Die Gebote des Ordens - Jan-Michael Dettmer - E-Book

Die Gebote des Ordens E-Book

Jan-Michael Dettmer

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Beschreibung

Kalusherian steht im Dienst des Ordens, der mächtigsten Organisation seiner Zeit. Im Rang eines Legaten bereist er abgelegene Siedlungswelten, um deren Bewohner geistlich zu betreuen, an seiner Seite ein junger Adept, den er alljährlich neu bestimmt. Die Begegnung mit Lartis, einem dieser Adepten, verändert Kalusherians in Routine erstarrtes Leben, das von den Geboten des Ordens bestimmt wird, und setzt ihn seiner verdrängten Vergangenheit aus. Zwanzig Jahre nach einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen der „Koalition“, dem Reich der Menschen, und dem Volk der Tessavalen: Kalusherian und Lartis, sein attraktiver junger Begleiter, besuchen Tanshor, eine nahezu entvölkerte Welt, deren Geschick sie vor ein Rätsel stellt und die sich schließlich als Heimat des Legaten entpuppt. In den einsamen Bergwäldern des Nordens treffen die beiden auf die sagenumwobenen Belionen. Anders als seine Zeitgenossen versteht Lartis die „Sprache“ dieser vorgeblich stummen Wesen, die ihm das mysteriöse Schicksal der verschwundenen Einwohner Tanshors enthüllen. Gut zwei Jahre später: Lartis ist ebenfalls dem Orden beigetreten und trifft Kalusherian auf dem Konzil, einer Vollversammlung des Ordens, wieder. Er erreicht, daß der Legat seinen Freund Sastomir, ein Findelkind, zum Adepten wählt. Gemeinsam suchen sie die geheimnisumwitterte Welt Pashit auf, wo Kalusherian überraschend seinem alten Jugendfreund Zaridna begegnet, der auch Sastomir auf verblüffende Weise verbunden ist. Die Frage nach der wahren Herkunft Sastomirs konfrontiert die Beteiligten erneut mit der Geschichte der Belionen, aber auch mit den Hintergründen des Krieges gegen die Tessavalen und des Friedens von Aljonúr, der diesen beendet hat. Kalusherian, mittlerweile zum Präfekten berufen, und Lartis geben einander Einblick in bislang verschwiegene Kapitel ihrer Vergangenheit und lernen sich dadurch besser zu verstehen. Währenddessen entdeckt Kalusherian merkwürdige Verbindungen zu den Osorginen, den legendären Vorvätern der Menschheit. Er setzt Lartis auf diese Spur, der auf unterdrückte Informationen über die osorginische Gesellschaft und deren wichtigsten Repräsentanten, den „Sonnensohn“, stößt. Kalusherian und seine Gefährten werden in einen Strudel uralter Geheimnisse gezogen. Erst nach einer abenteuerlichen Exkursion in die osorginische Vorzeit entwirren sich alle Fäden, und Kalusherian kann mit seinem verschlungenen Lebensweg Frieden schließen.

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Inhalt

Vorwort

Erster Teil: Die Sprache der Belionen

Die Weihe

Der Adept

Der Auftrag

Der Legat

Die Belionen

Zweiter Teil: Der Frieden von Aljonúr

Das Konzil

Das Findelkind

Der Ruf

Der Freund

Die Tessavalen

Dritter Teil: Das Haus des Sonnensohnes

Das Kolleg

Der Eparch

Die Wahl

Der Neffe

Die Osorginen

Anhang

Vorwort

In einer fernen Zukunft hat sich die Menschheit in den Weiten des Weltalls zerstreut. Ihre Herkunft von der Erde ist längst vergessen.

Kalusherian steht als Legat im Dienst des Ordens, der mächtigsten Organisation seiner Zeit. Alljährlich wählt er einen neuen Adepten und besucht mit ihm abgelegene Siedlungswelten, um deren Bewohner geistlich zu betreuen. Die Beziehung Kalusherians zu seinen Adepten ist nicht frei von Begehrlichkeiten. Doch wie alle Angehörigen des Ordens hat er ein Enthaltsamkeitsgelübde abgelegt...

„Ich gelobe, Gott, dem Unsichtbaren, und seinen Geboten zu gehorchen, als sähe ich ihn. Dazu unterwerfe ich mich den Regeln des Ordens, Gottes sichtbarem Leib.

Ich gelobe, meinen Körper in Zucht zu nehmen. Dazu entsage ich um meiner Berufung willen dem Vollzug aller fleischlichen Begierden.

Ich gelobe, den rechten Glauben zu verteidigen und dem Orden treu zu dienen. Dazu verzichte ich auf die Wahrnehmung aller persönlichen Vorteile und Interessen, die nicht mit meinem Dienst in Einklang stehen, und übe mich in Barmherzigkeit, Demut und Lauterkeit.“

(Ewige Profeß, zu leisten bei der lebenslangen Berufung in ein Amt des Ordens)

Erster Teil

Die Sprache der Belionen

1. Die Weihe

Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goß Öl oben darauf.

(Genesis 28,18)

LELEGUN

„Höret des Herrn Wort und verkündet’s fern auf den Inseln: Die Inseln harren auf mich und warten auf meinen Arm. Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merket auf! Ich will ein Zeichen aufrichten und zu den Völkern senden, nach Tarsis, nach Put und Lud, nach Meschech und Rosch, nach Tubal und Jawan und zu den fernen Inseln, wo man nicht von mir gehört hat und die meine Herrlichkeit nicht gesehen haben.“1

Der Adept schlug das Buch zu, und der Legat trat an den verhüllten Altar heran. Mit feierlicher Geste zog er das Tuch zur Seite.

