Jenseits von Einsteins Universum - Rüdiger Vaas - E-Book

Jenseits von Einsteins Universum E-Book

Rüdiger Vaas

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Beschreibung

Sie wurde tausendfach geprüft und immer genauer bestätigt: Einsteins revolutionäre Relativitätstheorie gilt als ein Fundament der heutigen Physik. Ihre Entdeckungsgeschichte ist spannender als ein Krimi, und ihre Konsequenzen haben das Verständnis der Natur radikal verändert. Mit der Entdeckung der Gravitationswellen wurde sie jetzt erneut glänzend bestätigt. Trotz ihrer Erfolgsgeschichte wird die Theorie der gekrümmten Raumzeit aber zunehmend in Frage gestellt. Denn aktuelle Erkenntnisse über den Urknall, Schwarze Löcher und die kosmische Dynamik sowie die Suche nach der Weltformel zeigen: Es muss eine Wirklichkeit Jenseits von Einsteins Universum geben. Stark erweiterte Neuausgabe zur epochalen Entdeckung von Gravitationswellen!

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»Tomorrow is a long long time if you’re a memory«

– Neil Young

Für Diana, Stargirl, Erdenmädchen, Farbenfee

»A dreamer of pictures, I run in the night,

You see us together, chasin’ the moonlight«

Dieses E-Book ist die digitale Umsetzung der Printausgabe, die unter demselben Titel bei KOSMOS erschienen ist. Da es bei E-Books aufgrund der variablen Leseeinstellungen keine Seitenzahlen gibt, können Seitenverweise der Printausgabe hier nicht verwendet werden. Statt dessen können Sie über die integrierte Volltextsuche alle Querverweise und inhaltlichen Bezüge schnell komfortabel herstellen.

Anfangsbedingung und Weltgesetz

»Eines habe ich in meinem langen Leben gelernt, nämlich, dass unsere ganze Wissenschaft, an den Dingen gemessen, von kindlicher Primitivität ist – und doch ist es das Köstlichste, was wir haben«, meinte Albert Einstein 1951 in einem Brief an den Arzt Hans Mühsam. Der wohl bedeutendste Physiker des 20. Jahrhunderts, wenn nicht aller Zeiten, ist immer bescheiden und humorvoll geblieben; zugleich hat er sich seine Eigenständigkeit bewahrt und weit über die Wissenschaft hinaus gewirkt. Seine Allgemeine Relativitätstheorie, die 2016 mit der Entdeckung der Gravitationswellen erneut spektakulär bestätigt wurde, ist die Grundlage für die Erkenntnis des ganzen Universums.

Dieses Buch beschreibt die Relativitätstheorie, ihre Voraussetzungen und Hintergründe, ihre Genese und ihren Glanz, ihre Bewährung und Grenzen, ihre Folgen, Irritationen und Umwälzungen für Physik und Philosophie – und vielleicht sogar ihren Untergang. Es ist eine Geschichte der Extreme, eine Besichtigungstour zu verwegenen Forschungsfronten und den Abgründen von Raum und Zeit, eine Reise mit kosmischen Kuriositäten und einem ungeheuerlichen Tempo, ein Abenteuer in schwerelosen Gedankenexperimenten und gedankenschweren Gravitationssenken. Mithilfe der neuen Einsichten von Wissenschaftshistorikern ist es möglich, Einstein & Co. beim Forschen über die Schulter zu blicken. Physiker und Kosmologen erkunden indessen ein seltsames Universum. Wissenschaftstheoretiker analysieren Voraussetzungen und Konsequenzen der kühnen Ideen, während Naturphilosophen fragen, was das alles bedeutet ... Willkommen in Einsteins Universum – und darüber hinaus!

Genialer Gedankenschmied: Albert Einstein 1916, kurz nach der Vollendung der Allgemeinen Relativitätstheorie in seinem Arbeitszimmer in Berlin.© P. Ehrenfest; Museum Boerhaave, Leiden

Revolution von Raum und Zeit

Einsteins kühne Theorie des Universums

Hinter den Alltagserscheinungen verbergen sich bizarre Naturgesetze und verblüffende Zusammenhänge. Winzige Massen entfesseln ungeheure Energien, Zentimeter schrumpfen nahe der Lichtgeschwindigkeit und Sekunden dehnen sich endlos.

»Hier lebte Albert Einstein«: Karikatur von Herb Block in der Washington Post, einen Tag nach Einsteins Tod am 18. April 1955.© Herb Block Foundation

»Wenn auch die Öffentlichkeit den Einzelheiten der

wissenschaftlichen Forschung nur in bescheidenem Maße

folgen kann, so hat sie doch ein Großes und Wichtiges

gewonnen – das Vertrauen in die Sicherheit des menschlichen Denkens und in die Gesetzlichkeit des Naturgeschehens.«

Albert Einstein

Erkenntnisse für die Ewigkeit

Als Albert Einstein am 18. April 1955 in Princeton gestorben war, erschien am nächsten Tag in der Washington Post eine Karikatur von Herb Block, die eine Vielzahl von Welten im öden All zeigt. Nur eines dieser kosmischen Staubkörnchen sticht heraus: Es trägt ein riesiges Schild mit der Aufschrift Albert Einstein lived here. Für Armin Hermann, der bis 2001 an der Universität Stuttgart als Professor für Geschichte der Naturwissenschaft und Technik lehrte, trifft diese Karikatur »trotz aller Übertreibung etwas Wesentliches«. Und er betont: »Ob wir Physiker sind oder nicht – wir müssen uns alle mit Einstein auseinandersetzen. Wesentlich von ihm angeregt hat die Wissenschaft tiefe Einsichten über die im Makrokosmos und Mikrokosmos wirkenden Kräfte zutage gefördert und dabei auch ein ganz neues Verständnis für das Wesen menschlicher Erkenntnis erzielt.«

Einsteins Beiträge – keineswegs nur in der Physik, sondern auch in der Politik und Philosophie – sind vielfältig und einflussreich. Sie haben ein ganz neues Universum erschlossen oder erst geschaffen. Und dies ist noch keineswegs ausgelotet – ja noch nicht einmal zu Ende gedacht.

Mit der Speziellen Relativitätstheorie hat Einstein den Raum mit der Zeit (als der vierten Dimension) vereinigt und die Relativität von Zeitspannen und Streckenlängen erkannt. Außerdem entdeckte er, dass die Lichtgeschwindigkeit für alle Beobachter absolut konstant und identisch ist; und er fand heraus, dass (träge) Masse und Energie erstaunlicherweise äquivalent sind wie zwei Seiten derselben Medaille. Ähnlich verhält es sich mit der trägen und der schweren Masse. Das führte Einstein dann zur Allgemeinen Relativitätstheorie, in der er die Raumzeit mathematisch mit Materie und Energie verbunden hat: Raum und Zeit bilden demnach nicht die passive Bühne des Geschehens, sondern werden von den Körpern und sogar von Licht beeinflusst – sowie auch umgekehrt. Daher ist die Gravitation Einstein zufolge eigentlich keine Kraft, sondern eine Eigenschaft der Raumzeit-Geometrie – die Folge der durch Masse »gekrümmten« Raumzeit. Denn Masse verlangsamt die Zeit (relativ zu einem Bezugssystem in einem schwächeren Gravitationsfeld), deformiert den Raum und zwingt Lichtstrahlen auf krumme Bahnen. Die Welt ist eine dynamische und zugleich unverbrüchliche Einheit, wie es sich vor Einsteins Erkenntnissen niemand hätte vorstellen können.

Experimente haben die Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie mittlerweile glänzend bestätigt. Und das teils mit einer Präzision, die fast alles an wissenschaftlichen Messungen übertrifft. Trotzdem erscheinen die Theorien vielen Menschen nach wie vor unverständlich oder sogar paradox. Doch obschon Einsteins Meisterwerke noch immer als extrem exotisch gelten, sind sie inzwischen sogar im Alltag angekommen: Ohne sie gäbe es weder Navigationsgeräte im Auto noch Antimaterie in der medizinischen Diagnostik oder Kernkraftwerke zur Stromerzeugung. Auch unser Weltbild wäre völlig anders: Ohne Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie ließe sich nicht verstehen, warum die Sonne scheint, wie mechanische und elektromagnetische Vorgänge zusammenpassen, wie sich die Elementarteilchen verhalten, weshalb Raum und Zeit zusammengehören und zu schwingen vermögen, und was es mit Schwarzen Löchern sowie einem seit dem Urknall sich ausdehnenden Weltraum auf sich hat.

Das Abenteuer des Denkens

Wissenschaft ist Ordnungssuche – der Versuch, Regelmäßigkeiten in einer komplizierten, schwer durchschaubaren Welt aufzuspüren, vorherzusagen und nutzbar zu machen. In diesem Sinn gibt es nichts Praktischeres als eine gute Theorie, wie Einstein einmal bemerkte. Aber Anwendungen stellen nicht das vordringliche Ziel der Forschung dar. Neugier und Staunen bilden die Triebkraft und sind wohl eine der wertvollsten Merkmale des Menschlichen.

»Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen«, hat Albert Einstein einmal sein »Glaubensbekenntnis« beschrieben. Diese Worte sind oft zitiert worden, nicht selten mit mystizistischen Absichten. Einstein war aber kein Verklärer und Irrationalist. Vielmehr war er – und vielleicht ist allerdings dies irrational oder verklärend – »von einer tiefen Verehrung für die in dem Seienden sich manifestierenden Vernunft ergriffen«. Dieses »Vertrauen in die vernünftige und der der menschlichen Vernunft wenigstens einigermaßen zugängliche Beschaffenheit der Realität« äußerte er bei vielen Gelegenheiten im Lauf der Jahrzehnte hinweg. Sein Motto: »Bewunderung für die Schönheit und Glaube an die logische Einfachheit der Ordnung und Harmonie, welche wir demütig und nur unvollkommen fassen können.« Mehrfach bezog er sich auf den rationalistischen Philosophen Spinoza, dessen Werk er schätzte, ohne dass er dessen komplexe Philosophie als Ganzes freilich übernommen hätte.

