelten. Bei schönen Frauen fiel es ihm besonders schwer, sie zu tadeln. Nur, wie gesagt, ihre Schönheit konnte er am ehesten von den Beinen her beurteilen. Die Gesichter waren zu weit weg.

Stichling schielte nach der Uhr. Gerade elf. Die Umstände sprachen für einen ruhigen Tag. Seit einer Stunde war er bei der Arbeit. Es gab Tage, da waren die Schaufenster um diese Zeit dicht belagert. Das Publikum war dann nervös und ungeduldig. Man hastete von einer Auslage zur nächsten und auch wieder zurück. Die Menschen gingen rein ins Geschäft, kamen wieder heraus aus dem Geschäft und hatten dann meist eine Tragetüte in der Hand. Aber nervös war man immer noch. Nur anders. Nein, ein solcher Tag war heute nicht.

Jetzt war der Monat bald vorbei. Ganz sicher, es würde ein ruhiger Tag werden. Auch für ihn. Es gab Tage, da war der Job anstrengender. Genauso wie es Tage gab, an denen die Schaufenster dicht belagert waren. Das wechselte nun mal. Genauso wie das Wetter und überhaupt alles im Leben. Das wechselte auch. Er konnte ein Lied davon singen.

Vielleicht sollte er mal wieder die Position wechseln. In seinem Job hing viel von der Position ab. Er wurde nach seiner Position beurteilt. Er wurde nach seiner Position bezahlt. Das war nicht anders als in anderen Jobs. Mit dem Unterschied, dass er selbständig war und seine Position frei wählte.

Er sollte zudem den Eingang zur Passage besser im Auge behalten. Dort waren die meisten Beine in Bewegung. Sie mussten an ihm vorbei. So hatte er eine gewisse Kontrollfunktion. Wie damals in seiner alten Firma. So gut wie damals wurde er natürlich jetzt nicht bezahlt. Zudem hatte der Partner mehr geschäftlichen Erfolg.

Stichling schob das Wägelchen ein wenig nach hinten. Dann griff er in den Bettvorleger und zog ihn nach. Kaum war er in seiner neuen Stellung, da bauten sich zwei blanke Beine vor ihm auf. Eine etwas quäkende Stimme fiel herab und brachte eine Münze mit. „Das ist für den Hund. Kauf ihm was Leckeres. Und nicht alles selber verbraten!“

Die blanken Beine mischten sich wieder unter all die anderen hastenden Beine und entzogen sich schnell Stichlings Aufmerksamkeit. Wieder hatte er das Gesicht nicht gesehen. Diesmal lag es an dem Hut der quäkenden Dame. Und weil sie das Gesicht zur Seite gewendet hatte, als sollte der Kopf bloß nicht wissen, was die Hände taten.

Donnerwetter, ein halber Euro! Die hatte vor lauter Ekel bestimmt die Münzen verwechselt. „He Partner!“, rief Stichling und hieb mit der Faust auf den Bettvorleger ein. „Du hast einen verdammt guten Tag. Bei mir ist es entschieden ruhiger.“

In den Bettvorleger kam Bewegung. Er schlug auf einmal Wellen. Dann hob er sich und schüttelte seine Haare. Eine Schnauze wurde sichtbar. Am anderen Ende rollte sich der Schwanz aus. Schließlich stand das Tier und blickte Stichling mit Hundeaugen an.

„Du bist der Einzige, mit dem ich auf gleicher Augenhöhe verkehre“, sagte Stichling zu dem Hund und lachte dabei. Die beiden sahen sich an. Der Hund bellte zweimal und wedelte mit dem Schwanz.

„Schon gut, schon gut, ich bin absolut ehrlich zu dir.“ Stichling griff nach dem Hut, der neben ihm mit der Öffnung nach oben lag. Er hielt ihn dem Hund unter die Nase. „Links ist deins, rechts meins, das heißt, von dir aus gesehen ist es genau anders.“

Mit einem alten Blechstück war die Hutöffnung in zwei Kammern geteilt worden. In jeder lagen ein paar Geldmünzen. Zwei Schildchen, auf langen Nägeln aufgespießt und mit einem stabilen Sockel versehen, sorgten für Klarheit: HUND stand auf dem einen Schildchen, MENSCH auf dem anderen. Stichling zählte durch. „Fast zwei zu eins für dich. Hier! Hol dir dein Frühstück!“ Er nahm einige Geldstücke, legte sie dem Hund auf die Zunge und gab ihm einen Klaps aufs Hinterteil. Das zottelige Tier trottete davon und verschwand um dieselbe Ecke wie die Frau mit dem aufregenden Fahrgestell.

Stichling sah dem Hund nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Er war keineswegs mit sich und dem Tier im Reinen. Der Vierbeiner hatte den größeren wirtschaftlichen Erfolg. Das war nicht immer leicht zu verkraften im Hinblick auf das eigene Selbstwertgefühl. Und ob er davon materiell profitieren konnte, war zweifelhaft.

Sie waren nicht etwa eine Zugewinngemeinschaft. Jeder arbeitete auf eigene Rechnung. Er kalkulierte für sich einen Pauschalbetrag ein, gewissermaßen für tierische Rundumversorgung. Aber davon abgesehen kam die rechte Huthälfte voll dem Hund zugute. Ob sein eigener Geschäftsanteil ohne Partner profitabler wäre, war ungewiss. Er hatte damals noch nicht so genau bilanziert, bevor er den Partner ins Geschäft nahm.

Auf der anderen Seite war die emotionale Komponente. Sie hatten sich aneinander gewöhnt, waren aufeinander eingespielt, konnten sich aufeinander verlassen. Er war dem Hund, der Hund aber auch ihm verpflichtet. Schließlich war der Köter damals mittellos gewesen und vollkommen ohne Bleibe. Einen Kapitalanteil hatte er in das Geschäft nicht eingebracht, sondern nur eine Portion Unverfrorenheit. Einfach dableiben war eine Strategie, die durchaus etwas mit Nötigung zu tun hatte. Schwamm drüber. Es war, wie es war. Der Partner war korrekt und berechenbar. Dergleichen musste er unter seinesgleichen erst einmal finden.

Stichling hatte ein Herz für die Kreatur überhaupt. Hatte er immer gehabt. Auch bevor er sich mit seiner Ich-AG selbständig gemacht und den Sprung ins kalte Geschäftsleben gewagt hatte. Heute reichte es fürs Leben. Er war niemandem verpflichtet, brauchte für niemanden aufzukommen. Die Selbstversorgung funktionierte auf bescheidenem Niveau. Schließlich nicht zu vergessen: Er hatte einen eigenen Wagen, der das Fortkommen erleichterte. Deshalb konnte er auch die Position wechseln, wenn es ihm beliebte. Eine Straßenecke weiter liefen die Geschäfte vielleicht besser. Er sollte noch einmal darüber nachdenken.

Während Stichling etwas zerstreut auf die Rückkehr des Hundes wartete, hatten sich immer wieder Beinpaare bei ihm aufgestellt. Sie warteten jedes Mal ab, bis es in Stichlings Hut zu einem weichen Plopp gekommen war. Dann machten sie sich schneller davon, als sie sich herangewagt hatten.

Stichling tat so, als ginge ihn das, was sich zwischen seinem Hut und den Beinen abspielte, gar nichts an. Doch heimlich kontrollierte er jedes Plopp und war immer wieder enttäuscht. Seine Einnahmen waren ausnahmslos kupferfarben. Das eben ärgerte ihn, obwohl er es das Tier niemals fühlen lassen würde. In der Hundehälfte glänzte es goldgelb und silberfarben.

Dafür sah er viele blanke Beine. Blanke Beine in seiner Nachbarschaft waren in der Überzahl. Das war hinzuzurechnen. Dem Hund bedeutete das nichts. Ihm eigentlich auch nicht. Er hatte zu wenig davon, außer Aufregung. Da war er noch nicht drüber weg. Würde vielleicht auch nie passieren, drüber weg zu kommen.

Es gab gelegentlich blanke Beine, die es auf ihn abgesehen hatten. Sie kamen so nahe heran, dass sie die Räder seines Wagens berührten. Sie bedrängten ihn, wollten vielleicht seinen Kommentar. Es war nicht zu vermeiden, dass er an ihnen hinaufsah. Immer höher, über die Knie hinweg, und noch längst war der Rocksaum nicht erreicht. Sie wichen nicht. Irgendwann fing sich sein Blick in einem weißen oder farbigen Höschen. Erst dann ließen die Beine von ihm ab. Vereinzelt war es auch schon vorgekommen, dass da aber kein Höschen war. Wenn dergleichen geschah, wurde er immer furchtbar verlegen.

Dem Hund machte das nichts aus. Das Tier verstand auch seine Aufregung nicht. So brachte eben jeder von ihnen beiden seine ganz verschiedenen Voraussetzungen ins Geschäftsleben ein. Wo der Partner bloß abblieb!

Stichling wurde erneut abgelenkt. Zwei Beinpaare standen auf einmal parallel vor ihm. Schuhgröße neununddreißig und Schuhgröße einundzwanzig. „Sei lieb und gib dem kleinen Onkel eins von deinen sauren Drops!“ Das Plopp war diesmal kaum hörbar. Stichling wurde traurig. Er wartete ab, bis die Beine sich verlaufen hatten, dann entfernte er die klebrige Masse schnell aus seinem Hut. Er konnte saure Drops einfach nicht ausstehen. Aber das Kind vor den Kopf stoßen mochte er auch nicht. War schließlich gut gemeint.