„Möge dieser Altar ein Zeichen sein und euch des Herrn Herrlichkeit verkünden! Gesegnet seien dieses Haus und die hier ein- und ausgehen!“

Nach der Weihe sammelte sich die Menge um den Legaten und seinen Adepten.

„Wir sind ja so froh, daß Sie hier sind“, beteuerte eine Frau, „daß uns endlich ein Legat hier auf Lelegun besucht hat. So lange hatten die Stämme kein Heiligtum mehr, zu dem sie ziehen konnten!“

„Ja, seit dem Krieg“, fiel eine andere ein. „Seit dem Krieg und dem großen Erdbeben, das kurz danach war.“

„Dies ist ein großer Tag für diesen Planeten und für alle Stämme“, krächzte ein alter Mann mit sonnengegerbtem Gesicht.

„Ja, ein großer Tag, den wir nie vergessen werden.“ Das war wieder die erste Frau. „Und so einen netten Adepten haben Sie mitgebracht.“

Der Adept nahm dem Legaten das verzierte Zeremonialgewand ab und legte es sich über den Arm. „Waren Sie mit mir zufrieden, Frado Kalusherian?“ erkundigte er sich.

Der Angesprochene wandte sich dem Adepten zu, und ein Lächeln glitt über sein Gesicht. „Du hast deine Sache ausgezeichnet gemacht, Lartis“, lobte er ihn. „Ich bin sehr zufrieden.“

Der Adept schlug kurz die Augen nieder, bevor er zu einer neuen Äußerung ansetzte: „Darf ich eine Frage zum Ritual stellen?“

„Aber sicher“, gewährte Kalusherian ihm die Bitte.

„Diese Stelle mit den ‚Inseln’ und diesen merkwürdigen Namen. Was hat das zu bedeuten?“

Der Legat nickte. „Du meinst den Weihespruch. Das ist eigentlich ganz einfach. Die fernen Inseln, das sind natürlich die Planeten, zu denen wir gesandt sind. Bei den Namen ist es ein wenig schwieriger, weil der Text außerordentlich alt ist. Meschech ist sicherlich Massach – du weißt, der Planet der Stürme. Bei Tubal handelt es sich um Duballu, ein heute unbedeutender Planet jenseits des Gelben Nebels. Lud ist der alte Name für Saofinn, und Rosch ist wohl identisch mit Batarosh, der vormaligen Residenz der Großen zu Arbu. Bei den übrigen Namen ist die Sache ziemlich umstritten.“

„Sie kennen sich gut aus in der Schrift, Frado“, bemerkte der Adept.

„Das gehört schließlich zu meinem Beruf“, spielte Kalusherian das Kompliment herunter. „Und was den Ehrentitel betrifft: Ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich keinen Wert darauf lege.“

Der Adept blickte den Legaten einen Moment länger als üblich an, bis er leise erwiderte: „Ich vergaß, Kalusherian.“

Der Legat winkte ab. „Laß uns gehen!“ forderte er. „Die Stammesältesten warten zum Empfang auf uns.“

Lelegun war ein Wüstenplanet, der nur dünn von einigen Sippen nomadisch lebender Viehzüchter besiedelt war. Während des Krieges war der Kontakt zur Außenwelt völlig abgerissen. Kurz nach dem Frieden von Aljonúr war das Heiligtum der Wüstenbewohner durch ein Beben in Schutt und Asche gelegt worden. Das alles war nun fast schon eine ganze Generation lang her. Kein Legat hatte seitdem den Weg hierher gefunden, um ein neues Gotteshaus zu weihen. So war die Freude der frommen Nomaden verständlich, endlich ihren geweihten Kultplatz wiedergewonnen zu haben. Der religiösen Feier schloß sich folgerichtig ein ausgelassenes Fest an, zu dem die Leleguner eigens eine kleine Zeltstadt im Bezirk des neuen Heiligtums errichtet hatten.

Applaus und Freudenrufe erklangen, als der Legat und sein Adept die Zeltstadt betraten. Die Stammesältesten selbst begrüßten die beiden mit ritueller Umarmung und kümmerten sich persönlich um ihr leibliches Wohlergehen. Nach einer Weile entließ der Legat seinen Adepten und zog sich mit den Ältesten zur Beratung zurück.

Erneut wurden Getränke gereicht, und die Versammlung ließ sich auf den bereit gelegten Polstern nieder.

„Wie lange werden Sie auf Lelegun verweilen, Frado?“ eröffnete einer der Ältesten, ein würdiger Weißhaariger, der mit einer schweren dunklen Robe angetan war, das Gespräch.

