Jeschurun - Jan-Michael Dettmer - E-Book

Jeschurun E-Book

Jan-Michael Dettmer

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Beschreibung

Zwei Mächte stehen sich seit Urzeiten gleichwertig gegenüber: das Elfte Regnum, das Reich der Turango, die herrschen sollen und doch dienen wollen, und der Einflußbereich des Pantokraten, des Königs der beiden Welten. Der Lauf der Geschichte hat sie einander entfremdet, doch der 95. Geburtstag des Königs bringt eine Entwicklung in Gang, an deren Ende nichts mehr so sein wird wie zuvor. Atingo und Pasodan, die beiden führenden Repräsentanten der schwulen Turango, kommen der Einladung des Pantokraten zu einem Besuch bei Hofe nach. Der junge Prinz Dorkas, den Pasodan dort als persönlichen Botschafter empfängt, wird bald zu seinem Geliebten und Lebensgefährten – ein Ereignis, dessen unabsehbare Folgen sich erst sehr viel später zeigen werden. Wie aus heiterem Himmel überfallen die Truppen des Pantokraten das Elfte Regnum. Der Höchste Turm von Saredjan-Héloar, Zentrum und Symbol des Regnums, wird zum Schauplatz weitreichender Entscheidungen. Immer wieder werden die Turango dabei mit den „Worten des Propheten“ konfrontiert; verdunkelte Prophezeiungen, von denen man nicht weiß, wann sie sich erfüllen werden. Noch rätselhafter aber ist das Allerheiligste im Tempel des Höchsten Turms, das Atingo in der Stunde größter Not zum ersten Mal einsehen darf: Wer ist Jeschurun, dessen ansonsten unbekannter Name dort verzeichnet ist? Die Turango lassen sich auf eine Verzweiflungstat ein und begeben sich in die gefürchtete „Sternenwüste“. Sie klammern sich an die damit verbundene Legende eines „fruchtbaren Ufers“, von dessen Bewohnern sie sich Unterstützung im Kampf gegen ihre Widersacher versprechen. Nach entbehrungsreicher Suche stoßen die Turango tatsächlich auf bewohnte Planeten. Die Hilfe, die ihnen hier zuteil wird, ist jedoch von anderer Art als erwartet. Für die Befreiung des Regnums müssen die Turango selbst ein bedrückendes Opfer erbringen. Atingo fällt nun die Aufgabe zu, einem neuen, Zwölften Regnum den Weg zu bereiten und den uralten Gegensatz zwischen den Turango und dem Reich des Pantokraten zu überwinden. Eine Ära geht zu Ende, und eine neue Zeit bricht an, in der Atingo sich fremd fühlt. Doch sein Leben nimmt noch einmal eine unverhoffte Wende, und die ungelöste Frage nach der Identität „Jeschuruns“ findet eine erstaunliche Antwort.

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Inhalt

Vorwort

Aus der Chronik der zwölf Stämme

Erster Teil: Die Turango sollen herrschen

1. Briefwechsel

Geburtstagsgrüße

Audienz beim Pantokraten

Eine Einladung

Eine Adoption

Rückblende Atingo

:

Eine Regennacht

2. Der Kometenthron

Vorbereitung

Erster Tag

:

Die Nachkommen Apsuls

Zweiter Tag

:

Ein unmoralisches Angebot

Dritter Tag

:

Feidurron und Efnagim

Vierter Tag

:

Huldigung des Volkes

Letzter Tag

:

Der persönliche Botschafter

Rückblende Atingo

:

Eine Bootspartie

3. Bedeutet dein Kommen Heil?

Der Leitende Ausschuß

Der Leibdiener

Der Apostat

Der Kuckuck

Zwei Experten

Der Rufer kommt

Der Rufer geht

Rückblende Atingo

:

Eine folgenreiche Party

4. Im Zeichen des Propheten

Ferienstimmung

Krisensitzung

Ultimatum

Schlachtenlärm

Rückblende Atingo

:

Jahrgangsbester

5. Griff nach dem Turm

Der Maulwurf

Der Weingarten

Die Entscheidung

Kapitulation

Rückblende Atingo

:

Aufstieg

6. König der drei Welten

Warum fliehen die Tapferen?

SaredjanTV

Der 100. Geburtstag

Beschluß Numero drei

Aufbruch ins Ungewisse

Rückblende Atingo

:

Das Wiedersehen

Zweiter Teil: Die Turango wollen dienen

7. Wüstenzeit

Punkt ohne Wiederkehr

Wüstenbewohner

Fischer

Psai

Abschied

Mönche

Rückblende Atingo

:

Sprecher gesucht

8. Berührt

Der Erzabt

Tau der Lichter

Prinz und Priester

Eine verhängnisvolle Affäre

Der Racheplan

Nachricht von den Spähern

Rückblende Atingo

:

Ruf der Pflicht

9. Apsul und Litromee

Der König ist tot

Der Erwählte

Opfergang

Ein neuer Regens

Atingo

:

Im Anu

10. Rückkehr der Feen

Ein persönliches Geschenk

Dankbarkeit

Gräber auf Eljosin

Eine turnusmäßige Sitzung

Steig herab!

Heimkehr

Neubeginn

Atingo

:

Am höchsten Punkt

Dritter Teil: Das Zwölfte Regnum

11. Turango-Dämmerung

Das Mausoleum

Der knospende Zweig

Finale

Am Pertalas

Atingos großer Coup

12. Zeit der Offenbarung

Angekommen

Jeschurun

Anhang

Vorwort

Der Apsulide wird im Turm herrschen,

ohne ihn je zu betreten.

Durch seine Hand wird stürzen

seines Vaters Haus, wenn er vergeht.

(Worte des Propheten 11, 67)

Kommentar:

Zeile 1: Apsulide: Nachkomme Apsuls des Prächtigen, Begründer der regierenden Dynastie auf Massat. Turm: Zielt auf den „Höchsten Turm“ in Saredjan-Héloar, der symbolisch für die Turango-Herrschaft und das Elfte Regnum steht. Die Aussage lautet also, daß ein Nachfahre Apsuls die Turango-Herrschaft beenden und an ihrer Statt über Saredjan und das Regnum herrschen wird. Die früheste Form könnte daher auf die Heilsansage eines Hofpropheten Apsuls oder seiner frühen Nachfolger zurückgehen.

Zeile 2-4: Unverständlich. Text vermutlich verdorben.

Aus der Chronik der zwölf Stämme (Auszüge)

Saredjan war die erste, die sich aus dem Staub erhob. Niemand weiß, was davor war. (...)

Von den sechs Reichen der Vorzeit ist nichts bekannt als eben dieses: ihre Anzahl. Dann kam die lange Nacht, die Staubzeit. Andere nennen sie auch die Nebelzeit. (...)

Saredjan war die erste, die sich aus dem Staub erhob. Ihr folgte Massat, dann Troykto, Essilev, Graljea, Chistor, Eidang, Marsipal, Lystonu, Ivedau, Revones und Srutan. Dies sind die zwölf Stämme; die zwölf Stämme der Menschheit, wie sie noch heutigen Tags zu finden sind. Damals wurden in Saredjan die ersten Türme gebaut. (...)

Nach fünfzehn1 gründete Saredjan mit fünf weiteren Stämmen das Regnum. Im Anschluß an die sagenhaften Reiche der Vorzeit wurde es das „Siebte“ genannt. Als Regnum sollte es die ganze Menschheit umfassen, doch die übrigen Stämme hielten sich zu den Königen von Massat. Nach weiteren fünf rief Massat mit seinen Stämmen ein eigenes Regnum aus und nannte es das „Achte“. Saredjan wie Massat wollten die ganze Menschheit einbeziehen, aber sie hatten sie geteilt. Dies ist die Zeit der getrennten Reiche. Manche nennen sie die konkurrierenden Reiche. (...)

Wiederum nach fünfzehn einigten sich Massat und Saredjan. Sie schlossen den Vertrag von Troykto und gründeten das Neunte Regnum, das endlich alle Stämme umfaßte. Es nahm seinen Sitz auf Troykto. Dies ist die Zeit des vereinten Reiches. (...)

Nach zehn zerbrach das Reich wieder. Litromee von Saredjan und Apsul von Massat versuchten, die Einheit zu wahren. Aber auch sie überwarfen sich. Litromee verriet das Reich und bezog den Höchsten Turm. Von Saredjan aus rief er ein neues, das Zehnte Regnum aus. Daraufhin bestieg Apsul den verwaisten Thron auf Massat. Sechs Stämme folgten Litromee, vier Apsul. Troykto und Eidang hielten eine Zeit lang am alten Regnum fest, doch aus Angst vor Litromee gingen sie zu Massat über. (...)

Apsul blieb bei seinen sechs Stämmen. Er nannte sich nun „König der beiden Welten“2 und „Pantokrat“. Vom Regnum wollte er nichts mehr wissen. So blieb Litromees Regnum ein Torso, wie einst sein Vorläufer, das Siebte. Litromee wurde bald wieder gestürzt. Sein Reich fiel in die Hände der Clans, die sich blutig befehdeten. So begann zum zweiten Mal die Zeit der getrennten Reiche. (...)

Nach weiteren fünfzehn wurde dem Regnum die Last der rivalisierenden Clans zu schwer. Die Rettung kam von den Turango. Sie erhoben sich und schüttelten die Last ab. Die Turango, das sind die Kämpfer, die Tapferen, die Erwählten, die ohne Clan sind und ohne Nachkommen, die keine Frau berühren. Darum erhob das Volk sie in den Höchsten Turm und gab ihnen die Macht. Sie glaubten nämlich, daß die Erwählten sie nicht mißbrauchten. Doch Apsuls Stämme gewannen sie nicht. Dies ist das Elfte Regnum, das Reich der Turango. (...)

Saredjan war die erste, die sich aus dem Staub erhob. Ihre Türme sollen ewig stehen. Gelobt sei der Allerhöchste, die Allmacht, der Schöpfer des Kosmos!

1 Die Chronik rechnet in Jahrhunderten. „Nach fünfzehn“ bedeutet also nach 1500 Jahren. Ausgangspunkt ist das Ende der Staubzeit. Alle Zeitangaben sind „runde“ Zahlen, d.h. ungefähre Angaben, die nicht auf die Goldwaage zu legen sind.

2 nämlich Massat und Troykto

Erster Teil

Die Turango sollen herrschen

1. Briefwechsel

Vor dem die Millionen

sich beugen, der schöne Komet,

dem werden die Schatten darbieten

und die Feinde huldigen.