Stichling hatte ein Herz für Kinder. Immer noch. Seine musste jetzt um die zwanzig herum sein. Mit dreizehn hatte er sie aus den Augen verloren. Erst danach hatte er sich selbständig gemacht. Ob sie immer noch bei der Mutter lebte oder schon auf eigenen Füßen stand? Sie hatte Schuhgröße vierunddreißig, als sie ihm Lebewohl sagte. Damals hatte er noch keine Ahnung gehabt, wie sehr ihm fremde Beine einmal zum Lebensmittelpunkt werden sollten. Er selbst hatte es bis zu Schuhgröße vierundvierzig gebracht. Weiter war er nicht gekommen. Aber selbst das war inzwischen Geschichte. Er sollte das Grübeln drangeben.

Der Hund half ihm dabei, als er an der Stelle, wo er verschwunden war, wieder auftauchte. Mit seinen Zähnen hielt er eine kleine Plastiktüte fest, die er vor Stichling abstellte. „Brav, Partner. Ist im Prinzip alles deins. Bis auf meinen Anteil. Lass uns mal nachschauen!“

Er leerte die Tüte ohne weitere Umstände neben sich aus. Eine Mettwurst kam zum Vorschein. Zwei Brötchen kullerten über das Pflaster. „Na, nimm die Wurst! Ich hab noch was von gestern.“

Der Hund blickte abwechselnd auf Stichling und auf die Wurst. „Wufff“, machte er. Als er merkte, dass sich Stichling nicht weiter um die Wurst kümmerte, nahm er sie zwischen die Zähne, blickte noch einmal auf Stichling und fing dann langsam an zu kauen.

Stichling hatte unterdessen eines der beiden Brötchen wieder in die Tüte zurückgelegt. In das andere biss er hinein. Aus seinem Rucksack kramte er einen winzigen Wurstrest hervor und hielt ihn dem Hund unter die Nase. „Das sind die Segnungen einer umsichtigen Vorratshaltung. Ich glaube, das ist das Einzige, was ich dir voraushabe.“

Der Hund machte wieder „wufff“, ließ sich aber nicht weiter von Stichlings Vortrag zur Lebensführung beeindrucken. Beide widmeten sich eine Weile schweigsam ihrer Mahlzeit. Endlich leckte sich der Hund die Schnauze, streckte sich neben Stichling aus und wurde wieder zum Bettvorleger.

Der hat während des Einkaufens was getrunken, dachte Stichling. Er starrte sinnend auf die Wasserflasche, die er dem Rucksack entnommen hatte und leerte den Rest von dem Inhalt in einem Zug. Er musste sich um Nachschub kümmern. Spätestens zu Mittag. Dann würde auch der Hund wieder wach sein. Außerdem sollte er mal wieder die Windel wechseln.

Der Partner hatte einen beneidenswerten Schlaf. Man musste das so sehen. Er schlief und verdiente, verdiente und schlief. Der Partner hatte es im Blut. Das Geschäft lag ihm, ohne ihm die Ruhe zu rauben. Aber als Wachhund war er ungeeignet. Einseitige Begabung. Das gab es auch unter seinesgleichen. Er zum Beispiel. Bei ihm war es andersherum als beim Partner. Der neue Job forderte ihn. Er würde sich das zwar nicht anmerken lassen. Doch Illusionen waren nicht angebracht. Immer unter Menschen. Immer im Zentrum fremder Aufmerksamkeit. Das lag ihm einfach nicht. Dafür war er immerzu hellwach für das, was um ihn herum geschah. Und das war nicht wenig.

Doch manchmal würde er am liebsten davonlaufen und alles hinter sich lassen. Aber so einfach weglaufen, alles stehen und liegen lassen, das ging eben nicht. Nicht in seiner Position. Nicht in seiner Situation. Klar, er hatte sein Auskommen. Hatte er früher aber auch gehabt. Der Lebensstandard war sogar höher gewesen. Und der Job damals hatte ihn angeregt, nicht aufgeregt. Er hatte keine Veranlassung, bescheiden zu sein. Er hatte immer einen guten Job gemacht. Jedenfalls keinen schlechteren als heute. Das hielt er sich noch immer zugute.

Damals hatten drei davon gelebt. Er, die Frau und die Tochter. Jetzt brauchte er nur allein für sich zu sorgen. Da war jedenfalls Verantwortung von ihm abgefallen. Andererseits: Allein und selbständig war auch nicht immer einfach. Vom Job hing eben viel ab im Leben. Er konnte ein Lied davon singen.

Vormals, als Ingenieur, hatte er für den Job gelebt. Viel im Einsatz. Immer einsatzbereit. Das war gut bezahlt worden. Sie konnten sich eine Zeitlang eine Menge gönnen. Das täuschte darüber hinweg, wie fremd ihm die Frau nach und nach wurde. Andersherum wohl auch. Als die Firma dicht machte, vermisste er die Arbeit nicht sofort. Mit dem Geld lief das noch eine Weile. Er konnte sich Zeit lassen. Für einen guten Job war nichts zu überstürzen. Er hatte Ansprüche, als er mit den Bewerbungen anfing. Dann die Absagen. Sie überraschten ihn und setzten ihm schwer zu. Überqualifiziert. Er hatte eine Nische studiert, und gerade die war in die Krise gekommen. Dann wechselte die Begründung in den Absagen: Er sei zu lange draußen gewesen. Von dem Zeitpunkt an wusste er um den Ernst der Lage. Unterdessen waren auch die Finanzen ins Trudeln geraten.

„Weichei“, hatte die Frau gesagt, als er sich vermehrt ein Gläschen gönnte, obwohl sie sich das eigentlich nicht mehr leisten konnten. Weichei war hart. Dazu ihre Blicke. Und überhaupt, das lief nicht mehr rund zu Hause. Die Tochter kapselte sich völlig ab. War vielleicht gut so. Er hätte Schwierigkeiten gehabt, ihr in die Augen zu sehen. War ein feiner Zug von ihr gewesen, ihm Lebewohl zu sagen. Die Frau war wortlos gegangen, als klar wurde, dass das Haus nicht zu halten war. Da war zum Glück Sommer gewesen, und er hatte erst einmal darauf verzichtet, sich eine neue feste Bleibe zu suchen. Er brauchte Gelegenheit zum Nachdenken, weil ihm klar zu werden begann, dass er zwar ein guter Ingenieur war, aber mit dem übrigen Leben nicht zurechtkam, wenn es zu viele Ingenieure gab. Das war der Punkt gewesen. Um ihn geistig zu bewältigen, konnte viel Bewegung in frischer Luft nur hilfreich sein. Vom Wetter her hatten sie damals einen fabelhaften Sommer.

Bei der frischen Luft war es dann geblieben. Nur mit der Bewegung klappte das nicht mehr so gut wie früher.

Stichling wurde aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Da war etwas auf ihn zugekommen, was er nicht rechtzeitig bemerkt hatte. So etwas passierte selten. Meist verliefen solche Begegnungen nicht harmonisch und profitabel. Sie erschwerten den Job. Machten ihn manchmal sogar schwer erträglich. Auch diesmal spürte er ein unangenehmes Kribbeln am Körper, sogar an den Stellen, die gar nicht da waren.

Es war aber nur ein Paar Stiefel. Das sollte den Stress in Grenzen halten. Dennoch hielt Stichling es nicht für ratsam aufzusehen. Er tat so, als bemerkte er nichts und musterte gleichgütig die Schuhgröße 45. Bei Stiefeln war das schwer zu schätzen. Die fielen meist größer aus. Wenn sie so getragen wurden wie diese da vor ihm, dann flößten sie ihm Furcht ein.

Stichling war vertraut mit allen gängigen Stiefeln der Damen. Die waren, so unterschiedlich in der Machart, meist von zierlicher Gestalt. Das ging nie über Größe 41 hinaus. Weit über die Knöchel aufsteigend, schmiegten sie sich schlanken Waden an. Damenstiefel blieben eher selten bei ihm stehen. Gewöhnlich sah er sie in Bewegung. Was er dann sah, entschädigte ihn oft genug für das, was vielleicht zu erwarten gewesen wäre, wenn die Stiefel bei ihm verweilt hätten. Es mochte ein Vorurteil sein, aber ihm, Stichling, war es, als ermöglichten Stiefel den Damen einen aufregenderen Gang als gewöhnliche Straßenschuhe.

Die Größe 45 machte immer noch keine Anstalten, von ihm abzulassen. Eine der beiden Stiefelspitzen hatte Tuchfühlung zu seinem Wägelchen aufgenommen. Langsam schob sie es zurück, bis der Hut mit den Münzen aus Stichlings Reichweite gekommen war. Dann fiel ein Gegenstand auf das Straßenpflaster herab, genau in den Zwischenraum zwischen Hut und Wägelchen. Gleich darauf zischte es von oben herab und ein Auswurf landete zielsicher neben dem festen Gegenstand. Jetzt, als habe sich der Zweck der Begegnung erfüllt, entfernten sich die Stiefel. Noch lange hallte das Klacken der Absätze in Stichlings Ohr nach.