Der Legat räusperte sich. „Das Schiff der Tessavalen wartet in der Umlaufbahn“, erklärte Kalusherian, „und meine Mission umfaßt natürlich etliche Stationen. Aber einige Tage Zeit habe ich für Lelegun noch zur Verfügung.“

Die Ältesten nickten zufrieden. „Wir haben eine Bitte, Frado“, wandte sich ein anderer an den Legaten. Sein hagerer Körper wurde von einem weiten grau-weiß gemusterten Umhang verhüllt. „Seit vielen Jahren hat es in den Weidegründen der Stämme nicht ausreichend geregnet. Die Herden sind ausgezehrt, und wir leiden Mangel. Unser aller Wunsch ist es, daß der Frado für uns die Große Regenliturgie liest.“

„Der Tag der tiefen Sonne wäre gewiß besonders geeignet“, fiel der Weißhaarige ein. „Übermorgen ist es soweit.“

*

Die Regenliturgie fand nicht im Heiligtum statt, sondern wurde mitten in der Wüste unter dem freien Himmel gelesen. Es war ein wunderschöner, uralter Text, der mit mystischen Formeln den Schöpfer der Elemente anrief, welcher seine Geschöpfe nicht im Stich ließ, sondern sie vom Verderben bewahrte und sie mit dem nährte, was sie zum Leben benötigten. Im Licht der schwindenden Abendsonne vollzogen der Legat und sein Adept die Zeremonie, und mit ihrem Untergang verklangen die feierlichen Worte des Legaten und die getragenen Gesänge der Nomaden, die ihn in weitem Kreis umgaben.

Kalusherian und Lartis begaben sich zu ihrem Zelt, während sich die Menge zerstreute.

„Das war eine sehr schöne Liturgie“, gab der Adept ein Urteil ab. „Haben Sie dieses Gebet schon häufiger gelesen?“

Der Legat seufzte. „Leider nicht“, bekannte er. „Eine Situation wie auf diesem Planeten ist relativ selten. Von daher ergibt sich die Gelegenheit nicht so oft.“

„Und wird es nun regnen auf Lelegun?“ wollte der Adept wissen.

Kalusherian sah den jungen Mann neben sich an. „Weißt du, Lartis, eine Liturgie besitzt keine magische Wirkung. Ihr Hauptzweck besteht darin, den Menschen neue Hoffnung zu geben. Die Leleguner sind in einer kritischen Lage. Die Liturgie hat ihnen geholfen, Vertrauen zu fassen, daß sie nicht verloren sind und bessere Zeiten kommen werden.“

Der Adept zögerte nur einen Augenblick lang. „Aber wenn es nun nicht regnen wird“, bestand er auf seinen Bedenken. „Wird sich diese Hoffnung dann nicht ins Gegenteil verkehren?“

Der Legat beschloß, die Diskussion zu beenden. „Es hat ihre Zuversicht gestärkt“, wiederholte er. „Etwas anderes zählt im Moment nicht.“

Die Abende, an denen die Hitze des Tages der wohltuenden Kühle der Wüstennacht wich, waren lang auf Lelegun. Lartis hatte bei dem Fest, das sich der Weihe angeschlossen hatte, Kontakt zu einigen Einheimischen seines Alters gefunden und sich auch nun wieder zu ihnen ins Zelt begeben. Die anfängliche Aufregung, die sich an der Person des Legaten entzündet hatte, war mittlerweile ein wenig abgeflaut, und da der Legat nichts Besseres zu tun hatte, beschloß er, nach seinem Adepten zu sehen. Wie erwartet, stöberte er Lartis in der Gesellschaft von acht oder neun jungen Lelegunern auf, die in relativ ausgelassener Stimmung mit einem Kartenspiel beschäftigt waren. Sein Erscheinen löste ein großes Hallo aus.

„Der Legat!“

„Hoher Besuch!“

„Ehre im Zelt!“

„Frado, Sie bei uns?“

Kalusherian lächelte nachsichtig und ließ sich in der Runde der Anwesenden nieder.

„Wollen Sie mitspielen, Frado?“ sprach einer der Jungen übermütig den Legaten an.

Kalusherian betrachtete die unterschiedlich gefärbten Karten in den Händen der Spieler.

„Keine Angst!“ warf ein anderer ein. „Es ist kein Glücksspiel.“

„Nur ein harmloser Zeitvertreib“, ergänzte Lartis, neben dem der Legat Platz genommen hatte. „Ein wenig Selbsterfahrung, ein wenig Kommunikation, eine Prise Psychologie...“

„Also gut“, willigte Kalusherian ein. „Wer erklärt mir die Regeln?“

Wieder waren die jungen Einheimischen mit Feuereifer bei der Sache.

„Regeln? Regeln gibt es eigentlich gar keine.“

„Viel wichtiger ist die Bedeutung der Farben.“

„Jolu, erklär du es ihm!“

Der Angesprochene, ein eher rundlicher junger Kerl mit vollem Mondgesicht, hatte bereits die Karten vor sich ausgebreitet. „Es gibt fünf Farben“, setzte er ein, und sofort war alles wieder ruhig. „Die erste Farbe ist blau, die Farbe des Himmels und der Unendlichkeit.“ Er nahm die entsprechende Karte in die Hand und präsentierte sie Kalusherian. „Dann gelb: die Farbe der Sonne. Sie steht für Licht und Wahrheit. Braun: die Farbe der Erde, der Wüste und der Herkunft des Menschen.“ Gebannt lauschten alle Jolus Worten. „Rot“, fuhr er fort, „die Farbe des Blutes und des Feuers. Sie steht für Leben und Kampf. Und schließlich grün, die Farbe des Krautes, des Wachstums und der Fruchtbarkeit.“ Er schob die vor sich liegenden Karten zusammen. „Entscheidend sind die Kombinationen, die jeder Mitspieler erhält. Sinn des Spieles ist es, diese Kombinationen zu interpretieren, Karten auszutauschen und diese dann neu zu deuten. Es gibt keine Gewinner oder Verlierer.“ Jolu wies mit der Rechten auf eine Art Kartenschlitten. „Von jeder Karte gibt es fünf mal fünf Karten, also insgesamt 125 und...“ Er zögerte kurz. „Aber das lassen wir erstmal. Die Karten werden gemischt und dann blind gezogen, fünf für jeden. Auf geht’s!“