(Worte des Propheten 9, 83)

Kommentar:

Zeile 2: Komet: Anspielung auf den Kometenthron

Zeile 3: Schatten: Bild für die fernsten, nur schattenhaft bekannten Planeten

Ursprünglich wohl ein alter Huldigungsspruch aus der Krönungszeremonie des Königs der beiden Welten.

Saredjan, im 2055. Jahr des Elften Regnums

Geburtstagsgrüße

„Der Prätendent des Elften Regnums beehrt sich, Seiner Exzellenz, dem Pantokraten von Massat, aus Anlaß seines Ehrentages die aufrichtigsten Glückwünsche zu seinem 95. Geburtstag zu entbieten. Möge er sich weiterhin bester Gesundheit erfreuen und sein Reich weise führen.“ Pasodan betrachtete aufmerksam sein Gegenüber. „Und? Wie findest du’s?“

„Ziemlich devot“, meinte Atingo mißmutig. „Ich erkenne meine eigenen Worte kaum wieder.“

„Die Diplomaten bestehen darauf, daß wir uns an den höfischen Stil halten. Ansonsten werde eine Grußnote gar nicht zur Kenntnis genommen.“

„Und warum haben sie dann die ‚Exzellenz’ durchgehen lassen? Davon wird der König der beiden Welten doch auch nicht gerade erbaut sein.“

„Majestäten und andere Autokraten widersetzen sich nun einmal unserem Ethos“, gab Pasodan zu bedenken; als Turango Regens und Prätendent des Regnums war auch er nicht mehr als Erster unter Gleichen. „Da verstehen selbst die Diplomaten keinen Spaß.“

Atingo, seines Zeichens Sprecher des Konvents aller Turango, nickte lächelnd. Er betrachtete seinen Gesprächspartner, der ihm in einem schlichten, leicht abgewetzten Ledersessel gegenübersaß. Mitte Dreißig, wirkte er mit seiner glatten Haut immer noch jugendlich. Die welligen braunen Haare bedeckten seine Ohren. Wie Atingo selbst, war auch er vergleichsweise jung ins Amt gekommen. Erinnerungen blitzten in seinem Gedächtnis auf, aus einer weit zurückliegenden Zeit, als sie beide zum ersten Mal die Uniform der Turango übergestreift hatten. Atingo fragte sich, ob er noch immer etwas für Pasodan empfand. Nein, erkannte der Sprecher, das ist zu lange her. Das ist vorbei.

Der Regens breitete die Arme aus. „Noch ist nichts entschieden. Wir können die Sache auch bleiben lassen.“

„Du weißt, warum ich das angestoßen habe“, verteidigte Atingo seine Idee. „Es ist eine Chance zur Entspannung mit Massat.“

„Entspannung? Es gibt keine Spannungen mit dem Reich des Pantokraten. Wir haben uns einfach nichts zu sagen. Nach dreieinhalb Jahrtausenden getrennt verlaufener Entwicklung sind wir zu verschieden geworden.“

„Vielleicht haben wir uns nur allzusehr an diesen Zustand gewöhnt.“ Atingo griff nach seiner Kaffeetasse und stellte sie wieder weg, als er feststellte, daß der Inhalt erkaltet war. „Warum halten wir denn in Konvent und Rat sechs leere Sitze für die Stämme Massats vor?“

„Eine symbolische Geste“, entgegnete der Regens, „über die die Zeit längst hinweg gegangen ist.“ Er seufzte. „Wir müssen auch die öffentliche Meinung berücksichtigen. Noch nie hat ein Turango einem Mitglied des Erlauchten Hauses gute Wünsche übermittelt.“

„Es hat unseres Wissens nach ja auch noch keinen Pantokraten gegeben, der fünfundneunzig wird. Und dazu seit unglaublichen acht Jahrzehnten auf dem Thron.“

„Warten wir also lieber gleich bis zu seinem Hundersten!“ ironisierte Pasodan. „Dann lohnt sich der ganze Ärger wenigstens.“

Atingo schmunzelte. Er verstand die Zurückhaltung des Regens. Bevor die Sache offiziell wurde, wollte er den Vorschlag des Sprechers noch einmal auf seine Schwachstellen hin abklopfen. „Wir brauchen die Zustimmung des Ausschusses und des Konvents“, lenkte er ein. „Das wird nicht leicht, ich weiß.“

„Wenn der Ausschuß zustimmt, wird der Konvent sich anschließen“, rief Pasodan Bekanntes in Erinnerung.

„Wenn du willst, bringe ich den Antrag ein“, bot Atingo an.

„Nein.“ Pasodan machte eine ablehnende Geste. „Entweder machen wir es gemeinsam oder gar nicht.“

„Gut.“ Der Sprecher konnte ein Gähnen nicht länger unterdrücken. Er sah auf die Uhr. „Allmacht, ist das schon spät! Wahrscheinlich sind wir wieder mal die letzten im ganzen Turm.“

„Ja, laß uns gehen“, bekräftigte Pasodan. Er nahm eine Camouflage-Jacke von sandfarbenem Grundton, die er auf einem unbenutzten Sessel abgelegt hatte, und zog sie über den weißen Pullover, auf dem das alte Symbol der Turango prangte: ein achtfarbiger Regenbogen. „Ich will auch nach Haus. Letzte Woche habe ich zweimal im Turm übernachtet. Das muß echt nicht sein.“

Atingo, der eine Uniform identischen Zuschnitts trug, räumte noch rasch einige Unterlagen zusammen, bevor er eine Mütze aufsetzte, die das gleiche Camouflage-Muster wie Jacke und Hose aufwies, und das Licht löschte. Das Vorzimmer und der Flur vor seinem Büro lagen verlassen da. Es war, als seien Pasodan und er tatsächlich die einzigen Menschen in diesem riesigen Bauwerk.

Für den Weg nach unten wählten der Sprecher und der Regens einen der verglasten Außenlifte, der ihnen einen spektakulären Ausblick auf die nächtliche Stadt bot: ein Lichtermeer bis zum Horizont, aus dem himmelhoch ragende Türme emporstiegen, ähnlich dem, in dem sie sich selbst befanden. Saredjan-Héloar, die Schöne – Hauptstadt des Planeten und des gesamten Regnums – mit dem Höchsten Turm als Schaltzentrale und Hauptquartier der Turango. Vor acht oder zehn Jahren hätte Atingo es sich nicht träumen lassen, jemals hier tätig zu werden und überdies eine führende Position einzunehmen. Dann war Pasodan von seinem im Amt gealterten Vorgänger überraschend als neuer Regens präsentiert worden. Dieser hatte wiederum Atingo ins Boot geholt, und ein Turango ging, wohin er gerufen wurde...

Unten im Foyer hielten einige Soldaten Wache. Sie trugen die gleiche Uniform wie Atingo und Pasodan, durch keinerlei Rangabzeichen unterschieden – Ausdruck eines der wichtigsten Turango-Grundsätze: Alle Turango sind gleich; allein Qualifikationen begründen graduelle Unterschiede. Die Soldaten grüßten lässig, indem sie zwei Finger an den schmalen Schirm ihrer Mützen legten. Atingo und Pasodan grüßten auf die gleiche Weise zurück.

Einer der Soldaten war noch recht jung. Er hatte ein hübsches Gesicht und sinnliche Lippen, auf denen ein schwaches Lächeln lag. Er gefiel Atingo. Der Sprecher entsann sich, daß der Zugang zum Bund der Turango in der Frühzeit über die sogenannten Ephebenbeziehungen geregelt worden war. Ein mindestens achtzehnjähriger Bewerber, der „Ephebe“, band sich für eine gewisse Zeit an einen älteren, erfahrenen Turango, um von ihm in die Gemeinschaft eingeführt zu werden. Doch das war Vergangenheit. Heute gab es für Anwärter auf den Stand eines Turango Ausbildungs- und Schulungszentren, die die Ephebenbeziehungen abgelöst hatten.

Über die gesamte Stirnwand des Foyers – so daß jeder, der eintrat, es nicht übersehen konnte – spannte sich ein Schriftzug aus mehr als mannshohen Lettern:

Die Turango sollen herrschen.

Unwillkürlich blieb Atingo stehen. Wieviel hundert Mal war er bereits hier vorbeigekommen? Wieviel tausend Mal hatte er diesen Spruch bereits vernommen? Wieso irritierte ihn dieses Credo des Elften Regnums gerade jetzt?

„Was hast du?“ fragte Pasodan prompt.

Atingo fuhr sich mit der Hand über die Augen und schüttelte den Kopf. „Nichts. Schon gut.“ Er setzte sich wieder in Bewegung und folgte dem anderen zu den Fahrzeugen.

Die Turango sollen herrschen – so hatte es damals gelautet, als das Zehnte Regnum sich in blutigen Kämpfen selbst zerfleischt hatte. In seiner Endphase völlig korrumpiert und durch die unaufhörlichen Fehden der Familienclans lahmgelegt, formierte sich seinerzeit in den Reihen des Militärs der Bund der Turango. Zu Einfluß gekommen, drängten die Turango zum Putsch; die herrschenden Führungscliquen verloren ihre Macht. Nach den leidvollen Erfahrungen mit den Clans und unter dem Eindruck ähnlicher dynastischer Auseinandersetzungen auf Massat delegierte das Volk die Herrschaft an die Turango, denn als schwule Kämpfer ohne Nachkommen und Familienbindung hatten sie keinen Ehrgeiz, ihrer Sippe oder ihren Sprößlingen zu Macht und Ansehen zu verhelfen. Der amtierende Turango Regens wurde in Personalunion zum Prätendenten des neuen, des Elften Regnums bestellt.

Und so herrschten seitdem die Turango – seit über 2000 Jahren. Und anscheinend taten sie es nicht so schlecht. Denn bis heute hatte niemand die Gültigkeit dieser Bestimmung ernsthaft in Frage gestellt.

Massat:

Audienz beim Pantokraten

Der Pantokrat saß auf seinem „Thron für alle Tage“, wie er ihn bei sich selbst nannte; einem ausladenden Sessel aus gediegenem Gold, zu dem drei Stufen aus Bergkristall empor führten. Er trug den schweren, nachtblauen Königsmantel, der ihn wie ein Talar umhüllte. Über seinem Kopf prangte, als Verlängerung der Lehne ausgebildet, mit ausgebreiteten Schwingen der Phoenix Massats; in der Hand hielt er den Schlangenstab Troyktos – die Insignien, die ihn als König der beiden Welten auswiesen.