Erweiterung der Erkenntnis: Der Philosoph Gerhard Vollmer hat vier Stufen von Weltbildern beziehungsweise -erklärungsweisen unterschieden und Kriterien zu ihrer Beurteilung vorgeschlagen. Das Schema mag stark simplifizieren, doch es gibt eine gute Orientierung und lässt sich auch als einen kulturellen Fortschritt lesen. Für die verschiedenen Weltbildstufen lassen sich unzählige Beispiele anführen, etwa die Vorstellung von der Entstehung des Universums. Das Erfolgsrezept des wissenschaftlich-rationalen Ansatzes besteht vor allem im engen Wechselspiel von Kritik, Theorie und empirischen Tests durch Beobachtungen und Experimente, neuerdings auch durch Simulationen. Dabei sind die innere und äußere Widerspruchsfreiheit entscheidend, also die Selbstkonsistenz und die Verträglichkeit mit der Erfahrung. Doch jede Überprüfbarkeit hat ihre Grenzen; und je weiter die Theorien in den Mikro- und Makrokosmos vorstoßen, aber auch in komplexe Systeme wie Leben, Gehirn und Gesellschaften, desto schwieriger und unanschaulicher werden die Erklärungsversuche. Letzte Wahrheiten kann die Wissenschaft ohnehin nicht finden und beweisen – aber das geht prinzipiell auch auf keine andere Art.

»Je mehr nun ein Mensch durchdrungen ist von der gesetzlichen Ordnung allen Geschehens, desto fester wird seine Überzeugung, dass neben jener gesetzlichen Ordnung für Ursachen anderen Charakters kein Platz mehr bleibt«, schrieb Einstein, und nahm sich davon nicht aus. »Für ihn gibt es weder ein Walten menschlichen noch göttlichen Willens als selbständige Ursache im Naturgeschehen.« Die schon zu Einsteins Lebzeiten erfolgten zahlreichen Versuche, ihn religiös zu vereinnahmen, sind daher so haltlos wie frech. Einstein hatte sich auch stets dagegen verwahrt. »Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott und ich habe dies niemals geleugnet, sondern habe es deutlich ausgesprochen. Falls es in mir etwas gibt, das man religiös nennen könnte, so ist es eine unbegrenzte Bewunderung der Struktur der Welt, so weit sie unsere Wissenschaft enthüllen kann«, heißt es in einem Brief vom 24. März 1954. Und wenige Monate zuvor, am 3. Januar 1954, schrieb er an den Philosophen Eric Gutkind: »Das Wort Gottes ist für mich nicht mehr, als der Ausdruck und das Produkt menschlicher Schwächen. Die Bibel ist eine Sammlung ehrbarer, aber dennoch primitiver Legenden, welche doch ganz schön kindisch sind. Keine Interpretation, wie feinsinnig sie auch sein mag, kann das (für mich) ändern.« Für Einstein war jede Religion »der Inbegriff des kindischsten Aberglaubens.«

Das ist kein Widerspruch zu Einsteins beinahe verzückt-verzaubertem Blick auf das Universum – sondern sogar eher eine Voraussetzung dafür. »Wichtig ist, dass man nicht aufhört zu fragen«, zitierte der Redakteur William Miller Einstein in der Zeitschrift Life 1955. »Neugier hat ihren eigenen Seinsgrund. Man kann nicht anders als die Geheimnisse von Ewigkeit, Leben oder die wunderbare Struktur der Wirklichkeit ehrfurchtsvoll zu bestaunen. Es genügt, wenn man versucht, an jedem Tag lediglich ein wenig von diesem Geheimnis zu erfassen. Diese heilige Neugier soll man nie verlieren.« Mit dieser Haltung, der ernsthaften wie spielerischen Abenteuerlust des Denkens sowie der staunenden Neugier, steht Einstein in direkter Tradition mit der Wahrheitssuche der griechischen Philosophen zweieinhalb Jahrtausende früher. Mit ihnen hat, soweit die Überlieferung reicht, die Exploration des Universums spätestens begonnen. (Die Astronomie stellt vielleicht die älteste Wissenschaft dar und wurde noch viel früher praktiziert, wie neolithische Steinsetzungen und babylonische Aufzeichnungen vermuten lassen.) Philosophie als Wahrheitssuche ist eine uralte Manifestation der Neugier und sicherlich eine der edleren Eigenschaften des Menschen. Einstein hat das jedenfalls so gesehen: »Das Streben nach Wahrheit und Erkennen gehört zum Schönsten, dessen der Mensch fähig ist«, sagte er in einer Rundfunksendung am 11. April 1943 und ergänzte augenzwinkernd: »... wenn auch der Stolz auf dieses Streben meist im Munde derjenigen ist, die am wenigsten von solchem Streben erfüllt sind.«

Die Wahrheitssuche, die durchaus auch Wahrheiten findet – Einsteins Lebenswerk zählt zu den besten Beispielen – ist allerdings nicht mit Dogmatismus, zweifelsfreien Letzterkenntnissen und unverbrüchlichen Sicherheiten zu verwechseln. Genau das Gegenteil ist richtig. Naturwissenschaftliche Erkenntnis, und auch dies zeigten Einsteins Einsichten, ist immer vorläufig. Aus Bescheidwissen folgt Bescheidenheit, nicht Überheblichkeit und ideologische Engstirnigkeit. »Es ist mir genug, diese Geheimnisse staunend zu ahnen und zu versuchen, von der erhabenen Struktur des Seienden in Demut ein mattes Abbild geistig zu erfassen«, meinte Einstein. Und musste sich eingestehen, bei allem Vertrauen in eine rationale Grundstruktur des Kosmos: »Das Unverständlichste am Universum ist im Grunde, dass wir es verstehen.«

1921 beschrieb er, was bereits die vorsokratischen Philosophen auszeichnete: »Der Naturwissenschaftler findet seinen Lohn in dem, was Henri Poincaré die Freude des Begreifens nennt und nicht in den Möglichkeiten der Anwendung, zu denen Entdeckungen führen können.«

Naturwissenschaft lässt sich grob charakterisieren als

(1) eine systematische Erforschung der Welt

(2) mit akzeptierten Theorien und Methoden

(3) und ergebnisoffenen, undogmatischen Untersuchungen im

Rahmen von (2),

(4) was eine Weiterentwicklung und Revision von (2) erlaubt

(5) und auf empirischen Evidenzen basiert, also Beobachtun- gen und Experimenten.

In diesem Sinn haben die antiken vorsokratischen Philosophen vor zweieinhalb Jahrtausenden bereits eine Weise der Wissenschaft betrieben, oder zumindest eine Vorform davon. Der Oxforder Altphilologe Daniel W. Graham hat das in seinem Buch Science before Socrates (2013) am Beispiel der Philosophen Parmenides und Anaxagoras und ihrer »neuen Astronomie« nachgewiesen; sie haben bereits die Kugelgestalt der Erde, die Entstehung von Sonnen- und Mondfinsternissen und die Identität von Abend- und Morgenstern (Planet Venus) erkannt. Auch Thales und Anaximander zuvor hatten schon wissenschaftlich gedacht sowie später insbesondere Leukipp und Demokrit. Auf Anaximander und Leukipp geht die Idee oder der erste bekannte Charakterisierungsversuch von Naturgesetzen zurück.

Diese sogenannten Vorsokratiker fragten nach den »seienden Dingen« (»onta«, Vorhandenes), während sich Sokrates später stattdessen für die menschlichen Tugenden (»arete«), ein gutes Leben (»eudaimonia«) und gesellschaftliche Aspekte interessierte. Den Vorsokratikern ging es um »die Wahrheit und Wirklichkeit der seienden Dinge«, wie es der Tübinger Altphilologe Wolfgang Schadewaldt ausgedrückt hat. Daher waren sie Philosophen im ursprünglichen und vielleicht eigentlichen Sinn. Der Begriff (»philosophia«) lässt sich bis zu dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot zurückverfolgen; er berichtete von Solon, dass dieser auf Reisen gegangen sei um der »theoria« willen, der theoretischen Erkenntnis (ursprünglich: »heilige Schau«). In dieser Hinsicht ist der Philosoph nicht (nur) ein Liebhaber der Weisheit, sondern ein Freund des Wissens (»philosophéon«), der dem Wissen nachspürt und es sich aneignet (»sophos«).

Dieses im Kern zweckfreie Streben nach Erkenntnis steht bis heute im Zentrum der Grundlagenforschung. Es war auch Albert Einsteins lebenslanger innerer Antrieb. So gesehen spannt sich ein fester, wenn auch elastischer Bogen über die Jahrtausende zurück zu den Vorsokratikern. Leitlinie ist das Abenteuer des Denkens.