Die jungen Leute und der Legat fingerten der Reihe nach fünf Karten aus dem Schlitten, der zuvor mit einem Tuch verdeckt worden war. Erste spontane Kommentare kamen auf, als die Spieler ihre Farben begutachteten. Auch Kalusherian musterte die Karten, die er gezogen hatte: zweimal rot, zweimal blau, aber die fünfte Karte... Was war das nur für eine Farbe? Sollte das vielleicht braun sein? Es sah jedoch mehr aus wie grau. Kalusherian suchte Rat bei Jolu. „Was ist das für eine Farbe?“ fragte er und hielt die undefinierbare Karte in die Höhe. „Ist das braun?“

Von einer Sekunde zur anderen fiel ein betretenes Schweigen auf die Mitspieler. Die meisten sahen verlegen zu Boden. Jolus Mondgesicht war rot angelaufen, und er wand sich unter Kalusherians forschenden Blicken wie eine Schlange. „Das... Das ist die... die graue Karte“, stotterte er schließlich. „Davon ist nur eine einzige im Spiel. Grau... Grau ist die Farbe des Todes, aber das ist nicht wörtlich zu nehmen. Sie steht für Abschied und Vergänglichkeit.“

Kalusherian starrte auf die graue Karte in seinen Fingern. Natürlich, dachte er grimmig, 126 Karten sind im Spiel, darunter eine einzige Unglückskarte, und genau diese hatte er mit sicherem Instinkt an sich genommen.

Jolu warf seine Karten vor sich, und die meisten anderen folgten seinem Beispiel. „Es war wohl doch keine so gute Idee“, kommentierte er geknickt. „Man sollte es lieber erst alleine üben.“

Der Legat nahm die ominöse Karte und schob sie wortlos zurück zu den anderen. „Schon gut“, beschwichtigte er die Runde. „Das war ja nicht eure Schuld.“ Die Stimmung freilich war dahin. Der Legat nickte seinem Adepten zu. „Es ist schon spät“, stellte er fest. „Wir sollten jetzt lieber gehen.“

Diese Nacht war anders als die vorangegangenen. Die erhoffte Abkühlung war weitgehend ausgeblieben. Die Luft lastete schwer und drückend auf der Wüste, und im Zelt, das man Kalusherian und Lartis zur Verfügung gestellt hatte, erschien es dem Legaten noch dumpfer und stickiger als draußen. Er kämpfte gegen das Gefühl an, nicht mehr richtig durchatmen zu können.

Aus den Augenwinkeln beobachtete Kalusherian, der sich auf seinem Lager ausgestreckt hatte, wie Lartis die Bekleidung ablegte und seinen athletischen Körper entblößte. Er verfolgte das Spiel der Muskeln unter seiner glatten, nackten Haut. Der Legat zwang sich dazu, sich von diesem Anblick abzuwenden. Es war schon so schwierig genug, in einer Nacht wie dieser Schlaf zu finden. Und als dieser sich endlich einzustellen begann, war er flach und von seltsamen Traumbildern durchzogen.

Irgendwann in der Nacht lag Kalusherian wieder zerschlagen auf seinem Bett und wußte nicht recht, ob er träumte oder wachte. Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß sich etwas verändert hatte, war jedoch nicht in der Lage zu benennen, worum es sich handelte. Der Legat war müde, aber an Schlaf war trotzdem nicht zu denken. Sein Bewußtsein kämpfte sich an die Oberfläche. Da war ein Geräusch... oder eher eine monotone Geräuschkulisse, eine Art Trommeln...

Und da durchzuckte Kalusherian der Blitz der Erkenntnis: Es regnete! Regen trommelte auf das Zeltdach. Mit einem Mal war der Legat hellwach. Er stand auf, schlug den Vorhang im Eingang des Zeltes zur Seite und äugte hinaus in die Finsternis. Man ahnte eher etwas, als daß man es sah. Der Regen prasselte auf den glühenden, dürstenden Wüstenboden, der das Wasser gierig in sich aufsaugte. Die Luft war mit einem Mal belebend und frisch. Kalusherian breitete seine Arme aus, um sie von der wohltuend kühlen Feuchtigkeit benetzen zu lassen.

Plötzlich bemerkte der Legat, daß Lartis hinter ihn getreten war.

„Es regnet!“ entglitt es dem Adepten erstaunt, und er rückte noch dichter an Kalusherian heran. Er war nun so nah, daß der Legat die Wärme seines erhitzten Körpers spürte. Kalusherian erstarrte, obwohl er innerlich zu beben begonnen hatte. Er wagte es nicht sich zu bewegen. Auf keinen Fall wollte er den Adepten unmittelbar hinter sich berühren.

„Es regnet“, wiederholte Lartis mit samtweicher Stimme. „Das werden die Leleguner Ihnen nie vergessen.“

Kalusherian fühlte sein Herz schneller schlagen. Dieser Moment war überwältigend. Der Himmel hatte seine Schleusen über dem darbenden Land geöffnet. Das Flehen der Wüstenbewohner hatte sich erfüllt. Der Regen bedeutete Hoffnung und neues Leben. Und hinter sich nahm er noch immer schmerzhaft die fast hautnahe Gegenwart des Adepten wahr. Die Spannung, unter der Kalusherian stand, entlud sich in einer unüberlegten Äußerung.