Zu Grandarols Füßen hatte sich der Hofstaat versammelt. Die meisten Personen standen; einige wenige, die – obwohl jünger als der Pantokrat – gebrechlicher waren, hatten sich auf schlichten Samtpolstern niedergelassen. An den Wänden des weitläufigen ovalen Raumes hingen Gobelins mit idealisierten, überlebensgroßen Portraits seiner Vorgänger. Die eingewölbte Decke zierten kostbare Gemälde mit mythologischen Szenen, die eine räumliche Perspektive vortäuschten. Grandarol war der Älteste im sogenannten „Kleinen Thronsaal“, in dem er seine wöchentlichen Audienzen abhielt.

Heute war ein besonderer Tag. Es war der 95. Geburtstag des Königs und gleichzeitig sein 81. Jahrestag als Inhaber des Kometenthrons, den er damit schon jetzt länger behauptete als irgendeiner seiner Vorgänger in den mehreren Tausend Jahren, die die Annalen des Erlauchten Hauses verzeichneten.

Der Pantokrat sah hinab auf die vielköpfige Menge seines Hofstaates. Drei Stufen tiefer zu seiner Rechten saß Ensir, sein ältester Sohn und damit nomineller Stellvertreter des Königs, ein vorzeitig gealterter und unfähiger Fettwanst, dem er nicht einmal die Aufsicht über die Putzkolonnen des Palastes überlassen hätte, zu seiner Linken Fürst Aifenshelt, der in einer Person gleich drei wichtige Hofämter vereinigte: Erster Seneschall, Oberster Hofmeister und Generalkommandant der Palastwache, der einzige Mann am Hof, dem Grandarol vorbehaltloses Vertrauen schenkte.

In der Menge vor ihm erblickte er drei seiner insgesamt fünf Gattinnen – zwei hatte er bereits überlebt; seine als Erbprinzen geadelten Söhne – mit Ensir elf an der Zahl –, die diesen offiziellen Verbindungen entstammten; Töchter, Adoptivsöhne, Enkelkinder – auf seiner Lieblingsenkelin Numitin ruhte sein Blick ein wenig länger – und andere Anverwandte in rauher Zahl; des weiteren hohe Hofbeamte, Abgesandte der Stammeswelten sowie der Nebenlinien des Erlauchten Hauses und an den Seiten schließlich die regungslos aufgebauten Männer der königlichen Garde in ihren historischen Uniformen. Ihnen allen zeigte Grandarol sich offen, ohne die rituelle Maske, die sein Gesicht in der Öffentlichkeit verbarg.

Der Oberste Herold verlas die Grußnoten zu seinem Geburtstag, welche in diesem Jahr besonders reichhaltig ausfielen, so daß sich beim Hofstaat bereits eine gewisse Müdigkeit breit machte.

„Eine Botschaft von Saredjan, vom Regenten des sogenannten Elften Regnums.“

Ein Raunen ging durch die Menge. Mit einem Mal waren alle wieder hellwach. Der Herold verkündete den Inhalt der Note.

„Der Prätendent des Elften Regnums beehrt sich, Seiner Exzellenz...“ Bei diesem Wort grummelte das Auditorium unwillig. „...dem Pantokraten von Massat, aus Anlaß seines Ehrentages die aufrichtigsten Glückwünsche zu seinem 95. Geburtstag zu entbieten. Möge er sich weiterhin bester Gesundheit erfreuen und sein Reich weise führen. Im Auftrag von Ausschuß, Konvent und Rat: Pasodan Turango Regens, Prätendent des Elften Regnums.“

Der Hofstaat konnte seinen Aufruhr nur mit Mühe zügeln. Das hatte es noch nie gegeben: einen Gruß des Turango-Regenten von Saredjan an den Pantokraten von Massat! Der Adressat der Botschaft war allerdings weit weniger überrascht. Er hatte den Inhalt natürlich schon zuvor gekannt. Der Herold stieß mit dem Zeremonienstab auf den Boden, um das Volksgemurmel zu unterbrechen. „Seine Majestät, der Pantokrat, spricht.“

„Das Erlauchte Haus lädt den Regenten von Saredjan zu einem Freundschaftsbesuch nach Massat ein“, gab der König gelassen bekannt. „Er mag eine Delegation mit sich führen, wie es ihm beliebt.“

Erneut brandete verhaltener Unmut auf. Ensir sah verblüfft zum Pantokraten empor, während Aifenshelt unbewegt blieb. Grandarol hatte ihn bereits in seine Pläne einbezogen.

Der Herold klopfte mehrmals mit seinem Stab, und die Unruhe legte sich. „Seine Majestät, der Pantokrat, hat gesprochen.“

„Ist das das Zeichen, auf das wir so lange gewartet haben?“ fragte der Pantokrat in den Audienzsaal hinein, in dem er allein mit Aifenshelt zurückgeblieben war. Nur die „Unsichtbaren“ leisteten ihnen noch Gesellschaft; die persönlichen Diener des Königs, die nicht sprachen und nicht angesprochen wurden, aber jeden Fingerzeig und jeden Augenaufschlag ihres Herrn zu deuten wußten. Es hieß, früher seien sie tatsächlich einmal stumm und taub gewesen oder gar dazu gemacht worden, aber selbst Grandarol wußte nicht, ob das nur eine weitere in der Reihe zahlloser Legenden war, in denen sich die Geschichte des Erlauchten Hauses verlor. „Jedenfalls kommen die Dinge endlich in Bewegung“, fuhr er fort, bevor Aifenshelt zu einer Antwort gekommen war. „Es wird auch allmählich Zeit.“

„Das Orakel von Chistor irrt nicht“, rief der Fürst in Erinnerung.

Der Pantokrat streifte den Mantel ab, der ihm sofort von zweien seiner „unsichtbaren“ Diener abgenommen wurde. Darunter trug er eine vergleichsweise schmucklose Uniform. „Dann hoffen wir nur, daß der König der Schwuchteln unsere Einladung auch annimmt.“

„Darum sorge ich mich nicht“, erwiderte Aifenshelt. „Heißt es nicht, daß wir selbst aktiv werden sollen, sobald wir das Zeichen erhalten haben?“

Grandarol verschränkte die Arme. „Trotzdem frage ich mich, was den Regenten zu seinem Grußwort bewogen hat. Bei allem, was man gegen Saredjan vorbringen kann – ein Hang zu Sentimentalitäten hat nie dazugehört.“

„Wie unsere Vertretung auf Saredjan berichtet, hört der Regent in vielen Dingen auf Atingo, den Sprecher des Konvents. Man hält es für möglich, daß die Initiative auf ihn zurückgeht.“ Aifenshelt schürzte die Lippen. „Hältst du das für wichtig?“

Der König musterte seinen Ratgeber. Er war neben seinen Frauen und den Erbprinzen der einzige, der ihn unter vier Augen auf diese vertrauliche Art anreden durfte. Wenn es diese Position an Grandarols Hof gegeben hätte, wäre er zweifellos sein Kanzler, doch dies war einer der wenigen Titel, der im Erlauchten Haus nicht verliehen wurde. Der Pantokrat herrschte uneingeschränkt. Dieser Nimbus durfte durch einen „Kanzler“ nicht gefährdet werden.

Grandarol blieb eine Entgegnung schuldig und wechselte abrupt das Thema. „Wer war eigentlich der junge Bursche neben meiner Enkelin Numitin? Ist er neu am Hof?“

Aifenshelt, der für sein Personengedächtnis berüchtigt war, antwortete, ohne zu zögern. „In der Tat. Sein Name ist Dorkas, ein Großneffe deiner verstorbenen ersten Frau. Das Haus Ondenrat hat ihn vor kurzem als Abgesandten geschickt.“

„Er hat nicht einen Blick für Numitin übrig gehabt, obwohl sie eine der betörendsten jungen Frauen am Hof ist.“ Der Pantokrat verengte mißtrauisch die Augen. „Ist er ein Hinterlader?“

„Soll ich das für dich herausfinden lassen?“ bot Aifenshelt an.

„Ja. Aber unternimm nichts. Informier mich nur!“

„Was hast du vor?“ wollte der Erste Seneschall wissen.

„Wenn die Zeit reif ist“, beschied Grandarol, „werde ich es dich wissen lassen.“

Saredjan:

Eine Einladung

Noch im Foyer traf Atingo auf Gelzidon und Altranor. Er begrüßte sie flüchtig. „Wir haben dasselbe Ziel, vermute ich.“

„Was wird das?“ preschte Altranor vor und fuhr sich nervös durch die schulterlangen Haare. „Eine Dringlichkeitssitzung des Ausschusses?“

„Soweit ich weiß, bleibt es beim kleinen Kreis: wir drei und Pasodan.“

„Hast du eine Ahnung, worum es geht?“ schaltete sich Gelzidon ein. Er wirkte gelassener als Altranor. Ein Bäuchlein spannte den Regenbogenpullover seiner Uniform.

„Ebenfalls nein“, antwortete Atingo und runzelte die Stirn. „Aber es scheint ziemlich wichtig zu sein.“

Die Wache am Eingang zum Lift erkannte die Ankömmlinge und grüßte lässig wie immer – die charakteristische Turango-Mischung aus verblaßter militärischer Tradition und egalitärem Understatement. „Zum Regens?“

Gelzidon nickte wortlos, und die drei betraten den Aufzug, der sie schnell auf die Ebene des Prätendenten in den obersten Etagen des Turms brachte. Wie jedes Mal knackten Atingo dabei ein wenig die Ohren.

Eine zweite Wache im Turango-Camouflage – auch diese eher symbolischer Natur, da unbewaffnet – und sie standen im Vorzimmer des Prätendenten. Pasodans Referent winkte ihnen vom Schreibtisch her zu. „Guten Morgen, Turango! Der Regens erwartet euch schon. Geht durch!“

Atingo trat als Erster ein. Pasodan wandte sich vom Fenster ab, aus dem er auf die im späten Morgenlicht daliegende Stadt gesehen hatte. „Da seid ihr ja. Tut mir leid, wenn ich euch mit diesem kurzfristigen Termin Ungelegenheiten bereitet haben sollte.“

„Es wird einen triftigen Grund dafür geben“, kommentierte Gelzidon trocken.