Wolfgang Schadewaldt hat dies in seiner 1960 und 1972 gehaltenen und 1978 publizierten Vorlesung Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen sehr treffend zum Ausdruck gebracht: »Wenn unser Weltbild im Lauf der Zeiten fortgeschritten ist, so durch diese Kraft des Denkens«, sagte er. »Das Denken kümmert sich nicht darum, ob es zu unanschaulichen Ergebnissen kommt, etwa ob ein und dieselbe Erscheinung des Lichts sich von verschiedenen Seiten her gleichzeitig als Welle und Korpuskel zeigt. Die Vorstellungen der allgemeinen Plausibilität werden von diesem Denken durchbrochen. Das hat bei den Griechen angefangen, die das Denken als Abenteuer in sich selbst betrieben, unbekümmert um das, was sich für die anschauliche Welt daraus ergab.« Aus allem, was überliefert ist, lässt sich annehmen, »dass diese Weise des Denkens etwas total Neues war, das damals in die Welt gekommen und dann so folgenreich geworden ist. Es ist entscheidend, dass man nun nicht mehr in praktischen Zwecken oder Vorteilen denkt, sondern das Es-Selbst der Dinge denkt, unbekümmert, ob es einen Zweck hat oder vielleicht gar einen Nachteil.« Und weiter: »Die Griechen hatten die Fähigkeit, rein in sich und an sich selbst das Denken zu betreiben und sich in seinen eigenen Konsequenzen vollziehen zu lassen, und damit haben sie einen Weg beschritten, der ein Umweg ist: den Weg über das Es-Selbst der Dinge. Man hat nicht kurzschlüssig gefragt nach der Anwendbarkeit und dann von daher gedacht und sich darauf eingeschränkt, sondern hat eben gedacht und dieses Sich-dem-Denken-Überlassen als Abenteuer auf sich genommen. So ging die mathematische Entwicklung nicht weiter über die Feldmesserei und Astrologie, sondern fragte nach dem Wesen des Zahlenmäßigen, nach den Proportionen und Bezügen, die sich in der Realität finden und sichtbar werden in der Geometrie; schließlich reizte dann der ganze Bereich der Arithmetik an sich selber, und nun sprechen wir von Grundwissenschaft oder reiner Theorie. Dieses rein Prinzipielle und Theoretische ist, retrospektiv betrachtet, schon hier. Und weiter hat dieses Denken dann dazu geführt, sich in weiterer Instanz wieder zurückzuwenden auf die Bewältigung der Welt, für die ihm nun ganz neue Mittel an die Hand gegeben waren, die auf direktem Wege nie hätten ermittelt werden können.«

Das gilt bis heute. Und ohne diese konsequente »Konsequenzlosigkeit« des Denkens und Forschens wäre die moderne wissenschaftlich-technische Zivilisation unmöglich. Die Relativitätstheorie ist ein brillantes Beispiel (die Quantentheorie ein anderes, auf dem sogar große Teile des Bruttoinlandsprodukts der fortschrittlichsten Länder inzwischen beruhen). Einstein hatte nicht gedacht, dass sie jemals für eine technisch-praktische Anwendung gut sei. Doch inzwischen nutzen sie viele Hundert Millionen Menschen direkt oder indirekt in Form von Navigationssystemen. Sich metergenau auf dem Globus orientieren zu können, wäre ohne Einsteins Jahrhundertwerk unmöglich. Und zurzeit arbeiten Wissenschaftler daran, mithilfe von Atomuhren und der gravitativen Zeitdehnung der Allgemeinen Relativitätstheorie zentimetergenau Höhen zu bestimmen – über Hunderte von Kilometern hinweg.

Was Schadewaldt als den ursprünglichen Impuls des Philosophierens identifiziert hatte, lässt sich auch in Einsteins Denken nachweisen. In seinen späteren Jahren hat er den rationalen Spekulationen und mathematischen Mutmaßungen immer mehr Zeit eingeräumt. Wie die Vorsokratiker wollte er dort, wo sich empirische Grundlagen noch im Nebel verhüllten, zu festeren Fundamenten vorwärtstasten. Er kam nur schwer voran, und an seinem Vermächtnis arbeiten viele Wissenschaftler noch heute. Wenn die Naturgesetze ein Spiegel der Ordnung der Welt sind, dann ist ein hehres Ziel der Wissenschaft eine Art »Weltformel« als Minimalbeschreibung der Welt. Das hat Einstein mit einer »Einheitlichen Feldtheorie« bis zu seinem Lebensende angestrebt; und die modernen Versuche, eine »Theory of Everything« oder Theorie der Quantengravitation zu finden, sind noch weniger bescheiden. Doch keine Hybris, denn der Voraussetzungen, Grenzen und Einschränkungen sind sich die Pioniere der Forschung bewusst. Auch des Risikos zu scheitern.

Einstein hatte das alles sehr genau im Blick und immer wieder zum Ausdruck gebracht. So schrieb er 1929: »Das Gelingen dieses Versuches, aus der Überzeugung der formalen Einheit der Struktur des Wirklichen heraus auf rein gedanklichem Wege subtile Naturgesetze abzuleiten, ermutigt zu einem Fortschreiten auf diesem spekulativen Wege, dessen Gefahren sich jeder lebhaft vor Augen halten muss, der ihn zu beschreiten wagt.« Seine Größe besteht darin, sich trotzdem auf dieses Wagnis des Denkens eingelassen zu haben – und mit Glück, Hartnäckigkeit, großem Fleiß, Kreativität und Genialität dem Universum ungeheuerliche Geheimnisse entlockt zu haben.

Schwerer Start

Es war nicht einfach, denn Albert Einsteins Aussichten im Frühjahr 1902 erschienen wenig erquicklich: arbeitslos, mittellos und sein Kind los. Dazu noch akademisch gescheitert.

Geboren am 14. März 1879 in Ulm, damals noch im Königreich Württemberg, bewahrte Einstein lebenslang seinen schwäbischen Dialekt (auch als drolliger Akzent in seinen späteren englischen Reden zu hören), obwohl sein Vater berufsbedingt mit der Familie bereits 15 Monate später nach München zog. Albert war schon als Kind eigenbrötlerisch, aber im Gegensatz zur heute verbreiteten Vorurteilsfolklore ein guter Schüler (nur den Sportunterricht hasste er). Er interessierte sich früh für die Elektrodynamik, weil er mit Dynamos und Elektromotoren der elektrotechnischen Fabrik seines Vaters aufwuchs. Ein Kompass und ein Buch über die euklidische Geometrie machten einen tiefen Eindruck auf ihn, als er etwa fünf beziehungsweise zwölf Jahre alt war.

»Als junger Mann bummelte Albert Einstein ein Jahr lang herum. Wer keine Zeit vergeudet, kommt nirgendwohin, was die Eltern von Heranwachsenden leider oft vergessen. Nachdem er in Deutschland von der Schule abgegangen war, weil er die Zucht und Strenge auf dem Gymnasium nicht ertrug, folgte er seiner Familie nach Pavia. Sein Vater errichtete als Ingenieur in der Poebene die ersten Elektrizitätswerke.« So begann Carlo Rovelli seine populären Sieben kurze Lektionen über Physik, die 2015 auf Deutsch erschienen sind. Der Physik-Professor an der Universität Marseille ist einer jener Wissenschaftler, die daran arbeiten, Einsteins Vermächtnis zu erfüllen – eine Erweiterung der Relativitätstheorie, um auch die anderen Naturerscheinungen zu integrieren. Und weiter zu Einstein: »Albert las Kant und hörte zum Zeitvertreib Vorlesungen an der Universität von Pavia. Rein zum Vergnügen, ohne immatrikuliert zu sein und ohne Examina abzulegen. So wird man ein ernsthafter Wissenschaftler.«

Zunächst bestand Einstein zwar die Aufnahmeprüfung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich nicht, machte aber die Matura in Aarau nach und hatte damit im Alter von 17 Jahren die Studienberechtigung. Die Schule hatte »durch ihren liberalen Geist und durch den schlichten Ernst der auf keinerlei äußere Autorität sich stützenden Lehrer einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen«, erinnerte sich Einstein Jahrzehnte später noch. 1896 begann er ein Diplom-Studium als mathematisch-physikalischer Fachlehrer. Als strebsamer Student hatte sich Einstein zwar nicht gerade hervorgetan, aber seine Semesterzeugnisse wiesen durchweg 4 1/4 bis 6 von 6 möglichen Punkten auf. Eine 1, die schlechteste aller möglichen Noten, hatte er lediglich im Physikalischen Praktikum für Anfänger erhalten – aufgrund eines Verweises »wegen Unfleiß«. Denn Einstein schwänzte die Veranstaltung häufig und verstrickte sich aufgrund seiner unkonventionellen Lösungswege mit dem Praktikumsleiter immer wieder in harte Diskussionen.

Die Hoffnung auf eine Assistentenstelle am Züricher Polytechnikum erfüllte sich 1900 nach dem Abschluss seines Studiums dort nicht. Auch Anfragen bei Instituten in Deutschland, Holland und Italien blieben erfolglos. Die meisten der Professoren, die Einstein angeschrieben hatte, machten sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Und die Dissertation, die er im November 1901 an der Universität Zürich anmeldete, wurde abgelehnt. Damit erschien eine akademische Zukunft aussichtslos.

Auch eine Anstellung im Lehramt glückte nicht. So bereitete Einstein in Schaffhausen notgedrungen einen englischen Schüler auf die Matura vor, um wenigstens zu etwas Geld zu kommen. Sein Vater, Hermann Einstein, konnte ihn nach mehreren Firmenpleiten kaum mehr unterstützen; und er starb wenige Monate später. Schon als Student hatte Einstein bedauert, er sei »nichts als eine Last für meine Angehörigen«, wie er seiner Schwester Maria schrieb, die er immer nur Maja nannte. »Es wäre wahrlich besser, wenn ich gar nicht lebte.«Streitereien mit seinem Arbeitgeber kosteten Einstein im Januar 1902 auch diesen Job, und er musste sich mit Privatstunden in Mathematik und Physik über Wasser halten.

Hinzu kam eine menschliche Tragödie. Mileva Marić, die einzige Studentin in Einsteins Semester und alsbald seine Geliebte, rasselte zum zweiten Mal durchs Examen. Obwohl sie schwanger war, machten Einsteins prekäre berufliche und finanzielle Unsicherheit und der vehemente Widerstand seiner Eltern eine Heirat der beiden zunächst unmöglich. Im Haus ihrer Eltern bei Novi Sad gebar Mileva Marić im Januar 1902 eine Tochter, die Einstein in seinen Briefen liebevoll Lieserl nannte, aber wohl niemals gesehen hat. Das Kind blieb in Ungarn, und seine Spuren verlieren sich nach dem zweiten Lebensjahr. Vermutlich hatte Mileva Marić es zur Adoption freigegeben oder es ist früh gestorben.