„Wir werden noch viel Zeit miteinander verbringen, Lartis“, kam es ihm leise über die Lippen. „Du darfst mich in Zukunft mit ‚du’ anreden.“

Der Adept schwieg eine Weile, bevor er zu einer Entgegnung ansetzte. Ohne Scheu machte er sich daran, die vorübergehende Schwäche des Legaten zu nutzen und die Situation zu seinen Gunsten auszukosten. „Warum hast du mich zu deinem Adepten gemacht?“ fragte er, und Kalusherian spürte den Atem seiner Worte an seinem Ohr.

Doch der Adept hatte sich einen Schritt zu weit vorgewagt. Augenblicklich fuhr Kalusherian herum und wich dazu nach draußen in den strömenden Regen aus. „Warum?“ schnappte er. „Wegen deiner Leistungen im Kolloquium natürlich!“

Die Ironie in Lartis’ Antwort war so unterkühlt, daß Kalusherian daran zweifelte, ob diese überhaupt ironisch gemeint war: „Ach so, wegen des Kolloquiums.“

1 Kompilation aus Jeremia 31,10a; Jesaja 51,5b; 49,1a; 66,19

2. Der Adept

Er war bräunlich, mit schönen Augen und von guter Gestalt. Und der Herr sprach: Auf, salbe ihn, denn der ist’s.

(1.Samuel 16,12)

DARGAN

Ich betrat das Kolleg mit gemischten Gefühlen. Würde man mir heute bei der Auswahl eines Adepten wirklich freie Hand lassen, oder würde der Direktor wie beim letzten Mal versuchen, mir einen bestimmten Kandidaten aufzuschwatzen? Natürlich wurde die freie Wahl dadurch nicht eingeschränkt. Selbstverständlich konnte der Vorschlag auch abgelehnt werden. Ob es allerdings klug war, einen Wunsch des Direktors zurückzuweisen, das stand eben auf einem ganz anderen Blatt.

Ich meldete mich im Vorzimmer an und wurde ohne Verzögerung vorgelassen. Der Direktor begrüßte mich überschwenglich: „Bruder Kalusherian! Was für eine Freude, Sie wiederzusehen!“

Der Direktor war ein behäbiger, gemütlich wirkender Mann in den Sechzigern, den man einen jahrelangen Dienst in der Mission mit diesem Posten entlohnt hatte. Er leitete das Kolleg; er erteilte keinen Unterricht, weshalb er sich nicht weniger mit seiner Aufgabe identifizierte. Alles in allem war er mir nicht unsympathisch, und doch war an seiner jovialen Art irgend etwas, das mir nicht gefiel. Und so erwiderte ich den Gruß ein wenig distanzierter, als er mir die Hand schüttelte und formulierte ziemlich sachlich: „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Bruder Gatturio.“

„Sie gehen auf Mission“, schwadronierte der andere ungerührt weiter. „Ist denn schon wieder ein Jahr vorbei? Ach, wie die Zeit vergeht! Und nun brauchen Sie natürlich einen neuen Adepten.“

Ich nickte. „So ist es, Bruder Gatturio.“

Schon wieder ein Jahr... hallte das Echo seiner Worte in meinen Gedanken nach. Drei Monate Lehrtätigkeit im Seminar, neun Monate Mission; drei Monate Seminar, neun Monate Mission... Manchmal kam es mir vor wie ein Laufrad, ein nie enden wollender Kreislauf.

Wir tauschten noch einige unverbindliche Nettigkeiten aus, bevor der Direktor endlich zur Sache kam. „Ich habe alles vorbereitet“, eröffnete er mir. „Die Klasse wartet bereits mit Bruder Engodard zum Kolloquium. Ein vielversprechender Jahrgang. Ich bin überzeugt, Sie werden einen geeigneten Adepten finden.“

Diese Äußerung wertete ich als Lichtblick. Es sah ganz danach aus, als würden meine Optionen diesmal keinen Beschränkungen unterworden.

Der Direktor führte mich durch das verwinkelte Kolleggebäude. Obwohl ich seit Jahren hierherkam, um einen Adepten auszuwählen, hätte ich Schwierigkeiten gehabt, mich zu orientieren. Die Gänge waren leer. Nur in einem Pausenhof lärmten einige Kollegiaten der unteren Jahrgänge, doch durch die geschlossenen Fenster klang das Gejohle auf eine merkwürdige Weise entfernt. Im Gegensatz zum Seminar, das der geistlichen Ausbildung vorbehalten war und die Zurüstung für die höheren Ämter des Ordens zum Ziel hatte, war das Kolleg eine allgemein zugängliche Einrichtung. Auf allen einigermaßen bedeutenden Planeten hielt der Orden derartige Schulen vor, und überall standen sie in einem exzellenten Ruf und erfreuten sich großer Beliebtheit.