„In der Tat.“ Pasodan schüttelte seinen Besuchern die Hand. „Ich möchte vorab betonen, daß dies ein rein informelles Treffen ist, das euch über die Neuigkeiten in Kenntnis setzen soll. Den Beratungen im Ausschuß und Konvent soll damit in keiner Weise vorgegriffen werden.“ Es blieb also, wie von Atingo vorausgesehen, beim bereits zitierten „kleinen Kreis“: neben Regens und Sprecher die Ressortleiter der Bereiche Sicherheit und Binnenbeziehungen. Inoffiziell waren diese beiden die wichtigsten Entscheidungsträger im sogenannten „Leitenden Ausschuß“, der Pasodans Kabinett und somit die Regierung des Elften Regnums bildete, auch wenn eine solche Hierarchie offiziell natürlich nicht bestand.

„Schon klar“, erwiderte Altranor ungeduldig. „Und nun rück endlich ’raus mit der Sprache!“

Pasodan angelte ein Dokument von seinem Schreibtisch. „Diese Nachricht ist uns vor zwei Stunden von unserer Vertretung auf Massat zugegangen. Lest selbst!“ Er reichte das Papier Atingo, der es so hielt, daß auch Gelzidon und Altranor mitlesen konnten. Fiebernd überflog er die Zeilen:

Das Erlauchte Haus entbietet dem Prätendenten von Saredjan seinen Gruß.

Das Erlauchte Haus spricht eine Einladung zum Besuch des Königlichen Palastes auf Massat und zu einer Audienz bei Seiner Majestät, dem Pantokraten, aus. Die Einladung schließt eine vom Prätendenten zu bestimmende Gefolgschaft ein. Das Nähere ist mit unserer Vertretung auf Saredjan zu regeln.

Grandarol, König der beiden Welten.

Wortlos ließ Atingo das Schreiben sinken. Beinahe wäre es dabei seinen Händen entglitten. Er suchte Pasodans Blick.

So war es Gelzidon, der als erster das sprachlose Staunen durchbrach. „Ausgeschlossen!“ Sein Gesicht unter den grauen Stoppelhaaren rötete sich. „Auf gar keinen Fall!“

Pasodans Miene war reglos. „Und ihr?“ Sein Anruf galt Atingo und Altranor. „Was sagt ihr dazu?“

„Zunächst müssen wir uns die Frage stellen, was der Pantokrat mit diesem Vorstoß beabsichtigt.“ Altranor gab den Diplomaten; eine Rolle, die er – so er wollte – perfekt beherrschte. „Solange wir darauf keine Antwort haben, läßt sich die Sache nicht zutreffend bewerten.“

Atingo war klar, daß er als nächster an der Reihe war. Die Grußnote zum 95. Geburtstag des Königs ging auf seinen Vorschlag zurück. „Prätendent von Saredjan“, echauffierte er sich – und wußte doch, daß er damit auswich. „Korrekt ist: Prätendent des Elften Regnums. Das wissen sie doch. Sie benutzen bewußt den falschen Titel. Das ist doch nichts weiter als eine Retourkutsche für die ‚Exzellenz’.“

„Mag schon sein.“ Pasodan hob die Augenbrauen. „Und sonst?“

Atingo gab sich einen Ruck und bezog Position: „Haben wir diese Glückwünsche nicht deshalb ausgesprochen, weil wir damit irgendeine Reaktion hervorrufen wollten? Nun haben wir eine. Laßt uns in Ruhe überlegen, wie wir damit umgehen.“

Der Prätendent wies auf einen runden Konferenztisch, dessen polierte Oberfläche dunkel glänzte. „Warum setzen wir uns nicht erst einmal?“ Pasodans Gäste kamen der Aufforderung nach. Einer seiner Mitarbeiter brachte Getränke. „Altranor hat die entscheidende Frage bereits formuliert“, nahm er schließlich das Wort wieder auf. „Was verspricht Grandarol sich davon?“

„Er ist fünfundneunzig geworden“, rief Atingo, der sich endgültig gefangen hatte, in Erinnerung. „Auch wenn er sich einer für sein Alter ungewöhnlich guten Konstitution zu erfreuen scheint, muß er doch wissen, daß seine Tage gezählt sind. Vielleicht will er sich mit diesem Handschlag ins Buch der Geschichte eintragen.“

„Wunschdenken!“ schalt Gelzidon in scharfem Tonfall. „Was immer dieser alte Fuchs unternimmt, tut er allein aus Berechnung.“

„Zumal das ‚Buch der Geschichte’ auf Massat nur allzuoft redigiert wird“, gab Altranor zu bedenken. „Eine Übung, der sich auch Grandarol ausgiebig gewidmet haben dürfte. Eine solche Eintragung wäre also nicht unbedingt von bleibender Dauer.“

Gelzidons Reaktion überraschte Atingo kaum. Wie kaum ein Zweiter stand der Ressortleiter Sicherheit für die alten Tugenden der Turango: Pflichtbewußtsein, Dienstbereitschaft, Bescheidenheit. Der reflexhafte Gegensatz zum Reich des Pantokraten, das gewissermaßen die Negierung dieser Ideale verkörperte, resultierte daraus wie automatisch.

„Ich gehe davon aus, daß wir erstmal bloße Vermutungen sammeln“, verteidigte Atingo seine Äußerung. Er trank einen Schluck von seinem Kaffee. „Im übrigen sollten wir dieses Angebot leidenschaftslos prüfen. Von vorne herein ablehnen würde ich es nicht.“ Er wandte sich Pasodan zu. „Und was ist mit dir? Was hältst du davon?“

Der Regens legte zwei Finger an die Stirn, als müsse er noch einmal nachdenken. Schließlich beantwortete er Atingos Frage. „Ich bin nicht weniger überrascht als ihr. Aber im Prinzip hast du recht. Wir wollteneine Reaktion; also wäre es inkonsequent, sie jetzt einfach zu ignorieren.“

„Was soll das alles?“ Gelzidon bemühte sich gar nicht erst, seine Mißbilligung zu verbergen. „Massat und Saredjan – das bedeutet Phoenix und Turm, Feuer und Eis, Finsternis und Licht. Es gibt kein Miteinander mit dem Pantokraten und seinem Erlauchten Haus. Es gibt allenfalls die Koexistenz, wie wir sie seit Jahrhunderten praktizieren, das schiedliche Nebeneinander: Jeder geht seiner eigenen Wege, ohne daß wir einander ins Gehege kommen. Dabei sollte es auch bleiben.“

Gelzidons engagierter kleiner Vortrag lieferte Atingo Anlaß, sich einige geschichtliche Zusammenhänge zu verdeutlichen. Die Formel von der „schiedlichen Koexistenz“... Nachdem mit Hilfe der frühen Turango die Verhältnisse auf Saredjan und den übrigen Stammeswelten konsolidiert worden waren, hatten diese sich die alte, auf die gesamte Menschheit zielende Regnums-Idee zu eigen gemacht. Ehrgeiz und der Schwung des Erfolges trieb sie dazu, nun auch die Stämme, die sich dereinst um Massat geschart hatten, „befreien“ zu wollen. Dieses Ziel hatte sich jedoch rasch als unrealistisch erwiesen, so daß den Ansprüchen niemals konkrete Taten gefolgt waren und es beim beziehungslosen Nebeneinander der Reiche geblieben war, wie es sich auch schon während der Herrschaft der Clans im Zehnten Regnum eingespielt hatte.

Pasodans Stimme brach in Atingos Überlegungen ein. „Ich will am Status quo ebensowenig rütteln, wie du, Gelzidon“, versuchte er, seinen besorgten Ressortleiter zu besänftigen. „Aber es kann doch nicht schaden, miteinander zu reden.“ Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Die Entscheidung fällt im Ausschuß und im Konvent. Im Moment geht es mir nur darum, eure Meinung zu hören.“

„Ich werde Turango-Mehrheit beantragen“, kündigte Gelzidon prompt an.

„Bei einer Angelegenheit von dieser Tragweite versteht sich das von selbst“, nahm Pasodan dem Grauhaarigen den Wind aus den Segeln.

Turango-Mehrheit, rekapitulierte Atingo; jenes Konsensverfahren, bei dem ein Achtzig-Prozent-Quorum erforderlich war und das bei weitreichenden Entscheidungen zur Anwendung kam. Er blickte aus dem Panoramafenster zu seiner Seite. Wie Bauklötze lagen die Gebäude der Hauptstadt, die den gesamten Kessel von Héloar ausfüllte, tief unter ihm. Allein die vielen schlanken Türme ragten daraus hervor, fast wie überdimensionale Blütenstengel vor dem hellblauen Himmel. Einige der anmutigen weißen Vögel, welche unablässig die Türme umkreisten, segelten gerade draußen vorbei.

„Wir brauchen genauere Informationen!“ erinnerte Altranor eindringlich. Atingo blickte in das markante Gesicht des Ressortleiters Binnenbeziehungen, in dem sich vor allem das Kinn und die schmale Nase abhoben. „Was ist mit unserer Vertretung auf Massat? Oder den Spähern an den Grenzen?“ Dabei sah er Gelzidon an, in dessen Verantwortungsbereich die Letztgenannten fielen.

Atingo ließ Altranors Forderung im Raum stehen und wandte sich wieder dem Regens zu. „Ungeachtet aller Dinge, die zweifellos zu bedenken sind – könntest du dir überhaupt vorstellen, diese Einladung anzunehmen?“

Pasodan zögerte. Er klimperte mit den Augenwimpern. „Grundsätzlich ja“, sagte er schließlich.

„Ich bin dagegen“, wiederholte Gelzidon, was er bereits mit anderen Worten gesagt hatte. „Dabei kann nichts Gutes herauskommen.“

Massat:

Eine Adoption

In seinem weitläufigen Arbeitsbereich erwartete der Pantokrat den ersten Besucher des Tages. Wie immer handelte es sich um Fürst Aifenshelt, der ihn aufsuchte, um persönlich die wichtigsten Neuigkeiten zu überbringen und gemeinsam mit dem Herrscher die aktuelle Lage zu analysieren.

Vor dem ausladenden Schreibtisch, einem Ungetüm aus Marmor und edlen Hölzern, blieb Aifenshelt stehen. Er nahm Haltung an und grüßte kurz. „Nachrichten von unserer Vertretung auf Saredjan!“ begann er dann ohne Umschweife. „Der Regent hat die Einladung angenommen. Er kommt mit dem Sprecher des Konvents und einer diplomatischen Delegation.“

Der Pantokrat, der seine schlichte blaue Alltagsuniform trug, auf deren Schulterklappen Phönix und Schlangenstab abgebildet waren, schmunzelte still vor sich hin. „Der König der Schwuchteln und die Oberschwuchtel“, lästerte er genüßlich. „Was versprechen sie sich nur von diesem Besuch?“ Mit einem Wink forderte er Aifenshelt auf, auf dem für ihn bereit stehenden Stuhl Platz zu nehmen.