Doch dann wendete sich das Schicksal. Mit der Hilfe seines Studienfreundes Marcel Grossmann erhielt Einstein eine Stelle als »Technischer Experte III. Klasse« am eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum in Bern, die er am Montag, 23. Juni 1902, pünktlich um 8 Uhr in der Genfergasse antrat. Mit einem Jahresgehalt von 3500 Franken war nicht nur eine bessere Wohnung möglich, sondern auch die Ehe mit Mileva Marić. Ende 1902 kam sie nach Bern. Am 6. Januar 1903 war die standesamtliche Hochzeit. Im Mai 1904 wurde ihr erster Sohn Hans Albert geboren, im Juli 1910 folgte ein zweiter, Eduard.

Einstein hatte Grossmann viel zu verdanken – auch später bei der Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie. »Wir waren und blieben Freunde durchs Leben hindurch«, schrieb er dessen Frau, nachdem Grossmann 1936 gestorben war. Und er erinnerte sich: »Da steigt die gemeinsame Studentenzeit herauf – er meisterhafter Student, ich unordentlich und verträumt. Er verbunden mit den Lehrern und alles leicht fassend, ich abseits und unbefriedigt, wenig beliebt. Aber wir waren gute Freunde, und die Gespräche beim Eiskaffee im Metropol alle paar Wochen gehören zu meinen hübschesten Erinnerungen. Dann Ende der Studien – ich plötzlich von allen verlassen, ratlos vor dem Leben stehend. Er aber stand zu mir und durch ihn (und seinen Vater) kam ich ein paar Jahre später [...] ans Patentamt. Es war eine Art Lebensrettung, ohne die ich wohl zwar nicht gestorben aber geistig verkümmert wäre.«

Dort, im Berner Patentamt, hatte Einstein die Wissenschaft nicht vergessen. Zwar war er vom etablierten Forschungsbetrieb abgeschnitten und konnte die Entwicklungen nur in Fachzeitschriften verfolgen. Doch seine Autonomie ermöglichte es ihm, die eigenen Ziele zu verfolgen, ohne dass Karrierezwänge seine Kreativität hemmten. Sehr förderlich waren dabei der Gedankenaustausch mit seinen ehemaligen Kommilitonen Michele Besso und Marcel Grossmann sowie die »Akademie Olympia«. In diesem informellen Lese- und Diskussionszirkel arbeitete Einstein mit den beiden Berner Studenten Maurice Solovine und Conrad Habicht oft bis spät in die Nacht philosophische und physikalische Bücher durch, beispielsweise von David Hume, Heinrich Hertz, Ludwig Boltzmann und Ernst Mach. Auch Literarisches stand auf dem Programm – etwa Sophokles, Cervantes und Racine – sowie gemeinsames Musizieren. Und es wurde viel gelacht. »Es war doch eine schöne Zeit damals in Bern, als wir unsere lustige Akademie betrieben, die doch weniger kindisch war als jene respektabeln, die ich später von Nahem kennen lernte«, schrieb Einstein rückblickend 1948 in einem Brief an Solovine.

Revolution im Patentamt

Einstein war nicht unglücklich im Patentamt. Die anspruchsvolle Arbeit – Prüfung von Anträgen und Mitwirkung an der endgültigen Formulierung technischer Patente – »zwang zu vielseitigem Denken, bot auch wichtige Anregungen für das physikalische Denken«, meinte er später. Und an Alfred Schnauder, mit dem er in vorangegangenen Jahren musiziert und der ihm eine Komposition gewidmet hatte, schrieb er einmal: »Mir geht es gut; ich bin ehrwürdiger eidgenössischer Tintenscheißer mit ordentlichem Gehalt. Daneben reite ich auf meinem alten mathematisch-physikalischen Steckenpferd und fege auf der Geige – beides in den engen Grenzen, welche mir mein zweijähriger Bubi für derlei überflüssige Dinge gesteckt hat.«

Sein »überflüssiges« Steckenpferd hatte Einstein auch ohne akademische Meriten zwischen 1901 und 1904 bereits fünf Publikationen in den angesehenen Annalen der Physik eingebracht, obgleich er in wissenschaftlichen Kreisen praktisch unbekannt blieb. Die erste Arbeit – eine Theorie über zwischenmolekulare Kräfte, die er auf das Phänomen der Kapillarität anwandte – hatte er im Dezember 1900 eingereicht, in einer zweiten übertrug er seine Ergebnisse auf Salzlösungen.

1905 entstanden dann fünf Artikel, mit denen dem 26-jährigen Patentbeamten gleich drei grandiose Durchbrüche in der Physik gelangen – Einsichten, die diese Wissenschaft für immer verwandelten. Wie er die Arbeiten selbst einschätzte, verraten zwei Briefe an seinen Freund Conrad Habicht.

Im Mai 1905 schrieb Einstein: »... warum haben Sie mir Ihre Dissertation immer noch nicht geschickt? ... Ich verspreche Ihnen vier Arbeiten dafür, von denen ich die erste in Bälde schicken könnte, da ich die Freiexemplare baldigst erhalten werde. Sie handelt über die Strahlung und die energetischen Eigenschaften des Lichtes und ist sehr revolutionär, wie Sie sehen werden ... Die zweite Arbeit ist eine Bestimmung der wahren Atomgröße aus der Diffusion und inneren Reibung der verdünnten flüssigen Lösungen neutraler Stoffe. Die dritte beweist, dass unter Vorraussetzung der molekularen Theorie der Wärme in Flüssigkeiten suspendierte Körper von der Größenordnung 1/1000 Millimeter bereits eine wahrnehmbare ungeordnete Bewegung ausführen müssen, welche durch die Wärmebewegung erzeugt ist; es sind ›unerklärte‹ Bewegungen lebloser kleiner suspendierter Körper in der Tat beobachtet worden von Physiologen, welche Bewegungen von ihnen ›Brown’sche Molekularbewegung› genannt wird. Die vierte Arbeit liegt erst im Konzept vor und ist eine Elektrodynamik bewegter Körper unter Benützung einer Modifikation der Lehre von Raum und Zeit; der rein kinematische Teil dieser Arbeit wird Sie sicher interessieren.« Und wenige Monate später meinte Einstein zur fünften Arbeit: »Eine Konsequenz der elektrodynamischen Arbeit ist mir noch in den Sinn gekommen. Das Relativitätsprinzip im Zusammenhang mit den Maxwell’schen Grundgleichungen verlangt nämlich, dass die Masse direkt ein Maß für die im Körper enthaltene Energie ist; das Licht überträgt Masse. Eine merkliche Abnahme der Masse müsste beim Radium erfolgen. Die Überlegung ist lustig und bestechend; aber ob der Herrgott nicht darüber lacht und mich an der Nase herumgeführt hat, das kann ich nicht wissen.«

Patenter Forscher: Als Albert Einstein 1902 seinen Dienst im eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum in Bern antrat, ließ er sich eigens einen Anzug schneidern und darin fotografieren. Der Anzug war kleinkariert, aber Einsteins Denken eröffnete neue Horizonte in der weiten Welt der Physik, die ihn zum bedeutendsten und berühmtesten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts machten.© L. Chavan; Bernisches Historisches Museum

High Five

Der Jahrgang von 1905 der Annalen der Physik wird in manchen Bibliotheken unter Verschluss gehalten oder nur unter Aufsicht ausgegeben, weil er – eine Kuriosität in der Geschichte des wissenschaftlichen Publizierens – diebstahlgefährdet ist. Tatsächlich gibt es keinen einzelnen Jahrgang einer Fachzeitschrift, der das Verständnis der Welt im Rückblick ähnlich stark umgewälzt hat. Und das auch noch durch einen einzigen Autor, den seinerzeit kaum jemand kannte und von dem das niemand erwartet hätte.

› Einsteins Arbeit Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen beantwortet die Frage, ob es direkt beobachtbare Vorgänge gibt, die zeigen, dass die Temperatur tatsächlich ein Maß für die zufälligen Bewegungen der Moleküle ist.

Im Jahr 1827 hatte der schottische Botaniker Robert Brown Zitterbewegungen von Schwebeteilchen im Mikroskop beobachtet und vermutet, dass sie auf Stöße der durch Wärme in Bewegung befindlichen viel kleineren Flüssigkeitsmoleküle zurückzuführen sind. Einstein stellte einen Zusammenhang her zwischen den im Mikroskop messbaren Bewegungen der Schwebeteilchen und den Eigenschaften der unsichtbaren Atome. Während deren Geschwindigkeiten unbeobachtbar sind, lässt sich die Verschiebung der Schwebeteilchen abhängig von Zeit, Temperatur und Zähigkeit des Lösungsmittels sowie des Radius der suspendierten Teilchen beobachten.

Einsteins Voraussagen hat Jean-Baptiste Perrin 1908 an der Sorbonne in Paris bestätigt. Mit dieser Arbeit wurde Einstein – neben dem polnischen Physiker Marian Smoluchowski – zum Mitbegründer der Statistischen Mechanik – zu einer Zeit, als die Existenz der Atome noch umstritten war. Die Brown’sche Bewegung liefert Einstein zufolge ein Experiment, das zwischen der Vorstellung der Materie als Kontinuum und der Atom-Hypothese zu entscheiden erlaubte. Seither gilt die Existenz von Atomen und Molekülen als gesichert. »Die Arbeit zur Brown’schen Bewegung allein hätte Einstein einen Platz in der Geschichte der Physik gesichert«, kommentierte Roger Penrose von der University of Oxford.

› Einsteins Arbeit Eine neue Bestimmung der Moleküldimensionen beantwortet die Frage, wie man aus gemessenen Eigenschaften von Flüssigkeiten und Lösungen wie Zähigkeit und Diffusionsgeschwindigkeit etwas über die Größe und Zahl von Molekülen erschließen kann.