„Auch dieses Jahr mußten wir wieder zahlreiche Bewerber abweisen“, klagte der Direktor, der gerade im Begriff war, mir die aktuelle Situation zu schildern. „Geeignete Bewerber, wie ich wohl nicht betonen muß. Das Kolleg ist zu klein für Dargan. Es müßte dringend erweitert werden, aber das Eparchat stellt sich quer. Keine verfügbaren Mittel, heißt es. Was sagen Sie dazu, Bruder Kalusherian? Keine Mittel, ich bitte Sie! Mehr Kollegiaten, daraus folgt auch: mehr Adepten. Selbst wenn der Orden nichts springen lassen will, dafür würden die Sponsoren einem doch die Tür einrennen...“

Ich nickte beifällig, obwohl ich seine optimistische Einschätzung nicht so recht teilte, und hing meinen eigenen Überlegungen nach. Im Alter von ungefähr achtzehn Jahren, wenn die Ausbildung der Kollegiaten beendet war, bewarben sich die meisten von ihnen für das sogenannte „Adeptenjahr“. Als Adept begleiteten sie dann einen Legaten wie mich auf seiner neunmonatigen Missionskampagne und leisteten ihm in dieser Zeit einfache Assistenzdienste. Ursprünglich als Vorbereitung des Seminarbesuches gedacht, strebten heute nur noch die wenigsten Adepten den Rang eines Legaten oder ein anderes geistliches Amt an. Das Adeptenjahr war vielmehr zu einem wichtigen gesellschaftlichen Faktor avanciert. Es stellte einen Zugewinn an Sozialprestige dar, und für einen beruflichen Aufstieg, der in die obersten Etagen des Establishments führen sollte, war er geradezu eine conditio sine qua non. Der Orden nahm dies hin, solange nur einige der Adepten „hängenblieben“ und später in seine Dienste traten.

„Und mehr Adepten würden dem Orden ja wohl auch nicht schaden!“ Gatturios Wortschwall kam nicht zum Versiegen. „Die Zahl der Legaten etwa stagniert seit vielen Jahren. Aber wem sage ich das? Die Aufgaben dagegen nehmen zu. Sei’s drum. Ich werde in dieser Sache am Ball bleiben. Wir sind da.“

Ich atmete auf. Der Direktor stellte mir kurz den Dozenten und seine Klasse vor, darauf nahmen wir Platz, und Bruder Engodard gab eine knappe Einführung in das Thema des Kolloquiums. Bald mischten sich die ersten Kollegiaten ein, und es entspann sich eine Diskussion über den dargelegten Sachverhalt. Es ging um ein philosophisches Problem, das mich – ehrlich gesagt – eher mäßig interessierte, und so hörte ich bald nur noch mit einem Ohr hin und konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf die Beobachtung der Kollegiaten.

Da war einmal die Minderheit der „Frommen“, die ihre Einstellung in der Regel allzu aufdringlich zu Markte trugen und sich im Geiste bereits heute als Legat oder Prior in Amt und Würden sahen. Sie würden gewiß einen Legaten finden, der sich ihrer annahm. Für mich gehörten sie nicht zur engeren Auswahl. Eine weitere Gruppe waren die Stillen, die sich fast gar nicht an der Diskussion beteiligten. Bei ihnen konnte man davon ausgehen, daß sie – aus welchen Gründen auch immer – an einem Adeptenjahr nicht allzusehr interessiert waren.

Blieben die übrigen, immer noch ungefähr die Hälfte der Klasse. Ich versuchte, mir ein Bild zu machen. Mit wem konnte ich es neun Monate lang aushalten? Wer würde mir nicht auf die Nerven gehen? Wen fand ich sympathisch? Relativ schnell war mir ein Junge aufgefallen, der sein volles, hellblondes Haar fast schulterlang trug. Auch er hatte sich zunächst eher zurückgehalten, was ich bereits zu bedauern begonnen hatte. Aber offenbar hatte er nur abgewartet, um sich jetzt um so intensiver in den Diskurs einzubringen. Dabei strich er sich einige Strähnen seines langen Blondhaars aus dem Gesicht, das ich dadurch zum ersten Mal in aller Deutlichkeit zu sehen bekam.

Ich hielt den Atem an und dachte, ich hätte eine Erscheinung. Dies war definitiv einer der umwerfendsten jungen Männer, die mir jemals begegnet waren. Strahlend blaue Augen schauten aus einem nicht zu breit geschnittenen Gesicht, dessen ausdrucksstarke Züge mich sofort in ihren Bann schlugen. Ein zauberhaftes Geschöpf! Spontan kamen mir Zeilen aus dem uralten osorginischen Mythos vom Sonnensohn in den Sinn:

Stolzer Sonnensohn,

das Blau des Himmels in deinen Augen,

das Licht der Sonne in deinem Haar,

wer ist dir gleich unter den Kindern des Lichts?

Aber so sehr mich dieser attraktive Junge auch beeindruckte, ich war stets beherrscht genug, meinen Blick nicht zu lange auf ihm ruhen zu lassen oder ihm ein anderes Übermaß an Interesse zu schenken. Freilich: Wenn hier kein Wunder mehr geschah, dann stand das Ergebnis meiner Wahl fest. Der schöne Blonde mußte mein neuer Adept werden. Etwas anderes kam gar nicht in Frage.