Der Fürst nahm die Mütze ab, die zur Uniform des Generalkommandanten gehörte, und legte sie in den Schoß. „In den Medien des Regnums ist von einer Verbesserung der Beziehungen die Rede“, erläuterte er, „von Entspannung und Annäherung. Der Sprecher Atingo scheint dabei die treibende Kraft zu sein.“

„Diese Narren!“ spottete Grandarol. „Träumen Sie am Ende von der vermeintlichen Rückführung Massats in ihr Regnum? Faseln nicht ihre Legenden davon?“

„So naiv werden sie nicht sein“, schränkte Aifenshelt ein.

Der Pantokrat machte eine wegwerfende Handbewegung. „In den alten Tagen waren die Turango Gegner, die man zu fürchten hatte. Sodomiten oder nicht – es waren Krieger, die zu kämpfen wußten wie sonst kaum andere. Heute dagegen sind es verweichlichte Transusen.“

„Apropos“, hakte Aifenshelt ein. „Es ist vielleicht nicht die bedeutendste Nachricht, aber es liegen mittlerweile Erkenntnisse über den jungen Dorkas vor. Du hattest ihn doch in Verdacht...“

„Ich bin im Bilde“, unterbrach der Pantokrat. „Und?“

Aifenshelt verzog einen Mundwinkel. „Du hattest recht. Meine Leute haben ihn in flagranti mit einem Küchenjungen erwischt.“

„Mit einem Küchenjungen? Wie degoutant!“ Sein Instinkt hatte Grandarol also wieder einmal nicht getrogen. Er seufzte grimmig. „Laß ihn herbringen!“

„Jetzt gleich?“ wollte Aifenshelt sich vergewissern.

Der Pantokrat hob nur die Augenbrauen.

Eine gute halbe Stunde später, während derer der König seine Beratungen mit Fürst Aifenshelt fortgesetzt hatte, erschienen zwei Offiziere der Palastwache mit einem schwarzhaarigen jungen Kerl in der Mitte, dessen verstörter Blick in Panik umschlug, als er des Pantokraten ansichtig wurde. Grandarol stand auf und wartete, bis der Trupp auf drei Schritte herangekommen war. „Laßt ihn los!“ befahl er wie beiläufig.

Sofort warf Dorkas sich vor seinem König auf die Knie und beugte tief das Haupt, als rechne er damit, körperlich gezüchtigt zu werden. „Ich bereue, Majestät“, winselte er, ohne zu reden aufgefordert zu sein. „Ich bitte Euch, straft mich nicht zu sehr.“

Strafe erwartete er also, der Jammerlappen. Unter anderen Umständen hätte ihn diese gewiß auch getroffen; er wäre vom Hof verbannt und schmählich nach Ondenrat zurückgeschickt worden. Aber damit hätte sich Grandarol nicht selbst abgegeben.

Dorkas zitterte. Er hatte sich dem Pantokraten ausgeliefert und fürchtete offensichtlich das Schlimmste. Grandarol empfand deshalb keine Genugtuung. Nur Schwächlinge und Psychopathen weideten sich an der Angst Unterlegener und hatten Freude daran, sie zu demütigen. Das war keine wirkliche Macht. Gewiß, der Pantokrat konnte erbarmungslos strafen und zuschlagen und hatte das schon unzählige Male unter Beweis gestellt, aber dies hatte berechnend und mit kaltem Herzen zu geschehen, sofern es sich als zweckdienlich erwies. Macht jedoch war etwas anderes...

Einer der „Unsichtbaren“ reichte Grandarol den Schlangenstab, der ihn überall hin begleitete. Er umrundete seinen monströsen Schreibtisch und berührte Dorkas mit der Spitze des Stabes an der Schulter. Der zuckte zusammen, ohne aufzusehen.

„Du bist mein Sohn“, sprach der Pantokrat die traditionelle Adoptionsformel. „Heute habe ich dich gezeugt.“

Dorkas hob wie in Zeitlupe den Kopf und starrte den Pantokraten aus tränenfeuchten Augen an.

Grandarol lächelte maliziös. Das war Macht: den Verurteilten grundlos zu begnadigen und ihn dadurch an sich zu binden – mehr, als Dorkas es in diesem Augenblick überhaupt ahnen mochte. Doch der Junge wußte nicht einmal recht, wie ihm soeben geschah. Sein Unterkiefer klappte herunter.

„Erheb dich!“ herrschte der Pantokrat ihn an. Dorkas rappelte sich auf. „Als mein Adoptivsohn trägst du von nun an den Titel ‚Prinz’ und wirst mich mit ‚Ehrwürdiger Vater’ anreden. Bei den offiziellen Banketten nimmst du an der Tafel des Königs Platz.“

Dorkas öffnete und schloß den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Wie es Euch beliebt, Majestät“, brachte er endlich hervor. Ein scharfer Blick Grandarols brachte ihn dazu, sich zu korrigieren: „Ehrwürdiger Vater.“

Der Pantokrat vollzog einen Wink mit dem Schlangenstab. „Und jetzt geh!“

„Warum...?“ fragte Aifenshelt, als sich die schwere Doppeltür hinter Dorkas geschlossen hatte.

Der König setzte eine verschmitzte Miene auf. „Eine kleine Morgengabe für unseren hohen Besuch. Ein Prinz für den König der Schwuchteln...“

Shadarin, im 2036. Jahr des Elften Regnums

Rückblende Atingo: Eine Regennacht

Gegen die große Fensterscheibe in Pasodans Zimmer schlug der Regen. Draußen wurde es dämmrig, aber es war den ganzen Tag über nicht richtig hell geworden.

„Was soll man nur anfangen mit so einem Tag?“

Als ich keine Antwort bekam, wandte ich mich vom Fenster ab. Pasodan hatte sich in einem bequemen Sessel gelümmelt und Kopfhörer aufgesetzt; er hörte Musik. Vorsichtig trat ich hinter ihn und nahm ihm die Hörer von den Ohren. „Hey, ich hab’ dich was gefragt.“

„Was denn?“ Pasodan schnappte nach den Hörern, doch ich hatte das geahnt und war schneller.

„Was soll man anfangen mit so einem Scheiß-Tag?“

„Gar nichts. Musik hören.“

Ich seufzte und ließ die Hörer fallen. Pasodan fing sie auf. „Dieses Wetter schlägt mir auf die Stimmung.“ Ich trank einen Schluck aus meiner Limoflasche. „Noch gut ein Jahr, und die Schule ist vorbei. Und was dann?“

„Was ist los mit dir?“ fragte Pasodan zurück, ohne auf meine Äußerung einzugehen. „Schiebst du jetzt den Blues?“

Ja, irgendwie tat ich das heute. Ich blieb hinter dem zweiten Sessel stehen und stützte mich auf der Lehne ab. Pasodan beobachtete mich, aber ich wagte es nicht, ihn anzusehen.

Das Leben auf Shadarin, unserem abgelegenen Heimatplaneten weitab der Zentren des Regnums, war vorgezeichnet. Mein Vater war ein kleiner Handwerker, Pasodans Eltern hatten es durch ein wenig Handel zu einem gewissen Wohlstand gebracht, der sich im großzügigen Zuschnitt ihres Anwesens spiegelte. Es war schon so ziemlich das Äußerste, was man auf Shadarin zu erreichen vermochte. Extratouren waren nicht vorgesehen. Und den Planeten ganz zu verlassen, blieb für die wenigen, die diesen Plan verfolgten, ein unerfüllbarer Wunschtraum.

„Unser Leben ist vorgezeichnet“, wiederholte ich meinen Gedanken laut. „Findest du das nicht bedrückend?“

„Na ja...“ Pasodan setzte sich aufrecht hin und legte die Kopfhörer zur Seite. „Ich kann mir eigentlich Schlimmeres vorstellen als das Leben, das ich führe. Mir geht’s gut, ich leide keine Not, und ich habe Freunde.“

Freunde... Seit fünf Jahren waren Pasodan und ich befreundet, verbrachten fast jeden Nachmittag oder Abend zusammen. Meist ging ich aus dem Dorf hinaus zu Pasodan; im Haus seiner Eltern und dem Garten, in dem es lag, war einfach mehr Platz. Nicht immer waren wir zu zweit wie heute; oft unternahmen wir etwas zusammen mit anderen oder trieben Sport. Doch wenn ich ehrlich blieb, zog ich es in letzter Zeit vor, mit Pasodan allein zu sein.

„Unser Leben ist nicht schlimm“, räumte ich ein, „aber...“

„Aber was?“

Ich begann im Zimmer auf- und abzugehen und spürte, daß Pasodans Blicke mich dabei verfolgten. „Soll das alles sein? Für den Rest des Lebens? Manchmal fühle ich mich wie eingesperrt.“

Pasodan schwieg. War er überrascht von meinem Geständnis? „Wie wär’s mit ’nem Gute-Laune-Bier?“ schlug er nach einer Weile unbeholfen vor.

Ich blieb wieder vor dem Fenster stehen und versuchte hinauszusehen. Es war dunkel geworden; zwei Lampen im Garten verbreiteten eine punktuelle Helligkeit. Der Regen hatte nicht nachgelassen. „In einer Regennacht wie dieser müßte man in den neuen Tag hinausfahren und nicht zurückkehren“, hing ich meinen Träumen nach, ohne sie vor Pasodan zu verhehlen, „einfach alles hinter sich lassen und noch einmal neu anfangen.“

„Dann tu’s doch!“ Pasodans brüske Aufforderung frappierte mich. Ich wandte mich zu ihm um. Die Überraschung stand auf meinem Gesicht geschrieben. „Wenn du das wirklich willst, warum tust du’s nicht?“ wiederholte er.

Ich senkte meinen Blick. „Sowas tut man nicht allein“, sagte ich leise.

Dieses Mal schwieg Pasodan ganz. Hatte er erkannt, welche Antwort ich mir von ihm erhoffte? Daß ich mir ausmalte, mit ihm durchzubrennen – in einer Nacht wie dieser? In den letzten Monaten hatte ich immer deutlicher begriffen, daß ich für Pasodan mehr empfand als für einen gewöhnlichen Kameraden. Ich ersehnte seine Nähe, seine besondere Sympathie.