Mithilfe von Methoden, die auf der Hydrodynamik und Diffusionstheorie beruhen, zeigte Einstein, dass die Messung der Viskosität (der inneren Reibung) eines Lösungsmittels und einer Lösung das Gesamtvolumen der gelösten Moleküle berechnen lässt und somit auch die Avogadro’sche Zahl und die Größe der Moleküle des gelösten Stoffs abgeschätzt werden kann. Die 18-seitige Schrift enthält eine 11-seitige Rechnung mit über 40 Formeln – und übrigens einen Rechenfehler, den Einstein erst später berichtigte.

Mit der Arbeit wurde Einstein nochmals bei Alfred Kleiner an der Universität Zürich vorstellig, der sie als Promotion annahm. Sie »illustriert, was den großen Forscher ausmacht: Spürsinn und Durchhaltevermögen, Intuition und Technik«, kommentierte Jürgen Ehlers, Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik in Golm bei Potsdam, das auch Albert-Einstein-Institut genannt wird. Weil sie zahlreiche Anwendungen in der Petrochemie hat, war sie bis in die 1980er-Jahre Einsteins meist zitierte Publikation.

› Einsteins Arbeit Zur Elektrodynamik bewegter Körper beantwortet die Frage, ob sich das in der Mechanik seit Galileo Galilei bewährte Relativitätsprinzip auf alle physikalischen Gesetze verallgemeinern lässt. Es besagt, dass in der Schar der gleichförmig relativ zueinander bewegten Bezugssysteme keines durch die Gesetze der Mechanik als »ruhend« ausgezeichnet ist.

Dieser binnen fünf oder sechs Wochen konzipierte und am 30. Juni zur Veröffentlichung eingereichte Artikel formuliert die – später so genannte – Spezielle Relativitätstheorie. Er enthielt keine einzige Literaturangabe, sondern nur eine Danksagung an seinen Freund Michele Besso, der ebenfalls im Patentamt arbeitete. »Ich liebe ihn wegen seines Scharfsinns und seiner Einfachheit«, hatte Einstein einmal an seine Frau über ihn geschrieben. Besso war kein Physiker, sondern Ingenieur, und mit seinen Fragen und in den gemeinsamen Diskussionen hatte er viel zu Einsteins gedanklichen Klärungen beigetragen. Der überwand in diesem Artikel einen Widerspruch zwischen der Klassischen Mechanik und dem Elektromagnetismus. Einstein »benutzte eine Theorie – Maxwells Elektrodynamik –, um die Grenzen des Anwendungsbereichs einer anderen – der Newton’schen Mechanik – zu finden, obwohl er sich der begrenzten Anwendbarkeit von Maxwells Theorie bewusst war«, fasste Jürgen Ehlers die Strategie dieser Arbeit zusammen. Einstein zeigte, dass sich der auf einer Vorstellung eines »absoluten Raums« und einer »absoluten Zeit« basierende physikalische Rahmen der Klassischen Mechanik nicht halten lässt und bei hohen Geschwindigkeiten versagt. Gleichzeitigkeit und Gleichortigkeit ist eine vom Bezugssystem abhängige Beziehung. Als absolute Größe erkannte Einstein die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit, die universell und konstant ist und in allen Bezugssystemen denselben Wert hat (299.792,458 Kilometer pro Sekunde), unabhängig von seiner Bewegung und Bewegungsrichtung. Die Folgerungen daraus sind geradezu abenteuerlich.

› Einsteins Arbeit Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig? beantwortet die Frage, ob zwischen den auf verschiedenen Wegen gefundenen Erhaltungssätzen für Masse und Energie ein Zusammenhang besteht.

› Einsteins Arbeit Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt beantwortet die Frage, ob die Energie des Lichts oder allgemeiner des elektromagnetischen Felds tatsächlich kontinuierlich im Raum verteilt ist, wie es James Clerk Maxwells Feldtheorie annimmt, oder ob es empirische Hinweise gibt, wonach diese Energie aus nicht weiter teilbaren, in endlich vielen bewegten Punkten konzentrierten Quanten besteht.

Einsteins Voraussagen hierzu wurden 1916 von Andrew Millikan in Chicago bestätigt. Zuvor schon, 1911, gelang es dem späteren Chemie-Nobelpreisträger Walther Nernst zusammen mit Frederick A. Lindemann in Berlin, Quantenphänomene bei Festkörpern nachzuweisen, die Einstein 1907 errechnet hatte. Obwohl er später zum größten Kritiker der Quantentheorie wurde, weil er sich mit den Zufallsereignissen und der vermeintlichen Abhängigkeit von Beobachtungen nicht abfinden wollte, »hat er sich mehr noch als Planck den Namen als Entdecker des neuen Kontinents verdient«, betonte der Stuttgarter Wissenschaftshistoriker und Einstein-Biograf Armin Hermann. Und Jürgen Ehlers sagte, Einsteins Argumentation von 1905 zeige seine »wunderbare, fast unheimliche Fähigkeit, aus noch unverstandenen experimentellen Tatsachen eine Folgerung heraus zu destillieren, die der weiteren theoretischen Grundlagenforschung den Weg weist«.

Einsteins Wunderjahr

Die fünf Arbeiten von 1905 waren »eine in der gesamten Wissenschaftsgeschichte einzigartige Leistung«, schreibt der Astronom und Wissenschaftsjournalist Thomas Bührke in seiner Einstein-Biografie von 2004. »Niemand hat jemals zuvor oder danach den Horizont der Physik in kurzer Zeit so sehr erweitert wie Einstein im Jahr 1905«, urteilt der Quantenphysiker Abraham Pais in der ersten wissenschaftlichen Einstein-Biografie Raffiniert ist der Herrgott... (1982). Auch Jürgen Ehlers spricht von einer »in der Geschichte der Physik wohl einzigartigen Folge wegweisender Einfälle und Entdeckungen«. Sie lassen »das Abenteuer der Erkenntnis spüren«, zeigen auch die »Persönlichkeit des Verfassers« viel besser als die Lehrbuchdarstellungen, und sie machen sichtbar, »dass der schöpferische Einfall dem stillen, geduldigen, lang währenden Nachdenken des Einzelnen entstammt; das wird heutzutage bei der vorherrschenden und betonten Teamarbeit und dem Drängen nach rasch erzielbaren Ergebnissen wohl gern vergessen.«

Der holländische Physik-Nobelpreisträger Hendrik Antoon Lorentz nannte Einsteins 1905 entstandene Artikel »Perlen der Theoretischen Physik«. Häufig sprechen Wissenschaftshistoriker und Biografen sogar von Einsteins Wunderjahr (»annus mirabilis«). »Nie zuvor und seither nie mehr«, so schreibt beispielsweise Albrecht Fölsing in seiner viel beachteten Einstein-Biografie, »hat ein einzelner Mensch die Wissenschaft in so kurzer Zeit um so viel bereichert, wie Einstein die Physik in diesem ›annus mirabilis‹.«

Dieser Begriff ist nicht neu, sondern wurde vor 1905 schon auf 1666 angewendet – das Jahr, in dem der 24-jährige Isaac Newton die Basis eines Großteils der Physik und Mathematik schuf, die die Naturwissenschaften des 17. Jahrhunderts revolutionierten: die Grundlagen seiner Fassung der Infinitesimalrechnung, der Farbentheorie und der Gravitationstheorie. (Exakter wäre es, von »anni mirabiles« zu sprechen, weil Newton die entscheidenden Erkenntnisse zwischen 1664 und 1666 gelangen.) Der Begriff wurde zunächst von dem Dramendichter John Dryden geprägt, der in seinem Gedicht Annus Mirabilis: The Year of Wonders, 1666 jedoch etwas ganz anderes im Sinn hatte: Er feierte den Sieg der englischen Flotte über die holländische sowie das Durchhalten Londons, das von einer verheerenden Feuersbrunst heimgesucht worden war.

Während Newtons Revolution sich eher heimlich, still und leise ankündigte, verbreiteten sich Einsteins Ideen recht schnell. Doch im Gegensatz zu Newton war Einstein als Mathematiker niemals besonders kreativ und entwickelte keine neuen formalen Techniken. Deshalb blieb es auch anderen vorbehalten, der Speziellen Relativitätstheorie ihre nützlichste mathematische Formulierung zu geben: Henri Poincaré, Hermann Minkowski und Arnold Sommerfeld.

Einsteins Leistungen mit denen Newtons zu vergleichen, ist freilich nur bedingt sinnvoll. Und so wie Newton von sich sagte, er habe nur weiter gesehen, weil er auf den Schultern von Riesen stand, empfand sich auch Einstein als privilegierter Nachzügler. (Der Computerwissenschaftler Hal Abelson meinte auf Newtons Bonmot bezogen einmal: »Wenn ich nicht so weit wie andere gesehen habe, dann deshalb, weil dies Riesen waren, die auf meinen Schultern standen.«) Einstein, dessen Relativitätstheorie die Klassische Physik Newtons zugleich überwand und abgeschlossen hat, betonte, dass dadurch nicht »Newtons große Schöpfung im eigentlichen Sinne verdrängt werden könne. Seine klaren und großen Ideen werden als Fundament unserer ganzen modernen Begriffsbildung auf dem Gebiete der Naturphilosophie ihre eminente Bedeutung in aller Zukunft behalten.« Einstein war bewusst, wie viel er anderen verdankte; Größenwahn und Wichtigtuerei lagen ihm fern. »Oft bedrückt mich der Gedanke, in welchem Maße mein Leben auf der Arbeit meiner Mitmenschen aufgebaut ist, und ich weiß, wie viel ich ihnen schulde«, sagte er einmal. Und an der Größe der Schöpfer der Klassischen Physik, Johannes Kepler, Galilei und Newton, ließ er keinen Zweifel (auch wenn er Galileis Eitelkeit unsympathisch fand; »der Gedanke, dass Galilei das Werk Keplers nicht anerkannt hat, hat mir immer weh getan«): »Als die allergrößten Schöpfer betrachte ich Galilei und Newton, die man gewissermaßen als eine Einheit aufzufassen hat. Und in dieser Einheit bedeutet Newton den Vollender der gewaltigsten Geistestat im Bereich unserer Wissenschaft.«

Erstaunlich ist die Geschwindigkeit, mit der Einstein drei physikalische Revolutionen auf einen Streich gelangen – die der Vorstellungen über die Atome, über das Licht sowie über Raum und Zeit. Zwischen dem Abschicken des ersten (März) und letzten (September) der fünf Artikel war lediglich ein halbes Jahr verstrichen.