Er nahm das rechteckige Ding in die Hand und betrachtete es von allen Seiten; ein billiges Stück Seife. Stichling seufzte. Er führte das Wägelchen wieder an den Hut heran und wandte sich an den Hund, der von alledem nichts mitbekommen hatte.

„He, Partner! Du hast nur ein begrenztes Interesse an unseren geschäftlichen Rahmenbedingungen. Es ist besser, noch heute die Position zu wechseln. Ich weiß, dass du wenig davon hältst. Ich muss aber auch mal an mich denken.“

Der Hund rührte sich nicht. Stichling gab ihm ärgerlich einen Klaps aufs Hinterteil und brummte:

„Na, ganz so eilig wird es wohl nicht sein.“

Seine durch die Begegnung mit den Stiefeln ausgelöste Unruhe hielt nicht lange an. Stichling hatte sich über seine schweren Jahre hinweg ein leichtes Gemüt bewahrt. Langes Grübeln über kaum veränderbare Tatbestände war sein Ding nicht. Als er feststellte, dass der allgemeine Publikumsverkehr angeschwollen war und der Zahl der Plopps in seinem Hut spürbar zugutekam, hatte er die aufdringlichen Stiefel bald vergessen. Es gehörte zu seinen unbedingten Lebenserfahrungen, einen laufenden Mehrwert nicht abzuwürgen oder leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Eine Serie profitabler Plopps hatte er nicht alle Tage. Insgesamt wunderte er sich über den augenblicklichen Segen, wo doch eben noch so wenig los gewesen war bei den Schaufenstern. Das Schicksal war eben unberechenbar. Auch davon konnte gerade er ein besonderes Lied singen.

Wäre damals der schöne Sommer nicht gewesen, dann ...

Oder wäre er in jener Nacht bei Alfons geblieben, anstatt das Grundstück aufzusuchen, dann ...

Oder überhaupt, hätte er seinen Job nicht verloren, dann ...

Auch als Ingenieur hatte er viel mit Wenn-dann-Beziehungen zu tun gehabt. Es war sein Job gewesen, sie zu berechnen, um gewünschte von ungewünschten Ergebnissen zu unterscheiden und die letzteren menschenmöglichst auszuschließen. Aber so eine Wenn-dann-Beziehung wie die, die ihn damals kleiner gemacht hatte, die war gar nicht zu berechnen. Und auch wenn er jetzt hierblieb, anstatt die Position zu wechseln, hatte er keinen Algorithmus verfügbar, der eine verlässliche Voraussage zuließ, was folgen konnte oder nicht.

Jetzt drohte er doch ins Grübeln zu kommen. Stichling suchte nach einer Rechtfertigung. Das war kein Grübeln, was er gerade anstellte, das war Kalkulieren auf einem hohen empirischen Niveau. Das ging sogar deutlich in Richtung Philosophieren. Warum auch nicht sollte er die Zeit zum Philosophieren nutzen, wenn die Geschäfte so gut liefen, dass er überhaupt nicht in sie eingreifen musste. Wie von unsichtbarer Hand gelenkt, vollzog sich Geschäftsabschluss auf Geschäftsabschluss und wurde mit einem Plopp im Hut immer gleichsam rechtskräftig besiegelt.

Stichling schielte zum Hut hin. Sicher, mancher Hosenknopf war dabei. Und der saure Drops blieb eine ernstzunehmende Währung gegenüber dem Euro. Aber unter dem Strich sah das gut aus. Obgleich – nun ja, der Partner war einfach nicht zu schlagen. Weder in guten noch in schlechten Geschäftslagen. Wieso eigentlich konnte der aus der Erwerbswirtschaft so viel mehr an Nektar saugen als er, Stichling?

Zugegeben, das Geschäftsprinzip war einfach und stellte keine höheren Qualifikationsanforderungen. Aber es beruhte auf Eigeninitiative, einem Hauptmerkmal jeglichen geschäftlichen Erwerbssinns. Präsent sein. Einen Anblick bieten. Die vom Anblick erzeugte Gemütsregung, so die zu Grunde liegende Kalkulation, löste bei einem potentiellen Geschäftspartner einen Impuls aus, der einen winzigen Teil der ihm zur Verfügung stehenden Kaufkraft in Stichlings Hut leitete. Umlenkung von Kaufkraft aus fremden Taschen in die eigene. Das war doch die Grundstruktur des Geschäftlichen überhaupt, in die sich sein Job nahtlos einfügte. Wo aber lag für den Hund bei dem speziellen Geschäftsmodell der Vorteil, den er so trefflich zu nutzen verstand?

Wie schon so oft war Stichling mit dieser Frage bei einem Problem angelangt, das er trotz Ingenieurstudiums nicht lösen konnte, weil er damals, vor seiner Verkürzung, noch nicht bilanziert hatte. Im Übrigen auch noch keinen Hund als Teilhaber hatte, so dass keine Vergleichbarkeit der Situationen gegeben war, die eindeutige Schlussfolgerungen zuließ. Bei aller unbefriedigenden Vorläufigkeit der Urteilsfindung führte somit kein Weg an der Anerkennung der Tatsache vorbei, dass der Anblick Hund ein deutlich stärkerer Impulsgeber für mildtätiges Handeln war als der Anblick Mensch. Dabei hatte er, Stichling, wenngleich unbeabsichtigt, alles getan, um seinen Anblick zum Vorteil der erwünschten Impulsgebung zu optimieren. Das war – und das durfte nicht unerwähnt bleiben – zunächst gar nicht so einfach gewesen, damit zu leben.

Das Grundstück war das entscheidende Kettenglied. Alles deutete darauf hin. Wenn er es schon darauf anlegte, die Ereignisse, das heißt ein ganz bestimmtes Ereignis in einer Kette von Ereignissen, zu bedauern, dann war die Konsequenz nicht zu übersehen: Er hätte das Grundstück nicht entdecken dürfen. Aber lass in deinem Leben mal bewusst etwas aus, was als unsäglich schön empfunden wird. Wo du eine tiefe Verwandtschaft zu entdeckst. Hinterher geht das. Da kannst du hemmungslos vom Prinzip her denken, alles ist schlecht, was schlecht endet. Aber damals!

Klein, versteckt, idyllisch gelegen und bei aller Verwahrlosung noch spürbar etwas von einstigem Glanz und sozialem Aroma verflossener Tage verströmend, war das Grundstück ihm, einmal entdeckt, einfach ans Herz gewachsen. Vielleicht erinnerte es ihn auch nur an sein eigenes Heim aus besseren Tagen. Ruine fand sich zu Ruine. Eine Liebe auf den ersten Blick. Das Haus war verfallen, sicher, aber vor schlechter Witterung konnte es jemanden ohne feste Bleibe ordentlich schützen. Doch wann gab es in jenem Sommer schon mal schlechte Witterung?

Er hatte es vorgezogen, im wild wuchernden Garten zu schlafen. In der Nähe des knorrigen Apfelbaums war eine Stelle, die vor jedem neugierigen Blick von außerhalb schützte und zugleich den eigenen Blick freiließ auf den nächtlichen Sternenhimmel, der ihm viel bedeutete. Die Kumpanen mieden das Gelände, das ihnen etwas unheimlich vorkam und wohl auch zu weit weg lag vom nächsten Kiosk. Deshalb hatte er sein Reich meist für sich allein gehabt. Auch in der Nacht, aber nicht an dem Morgen, der sein Leben veränderte, weil seine Person verkürzt wurde.

Jetzt hatte er das Grübeln doch in sich zugelassen. Das Bedürfnis saß noch tief. Und der verdammte Fusel! Nein, nicht heute. Damals. Auch er ein Faktor, mit dem sich eine tragfähige Wenndann-Beziehung aufbauen ließ. Sie hatten aus nichtigem Anlass bei Alfons gefeiert. Er hätte bei Alfons bleiben sollen. Alle waren bei Alfons geblieben. Weil man so viel intus hatte. Er natürlich auch. Aber nein, er musste in einem Anfall von Rührseligkeit torkelnd zu seinem Grundstück aufbrechen, um den herrlichen Nachthimmel betrachten zu können. Im besoffenen Kopf!

Im Garten war er an seiner gewohnten Stelle sofort eingeschlafen. Schilder, Hinweisschilder, Warnschilder – wer nimmt dergleichen schon zur Kenntnis, wenn er abgefüllt ist. Der Selbsterhaltungstrieb funktioniert nicht zuverlässig, wenn er über intellektuelle Denkleistung aktiviert werden muss. Sich zuzudecken bis über beide Ohren, weil es etwas frisch wurde in der Nacht, das funktionierte, weil es automatisch geschehen konnte. Funktionierte zu gut, aus heutiger Sicht.

Immer noch war ihm nicht vollständig klar, was ihn eigentlich geweckt hatte, der Schmerz oder der Lärm. Die Erinnerung sprach eher für den Schmerz. Einen erheblichen Teil des Lärms hatte er bereits verschlafen. In seinem Zustand hätten ihn vielleicht nicht einmal die Trompeten von Jericho wecken können. Und wenn schweres Gerät anrückt und hochtourig über holpriges Gelände bewegt wird, dann macht das einen gehörigen Sound. Das Schleifen der Ketten, das Aufheulen der Motoren, Scheppern, Rumpeln und Dröhnen; da war in Ober-, Unter- und Mitteltönen alles mit von der Partie, was eine gute Baustelle ausmacht. Er hatte in seiner Ausbildungszeit zeitweise auf einer Großbaustelle gearbeitet. Das blieb ihm unvergesslich. Natürlich hatte er sich damals nicht träumen lassen, dass er einen Bagger einmal von einer ganz anderen Seite betrachten würde.