Pasodan aber blieb stumm. Natürlich, dachte ich, warum solltest du deinen goldenen Käfig auch verlassen wollen? Gleichwohl wußte ich nicht, wie ich sein Verhalten deuten sollte, und weil ich die Stille irgendwann nicht mehr aushielt, nahm ich das Wort selbst wieder auf. „Tut mir leid“, ruderte ich zurück. „Ich spinne ziemlich herum. Wie war das noch mit dem Bier?“

2. Der Kometenthron

Zwei mal zwei, der Herr über zwei.

Eine große Zwei, die keine ist.

Zwei kommen, drei gehen.

Zwei und einer oder einer und zwei?

(Worte des Propheten 39, 22)

Kommentar:

Vermutlich ein Zahlenrätsel. Eine sinnvolle Deutung wurde noch nicht gefunden.

Saredjan, im 2056. Jahr des Elften Regnums

Der Turango Regens und Prätendent wird nach Massat eingeladen. Dieses Ereignis ist ein Novum in der Geschichte des Regnums und versetzt auch eine Einrichtung in Unruhe, die sich in weitgehender Routine eingerichtet hat: den diplomatischen Dienst. Der unerwartete Staatsbesuch ist eine Premiere für alle Beteiligten...

*

Vorbereitung

Atingo und Pasodan waren auf dem Weg zu einem der Nachbartürme, in welchem der diplomatische Dienst untergebracht war, was insofern als verwunderlich gelten mochte, weil er dem Prätendenten persönlich unterstand. Andrerseits war der Höchste Turm nicht allein dessen Amtssitz. Ebenso beherbergte er den Leitenden Ausschuß und den Konvent samt den ihnen unmittelbar nachgeordneten Dienststellen. Ganz zu schweigen vom wichtigsten Heiligtum des Regnums, das sich in exponierter Lage an der Spitze des Turmes befand – Ausdruck des besonderen Einvernehmens der Priesterschaft des Allerhöchsten mit den Turango. Der jeweilige Regens fungierte sogar als „Hoherpriester“, auch wenn er nur zu einigen wenigen, herausgehobenen Anlässen in diese Rolle schlüpfte. Schon in der Geburtsstunde des Elften Regnums hatte die Priesterschaft eine nicht unerhebliche Rolle gespielt und die Übergabe der Macht an die Turango gutgeheißen. Auch heute noch identifizierten sich die Priester mit den Idealen der Turango; ja, manchmal konnte man fast den Eindruck gewinnen, sie hielten zäher an ihren Traditionen fest als die Turango selbst.

Obwohl zu früher Stunde, war es bereits sehr warm. Der Sommer brach an. Und der konnte in Saredjan-Héloar unerträglich werden. Die Stadt, die heute den gesamten Kessel von Héloar ausfüllte, befand sich am Rand einer Halbwüste, die sich nach Norden hin ausdehnte. In heißen Sommern trocknete der Katscho – der Fluß, der Stadt und Kessel durchfloß – fast völlig aus. Heute war es schwer nachvollziehbar, warum man die Stadt ausgerechnet hier gegründet hatte – mitten im Kontinent, fernab aller Küsten, abseits vom reizvollen Pertalas-See, dem riesigen Binnenmeer im Süden. Angeblich hatte der Katscho früher mehr Wasser geführt, aber wer wollte das schon so genau wissen?

Die Sommerhitze, die sich im Kessel staute, war das große Problem Saredjan-Héloars, und das offenbar von Anfang an. Denn so alt wie die Stadt waren die ersten Türme, die schon in der Zeit der Stämme vor etwa 8000 Jahren errichtet worden waren. Ihr Zweck bestand darin, die sommerliche Hitzeglocke über dem Kessel zu durchstoßen. Denn dank ihrer gewaltigen Ausmaße reichten sie bis in eine kühlende Höhenströmung, welche die brütende Hitze erträglich machte.

Der diplomatische Dienst war eine kleine, aber feine Abteilung, die nur wenige Etagen des Turms in Anspruch nahm. Da das Regnum keine anderen Außenbeziehungen unterhielt als diejenige zu Massat und dem König der beiden Welten, gab es für diesen Bereich keinen eigenen Ressortleiter; er wurde vom Prätendenten mitbetreut. Und für die Binnenbeziehungen des Regnums, die Verbindung zwischen Saredjan, den übrigen Stammeswelten und den zahllosen mehr oder weniger autonomen Kolonien, war Altranor zuständig.

Die Turango-Mehrheit für den geplanten Besuch des Erlauchten Hauses war nach langer Diskussion zustande gekommen. Acht von zehn Mitgliedern des Leitenden Ausschusses hatten, wie erforderlich, mit „ja“ gestimmt. Gelzidon war – wenig überraschend – bei seiner ablehnenden Haltung geblieben; Altranor hatte sich enthalten. Der Konvent als Gesamtvertretung aller Turango, dem Atingo als Sprecher vorstand, hatte die Entscheidung des Ausschusses erwartungsgemäß durchgewinkt. Seit Jahrzehnten übte sich der Konvent in einer anscheinend selbst auferlegten Beschränkung als Bestätigungsorgan des Ausschusses. In Atingos vierjähriger Amtsperiode, die in Kürze ablief, hatte er dem Ausschuß kein einziges Mal widersprochen. Obwohl Atingo diesen reibungslosen Ablauf der Dinge durchaus schätzte, war ihm doch manchmal auch ein wenig unwohl dabei; immerhin war es von den Gründern des Elften Regnums ursprünglich so vorgesehen, daß der Konvent den Ausschuß kontrollieren sollte.

Der Leiter des diplomatischen Dienstes, der bis vor zwei Jahren selbst das Regnum auf Massat vertreten hatte und deshalb als ein vorzüglicher Kenner der dortigen Verhältnisse galt, begrüßte Atingo und Pasodan. Er war ein kleiner Mann mit grauen Schläfen und wachem, aufmerksamem Blick. Atingo war ihm erst ein paar Mal begegnet. Nach Austausch der üblichen Höflichkeitsfloskeln führte er sie in den Präsentationssaal, wo die übrigen Anwesenden bereits auf sie warteten. Es war ein nüchterner, heller Raum mit acht oder neun Stuhlreihen. An der Stirnseite befand sich ein riesiger Bildschirm.

„Für heute haben wir die wichtigsten Informationen über Massat und das Reich des Pantokraten in komprimierter Form aufgearbeitet“, führte der Leiter ein. „Nicht alles davon wird neu für euch sein, aber es schien uns sinnvoll, zunächst einmal einen Gesamtüberblick zu geben.“

Pasodan nickte. „Du machst das schon richtig, Turango“, teilte er ruhig mit. „Wir alle schätzen dich nicht zuletzt wegen dieser Gründlichkeit.“

Der Leiter übergab an seinen Assistenten, der die Präsentation ohne weitere Vorrede startete. Im Bild erschienen Phoenix und Schlangenstab als Symbole Massats und Troyktos. „Das Reich des Pantokraten ist offiziell eine Doppelmonarchie: An ihrer Spitze steht der König der beiden Welten, also von Massat und Troykto. Troykto hat als Nebenresidenz aber nur eine rein formale Funktion. Sitz des Pantokraten und unbestrittenes Zentrum seines Reiches ist Massat, das er in offizieller Funktion niemals verläßt. Wer den Pantokraten sprechen will, muß sich schon selbst zu ihm bemühen.“

Ein neues Bild: eine Ansammlung monumentaler Gebäude. Herrschaftsarchitektur. „Eine Ansicht des Königlichen Palastes“, kommentierte der Assistent. „Natürlich nur ein kleiner Ausschnitt. Massat-Anati, die ‚Krone von Massat’, ist in Wirklichkeit eine gewaltige Palaststadt.“ Er machte eine kleine Pause. „Die Dynastie des Pantokraten nennt sich Erlauchtes Haus. Diese Bezeichnung wird auch pars pro toto für das gesamte Reich verwandt, über das der Pantokrat in unbeschränkter, absolutistischer Weise gebietet. Dabei bedient er sich feudaler Strukturen, das heißt: eines weit verzweigten Adels, der durch persönliche Abhängigkeiten zum Herrscher in Schach gehalten wird.

Die Perspektive veränderte sich. Eine Kamerafahrt entlang der trutzigen Mauern, die die Palaststadt nach außen hin abschirmten, begann. „Dynastische Fehden und Verwicklungen zwischen den Adelshäusern waren in der Vergangenheit an der Tagesordnung, was zeitweise chaotische Verhältnisse zur Folge gehabt hat. Doch auch wenn die Krone von einem Adelshaus auf ein anderes übergehen sollte, so gilt dabei doch immer der eiserne Grundsatz: Auf dem Thron muß ein Sohn Apsuls sitzen, also ein direkter Nachfahre des ersten Pantokraten, Apsuls des Prächtigen, der vor gut dreieinhalbtausend Jahren gelebt hat.“

Der Assistent strich eine Strähne seiner langen Haare, die nach vorn gefallen war, aus dem Gesicht. „Der häufige Thronwechsel zwischen den Adelshäusern hat dazu geführt, daß immer wieder Geschichtsklitterungen im Sinn der jeweils Herrschenden stattgefunden haben, so daß der wahre Verlauf der Geschichte, besonders insofern länger zurückliegende Zeiträume betroffen sind, kaum mehr im Detail rekonstruiert werden kann. Nach offizieller Darstellung des Erlauchten Hauses heißt es gar, daß auf Massat ‚seit Anbeginn der Schöpfung’ die ‚Alten Könige’ herrschten, bis durch Apsul die regierende Dynastie des Pantokraten an die Macht gelangte. Diese Weltsicht konzentriert sich in einem populären Motto: Als das Königtum aus den Himmeln herabstieg, war es in Massat.“

„Das ist ja absurd!“ unterbrach Pasodan impulsiv den Vortrag.

Wenn auch nicht ganz ohne Parallele auf Saredjan, wie Atingo in Gedanken ergänzte. Denn auch die Clans des Zehnten Regnums hatten zu „korrigierenden“ Eingriffen in die Geschichtsschreibung geneigt. Und die frühe Überlieferung aus der Zeit der Stämme und des Siebten Regnums war ohnehin lückenhaft und rudimentär.