Geduldig harrte ich aus, bis der Dozent nach etwa einer Stunde das Kolloquium beendete und sich an mich wandte, wie es das Protokoll verlangte: „Bruder Kalusherian, wenn Sie es wünschen, können Sie der Klasse nun selbst noch ein paar Fragen stellen.“

Ich erhob mich, deutete eine höfliche kleine Verbeugung an und erklärte: „Ich bedanke mich für dieses aufschlußreiche Gespräch, Bruder Engodard. Weitere Fragen habe ich allerdings nicht.“

Damit gab ich gleichzeitig ein Signal, daß ich meine Wahl getroffen hatte und keine Entscheidungskriterien mehr benötigte. Als ich mich von der Klasse verabschiedete, meinte ich, einen flüchtigen Blick des Blonden aufzufangen, aber es war zu kurz, als daß ich meiner Sache sicher gewesen wäre. Mit dem Direktor und dem Dozenten im Schlepptau zog ich mich in einen Nebenraum zurück.

„Sie haben einen Entschluß gefällt, Bruder Kalusherian“, stellte Gatturio fest und deutete auf eine Fotowand mit Bildern der Kollegiaten, wie ich sie schon von meinen vorherigen Besuchen kannte.

Ich nickte. „Dieser soll mein Adept werden“, gab ich bekannt und zeigte auf das Bild des Blonden. Es waren keine frei gewählten Worte, sondern eine traditionelle Formel, wie das Ritual sie vorgab.

„Lartis aus Soltir“, verkündete der Direktor und nahm das Bild von der Wand in seine Hände. „Ein sehr aufgeweckter und begabter junger Mann. Ich glaube, Sie haben eine gute Wahl getroffen, Bruder Kalusherian.“

Der Dozent entfernte sich bereits wieder, um Lartis hereinzuholen. Als der Blonde kurz darauf in der Tür erschien, wirkte er ein wenig unsicher auf mich. Vielleicht hatte er nicht wirklich damit gerechnet, als Adept gewählt zu werden. Jetzt konnte ich auch seine Statur genauer erkennen: Er war schlank und sah durchtrainiert aus. In der Größe kam er fast an mich heran. Ein oder zwei Fingerbreiten mochten fehlen.

„Lartis aus Soltir“, sprach der Direktor den zukünftigen Adepten an und legte eine Strenge in seine Stimme, die mir nicht so recht zu ihm zu passen schien. „Der Legat Kalusherian begehrt, dich zu seinem Adepten zu ernennen. Bist du bereit, seinem Ruf zu folgen?“

Der Legat begehrt, amüsierte ich mich in Gedanken, mein Gott, was ist das für eine Formulierung!

Lartis schaute dem Direktor in die Augen und sagte, äußerlich unbewegt: „Ich bin bereit, dem Ruf zu folgen.“

Daraufhin trat ich vor Lartis, und nun trafen sich meine Blicke mit denen des Blonden. Alles folgte dem vorgeschriebenen Ablauf, und so durfte ich für einige Momente ungestraft in ihrem tiefen Blau versinken. Unter anderen Umständen hätte ich gewiß mit Herzklopfen und weichen Knien reagiert, aber das Ritual gab mir die Kraft, die erforderliche Fassung zu bewahren, auch als ich drei Finger der rechten Hand zur zeremoniellen Geste auf seine Schulter legte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, als ich den Jungen auf diese Weise berührte. „Lartis aus Soltir, ich erwähle dich zu meinem Adepten.“ Ich erhob die Finger zur Segenshand. „Der Herr schütze dich.“

„Frado Kalusherian, es ist mir eine Ehre, Ihnen als meinem Legaten dienen zu dürfen.“ Aus den Worten des Adepten war nun keinerlei Unsicherheit mehr herauszuhören. Er gab sich selbstbewußt und verbreitete eine starke körperliche Präsenz. Gatturio und Engodard gratulierten dem frischgebackenen Adepten. Der offizielle Teil war damit beendet.

„Übermorgen beginnt die Mission“, teilte ich Lartis mit. „Morgen hole ich dich ab. Bis dahin hast du Zeit, deine Sachen zu packen. Anschließend erledigen wir die Formalitäten.“

„Formalitäten?“ fragte Lartis, und plötzlich erschien er wieder ein ganz klein wenig nervös. „Was für Formalitäten?“

„Nun, deine Ernennung zum Adepten ist hiermit zwar rechtsgültig, aber für die Akten muß noch ein Protokoll aufgesetzt und vom Direktor und mir gegengezeichnet werden. Außerdem mußt du noch eine promissio abgeben.“

„Ist das ein Gelübde?“ wollte Lartis wissen. „Muß ich ein Gelübde ablegen?“

Ich schüttelte den Kopf, wobei ich innerlich ein wenig schmunzelte. Das Gelübde des Verzichts stand bei jungen Leuten in seinem Alter natürlich nicht sonderlich hoch im Kurs. „Nein, nein“, beruhigte ich ihn daher. „Das ist nur ein ziemlich allgemein gehaltenes Versprechen, daß du dich gemäß der wichtigsten Ordensregeln – also gewissermaßen ‚anständig’ – verhalten und den Anweisungen deines Legaten Folge leisten wirst. Ein verbindliches Gelübde wird einem Adepten nicht abverlangt.“

3. Der Auftrag

Die Straßen nach Zion liegen wüst, weil niemand auf ein Fest kommt.

(Klagelieder 1,4)

„Hast du das Dossier zu Tanshor schon gelesen?“ Der Adept schüttelte den Kopf. „Dann wird es allmählich Zeit“, ermahnte Kalusherian ihn und reichte ihm eine Akte nicht unerheblichen Umfangs, die auf dem Schreibtisch vor ihm gelegen hatte.

Lartis musterte das Schriftstück mit skeptischen Blicken. „Das ganze?“ erkundigte er sich vorsichtig.