Ja sicher, es war der Schmerz gewesen. Blieb ja auch nicht aus, wenn da tonnenschwere Schaufeln auf einen niedersausen. Es war frühmorgens gewesen. Da waren die Jungs gut drauf und gingen mit Schwung an die Arbeit. Die konnten doch nicht erst jeden Dreckhaufen durchwühlen, um zu prüfen, ob da wer drinsteckt. Erstaunlich, wie gut er sich verpackt hatte. Die waren bestimmt nicht wenig überrascht gewesen, dass einer der Dreckhaufen plötzlich angefangen hatte zu schreien. Ihm hatte der Schrei zweifellos das Leben gerettet. Zu sich gekommen war er erst im Krankenhaus. Da war er der Gesprächsstoff des Tages geworden.

Die erste Nachricht, die in sein Bewusstsein gelangte, war die, dass der Baggerführer sich zunächst übergeben und dann für den Rest des Tages frei genommen hatte. Die Beine hatte man zuerst gefunden. Weil sofort dem Verdacht nachgegangen worden war, dass da noch etwas zugehörte, konnte schnelle Hilfe geleistet werden. Stichling hatte nach seinem Erwachen eine ganze Weile gebraucht, um zu begreifen, was gemeint war, wenn sie davon sprachen, dass man seine Beine in die Hand genommen hatte. Oh weh! Das war zunächst sein einziger Kommentar gewesen. Die hübsche Krankenschwester hatte neben ihm gleichfalls geseufzt und die Augen niedergeschlagen.

„So ein Verlust! So ein entsetzlicher Verlust!“ Die Kleine hatte eine mitfühlende Art, die Stichling bei der Bewältigung seiner ersten Eindrücke behilflich war. Später fühlte er sich eher genierlich. Das kam bei ihm schnell, wenn eine Frau ihn bemitleidete.

Der Chefarzt hatte um die ganze Sache weniger Aufhebens gemacht. Der mochte Seinesgleichen nicht. Gleich nach dem Erwachen aus der Narkose war er von ihm gefragt worden, ob er das behalten wolle, was ihm abhanden gekommen war. Ehrlich, er hatte schlucken müssen. Er hatte abgewunken und sich auf den Tonfall eingelassen. Was soll er damit? Wo soll er es aufbewahren? Zu lang. Zu schwer. Was für eine Plackerei. Außerdem, Eigentum verpflichtet. Er müsste sich drum kümmern, für Wartung und Pflege aufkommen. Wozu das alles, wenn es nicht mehr in der ursprünglichen Zweckmäßigkeit zu gebrauchen war. Denn wieder annähen? Ging nicht.

Der Chefarzt hatte sich nicht geschlagen gegeben und gleich noch eine andere Anregung gegeben. Stichling könnte schon mal eine Gruft anmieten. Wären die Beine erst einmal drin, könnte das andere, wann auch immer, später nachkommen. Stichling winkte erneut ab. Eine Gruft kam nicht in Frage. Da fielen schon zu seinen Lebzeiten Kosten an. Die wurden auch durch Ersparnisse an anderer Stelle nicht aufgehoben. Das hatte er dem Chefarzt ohne Zittern in der Stimme verklickert. Der war daraufhin wortlos abgezogen. Nach alter Gewohnheit war Stichling schnell ins Rechnen verfallen. 82 cm von ihm waren weg. Das machte 45% des Ganzen. An Länge. Auch vom Gewicht her war das eine ordentliche Portion, die nicht mehr da war. Das musste, die Überlegung war nicht von der Hand zu weisen, kalorienmäßig nicht mehr versorgt werden. Darin lag ein Vorteil unter all den vielen Nachteilen. Was für ein Wunder! Stichling verfiel immer wieder auf den Punkt. Da kommen dir 82 cm abhanden. Und es bleibt immer noch ein Mensch. Von der entgegengesetzten Seite der Person ginge das gar nicht. Da reichten 5 cm und alles wäre aus. Als Ingenieur hatte er immer wieder damit zu tun gehabt, dass alles entscheidend davon abhing, von welcher Seite her ein Problem oder ein Ding angegangen wurde. Das galt selbstverständlich auch für die Arbeit eines Baggerführers.

Was er denn nun anstellen wolle, in dem neuen Zustand. Die hübsche Krankenschwester hatte ehrliche Anteilnahme gezeigt. Er konnte sich Zeit lassen mit seiner Entscheidung. Bis er völlig wiederhergestellt war, wenn auch ohne die gewohnten Beine, waren sie schon einen Sommer weiter. An Ingenieur war natürlich nicht mehr zu denken. Aber selbständig wollte er bleiben.

„Wo ist der Rest von dir?“, hatten ihn die Kumpels verblüfft gefragt, als er das erste Mal wieder bei ihnen aufkreuzte. Er zuckte die Achseln. Aber das konnten die von oben nicht wirklich sehen. Zum ersten Mal war es Stichling bewusst geworden, wie entrückt er nun war. Eine Art Kleintier. An dessen Perspektive galt es sich zu gewöhnen.

Das Wägelchen hatte ihm Alfons liebevoll gezimmert. Klar, ein Rollstuhl über die Ämter wäre drin gewesen. Aber der Weg der Bürokratie! Ihm war schwindlig geworden. Und dann auf einmal der Alfons mit seiner genialen Idee. Unglaublich praktisch, das Gerät. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte man diese Art häufig in der Öffentlichkeit gesehen. Zwei Bindungsvorrichtungen, ähnlich wie bei sehr alten Skiern; da passten die Stümpfe rein und fanden soliden Halt. Leichtgängige Räder. Im abschüssigen Gelände konnte er sich ordentlich Speed geben, musste sogar Obacht geben, von wegen dem Bremsen. Aber aufwärts war es doch eine gehörige Plackerei. Ohne Alfons wäre seine Selbständigkeit vielleicht schon bald gescheitert. Aber Alfons war von einem Flügelschlag des Glücks gestreift worden. Eine überraschende kleine Erbschaft. Mit Alfons als Rückhalt, so war das gegangen in den letzten Jahren. Erst ohne, dann mit dem Partner.

Stichling hatte ein Gespür dafür bekommen, wann ein Hype im Geschäftsablauf zu Ende war. Seit er mit dem Grübeln angefangen hatte, war eine Menge Zeit verstrichen. Die Serie der Plopps war längst abgeebbt. Seiner Meinung nach war für heute die Luft raus aus dem Geschäft. Die Einschätzung, dass es ein ruhiger Tag war, würde sich am Ende als richtig erweisen.

„Komm, Partner, Wir machen uns auf die Socken.“ Eine eingefleischte Redensart von ihm. Er mochte auch nicht auf sie verzichten, seit er keine Socken mehr brauchte. Die Dinge draußen ändern sich, dachte Stichling, aber in deinem Kopf treiben sie weiter ihr Unwesen. Auch wenn alte Begriffe auf neue Gegebenheiten nicht passen, du verwendest sie trotzdem. So war das übrigens auch mit Alfons. Er stellte sich ihn immer noch so vor, wie er ihn damals, nach dem Besäufnis, verlassen hatte, um auf dem Grundstück seine Beine zu verlieren. Alfons. Der Kumpel. Alfons, der Looser. Nichts mehr von da. Das heißt, vom Kumpel schon. Er war nicht gerade ein feiner Herr geworden. Dafür war die Erbschaft auch zu klein gewesen. Aber der hatte jetzt ein ordentliches Auskommen. Der Kiosk, den er sich zugelegt hatte, warf was ab. Immer frisch rasiert, gar nicht so wie früher, das flößte Vertrauen ein und belebte das Geschäft. Ja, der Alfons hatte es geschafft. Aber dennoch, wenn er ihn sich vorstellte, dann immer noch wie früher.

Der Alfons hatte ihm geholfen in seiner schwersten Zeit. Auf den Alfons, egal ob auf den alten oder den neuen, würde er nichts kommen lassen. Dass er heute noch selbständig war, hatte er dem Alfons zu verdanken. Irgendwann einmal würde er sich dafür erkenntlich zeigen.

„Also komm endlich, Partner!“

Stichling war lauter geworden und hieb ordentlich auf den trägen Hund an seiner Seite ein. Da traf ihn unvermittelt ein harter Schlag auf den Kopf.

„Sie unverschämter Flegel, Sie! Das arme Hundchen so zu behandeln!“

Am bösen Unterton in der Stimme der erregten Dame erfasste Stichling instinktiv, dass noch ein zweiter Schlag folgen würde. Er parierte ihn mit seinen Armen, die er schnell über den Kopf legte. Leicht hätte er der Dame das Corpus delicti, einen langen Regenschirm, entreißen können. Doch wusste er aus Erfahrung, dass entschlossene Gegenwehr seine Lage eher verschlimmern konnte. Von dem Vorfall angelockt, waren einige der vorbeieilenden Passanten stehen geblieben und hatten sich wie eine Traube um die ungleichen Kombattanten herum aufgestellt. Ein stämmiger Mann wandte sich geflissentlich an die resolute Dame, die vom Alter her irgendwo in den Sechzigern stecken mochte, und erkundigte sich, ob sie Hilfe brauche. Dabei strich er sich mit der linken Hand beinahe zärtlich über seine zur Faust geballte Rechte.