„Die gebildeten Schichten wissen natürlich, daß es sich um einen Mythos handelt, der nicht im Wortsinn zu verstehen ist“, ging der Assistent auf Pasodans Einwand ein. „Aber die breite Masse des einfachen Volkes hat keine Gelegenheit, solche Thesen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.“

Eine Person in einem schweren blauen Mantel, in der einen Hand den Schlangenstab, auf dem Kopf die Phoenixkrone, das Gesicht hinter einer dick aufgetragenen Schicht heller Schminke verborgen. „Kommen wir nun zum König. Anders als auf diesem Bild bekommt ihn die Öffentlichkeit nicht zu sehen: im ‚Ornat des Pantokraten’ und mit der rituellen ‚Maske’, die die individuellen Gesichtszüge verbirgt.“ Die Abbildung wurde überblendet, und ein älterer Herr mit entschlossenen Gesichtszügen, der eine im Vergleich einfache Uniform trug, kam zum Vorschein. „Dieses Foto ist deshalb einzigartig, weil es eigentlich gar nicht existieren dürfte: der Pantokrat ohne Ornat und Maske. Grandarol, in einer Zeit der Wirren mit exakt vierzehn Jahren als Marionette einflußreicher Strippenzieher auf den Thron gekommen. Schon als junger Mann gelang es ihm jedoch, sich diese vom Hals zu halten und seine Machtposition zu festigen. Mittlerweile ist er fast sechsundneunzig. Er gilt als machtbewußt und gerissen, hält nach wie vor alle Zügel fest in der Hand und erfreut sich einer für sein hohes Alter außergewöhnlichen Agilität und Gesundheit. Das Foto zeigt ihn im Alter von zweiundneunzig.“

Ohne diese Information hätte es Atingo freilich auch für möglich gehalten, einen Endsechziger vor sich zu haben. Die Konstitution des Pantokraten war in der Tat bemerkenswert.

„Grandarol hat fünfmal geheiratet. Im Unterschied zu seinen Untertanen ist ihm die Mehrehe erlaubt; zwei seiner Ehefrauen hat er allerdings bereits überlebt. Erbberechtigt sind die offiziell anerkannten Söhne des Königs aus diesen Verbindungen, die Erbprinzen. Davon gibt es elf an der Zahl, im Alter zwischen siebenundzwanzig und dreiundsiebzig. Einen Kronprinzen hat der König gleichwohl nicht ernannt. Man vermutet, daß er dadurch vorzeitigen Begehrlichkeiten auf seinen Thron einen Riegel vorschieben will. Wahrscheinlich hat er eine testamentarische Verfügung getroffen. Der älteste Sohn Grandarols und damit sein protokollarischer Stellvertreter ist Erbprinz Ensir.“ Ein teigiges Gesicht mit müden Augen, das älter wirkte als das seines Vaters. „Grandarol hält ihn für unfähig. Ensir weiß das und hat innerlich resigniert, da ihm klar ist, daß er – auch aufgrund seines eigenen Alters – für die Nachfolge nicht in Frage kommt.“

Ein neues Bild zeigte den König – diesmal wieder im Ornat des Pantokraten – in einem thronartigen Stuhl sitzend vor einer vielköpfigen Menschenmenge.

„Der königliche Hofstaat. Neben den bereits genannten Personen gehören ihm weitere Nachkommen und Verwandte Grandarols an, dazu eine Reihe adoptierter ‚Prinzen’; dabei handelt es sich teils um Vertreter der anderen Adelshäuser, teils um legitimierte ‚Bastarde’, Sprößlinge des Königs aus außerehelichen Beziehungen also. Komplettiert wird die illustre Runde durch Abgesandte und Würdenträger aller Art. Die Ämterfülle am Hof des Pantokraten...“ Der Assistent zögerte einen Moment. „...ist ausschweifend. Aber das hat wenig zu bedeuten. Die meisten Titel sind nur schmückendes Blendwerk, mit dem keine Kompetenzen verbunden sind.“

Das Portrait eines Mannes, der – unbefangen betrachtet – vom selben Alter wie der Pantokrat hätte sein können. Kantige Züge, buschige Augenbrauen und ein durchdringender Blick.

„Eine Ausnahme von dieser Regel stellt Fürst Aifenshelt dar. Der König hat ihm gleich drei seiner wichtigsten Hofämter verliehen: Erster Seneschall, Oberster Hofmeister und Generalkommandant der Palastwache. Gut zwanzig Jahre jünger als Grandarol, ist er dessen einziger Vertrauter am Hof, den er – anders als seine Söhne – bei allen wichtigen Entscheidungen einbezieht.“

Eine junge Frau mit üppigen schwarzen Haaren, deren anmutige Schönheit auch den für diese Reize wenig aufgeschlossenen Turango nicht verborgen blieb.

„Erwähnenswert ist noch Numitin, offenbar die Lieblingsenkelin Grandarols. Dadurch erfreut sie sich gewisser Privilegien. Ansonsten sind Frauen am Hof des Königs lediglich Staffage und bekleiden keine verantwortungsvollen Positionen.“

Ein opulent verziertes Objekt erschien auf dem Bildschirm, dessen Dimensionen ohne einen Vergleichsmaßstab schwer einzuschätzen waren. Lediglich die Vielzahl der Stufen, die zu einem Sitz am höchsten Punkt empor führten, ließ einen Rückschluß auf die enorme Größe zu.

„Zentrales Machtsymbol des Pantokraten ist der Kometenthron. Er steht im Mittelpunkt des alljährlichen Thronbesteigungsfestes und ist von allerlei Legenden umwoben. Angeblich geht er auf Apsul persönlich zurück. Diese Behauptung ist kaum zu verifizieren.“

Der Assistent strich sich erneut über seine Haare, die ihm bis auf den Kragen seiner Camouflage-Uniform herabfielen, offenbar eine kleine Macke von ihm. Hinter ihm war nun ein repräsentatives Bauwerk zu sehen, dessen Fassade mit Figuren unterschiedlichsten Aussehens übersät war. Atingos erste Assoziation: ein Tempel! Er sollte sich nicht getäuscht haben.

„Zum Abschluß: die Religion. Sie wird im Reich des Pantokraten in erster Linie als pompöser Staatskult inszeniert, der die Massen beeindrucken soll. Die Verehrung des Allerhöchsten ist unbekannt. Stattdessen werden unzählige Numina angerufen, die den gebildeteren Gläubigen jedoch als ‚Larven des Einen’ gelten.“

Zwei Männer in wallenden Umhängen aus roten und gelben Stoffahnen, auf dem anscheinend kahlgeschorenen Kopf eine Art Turban in denselben Farben.

„Besondere Beachtung verdienen die rätselhaften Orakelpriester von Chistor. Sie bilden das Reichsorakel, das angeblich nur alle hundert Jahre eine Prophezeiung von sich gibt, dafür aber noch niemals geirrt haben soll. Da Grandarol seit beinahe zweiundachtzig Jahren auf dem Kometenthron sitzt, dürfte es wahrscheinlich sein, daß auch er eine solche Prophezeiung erhalten hat.“

Der Assistent räusperte sich. „Ich danke für Eure Aufmerksamkeit.“

Der Leiter des diplomatischen Dienstes übernahm wieder und wandte sich direkt an Atingo und Pasodan. „Soweit unsere erste Präsentation. Habt ihr irgendwelche Fragen?“

Atingo hatte einen spontanen Einfall. „Wie gestaltet sich im Reich Grandarols eigentlich der Umgang mit Homosexualität?“

„Nun, am Hof des Pantokraten und beim Adel gilt homosexuelles Verhalten als unschicklich und nicht standesgemäß. Es tritt daher nicht in Erscheinung. Über das Leben der einfachen Schwulen und Lesben ist wenig bekannt. Dem Vernehmen nach gibt es auf Massat und den anderen Stammeswelten eine umfangreiche Szene im Untergrund. Wer sich öffentlich zu seiner Sexualität bekennt, riskiert freilich Benachteiligungen. Gelegentlich kommt es zu Schikane und Drangsalierungen durch örtliche Ordnungskräfte, doch scheint kein systematisches Vorgehen dahinterzustecken.“

„Laß uns einmal das geplante Zeremoniell durchgehen“, schlug Pasodan vor. „Das schlägt mir am meisten auf den Magen. Zunächst unsere Ankunft.“

Der Leiter nickte. „Selbstverständlich. Ihr landet auf einem militärischen Stützpunkt unweit der Hauptstadt, in einem speziell abgeschirmten Bereich...“

Massat:

Erster Tag: Die Nachkommen Apsuls

Die Gangway dockte direkt am Landeboot an. Vor dem geöffneten Schott erwartete sie eine Abteilung Soldaten in Paradeuniform, die zackig grüßten. Der Offizier machte eine Meldung.

„Erste Staffel der Palastwache zur Begrüßung des Prätendenten des Elften Regnums und seiner Delegation angetreten! Die Erste Staffel der Palastwache hat die Ehre, dem Prätendenten und seiner Delegation Geleit zu geben. Achtung und Abmarsch!“

Die Soldaten, der Offizier an der Spitze, setzten sich im Gleichschritt in Bewegung. Atingo und Pasodan warfen einander mit hochgezogenen Augenbrauen Blicke zu. „Na, dann folgen wir mal lieber“, bemerkte der Regens launig.

Nach einer ganzen Weile weitete sich die Gangway auf eine große, mindestens doppelt mannshohe Flügeltür zu, die weit offen stand. Dahinter befand sich ein Raum unbestimmter Größe, in den offensichtlich das Tageslicht einfiel. Die Soldaten nahmen links und rechts Aufstellung. Der Offizier ging weiter, salutierte erneut und schnarrte: „Auftrag ausgeführt. Die Erste Staffel der Palastwache hat den Prätendenten und seine Delegation an ihren Bestimmungsort geleitet. Ich melde die Staffel ab.“ Anschließend blieb er stocksteif stehen und schwieg.

Atingo war irritiert. In der riesigen Weite des Raumes, der sich vor ihnen auftat, war außer ihnen keine Menschenseele anwesend. Pasodan zog die Stirn kraus. Die Delegation hinter ihnen wurde unruhig.

„Was soll das?“ flüsterte Pasodan. „Wo ist das Empfangskomitee?“

„Ich kann den Pantokraten auch nirgendwo entdecken“, versuchte Atingo zu witzeln.

Pasodan war nicht zu Scherzen aufgelegt. „Wer sollte uns hier nochmal willkommen heißen? War das nicht dieser Fürst Aifenshelt?“

Ein hagerer Kerl aus der diplomatischen Delegation schob sich nach vorn. „Dafür ist Erbprinz Ensir vorgesehen, Turango“, korrigierte er.