»Die Zeitpunkte des Einreichens spiegeln nicht die Periode der Reifung der verschiedenen Texte«, schränkt allerdings John Stachel ein. Der emeritierte Physik-Professor an der University of Pittsburgh ist Mitherausgeber von Einsteins Gesammelten Schriften. (Zwischen 1987 und 2015 sind 14 Bände bei der Princeton University Press erschienen, mindestens noch einmal so viele werden folgen.) John Stachel weiter: »Es scheint bei Menschen mit außergewöhnlichem Talent üblich zu sein, eine ›Latenzperiode‹ zu durchlaufen, während der sie in ihrem gewählten Gebiet arbeiten, aber nichts Herausragendes vollbringen. Dann kristallisiert alles ziemlich rasch, und die Arbeit macht einen großen Sprung voran. Tatsächlich fragte sich Einstein schon als 16-Jähriger, was geschehe, wenn man einem Lichtstrahl nachjagen würde, und sah dies als den Keim dessen, was nun Spezielle Relativitätstheorie heißt. Das ist ein zehnjähriger Reifeprozess.«

Einstein selbst, der schon mit 16 einen Aufsatz über den Äther geschrieben und über die Elektrodynamik nachgedacht hatte (sein Vater stellte Elektromotoren her), drückte es dem Physiker James Franck gegenüber in seiner für ihn typischen bescheidenen und humorvollen Weise später einmal so aus (wie Carl Seelig in seiner 1955 erschienenen Biografie berichtet hat): »Der normale Erwachsene denkt nicht über die Raum-Zeit-Probleme nach. Alles, was darüber nachzudenken ist, hat er nach seiner Meinung bereits in der frühen Kindheit getan. Ich dagegen habe mich derart langsam entwickelt, dass ich erst anfing, mich über Raum und Zeit zu wundern, als ich bereits erwachsen war. Naturgemäß bin ich dann tiefer in die Problematik eingedrungen als ein gewöhnliches Kind.«

Und bereits im August 1899 schrieb Einstein an seine spätere Frau Mileva Marić: »Es wird mir immer mehr zur Überzeugung, dass die Elektrodynamik bewegter Körper, wie sie sich gegenwärtig darstellt, nicht der Wirklichkeit entspricht, sondern sich einfacher wird darstellen lassen. Die Einführung des Namens ›Äther‹ in die elektrischen Theorien hat zur Vorstellung eines Mediums geführt, von dessen Bewegung man sprechen könne, ohne dass man, wie ich glaube, mit dieser Aussage einen physikalischen Sinn verbinden kann. Ich glaube, dass elektrische Kräfte nur für den leeren Raum direkt definierbar seien«.

»Ähnliche, wenn auch nicht so lange Reifeperioden hatten die anderen Artikel«, erläutert John Stachel weiter. »So begann Einstein über die Analogien zwischen der Schwarzkörper-Strahlung und einem Gas von Teilchen bald nach seinem Abschluss am Polytechnikum zu spekulieren – das geht aus einem Brief an Mileva Marić vom 30. April 1901 hervor –, was einen vierjährigen Reifeprozess bedeutet.«

Trotzdem kann man Einsteins kreative Explosion auch heute nur bewundern – und das bei einer 48-Stunden-Woche als »Tintenscheißer«. Allerdings: »Einstein arbeitete täglich acht Stunden im Patentamt, aber sicherlich nicht nur für das Amt«, sagt John Stachel. »Die von ihm autorisierte Biografie seines Schwiegersohns Rudolf Kayser – der sie unter dem Pseudonym Anton Reiser geschrieben hat und der Ehemann von Ilse war, der Tochter von Einsteins zweiter Frau Elsa –, macht deutlich, dass er seine Büroarbeit in der Hälfte der Zeit erledigte und die andere Hälfte für seine eigene Arbeit verwendete. Und seine Papiere rasch in die Schublade seines Schreibtischs verschwinden ließ, wenn jemand vorbeikam.« Diese Schublade nannte Einstein augenzwinkernd sein »Büro für Theoretische Physik«.

Schubladendenken eines Schreibtischtäters: Auf diesem Schreibtisch im Berner Patentamt entstanden Teile der Relativitätstheorie. Die mittlere Schublade bezeichnete Einstein als sein »Büro für Theoretische Physik«.© R. Vaas

Dass die renommierten Annalen die Arbeiten des Berner Patentbeamten druckten, ist nicht so erstaunlich, wie es heute wirkt. Nur wenige eingereichte Artikel wurden von der Zeitschrift abgelehnt – weniger als zehn Prozent. Und Einstein wurde schon vor 1905 von den Herausgebern geschätzt und sogar darum gebeten, Überblicksartikel für die Beiblätter der Annalen zu verfassen. Bis 1907 veröffentlichte er 23 Besprechungen zu Arbeiten aus dem Gebiet der Wärmelehre.

Exkurs

Die fünf großen Revolutionen in der Physik

Roger Penrose – der bedeutende mathematische Physiker von der Oxford University, der 2004 mit seinem über 1000-seitigen Buch The Road to Reality eine vielbeachtete Bestandsaufnahme der gesamten Physik vorgelegt hat – unterscheidet fünf Hauptrevolutionen des physikalischen Weltbilds. Und Albert Einstein war an zweien beteiligt.

› Schon in der Antike wurden die Begriffe der euklidischen Geometrie, der starren Körper und der statischen Konfigurationen eingeführt und die Bedeutung der Mathematik für das Naturverständnis erkannt.

› Galileo Galilei und Isaac Newton erkannten, wie sich die Bewegungen wägbarer Körper aufgrund von Kräften erklären lassen, die zwischen den Teilchen herrschen, aus denen die Körper bestehen, und den Beschleunigungen, die diese Kräfte erzeugen.

› Michael Faraday und James Clerk Maxwell wiesen nach, dass Felder den Raum durchdringen und ebenso wirklich sind wie Teilchen.

› Albert Einsteins Relativitätstheorien revolutionierten die Vorstellungen von Raum und Zeit und beschrieben deren Krümmung als Schwerkraft.

› Die von Einstein mitbegründete Quantenphysik stellte die Beschaffenheit der Materie und Strahlung auf eine neue Grundlage und führte den mysteriösen Welle-Teilchen-Dualismus ein.

Allerdings hatte Einstein 1905 die beiden letzten Revolutionen in der Physik weder ausgelöst noch vollendet. Wichtige Vorarbeiten für die Spezielle Relativitätstheorie stammten von Hendrik Antoon Lorentz, George Francis FitzGerald und Henri Poincaré; und die Quantennatur der Strahlung hatte Max Planck bereits um 1900 beschrieben. Einstein nahm die Quantenphysik aufgrund ihres inhärenten Zufalls und der anfänglichen Überbetonung der Beobachtungen später sogar heftig unter Beschuss.

Die nächste – sechste – Revolution in der Physik, wenn sie gelingt, wird ebenfalls auf Einsteins Arbeiten aufbauen: die Entwicklung und experimentelle Überprüfung einer Theorie der Quantengravitation, die die Quantenphysik und Allgemeine Relativitätstheorie vereinigt. Damit wäre Einsteins Vermächtnis erfüllt, denn er suchte bis an sein Lebensende nach einer Einheitlichen Feldtheorie.

Zwei elektrisierende Widersprüche

Sie übertrifft »an Kühnheit wohl alles, was bisher in der spekulativen Naturforschung, ja in der philosophischen Erkenntnistheorie geleistet wurde«, betonte Max Planck bereits 1909 den philosophischen Wert der Speziellen Relativitätstheorie, der weit über ihren physikalischen Wert hinausreicht. Der spätere Physik-Nobelpreisträger war einer der Ersten, der die Bedeutung von Einsteins epochaler Einsicht begriff und ihn fortan sowohl wissenschaftlich als auch beruflich sehr unterstützte. Er berichtete schon 1906 auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft der Naturforscher und Ärzte in Stuttgart über Einsteins »Relativitätstheorie« – und verwendete hier erstmals diese Bezeichnung, die Einstein 1907 übernahm. Von »Spezieller Relativitätstheorie« sprach dieser erst ab 1915, um sie von der Allgemeinen Relativitätstheorie zu unterscheiden.

Übrigens war Einstein mit dem Begriff »Relativitätstheorie« gar nicht besonders zufrieden. »Ich gebe zu, dass dieser nicht glücklich ist und zu philosophischen Missverständissen Anlass gegeben hat«, schrieb er 1921 in einem Brief. Denn die Theorie erwies keineswegs alles als »relativ«, wie zuweilen behauptet wird; sie zeigte auch, was gerade nicht von Perspektiven abhängt, sondern invariant ist, also in allen Bezugssystemen gilt. »Der Name Invarianz-Theorie würde die Forschungs-Methode der Theorie bezeichnen«, fuhr Einstein in dem Brief fort, »leider aber nicht den materiellen Gehalt der Theorie.«

Die Spezielle Relativitätstheorie war die Antwort auf zwei große Probleme der damaligen Physik. An ihnen arbeiteten bereits andere Wissenschaftler und kamen der Lösung zum Teil recht nah. Doch keinem gelang der radikale Perspektivenwechsel, mit dem Einstein erst den vertrackten Knoten durchschnitt, weil ein geduldiges Aufdröseln auf herkömmlichem Weg nicht möglich war.