Die tierliebende Dame nahm aber kaum Notiz von dem Rummel um sich herum. Sie schien den Zweck ihrer Attacke als erreicht anzusehen.

„Braves Hundchen“, murmelte sie noch, dann bahnte sie sich entschlossen einen Weg durch die kleine Menschenansammlung. Die Leute, um ihre Attraktion gebracht, verliefen sich bald.

„He, Partner“, rief Stichling, noch immer überrascht, dem Hund zu, „du hast ja eine verdammt rabiate Lobby.“ Der Hund brauchte sich bestimmt nicht zu sorgen, wenn eine Kurve in seinem Leben ihn einmal aus der Bahn warf. Er selbst war verwundbarer. Das wusste Stichling. Das hatte er gerade erst erfahren. Trotzdem, er liebte seinen Job. Er mochte ihn nicht missen. Denn wo gab es das, dass einer, wenn er seinen Job machte, schon mal ganz ungezwungen von unten eine Kaffeebohne betrachten konnte. Und überhaupt. Mit einem Job zählte man mehr.

Das Tier hatte kein erkennbares Interesse an dem Vorfall gezeigt. Immerhin war es wach geworden und blickte Stichling erwartungsvoll an. „Wufff!“, machte es, als Stichling seinen Arm ausstreckte. Dann drehte es sich um und trottete langsam in die gewiesene Richtung.

Die unerwarteten Schläge der älteren Dame hatten bei Stichling die Stiefel Größe 45 wieder in Erinnerung gebracht. Er wurde unruhig und entschloss sich, den Rest des Tages bei Alfons zu verbringen und dort gründlich darüber nachzudenken, wo er demnächst am besten seinen Job machen sollte. Deshalb hatte er dem Hund Zeichen gegeben. Der kannte die Richtung und wusste den Weg.

Sie begaben sich um die nächste Ecke bis zum Ende der Passage und folgten von da einem kleinen, wenig belebten Sträßchen. Nicht weit war es zu Alfons seiner Wohnung. Auf den glatten Fliesen der Passage konnte Stichling mit dem Hund das Tempo halten. In solchem Gelände machte sich das Wägelchen gut. Dann allerdings wurde es beschwerlicher. An einer kurzen Steigung kam Stichling ins Schwitzen. Jetzt waren es aber auch nur noch wenige Meter, bis sie die Straße verlassen und eine Abkürzung über einen schmalen, asphaltierten Weg nehmen konnten. An dessen Ende wohnte Alfons.

Doch an seinem Beginn standen reglos die Stiefel, so, als hätten sie schon eine ganze Weile dort gestanden. Drei Paar waren es. Eine Größe 46 war dabei. Und die Größe 45 von vorhin. Stichling hatte sie sich genau eingeprägt. Als er sein Wägelchen vor ihnen anhalten musste, stellten sie sich exakt parallel nebeneinander auf und verfielen in eine Kippbewegung, indem sie unermüdlich von den Zehen zu den Hacken und wieder zurück abrollten. Stichling hätte die Arme ausstrecken und die weißen Schnürsenkel lösen können, so nah war er ihnen gekommen.

„Endstation!“, befahl eine herrische Stimme. Für einen Augenblick riss Stichling seinen Kopf hoch und sah entrückt drei Köpfe, die alle gleich aussahen und keine Frisur hatten. Sofort sackte er in sich zusammen.

„He, Alter, weißt du, dass du ein Stück Dreck bist?“

Stichling zuckte ein wenig verächtlich mit den Mundwinkeln. Als wenn er das nicht selber wüsste! Doch er zog es vor zu schweigen.

„Gesprächig bist du nicht. Macht aber nichts. Zwischen uns ist ja alles gesagt. Oder hast du unsere Botschaft nicht verstanden?“

Stichling dachte an das Stück Seife. Bevor er etwas erwidern konnte, traf ihn eine Stiefelspitze in den Bauch. Er sackte stärker in sich zusammen. Der Hund machte aufgeregt „wufff“.

„Weißt du, wo Dreck ist, kann man reinemachen. Mit Wasser und Seife. Wir hatten dir großzügig alles Nötige spendiert, um den Dreck wegzumachen.“

Der zweite Tritt traf Stichling am Kopf. Er wurde etwas nachlässig ausgeführt. Stichling konnte mit Mühe sein Gleichgewicht halten. Er hörte ein mehrfaches aufgeregtes „Wufff“ und sah, wie der Hund beherzt die drei Gestalten anbellte. Brav, Partner, dachte er benommen, du wirst hoffentlich unser kleines Geschäft retten.

„Gestern bekamst du das Wasser. Heute haben wir die Seife vorbeigebracht. Aber der Dreckhaufen ist immer noch da. Kannst du uns das erklären?“

Weil der nächste Tritt gegen den Kopf schneller war als Stichlings Antwort, kam nur ein gurgelnder Laut aus seiner Kehle. Diesmal verlor er sein Gleichgewicht und kippte seitwärts von seinem Wägelchen.

Die Gegend war nicht belebt. Vereinzelt gingen Passanten die Straße entlang, von der Stichling mit dem Hund abgebogen war. Sie warfen meist einen kurzen scheuen Blick auf die Geschehnisse, bevor sie ihren Schritt beschleunigten und den zu verrichtenden Dingen des Tages zueilten.

Ein verliebtes Pärchen, den Ereignissen am nächsten, fühlte sich sichtlich gestört und machte sich daran, den Standort zu verlassen. Sie zögerte ein wenig, als Stichling umkippte. Doch er zog sie mit sich fort und flüsterte der Unschlüssigen zu: „Wir sollten uns nicht in anderer Leute Angelegenheiten mischen. Bei derartigen Streitigkeiten ist zumeist auch schwer zu sagen, wer Recht hat oder wer angefangen hat.“

Das schien sie sehr zu überzeugen. So kam es, dass Stichling, dem das Unter-den-Leuten-sein in seinem Job im Allgemeinen schwer fiel, seine letzte Stunde frei von neugieriger Beobachtung halten konnte. Nachdem er von seinem Wägelchen gestürzt war, wollten auch die anderen Stiefel an der Malträtierung des in seinem Leben gestrandeten Mannes teilhaben. Erst als ein feiner Blutstrom aus seinem Mund sickerte und der Körper sich längst nicht mehr regte, ließ das gegerbte Leder von ihm ab und trug die drei gleichen Köpfe ohne Frisur das wenig belebte Sträßchen hinunter der Einkaufpassage zu. Ein unschlüssiger zotteliger Hund lief, ununterbrochen „wufff“ machend, noch eine ganze Weile mal den drei Gestalten hinterher, die allmählich verschwanden, mal zu dem leblosen Körper zurück, der einmal sein Partner gewesen war.

JENSEITS DES EXISTENZMINIMUMS

5. September 2013:Sorry, ein verpatzter Einstieg

Es fällt mir schwer, mit etwas halbwegs Gescheitem in eine Unterhaltung einzusteigen. Das ist sogar dann der Fall, wenn ich, wie jetzt, gar keine Rückmeldung bekomme, ob und wie stark ich mich blamiere. Ein Grundproblem. Am geschicktesten ist es, ich tu so, als hätte es den Einstieg gar nicht gegeben und wir wären bereits mittendrin in der Unterhaltung. Der Trick funktioniert meistens erstaunlich gut.

Mit der Geselligkeit und ihren faden Kunststücken, so ist das nun einmal, verhält es sich ähnlich wie mit der Musikalität: Entweder man ist dafür veranlagt oder nicht. Gegen die Vorgaben der Natur wirst du bei Nichtbegabung weder in dem einen noch in dem anderen Fall groß herauskommen. Ich sehe nur den hilfreichen Unterschied, dass man sich in der einen Eigenschaft leichter als Talent tarnen kann als in der anderen.

Nun bin ich als Persönlichkeit alles andere als eine gesellige Natur. Deshalb ist es in meiner Lage nicht unbedingt hilfreich, allerlei Erwartungen zu hegen, die gewöhnlich an einen erfolgreichen mitmenschlichen Umgang gestellt werden. Dennoch hätte ich gern noch einmal in meinem Dasein erlebt, dass einer ausschert aus dem ewigen Konversationseinerlei und die dämliche Frage Wie geht es dir? tatsächlich passender und geschickter stellt.

Früher, als ich noch unter Menschen weilte, als ich mich schon rein beruflich mit ihnen einlassen musste, war ich häufig mit dieser Frage konfrontiert worden. Sie gehörte bei einer Begegnung nun mal dazu. Nur, was sollte ich darauf anders antworten als: Gut. Gut geht es mir. Instinktiv checkte ich mich durch: Innereien in Ordnung. Kondition stark. Nur mäßige Molesten mit dem Stützkorsett. Krebszellen haben sich noch nicht geoutet. Und Demenz wird sich vielleicht erst dann einstellen, wenn ich mein Leben ohnehin beinahe ausgedünstet habe. Alles in allem der Kerl also noch ein klasse Biotop.