„Ensir? Dieser aufgequollene Nichtsnutz?“

Atingo fand es unpassend, in der Gegenwart des Offiziers derartige Bemerkungen zu machen, aber er ließ es sich nicht anmerken. „Protokollarisch ist er immerhin die Nummer zwei im Reich“, merkte er an.

„Und jetzt? Wo sind wir hier überhaupt?“

Atingo sah sich zum ersten Mal seit ihrer Ankunft gründlich um. Der gewaltige Saal, in dem sie gelandet waren, hatte locker die Grundfläche eines mittleren Sportfelds. Der Fußboden bestand aus schwarzen und weißen Platten, die ein Schachbrettmuster bildeten und von denen jede einzelne etwa zwei Meter im Quadrat maß. Die lichte Höhe war nur schwer abzuschätzen, lag aber sicherlich bei zwanzig Metern. Am beeindruckendsten war jedoch die Wand zu ihrer Linken, die vollständig in Fenster aufgelöst war, die sich im oberen Bereich zu gegliederten Rundbögen schlossen.

Dahinter tat sich eine phänomenale Aussicht auf, die von keinerlei militärischen Anlagen oder Befestigungen verschandelt war. Eine unberührte Landschaft lag unter einem leichten Dunst, in den die Sonne schien. Schroffe, kahle Felsspitzen ragten empor, und dazwischen breitete sich ein erstaunlich flaches, spärlich begrüntes Tal, durch das sich ein Wasserlauf zog und auf das sie von ihrer Position herabsahen.

Atingo und Pasodan traten an eines der Fenster heran, blieben unmittelbar vor der Scheibe stehen und genossen den traumhaften Ausblick. Einige der Diplomaten folgten ihnen. Plötzlich ging ein Ruck durch Pasodan. „Wozu ist das alles gut?“ Er verschränkte die Arme. „Diese riesige Halle – ist das ein Terminal für Giganten oder wollen sie uns damit nur unsere Kleinheit demonstrieren?“

Atingo ließ noch einmal die Tiefe des Raumes auf sich wirken. Die große Höhe und die Gestaltung der Fensterfront verliehen ihm einen geradezu sakralen Charakter. Die völlige Leere erschien ihm dagegen sinnlos und auch ein klein wenig unheimlich. „Ich weiß es nicht“, gestand er mit gedämpfter Stimme. „Wo ist nur dieser Ensir? Ist er am Ende zu dämlich, um einen Staatsbesuch pünktlich zu empfangen?“

„Vielleicht ist das eine diplomatische Verspätung“, spekulierte Pasodan. „Sie lassen uns zappeln, um unsere Reaktionen zu testen.“

„Und wenn wir ihn da ansprechen?“ Atingo ruckte mit dem Kopf in Richtung des Offiziers, der immer noch regungslos an seinem alten Standort verharrte.

„Zwecklos“, urteilte der Prätendent. „Er hat seine Befehle ausgeführt, und von uns wird er ganz gewiß keine neuen annehmen.“

Nachdem einige weitere Minuten ereignislos verstrichen waren, versammelten Pasodan und Atingo ihre Delegation in der ungefähren Mitte der Halle, um Kriegsrat zu halten. Noch bevor der Regens die Diskussion eröffnen könnte, erklang ein leiser Gong, und in der Wand, die jener gegenüberlag, durch die sie selbst die Halle betreten hatten, öffnete sich automatisch eine große Schiebetür. Eine Gruppe von sechs oder sieben Personen erschien in der Öffnung und hielt gemessenen Schrittes, ohne jede Eile auf die Besucher zu. Endlich! In einer Entfernung von etwa drei Schritten blieben die Neuankömmlinge stehen. Atingo nahm innerlich Haltung an.

„Das Erlauchte Haus begrüßt Sie auf Massat, Exzellenz.“

Erbprinz Ensir versuchte, seiner verbrauchten Stimme einen blasierten Klang zu verleihen, doch angesichts der gesamten Erscheinung, die er bot, war dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt. Aus Augen, die auch ohne die hängenden Tränensäcke müde gewirkt hätten, blickte er Pasodan an. Sein Gesicht war von einer ungesund grauen Hautfarbe und genauso verlebt wie auf dem Foto, das Atingo bereits von ihm gesehen hatte; der schwammige Körper wurde von einer goldbetreßten Uniform zusammengehalten, über der er einen safrangelben Umhang trug. Auf seinem Schädel thronte ein gewöhnungsbedürftiger Kopfputz, eine Art Spitzhelm, aus dem ein Büschel dunkler Borsten entsprang. Zu den Seiten lugten dünne Strähnen des weißen Haares hervor.

„Ihr Gruß ehrt mich, Hoheit“, erwiderte Pasodan formell, wobei ihm das letzte Wort spürbar schwer über die Lippen kam; er lenkte Ensirs Aufmerksamkeit auf Atingo. „Ich freue mich, Ihnen Atingo Turango vorstellen zu können, den Sprecher des Konvents aller Turango.“

Atingo Turango. Wahrscheinlich war er selbst der einzige, der nach all den Jahren noch immer an dem unfreiwilligen Reim seines Namens Anstoß nahm. Bis heute hatte er sich nicht daran gewöhnen können. Nach wie vor klang es ungewollt komisch in seinen Ohren.

„Mein Gruß gilt auch Ihnen, Sprecher“, leierte der Erbprinz und nickte schwach. „Willkommen auf Massat.“

„Ich danke Ihnen, Hoheit“, quittierte Atingo sachlich und musterte ein wenig ungläubig das bunt kostümierte Gefolge des Pantokratensohnes. Angehörige der königlichen Garde in ihren historischen Uniformen, erinnerte sich Atingo an eine der zahlreichen Präsentationen des diplomatischen Dienstes im Vorfeld ihres Besuches.

„Ich bin untröstlich, daß ich Sie nicht pünktlich empfangen konnte“, beteuerte Ensir unterdessen, „aber Sie sind ein wenig eher angekommen, als das Protokoll es vorsah.“

Ach, dachte Atingo verärgert, jetzt sind wir an dieser mißratenen Begrüßung also selber schuld? So dilettantisch konnte das Reich des Pantokraten unmöglich organisiert sein, daß man eine verfrühte Ankunft von vielleicht einer Viertelstunde nicht hätte abfangen können. Also wahrscheinlich doch eine „diplomatische“ Verspätung, die sich wohl kaum Ensirs eigener Initiative verdankte! Dieser Auftakt ihrer Visite schmeckte Atingo nicht.

In diesem Augenblick kam ihm erst so recht der groteske Gegensatz zwischen dem operettenhaften Aufzug ihrer Gastgeber und ihrem eigenen Erscheinungsbild zu Bewußtsein. Wie immer trugen sie die schlichte Camouflage-Uniform der Turango, die an die militärischen Wurzeln der Gemeinschaft erinnerte: die hüftlange Jacke samt Cargo-Hose in dezenten Sand- und Ockerfarben und darunter den weißen Pullover mit engem Halsausschnitt und dem achtfarbigen Regenbogen über der Brust – ohne überflüssige Versatzstücke, ohne Rangabzeichen. Vom jüngsten Anwärter bis hinauf zu Sprecher und Regens kleidete alle Turango ein und dieselbe Uniform, Symbol der prinzipiellen Gleichheit aller, die dem Bund angehörten. Der fundamentale Unterschied zwischen Phoenix und Turm, zwischen Massat und Saredjan nahm darin geradezu Gestalt an.

Bevor das plötzlich entstandene Schweigen peinlich zu werden begann, zog Ensir wieder das Wort an sich. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Der Sonderzug wird uns direkt in den königlichen Palast bringen.“

Der Sonderzug war ein mit allem denkbaren Komfort ausgestattetes Luxusfahrzeug. Die Verkehrsführung verlief unterirdisch und endete in einer Station direkt unter dem Palast. Atingo entsann sich an die Gerüchte über paranoid anmutende Sicherheitsvorkehrungen, mit denen der Palast und seine Bewohner von der Außenwelt abgeschirmt wurden. Selbst der diplomatische Dienst hatte nichts Genaues darüber herausgefunden. Wahrscheinlich wurden sie in jeder einzelnen Minute unablässig gescannt, durchleuchtet und von unsichtbaren Kameras überwacht.

Ein Fahrstuhl brachte sie in ein reich geschmücktes Foyer, dessen Kuppeldecke ornamental bemalt war. Draußen wartete ein Wagen mit verdunkelten Scheiben, der Ensir, Atingo und Pasodan aufnahm. Die Soldaten der Garde blieben zurück, die Diplomaten wurden direkt zu ihren Unterkünften geleitet.

„Der Ehrwürdige Vater geruht, Sie im Großen Thronsaal zu empfangen“, gab der Erbprinz bekannt. „Er möchte Ihnen den Kometenthron zeigen.“

„Von dem haben wir bereits eine Menge gehört“, deutete Pasodan an, doch Ensir ging nicht auf seine Äußerung ein und kramte stattdessen einige Pastillen aus einer Uniformtasche, um diese kommentarlos herunterzuschlucken. Schweigend legten sie den Rest des Weges zurück. Der Fahrer hielt unmittelbar vor einer Freitreppe, die zu einem säulenbewehrten Portal hinaufführte, hinter dem sich ein riesiges Gebäude verbarg.

„Ich verabschiede mich an dieser Stelle“, gab Ensir bekannt. „Das Erlauchte Haus wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.“ Es war nur zu offensichtlich, daß er froh war, seine Pflicht ohne weitere Komplikationen erfüllt zu haben.

Schon wurden die Türen des Wagens aufgerissen, wieder salutierten Soldaten und gingen ihnen voran in ein prachtvolles Vestibül. Rechts und links neben einer offenstehenden Pforte nahm die Eskorte Aufstellung. Atingo und Pasodan schritten hindurch in einen übersichtlichen, mit Marmor getäfelten Saal. Die Türen fielen leise hinter ihnen ins Schloß.

Da stand er: Grandarol, Sohn Apsuls, König der beiden Welten und Pantokrat, die Haltung aufrecht, der Blick forschend, die grauen Haare kaum gelichtet, das Gesicht von nur wenigen Falten durchzogen, ein kaum merkliches Lächeln auf den Lippen; sechsundneunzig Jahre alt und seit zweiundachtzig Jahren Inhaber des Kometenthrons.