› Das eine Problem war ein empirisches: Die Theorie des Elektromagnetismus legte die Existenz eines den ganzen Weltraum ausfüllenden Mediums nahe, des Äthers – doch Experimente konnten ihn nicht nachweisen; er schien also nicht zu existieren.

› Das andere Problem war ein theoretisches: Die Umrechnungsregel von einem Bezugssystem in ein anderes, die in der Theorie des Elektromagnetismus verwendet wird, entspricht nicht der gut bewährten Umrechnungsregel für Bezugssysteme im Rahmen der Klassischen Mechanik – eine gleichsam schizophrene Situation, die die Beschreibung von Ereignissen spaltete, obwohl die Welt doch als eine Einheit erscheint und elektromagnetische Phänomene auch auf mechanische wirken können und umgekehrt.

Während das eine Problem also ein handfester Widerspruch zwischen Theorie und Erfahrung (oder Realität) bedeutete, bestand das andere Problem in einem Widerspruch zwischen zwei in der experimentellen Erfahrung gut bewährten Theorien. Solche Inkonsistenzen sind aber Gift für eine kohärente Weltbeschreibung – und zugleich die stärkste Motivation für die Suche nach einer besseren, die frei von solchen fatalen Schwierigkeiten ist.

Obwohl sich das rein theoretische Problem ziemlich abstrakt anhört und fast nach einer lebensfremden Sorge mit langweiligen Buchhalterprozeduren klingt, hat es Einstein und einige seiner Zeitgenossen förmlich elektrisiert. Und es war ja auch die Elektrodynamik, die ihnen Kopfzerbrechen machte (ebenso beim Äther-Problem). Nicht zufällig trägt Einsteins epochaler Artikel den Titel Zur Elektrodynamik bewegter Körper. Was nach einem harmlos-abseitigen Fachaufsatz klingt, war nichts weniger als eine Revolution der Physik, die zu einem völlig neuen Verständnis von Raum und Zeit führte, und dann auch von Materie und Energie. Kurz gesagt bestand Einsteins Lösung erstens darin, dass er die Umrechnungsvorschrift der Mechanik als strenggenommen falsch entlarvte und verwarf, das heißt die der Elektrodynamik allein Gültigkeit zuschrieb; und zweitens erkannte er – trotzdem, so mag es auf den ersten Blick paradoxerweise erscheinen – den elektromagnetischen Äther als Hirngespinst und erklärte ihn für »überflüssig« ... im Einklang mit seiner experimentellen Nichtnachweisbarkeit.

Einsteins verblüffende Erkenntnisse hatten eine weitreichende Bedeutung und krempelten die Physik regelrecht um. Das lag daran, dass die Spezielle Relativitätstheorie nicht bloß von physikalischen Phänomenen und Effekten handelt. Sie stellt überdies auch eine Art Rahmentheorie dar, in die sich andere Theorien einzufügen haben – etwa die Quantenfeldtheorien und somit die ganze Elementarteilchenphysik. Obwohl die relativistischen Konzepte von Raum und Zeit so kontraintuitiv sind (noch immer wollen sie viele Laien nicht wahrhaben), war Einstein überzeugt: »Alle Wissenschaft ist nur eine Verfeinerung des Denkens des Alltags.«

Absolut ätherisch

Manchmal weiß man nicht, ob man in Ruhe oder in Bewegung ist. Das ist kein Grund, sich über seine psychische Gesundheit zu sorgen. Wer häufig mit der Bahn unterwegs ist, kennt das Phänomen: Blickt man versonnen aus dem Fenster – oder auf eine spiegelnde Fensterscheibe – sieht man zuweilen den Zug auf dem Nachbargleis im Bahnhof abfahren … und fährt doch selbst los. Oder umgekehrt. Diese Täuschung lässt sich zwar ausschließen, wenn man Beschleunigungskräfte spürt, doch manchmal ist man einfach zu schläfrig oder in ein gutes Buch vertieft, sodass man die Bewegung nur im Augenwinkel wahrnimmt.

Einstein hat die Relativität von Bewegungen in seinen populärwissenschaftlichen Schriften gern anhand von Zug-Beispielen erläutert. So schrieb er: »Wenn sich jemand in einem gleichmäßig in gerader Linie fahrenden Eisenbahnwagen befindet, dessen Fenster verhängt sind, so ist es ihm unmöglich, darüber zu entscheiden, in welcher Richtung und mit welcher Geschwindigkeit der Wagen fährt; wenn von dem unvermeidlichen Rütteln des Wagens abstrahiert wird, so ist es nicht einmal möglich zu entscheiden, ob der Wagen fährt oder nicht. Abstrakt ausgedrückt: Mit Bezug auf ein gegen das ursprüngliche Bezugssystem (Erdboden) gleichförmig bewegtes System (Wagen) sind die Gesetze des Geschehens die nämlichen wie mit Bezug auf das ursprüngliche System (Erdboden); wir nennen diese Aussage das Relativitätsprinzip der gleichförmigen Bewegung.«

Dieses Prinzip kam schon in der Klassischen Mechanik von Galileo Galilei und Isaac Newton zur Anwendung. Relativ zueinander gleichförmig bewegte Beobachter können ihren absoluten Bewegungszustand nicht bestimmen; beide Perspektiven sind gleichberechtigt, es gibt kein privilegiertes Bezugssystem. Daher können Ereignisse von einem solchen ruhenden oder sich gleichförmig bewegenden Bezugssystem – auch Inertialsystem genannt – in ein anderes »übersetzt« werden. Dafür muss lediglich von einem Koordinatensystem in ein anderes umgerechnet werden.

Das galt lange als unproblematisch. Doch mit der Entwicklung der Theorie des Elektromagnetismus, die 1864 von James Clerk Maxwell nach Vorarbeiten anderer ausformuliert war, kam es zum Widerspruch. Er zeigte sich daran, dass für die Maxwell-Gleichungen eine andere »Umrechnungsvorschrift« für Koordinatentransformationen gilt als für die Klassische Mechanik. Die Beschreibung physikalischer Vorgänge aus unterschiedlichen Perspektiven von Beobachtern, die sich relativ zueinander konstant bewegen, ist in den beiden Theorien nicht deckungsgleich. Dieser fundamentale Widerspruch zwischen zwei gut bestätigten physikalischen Theorien war der Ausgangspunkt von Einsteins revolutionären Überlegungen.

Konsistente Koordinatentransformationen sind von großer Bedeutung, denn Naturgesetze hängen nicht von den zufälligen Befindlichkeiten der Wissenschaftler ab. Newton hatte deshalb eine absolute Zeit und einen absoluten Raum postuliert: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit fließt auf Grund ihrer eigenen Natur und aus sich selbst heraus ohne Beziehung zu etwas Äußerem gleichmäßig dahin«, schrieb er in seinem 1687 erschienenen Buch Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Außerdem: »Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand stets gleich und unbeweglich.« Uhren und Längenmaßstäbe müssten somit überall im Universum und aus den Perspektiven aller Beobachter unabhängig von deren Geschwindigkeit dieselben Verhältnisse anzeigen. Ob sich also beispielsweise jemand beim 100-Meter-Lauf fast die Lungen aus dem Leib rennt oder aber bewegungslos am Urlaubsstrand liegt, sollte keinen Einfluss auf die Physik haben.

Kurzum: Zeit vergeht Newton zufolge ohne Beziehung zu etwas Äußerem; Zeit und Raum sind ein Substratum, in dem sich physikalische Ereignisse situieren – eine Art starre Weltbühne mit einem genau festgelegten Schauspiel; Zeitspannen und Momente der Gleichzeitigkeit sind demnach unabhängig von Bezugssystemen und Perspektiven. Und genau diese Annahmen hat die Spezielle Relativitätstheorie widerlegt.

Maxwells Gleichungen sehen im Gegensatz zur Klassischen Mechanik Newton’scher Prägung unterschiedlich aus, je nachdem, ob man sie in einem ruhenden oder einem bewegten Bezugssystem formuliert. Das ruhende System galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch als grundlegend. Es wurde mit einem hypothetischen Medium in Zusammenhang gebracht, in dem sich die von Maxwell vorausgesagten und 1887 von Heinrich Hertz nachgewiesenen elektromagnetischen Wellen ausbreiten sollten wie Schallwellen in der Luft oder Wasserwellen in einem Teich. Dieses Medium wurde »Äther« genannt (von griechisch »aithér« für Himmel) und sollte in Newtons absolutem Raum ruhen. »Nehmt aus der Welt die Elektrizität, und das Licht verschwindet; nehmt aus der Welt den lichttragenden Äther, und die elektrischen und magnetischen Kräfte können nicht mehr den Raum überschreiten«, war Hertz überzeugt.

Exkurs

Maxwell-Gleichungen – ein Gott, der solche Zeichen schrieb?