Nun bin ich zwar keine gesellige, aber eine im Großen und Ganzen aufrichtige Natur. Und deshalb sagte ich damals von Mal zu Mal - und ich würde das jetzt noch genauso sagen, wenn eine mitmenschliche Begegnung tatsächlich eine Aussprache zu dem angemerkten Thema heraufbeschwören würde: Gut. Gut geht es mir. Dabei denke ich mir sogleich – auch das damals genauso wie ich das heute denken würde: Wenn der doch nur gefragt hätte: Wie fühlst du dich?

Das wäre nach meiner Auffassung sofort eine völlig andere Frage gewesen. Jedenfalls hätte ich sie in einem anderen Sinne aufgefasst. Die zweite Variante wäre zudem eine viel geschicktere Frage gewesen, die mir als dem Befragten weniger Ausflüchte erlaubte. Rhetorisch geschmeidig in die Enge getrieben, hätte ich womöglich erst einmal gestutzt und gezögert, hätte mich gesammelt und nervös überlegt, welche Strategie ich mit meiner Antwort denn überhaupt einschlagen sollte: Ehrlich? Unehrlich? Unentschlossen drum herumeiern?

Vielleicht hätte ich mich für ehrlich entschieden. Sicher, auf jeden Fall hätte ich mich für ehrlich entschieden. Das kann ich hier verlässlich sagen, wo ich weiß, dass ja doch keiner so fragt und wo ich zudem gar nicht mehr unter Menschen komme, die dergleichen fragen könnten. Allerdings, das betone ich ausdrücklich, spricht auch meine naturgegebene Aufrichtigkeit für eine ehrliche Haltung.

Nehmen wir also einmal an, es hätte tatsächlich jemand in der weitaus geschickteren Weise gefragt. Und ich hätte mich für eine ehrliche Antwort entschieden. Dann hätte diese meine ehrliche Antwort gelautet: Sorry. Ich fühle mich wie in die Welt geschissen.

Um Gottes Willen! Ich will jetzt bloß keine falschen Vorstellungen wecken. Der Eindruck richtet sich nicht gegen meine Mutter. Und er richtet sich auch nicht gegen den Geburtsvorgang. Der soll nämlich völlig normal gewesen sein. Das Gefühl hat sich im Grunde erst später, in deutlichem Abstand zu meiner Geburt bei mir eingenistet. Zu jenem späteren Zeitpunkt war eine mentale Begegnung mit der Welt beim besten Willen schon nicht mehr zu vermeiden gewesen. Zugleich hatte mir ungut zu schwanen begonnen, mit dem Existieren womöglich in eine Unternehmung einbezogen zu sein, die schwer zu überblicken war und nicht gut ausgehen konnte.

Wie alt ich da war? Kann ich nicht genau sagen. Später werde ich aber darauf zurückkommen. Ich halte das mit dem Alter übrigens nicht für besonders wichtig. Mir kommt es mit meiner Feststellung eher darauf an, glaubhaft zu machen, dass die geschilderte Empfindung damals tatsächlich mein allererster bewusster Eindruck vom Leben war. Und sie ist nachhaltig geblieben bis heute. Deshalb bin ich überhaupt erst darauf gekommen, darüber zu berichten, weil es andernfalls absolut nichts geben würde, was in irgendeiner Weise in meinem Dasein berichtenswert wäre.

Als ich diesen Plan fasste, darüber zu berichten, nahm ich mir fest vor, unbedingt ein passendes Beispiel zu finden, das mein Urempfinden wenigstens geistig ein wenig miterlebbar machen könnte. Das Ereignis meiner Geburt ist - wenn ich jetzt dieses Beispiel als Ergebnis meines Nachdenkens einmal einbringen darf - bei aller äußerlichen Schmerzfreiheit gut vergleichbar mit einem Sturz, bei dem ein Unglücklicher während eines Waldspaziergangs mit der Nase zuerst in einen frisch geschlagenen Holzstoß fällt und für eine Weile ganz benommen ist. Irgendwann später, wenn seine Nase längst verheilt ist, wird er immer wieder, wenn er in den Wald geht, einen Geruch von frischem Holz in seiner Witterung haben. Da kann er gar nichts gegen tun. So ähnlich scheint das mit mir und der Welt zu sein. Da hat der Geburtsvorgang einen traumatischen Wiedererinnerungsmechanismus ausgelöst, bei dem es nun aber gar nicht nach frischem Holz riecht, sondern eben nach … aber das deutete ich ja bereits an.

Diejenigen Mitexistierenden, die sich mit womöglich unangebrachten Erwartungen auf die Lektüre meines Berichtes eingelassen haben, werden ihn womöglich schon wieder kopfschüttelnd beiseitegelegt haben: Pure Negativität! Ätzend! Gar nicht aufbauend! Keine Weltsicht, die mir zusagt.

Stimmt. Na und? entgegne ich. Ich habe zweifellos Schwierigkeiten mit dem Existieren. Man konnte das heraushören. Man sollte das auch heraushören. Ich will den Eindruck überhaupt nicht leugnen. Doch ich habe, wie jeder andere Mitexistierende auch, ein Recht auf mein eigenes Weltempfinden. Und darin eingebettet, verströmt das Leben für mich auch bei nur oberflächlicher Teilhabe ein Aroma, das nicht auf meinen Geschmack ausgerichtet ist. Das Leben zeigt vielmehr Charakterzüge, die mir eindeutig missfallen. Das ganze anmaßende Prinzip des Lebens, so sehe ich das nun einmal, zwingt mir eine Existenz auf, in die ich freiwillig niemals eingetreten wäre.

Du musst dir selbst einmal, werter Mitexistierender, die absonderliche Story deines In-der-Welt-Seins unvoreingenommen vor Augen führen: Ein hinterhältiger Vorgang unter ausschließlich fremder Beteiligung löst eine biologische Gärung aus, die dich hervorbringt, bevor du nur den Ansatz einer Chance hattest, etwas dagegen einzuwenden (oder meinetwegen auch darin einzuwilligen). Du kannst nichts von dem ganzen Geschehen rückgängig machen. Du kannst nicht stornieren, was für dich auf deine Kosten bestellt wurde. Du kannst keinen Deut an den Voreinstellungen deines Persönlichkeitsprogramms verändern. Und dennoch, die meisten, sicherlich, halten ihr Leben für ein Geschenk. Sie sagen das. Sie denken das vielleicht auch. Dennoch habe ich meine Zweifel, dass sie sich wirklich mit dem Problem auseinandergesetzt haben.

Ich halte aus meinen Gründen also strikt dagegen. Ich halte das Leben für eine Bürde. Ich halte mein Leben für meine Bürde. Ich halte sogar, wenngleich ich keineswegs vorhabe, mich rechthaberisch in deine persönlichen Angelegenheiten einzumischen, dein Leben, werter Mitexistierender, für deine Bürde. Haftet dir nämlich die Existenz erst einmal an, dann wirst du sie so schnell und auf keinen Fall leicht wieder los. Zwar, irgendwann, lässt sie ganz von allein wieder von dir ab. Doch das kann dauern. Und über alle Stationen hinweg wirst du bis ins Ende unsanft mitgezerrt. Mit welchem Ergebnis? Zu welchem Zweck? Na, dass nach deinem Existieren dasselbe ist wie davor, nämlich NICHTS.

Ein gelehrter Mitexistierender, der seinerzeit viel nachgedacht hatte, obwohl er gar nicht sehr alt geworden ist, bezeichnete einmal das Existieren als einen Hiatus zwischen zwei Nichtsen. Du fällst, so lege ich mir den Spruch aus, in einen zufälligen, zeitlich bedeutungslosen Materiespalt des Nichts. Und wohl die meisten, die davon betroffen sind, denen es also genauso ergeht, dass sie plötzlich existieren müssen, komme, was da wolle, halten diesen Aufenthalt dann für ungeheuer bedeutsam, sehen ihn in ihrem Habitus der Wichtigtuerei für ein ALLES an, obwohl er doch nur eine Unterbrechung des Nichts, eine zufällige Pore im universalen Chaosgefüge darstellt.

Im Prinzip zwar steht jedem Existierenden gleichwertig und gleichberechtigt eine ganze Ewigkeit zur Verfügung. Doch nur dieser eine kleine Spalt, dieses lächerliche Etwas deiner an sich banalen Existenz hat es für dich wirklich in sich. Das gewaltig lange Davor und Danach lässt sich demgegenüber einfach und leicht verkraften. Nur die Lebenden, nicht die Toten machen bekanntlich ein Aufheben davon. Das sollte uns zu denken geben.

Niemand würde doch die komfortable Position im unbeschwerten Nichts bei vollem Bewusstsein freiwillig aufgeben. Nur deshalb hat die Natur - oder wer oder was immer hinter dem universellen Spektakel stecken mag, blieb der Natur vielleicht auch gar nichts anderes übrig - den hinterhältigen Vorgang eingeführt, ohne den die zwangsweise Existenzgründung als Massenphänomen und dauerhafte Einrichtung in der Populationsfolge nicht funktionieren könnte.

Da verabreden sich nach dem immer ähnlichen Tatmuster zwei also zur Spaßstunde, die am Ende dann oft genug für einen Akteur oder sogar für alle beide zur Enttäuschung wurde. Und plopp, ist dir die Existenz aufgepfropft. Plopp, ist deine Geburt bewerkstelligt. Und plopp, beginnt die mächtige Wucherung, die man gemeinhin das Leben nennt, ohne dass deiner Existenzmaschine ein Hebel beigegeben wäre, mit dem bei Bedarf die Funktion abzuschalten wäre.

Ich kann nichts dafür, und ich mag mich auch gar nicht dafür entschuldigen, aber so sehe ich das. Wenn jetzt auch noch die anderen Mitexistierenden meinen Bericht beiseitelegen wollen: Nur zu!

6. September: Versöhnliches

Ich bin übrigens Junggeselle und heiße Benjamin Nautilius, wenn ich das jetzt einmal einstreuen darf, um nach der zurückliegenden Urteilsschärfe meinerseits, die den einen oder anderen Mitexistierenden vielleicht befremdet hat, etwas Persönliches und Versöhnliches zu meiner Geschichte beizusteuern. Denn eine Geschichte ohne etwas ganz Persönliches, das geht nicht. Da lässt sich keiner drauf ein, die zu lesen. Persönliches – das ist wie Grießbrei mit Himbeersaft. Natürlich nur für denjenigen, der Grießbrei mit Himbeersaft gern mag. Die anderen können sich meinetwegen etwas anderes aussuchen, was sie gern mögen. Dann kommen auch sie auf ihre Kosten.

Ich als Junggeselle mag gern Fastfood. Wegen der Zeitersparnis bei der Nahrungsmittelzubereitung. Aber jung bin nicht mehr wirklich. Da führt das von mir gebrauchte Wort doch sehr in die Irre. Man sagte das früher meistens so, wenn jemand nicht verheiratet war: Der ist Junggeselle. Single klingt heute wesentlich moderner. Ist deshalb auch viel mehr verbreitet, das Single-Dasein, als früher das Junggesellendasein es war. Menschen schämen sich wohl nicht mehr so stark wie früher, wenn sie allein leben.

Vielleicht, so erkläre ich mir das Wort Junggeselle noch von einer anderen Seite, war man früher der Meinung, dass es den Mann jung erhält, wenn er eine Frau entbehren darf. Heutige Statistiken wollen bemerkenswerterweise einen entgegengesetzten Eindruck belegen. Angeblich leben Mann und Frau in der gegenseitigen Abhängigkeit einer ehelichen oder einer eheähnlichen Beziehung durchschnittlich länger als ihre freischwebenden Artgenossen. Ich als Junggeselle oder Single müsste demnach einen zeitlichen Abschlag auf das Existieren in Kauf nehmen. Nun, mir macht das nichts. Ich würde nicht einmal dann um einen Zuschlag nachsuchen, wenn das machbar wäre.

Wie auch immer man meinen Zustand nun deklarieren will: Ich lebe jedenfalls allein. Zwar habe ich eine hübsche Frau auf meinem Schreibtisch stehen. Aber die ist nicht aus Fleisch und Blut. Trotzdem ist sie sexy. Wenn wir beiden intim miteinander werden, was bisweilen geschieht, dann darf ich sicher sein, mich nicht an einem dieser hinterhältigen Vorgänge zu beteiligen, die letztendlich jemandem eine Existenz aufzwingen, die derjenige später einmal genauso beklagen mag wie ich die meinige in der Jetztzeit.

Eine solche Verantwortung könnte ich nicht ertragen. Zumindest würde sie mich dauerhaft belasten. Deshalb bin ich meiner attraktiven Susanne - so habe ich nach längerem Hin- und Her-Überlegen die Skulptur auf meinem Schreibtisch genannt - gefühlsmäßig sehr verbunden und eingestandenermaßen ein wenig dankbar für ihre vornehme Zurückhaltung, durch die ich nicht in Bedrängnis gebracht werde. Gewiss, Susanne schenkt mir nicht alles. Doch sie hält mich stets erfolgreich von dem alles entscheidenden Schritt zurück.

Existenzen zu zeugen, hat, meinen eigenen Vorbehalten zum Trotz, noch längst nichts an Faszination eingebüßt. In der Angelegenheit gebe ich mich keinen Illusionen hin. Ich persönlich habe ein gelegentliches Verlangen nach sexueller Triebbetätigung selbst im Bunde mit Susanne noch immer nicht vollkommen hinter mir gelassen. Nun hat aber der Fortschritt - man mag den Zustand beklagen oder nicht - es im Einzelfall ermöglicht, dem hinterhältigen Vorgang seine existenzbildende Spitze zu nehmen. Von dem, was sie Verhütung nennen, wird bekanntlich massenhaft Gebrauch gemacht und damit der Zeugungsimpetus unweigerlich hintertrieben.

Hinterhältig ist seither der Vorgang pikanterweise für die Evolution geworden, die damit einmal ganz andere Absichten als einen bloßen Spaßeffekt für die Evolutionsteilnehmer verfolgt hatte. Die Evolution mag daher enttäuscht sein, wenn sie von ihren eigenen Geschöpfen nun derart ausgetrickst wird. Andererseits, wenn man sich die Maßstäbe nur einmal zurechtrückt, ist für sie speziell das gezielte Zeugungsvermeidungshandeln von Teilen der menschlichen Spezies ohne größere Wirkung. In diesen Teilen der Welt meinetwegen, wo ich zufälligerweise ins Dasein getreten bin, erfreut es sich großer Beliebtheit. Dafür wird in anderen Teilen der Welt umso kräftiger an der spontanen Fortpflanzung weitergearbeitet. Von einem drohenden Mangel an immer neu hinzukommenden Existierenden kann unter dem Strich keine Rede sein.

Das Konzept zur ständigen Fabrizierung einer arteigenen Blaupause bleibt also erfolgreich, ungeachtet des Image-Verlustes, den die Evolution durch das Hineinfummeln des Menschen in ihre Geschäfte erlitten hat. Ein anderes, vielleicht mehr von Selbstbestimmung geprägtes Konzept, ist auch gar nicht in Reichweite. Von einer Art demokratischer Beteiligung oder Willensbildung, wenn es um den Einstieg in das persönliche Existieren geht, sind wir immer noch so weit entfernt wie Adam und Eva im Paradies das waren. Und diese beiden waren den Quellen zufolge schon etwas reiferen Alters, als der Herr sie dem Existieren preisgab. Sie waren nach heutigen Maßstäben mündig und volljährig und hätten problemlos zu der schwerwiegenden Sachlage befragt und auf ihr unveräußerliches Widerrufsrecht hingewiesen werden können. Nichts dergleichen ist überliefert.

Um nicht wiederum falsche Vorstellungen aufkommen zu lassen, stelle ich einmal klar: Ich glaube nicht an die Geschichte von Adam und Eva und ihre exklusive Erschaffung. Ich erwähne sie allein wegen ihrer Popularität. Ich glaube auch nicht an Gott. Dennoch unterhalte ich mich gelegentlich mit dem alten Herrn. Für mich in meiner Lage hat auch noch das einseitige Gespräch hin und wieder etwas Beruhigendes. Manchmal gestehe ich mir sogar ein, dass solche Gespräche noch viel beruhigender für jemanden sein müssen, der von der Anwesenheit seines Gesprächspartners tief überzeugt ist. Ich nehme meine Eingebung gern als Beweis dafür, wie groß im Allgemeinen das Bedürfnis für die Existierenden ist, ihrer Existenz einen inbrünstigen imaginären Sinn zu stiften, der über die Dürftigkeit des realen Existierens geschickt hinwegzutäuschen vermag.

Wie gesagt, ich entziehe mich, bis auf die eingestandenen gelegentlichen Gesprächsfetzen, allen sinnstiftenden Illusionen. Ich will, so habe ich mir das fest vorgenommen, das Sein ungeschminkt erleben; so, wie es ist und uns entgegentritt: Kalt. Erbarmungslos. Einsam und undurchdringlich. Und völlig leidenschaftslos. Realistisch sollte ich mich, so schwebt mir das vor, empfinden wie ein bloß zufällig in all das Dasein hereingeratener Fremdling in dem unwahrscheinlichen Geschehen, das wir einer unwahrscheinlichen Materieexistenz mit hoch komplexer Selbstorganisation zu verdanken haben.

Es erregt mich aufs Höchste, wenn ich in einem derartigen Gedankengang schließlich ein so ungeheuerliches Maß an Nichtigkeit gewinne und - auch das! - empfinde, dass ich augenblicklich zerbrechen sollte und zermalmt sein müsste, um auf diese Weise von der Existenz erlöst zu sein. Doch zerbreche ich nicht. Fatal. Ich werde nicht wunschgemäß zermalmt. Sehr misslich. Meine Existenz bleibt inmitten meiner exaltierten Stimmung ungerührt und unbeschädigt. Ich hingegen leide ohne großes Aufheben stoisch und unauffällig weiter am Existieren, wenn die Konvulsion im überstandenen Nichtigkeitsschauer erst einmal überwunden ist.

Allerdings, das will ich nun nicht verschweigen, mache ich mit der Zeit mehr und mehr auch die Erfahrung, mit passenden gedanklichen Verrenkungen des Verstandes dem Dasein meinerseits für eine kurze Zeit etwas unbefangener und vor allem beherzter entgegentreten zu können. Wenngleich das, zugegebenermaßen, nur in einem ganz beschränkten Rahmen funktioniert.