Immer wieder kann man Menschen sehen, die auf einem T-Shirt vier Formel-Zeilen tragen, welche von »Und Gott sprach … und es ward Licht« umrahmt werden. Mit Johann Wolfgang Goethe und seinem Faust könnte man fragen (und der Wiener Physiker Ludwig Boltzmann tat das auch so in einer Vorlesung): »War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?« Nein, es war James Clerk Maxwell. Der schottische Physiker hatte sie 1861 bis 1864 in London formuliert und 1865 zusammenfassend in den Philosophical Transactions of the Royal Society veröffentlicht. Darin stellte er fest: »Licht und Magnetismus sind Erregungen derselben Substanz und das Licht ist eine elektromagnetische Störung, die sich als Feld ausbreitet, und zwar nach den Gesetzen des Elektromagnetismus.« Die ihm zu Ehren heute Maxwell-Gleichungen genannten Formeln sind ein System von vier linearen partiellen Differentialgleichungen erster Ordnung. Sie beschreiben die Phänomene des Elektromagnetismus: also wie elektrische und magnetische Felder untereinander sowie mit elektrischen Ladungen und Strömen zusammenhängen, das heißt sich erzeugen, verändern oder trennen. Die Gleichungen lauten:

Neben den angeführten sogenannten mikroskopischen Maxwell-Gleichungen für das Vakuum gibt es auch eine makroskopische Variante, die die Eigenschaften der Materie in Form von Materialparametern berücksichtigen und zum Beispiel Permanentmagnete viel einfacher beschreiben.Die Maxwell-Gleichungen erklären alle Phänomene der Klassischen Elektrodynamik (zusammen mit dem Gesetz der Lorentzkraft, also der Kraft, die eine bewegte Ladung in einem magnetischen oder elektrischen Feld erfährt), und sind daher auch die theoretische Grundlage für die Elektrotechnik und Optik. Sie gelten allerdings nicht exakt, sondern sind eine effektive Theorie: eine klassische Näherung der Quantenelektrodynamik.

Maxwell dachte genauso. »Es kann keinen Zweifel geben, dass der interplanetarische und interstellare Raum nicht leer ist, sondern erfüllt mit einer materiellen Substanz oder einem Körper, der sicher der größte und wahrscheinlich der homogenste Körper ist, den wir kennen«, schrieb er 1878 für die Encyclopedia Britannica über den mutmaßlichen Äther in einem eigenen Stichwort über diesen. Seine Worte lassen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Und sie sind eindeutig falsch (zumindest so, wie sie damals gemeint waren).

Es ist eben nichts sicher und unbezweifelbar in der Welt. Auch nicht in der Wissenschaft. Auch nicht im Rahmen der besten naturwissenschaftlichen Theorien. Auch nicht bei dem, was hochkarätige Wissenschaftler meinen und schreiben. Und Maxwell war hochkarätig. »Die Vereinheitlichung von Elektrizität, Magnetismus und Licht sind eine krönende Leistung der Klassischen Physik im 19. Jahrhundert«, lobte der Physik-Nobelpreisträger Mauro Dardo Maxwells Theorie der Elektrodynamik – »das Tiefste und Fruchtbarste, das die Physik seit Newton entdeckt hat«, wie es Einstein 1931 anlässlich der 100. Jährung von Maxwells Geburtstag ausdrückte.

Spekulativer Stoff: Wenn es einen ruhenden Äther gäbe, an den das Licht und andere elektromagnetische Wellen gebunden wären, dann würde er sich aufgrund der Bewegung der Erde als Ätherwind in Präzisionsexperimenten bemerkbar machen.© GS/RV

Wenn die Äther-Annahme stimmt, müsste sich die Geschwindigkeit von Lichtstrahlen auf der Erde unterscheiden – je nachdem, in welcher Richtung sie den Äther durcheilen. Denn die Erde müsste bei ihrem Umlauf um die Sonne ja durch den Äther sausen, und das Licht würde sich mal mit der Bewegungsrichtung der Erde ausbreiten, mal senkrecht dazu und dann wieder entgegengesetzt.

Diesen Effekt zu messen, faszinierte einen Offizier der US-amerikanischen Marine, Albert Abraham Michelson. Schon 1877 dachte er darüber nach. Seinen ersten Versuch unternahm er 1881 in einem Keller des Astrophysikalischen Instituts in Potsdam. Dazu baute er ein Interferometer auf, das er sorgfältig von störenden Umgebungseinflüssen abzuschirmen bemüht war. Zwar sollte der Äther, so die Vorstellung, an jedem Punkt im absoluten Raum ruhen, ein stoischer Stillstand all-überall. Doch die Erde bewegt sich ja um die Sonne, mit rund 30 Kilometer pro Sekunde und müsste je nach jahreszeitlicher Umlaufposition einen entsprechenden »Ätherwind« spüren.

Auch wenn der Äther selbst nicht direkt messbar war, so doch das Licht, das er transportieren sollte. Folglich müsste sich die Lichtgeschwindigkeit geringfügig ändern, je nachdem, ob sich die Strahlung relativ zur Erde im ruhenden Äther oder entlang des »Ätherwinds« ausbreitet, so die Idee. Diese variierenden Lichtgeschwindigkeiten lassen sich im Prinzip mithilfe eines Interferometers nachweisen. Dabei werden Lichtstrahlen aus einer Richtung mit solchen senkrecht dazu über Spiegel zur Überlagerung gebracht. Ist diese Superposition nicht perfekt, bilden sich charakteristische Interferenzmuster aus. In Michelsons Messanordnung sollte ein stationärer Äther einen Zeitunterschied hervorrufen, der etwa 1/25 der Wellenlänge des gelben Lichts entsprach. Doch er fand nichts.

Spiegelkabinett der Erkenntnis: Wenn es einen ruhenden Äther gibt, der das Medium der Lichtausbreitung ist wie die Luft für den Schall, dann müsste sich dieser mit einem Interferometer nachweisen lassen. Denn die Erde bewegt sich relativ zu diesem Lichtäther, sodass zwei Lichtstrahlen, die senkrecht aufeinander treffen, eine unterschiedliche Laufzeit haben. Das Michelson-Morley-Experiment hat dies überprüft. Dabei wurde ein monochromatischer Lichtstrahl mittels eines halbdurchlässigen Spiegels getrennt und auf zwei verschiedene Wege gelenkt, dann jeweils an einem anderen Spiegel reflektiert und schließlich wieder im Detektor zusammengeführt. Durch eine Drehung der Apparatur lässt sich diese in verschiedenen Winkeln zum hypothetischen Ätherwind ausrichten. Der Lichtstrahl in Bewegungsrichtung der Erde sollte aus der Sicht eines ruhenden Beobachters etwas langsamer sein als der senkrecht dazu. Die Folge wäre, dass die gleichzeitig ausgesandten Wellenberge und -täler der vertikalen und horizontalen Lichtstrahlen bei Anwesenheit eines Äthers aufgrund der unterschiedlichen Laufzeiten nicht gleichzeitig auf dem Detektorschirm eintreffen. Diese Phasenverschiebung würde zu einem charakteristischen Streifenmuster aus konstruktiver und destruktiver Interferenz führen. Ein solches Experiment reagiert äußerst empfindlich auf Änderungen in der Differenz der optischen Wege – doch es zeigte sich vom Äther keine Spur. © GS/RV

Im Juli 1887 unternahm Michelson zusammen mit Edward William Morley an der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio, einen neuen Versuch mit größerer Präzision (und ohne einen Fehler, der noch im ersten Versuchsaufbau steckte). Um Erschütterungen zu minimieren, wurde sogar weiträumig der Verkehr abgesperrt. Wieder nichts. Das änderte sich auch nicht mehr bei weiteren Experimenten von Michelson bis 1929 und von vielen anderen Forschern. Weil es nicht an der Präzision der Messungen liegen konnte, war klar, dass der Äther, so wie ihn sich Maxwell vorstellte und an dessen Existenz er »keinen Zweifel« hatte, nicht existiert. Schon 1887 gab es kaum mehr Unsicherheiten darüber. Michelson, der über das Resultat nicht glücklich war, wurde für seine Messmethode übrigens 1907 als erster US-Amerikaner mit dem Physik-Nobelpreis geehrt.

Einsteins Durchbruch: Die Spezielle Relativitätstheorie

Das »Nullresultat« des Michelson-Morley-Experiments legte nahe, dass es keinen Äther gibt. Entgegen einer verbreiteten Annahme war dies aber nicht Einsteins Hauptmotivation für seine revolutionäre Spezielle Relativitätstheorie, obwohl die Interferometer-Messungen »wissenschaftslogisch« die klassischen Vorstellungen oder Interpretationen der Elektrodynamik widerlegt hatten. Zwar erschienen ihre Grundlagen zunächst revisionsbedürftig, doch letztlich blieben die Maxwell-Gleichungen unbeschadet, während in gewisser Hinsicht die Mechanik von Galilei und Newton als Verlierer da stand – nicht als »effektive Theorie«, doch hinsichtlich ihrer Basis.

Exkurs

Ein raffinierter Herrgott – und noch raffiniertere Experimente

Schon vor mehr als 2300 Jahren hatte Aristoteles über einen Äther als Medium für die Bewegung der Gestirne spekuliert. René Descartes diskutierte die Idee dann 1644 als Mittel für die Übertragung von Kräften, Christiaan Huygens 1690 für Lichtwellen und Isaac Newton 1704 für den Wärmetransfer. Später wurde die hypothetische Substanz von der Wissenschaft der Optik auch auf die Elektrodynamik und sogar auf die Gravitation übertragen. Descartes hatte bereits ein mechanisches Äther-Modell entwickelt. Weitere folgten, unter anderem von Maxwell, aber sie ließen sich nicht mit den Maxwell-Gleichungen vereinbaren. Auch gab es konzeptuelle Widersprüche. So sollte der Äther einerseits eine Art materieller Festkörper sein, wenn auch äußerst filigran, andererseits durfte er der Bewegung der Himmelskörper nur einen unmerklich kleinen Widerstand entgegensetzen. Materie sollte den Äther also beeinflussen (schließlich war er dazu ersonnen worden, von ihr ausgesandte Strahlung und Elektrizität zu übertragen), aber nicht auf sie zurückwirken. Das verstieß klar gegen Newtons drittes Axiom, das Prinzip von actio und reactio – keine Kraftwirkung ohne Gegenwirkung.

Kontrovers diskutiert wurde auch, ob der Äther »ruhend« oder »mitgeführt« ist, ob er also eine Art gigantischer unbeweglicher Festkörper darstellt oder aber die Bewegung der in ihn eingebetteten Körper mitmacht, zumindest in deren unmittelbaren Umgebung.