7. September: Als Bittsteller in der Welt

Heutzutage wird erregt darüber gestritten, zu welchem Zeitpunkt ein menschliches Leben genau beginnt und für schützenswert zu erachten ist. Reicht es, wie viele meinen, wenn vier Zellen beisammen sind? Oder sollte, wie andere befinden, das ethische Urteil besser abwarten, bis der Embryo deutlichere Konturen angenommen hat? Vielleicht ist aber auch erst der Austritt aus dem Mutterleib ein passables Datum, weil alles in allem die Daseinszustände vor der Geburt doch noch recht provisorisch sind. Eine solche Meinung wird nämlich auch vorgetragen.

Nun, die Diskussion gehört zum zivilisatorischen Prozess, auf den sich die Spezies Mensch nun einmal eingelassen hat. Darin versteckt sich, auch wenn ich mich mit dieser Bemerkung jetzt um ein weiteres Mal unbeliebt mache, eine gehörige Portion kollektiver Wichtigtuerei. Für mich persönlich haben die nach hierhin oder nach dorthin geneigten Ansichten ohnehin keinen Stellenwert.

Ob nun meine ersten vier Zellen, nach ihrer enthusiastischen Verschmelzung, sich wieder voneinander abgelöst hätten, weil sie doch nicht miteinander warm wurden; ob meinem wandlungsfähigen Vorläuferorganismus im Mutterleib etwas Tragisches zugestoßen wäre; ob ich bei der Geburt oder doch erst später mit einem Jahr, mit zwei oder gar mit drei Jahren aus dem Existieren vertrieben worden wäre, das hätte für mich als Existierenden im Erlebensfall eines dieser Szenarien jetzt überhaupt keine Bedeutung mehr, die zu beklagen ich imstande sein könnte.

Was aber schwerer wiegt: Niemals während der genannten, weit zurückliegenden Zeitabschnitte habe ich meine Existenz je spüren können. Sie mag meinetwegen da gewesen sein - wie eine zarte, unfertige Wetterwolke im atmosphärischen Gebräu. Sie mag mir angehaftet haben - wie eine mäßig verunreinigte Haut; die spürst du nicht, solange die Flöhe ausbleiben. Erst wenn dich deine Existenz überraschend angesprungen hat, wenn sie dir eindrucksvoll begegnet ist und du vor ihr erklärtermaßen erschrickst, dann wird es ernst. Von da an haftet sie dir aber auch nicht an wie eine Haut, sondern wie ein Nessushemd.

Ich bin mir unbedingt sicher, dass in einer ganz zudringlichen Weise zu einem bestimmten Zeitpunkt in respektvollem Abstand zum Geburtstermin meine Existenz über mich gekommen ist und von mir Besitz ergriffen hat. Die Begegnung traf mich damals unvorbereitet. Sie hatte sich nicht angekündigt. Sie inszenierte sich dafür aber so nachdrücklich und messerscharf, dass es mir unwillkürlich entfuhr: Huch! Ich bin da!

Von jenem Augenblick an träufelte sich die Existenz zäh und dickflüssig in mein Gemüt. Seither hänge ich an ihrem Tropf. Und erst dann, um damit einmal kühn den Blick in die Zukunft zu wagen, wird es aus sein mit mir, wenn ich sie nicht mehr spüre, weil sie aus dem Gemüt restlos verdampft ist. Bis dahin werde ich den unaufhörlichen Existenzfluss notgedrungen ertragen müssen.

Mittlerweile halte ich nach langem Nachdenken dafür, so um die acht Jahre alt gewesen zu sein und vor den Schaufenstern eines Spielwarengeschäftes gestanden zu haben, wo ich die Auslagen bestaunte. Gern hätte ich den Laden betreten, um mir einen schönen bunten Kreisel zu kaufen für ein wenig Geld, das ich gar nicht hatte. Just in jenem Moment widerfuhr mir meine Existenz, wie ich das vorhin etwas unbeholfen auszudrücken versuchte.

Das war damals, aus der Rückschau betrachtet, der Ausgangspunkt unserer immer noch andauernden Schicksalsgemeinschaft gewesen. Die Gelegenheit, bei der sich mein Eindruck tief festsetzte, war bestimmt zufällig. Es hätte statt vor einem Schaufenster auch beim Mittagessen oder auf der Schaukel passieren können. Die Zeit war offensichtlich reif geworden für meine folgenschwere innere Begegnung. Doch denke ich auch, dass ich es mit einer sehr günstigen Gelegenheit zu tun bekommen hatte, weil mich der nachhaltig gebliebene Eindruck vor dem Schaufenster eines Ladens tiefer ergreifen konnte als an jedem anderen Ort. Denn so war viel besser gewährleistet, dass das spätere Grundempfindens meines In-der-Welt-Seins ganz praktisch etwas von der Haltung eines Kunden annahm, der sich enttäuscht darüber im Klaren ist, dass sein Einkaufsbudget nicht für das alles reicht, was er braucht oder auch nur gerne hätte. Zwar heutzutage, wenn ich ein wenig abschweifend meinen Vergleich einmal etwas näher erläutern darf, wird einem Anbieter selbst ein zahlungsmatter Kunde willkommen sein, dem man im Zweifelsfall einen Konsumentenkredit aufnötigt. Der Kunde ist, nach so vielen mageren Jahrhunderten und einem geflügelten Wort zufolge, endlich König geworden. Etwas exakter und wissensorientierter sollte man sagen können, dass der Konsument im modernen volkswirtschaftlichen Geschehen gegenüber allen früheren Zeiten nunmehr eine radikal veränderte, eine gewissermaßen herausgehobene Stellung innehat. Das war früher ganz anders. In meiner Kindheitserfahrung war ein Kunde, wenn er ein Geschäft betrat, um etwas einzukaufen, ein Bittsteller. Er wollte schließlich etwas haben. Und der Ladenbesitzer, die Verkäuferin - sie waren so gnädig, ihm das Gewünschte zu gewähren.

Ich selbst hatte früh beginnen müssen, für meine Mutter kleine Einkäufe zu erledigen. Da bekam ich als etwas zart besaiteter Junge reichlich Gelegenheit, die merkwürdigen Erwartungen, die an mich gerichtet waren, schnell zu verinnerlichen. Man betritt einen Laden. Man wird ins Visier genommen. Wenn man angesprochen wird, sofern man angesprochen wird, dann klingt das ungefähr wie: Wollen Sie etwa etwas? Nein, ich glaube, nicht nur einem Kind gegenüber klang das so. Und selbstverständlich hat man mich auch nicht gesiezt. Das unterwürfige Erleben, das, was damals den Akteuren widerfuhr, war noch ein Stück vom alten Zeitgeist, der die Wirtschaftswunderjahre letztendlich nicht überdauert hat. Die Menschen haben sich später bekanntlich schnell an ihre moderne großspurige Konsumentenrolle gewöhnt und sich anmaßend und selbstgefällig darin eingerichtet.

Mir geht es hier aber gar nicht um Gesellschaftskritik. Das für mich persönlich ausgesprochen Beunruhigende in der vorgebrachten Angelegenheit ist etwas anderes, was mir später erst in ganzer Tragweite klar geworden ist: Durch meine zahlreichen Erlebnisse als kleiner Kunde in einem kleinen Laden war mir das unangenehme Bittstellergefühl bereits vertraut.

Es war zum Bestandteil meiner instinktiven Weltsicht geworden. Du kannst es mir glauben, werter Mitexistierender, mit dieser retardierenden Haltung, mit diesem beschränkten, zu einem Verzicht auf ein begehrtes Gut stets bereiten Lebensgefühl, hatte ich die Welt, den ganz großen Laden, unbewusst schon längst betreten. Mein schwärendes Gefühl als erwachsen gewordenes Individuum: Ich habe Ansprüche an mein Leben, und meine Existenz will sie mir nicht gewähren; dies Gefühl war mir nur zu vertraut geworden. Doch heute ist es schlimmer: Ich fühle mich meiner Existenz gegenüber nicht nur als Bittsteller; ich erlebe mich von Mal zu Mal als vergeblichen Bittsteller. Das Syndrom ruhte schon vor meiner inneren Erschütterung bei dem Schaufenster des Spielwarenladens bereits still, verborgen, eingeigelt und hinterlistig im Unterfutter eines noch ganz maßvollen Existierens - bis die überfallartige Begegnung mit der plötzlich geballt zutage tretenden Anmaßung des Existierens es zum Anschwellen brachte und vor den Ereignishorizont warf.

Ich drücke den Sachverhalt gern auch so aus: Mit dem Erreichen meines Existenzminimums hatte sich mein maßgebliches Lebensgefühl fertig ausgebildet und nahm mich fest in Beschlag. Existenzminimum – das verwendete Wort muss ich vielleicht erklären: Das charakterisiert für mich zum besseren Selbstverständnis im Wesentlichen die zeitliche Dimension. Als ich zum ersten Mal in der vorher beschriebenen Weise erlebte, dass ich da bin, hatte ich im Sinne meiner bis heute gereiften Auffassung mein Existenzminimum erreicht. Ein Aufschlag war eigentlich nicht nötig. Ein zeitliches Mehr an Existenz-Verausgabung erschwerte nur unerträglich die Ausübung der Kunst des Existierens. Aber darauf nahm das Schicksal jetzt keine Rücksicht mehr. Ich war drin in der Nummer und kam nicht mehr aus ihr heraus.