Kalusherian machte Zugeständnisse. „Zumindest die Kurzfassung“, meinte er.

Der Adept setzte sich, schlug das Dossier auf und las halblaut vor:

„Tanshor. Dritter Planet der Sonne Turrea. Überwiegend gemäßigtes Klima. Besiedlung vermutlich erstmals im Jahr der Wiederauffindung 1417. Einwohnerzahl vor dem Krieg: circa 260.000. Erwerbsquellen: Landwirtschaft, Handwerk, Tourismus. Nachdem infolge der Kriegsereignisse lange Zeit keine Verbindung nach Tanshor mehr bestand, landete dort vor drei Jahren ein Erkundungsraumer der Koalition und fand den Planeten fast gänzlich entvölkert vor, obwohl er von Kriegshandlungen unbehelligt geblieben war. Die Mannschaft vermochte den Verbleib der Bevölkerung nicht aufzuklären. Mission: Inspektion der heiligen Stätten und gegebenenfalls deren ordnungsgemäße Versiegelung. Vorgesehener Aufenthalt: zwanzig Tage.“

Der Adept sah verblüfft von seiner Lektüre auf. „Zwanzig Tage? Wieso sollen wir ganze zwanzig Tage für diesen verlassenen Planeten investieren?“

„Auf Tanshor werden wir uns nur erdgebundener Fahrzeuge bedienen können. Bestimmung der Tessavalen.“

„Und wenn schon!“ beharrte Lartis. „Das kann doch nicht soviel Zeit in Anspruch nehmen.“

„Im Dossier“, erwiderte Kalusherian und fixierte den Adepten mit hochgezogenen Augenbrauen, „steht natürlich nur der offizielle Auftrag.“

Wenn Lartis erstaunt war, so war es ihm nicht anzumerken. „Und wie lautet der inoffizielle?“ fragte der Adept.

Kalusherian zögerte einen Moment, bevor er antwortete. „Du kennst die jüngere Geschichte, obwohl du ja erst kurz nach dem Krieg geboren bist. Der Frieden von Aljonúr beendete einer dieser Auseinandersetzungen, von denen am Ende keiner mehr so recht wußte, warum man sie eigentlich begonnen hatte. Die Tessavalen gingen als Sieger daraus hervor, doch die Friedensbedingungen waren für die Planeten der Koalition insgesamt recht erträglich. Einschneidend war nur, daß die Raumfahrt vollständig unter die Kontrolle der Tessavalen zu stellen war und damit natürlich sehr stark eingeschränkt wurde. Am großzügigsten gehen die Tessavalen jedoch mit Genehmigungen für den Orden um. Ihre ganze Kultur ist von der Religion bestimmt, und religiöse Toleranz stellt für sie einen ihrer höchsten Werte dar. So hat es sich ergeben, daß die Legaten auf ihren Missionsreisen gelegentlich inoffizielle Aufträge für die Regierung übernehmen.“

„Und ein solcher Auftrag existiert auch für Tanshor“, versuchte Lartis die Dinge auf den Punkt zu bringen.

„Ja“, bestätigte der Legat. „Wir sollen noch einmal dem mysteriösen Verbleib der Planetarier nachgehen. Wie es scheint, hat die Mannschaft vor drei Jahren schlampig gearbeitet und den Planeten überstürzt wieder verlassen.“

„Hast du dich freiwillig für diesen... inoffiziellen Auftrag gemeldet?“

„Die Planung der Missionskampagnen unterliegt dem Orden“, wich Kalusherian aus. „Jeder Legat erhält ein Pflichtprogramm, das aufgrund von Wartelisten und aktuellen Prioritäten zustande kommt. Die Lücken können die Legaten mit eigenen Vorschlägen auffüllen, unter Umständen auch mit inoffiziellen Aufträgen, die dem Patriarchen von der Regierung vorgelegt werden. Keiner kann dazu gezwungen werden.“

„Dann ist Tanshor also dein Vorschlag.“

„So ist es“, bestätigte Kalusherian knapp. „Und jetzt lies bitte weiter im Dossier!“

Lartis seufzte und vertiefte sich erneut in die Akte. „Besonderheiten“, murmelte er demonstrativ vor sich hin. „In den nördlichen Bergwäldern Tanshors leben geschätzt einige zehntausend Belionen, Angehörige eines intelligenten Fremdvolkes, das nicht von Tanshor stammt und unter unbekannten Umständen auf diesen Planeten verschlagen wurde. Die Belionen gelten als friedfertig und menschenscheu...“

„Geht das nicht auch leiser, Adept?“ murrte Kalusherian.

*

TANSHOR

„Ein schöner Planet!“ Kalusherian betrachtete die Schönwetterwolken, die über den frühlingshaft blauen Himmel zogen. Es war angenehm warm, und ein leichter Wind fing sich in Lartis’ blonden Haaren.

„Tja“, meinte der Adept, „nur ein bißchen einsam vielleicht.“

Der Platz, auf dem die Landefähre der Tessavalen die beiden abgesetzt hatte, war rissig und verwittert. Hier und da hatte bereits Unkraut Fuß gefaßt. Die Gebäude im Hintergrund machten ebenfalls keinen wesentlich besseren Eindruck. Der Legat versuchte sich vorzustellen, daß dies einmal ein belebter Raumlandeplatz gewesen war, auf dem die Touristen kamen und gingen. Es gelang ihm nicht. Seinem Gefühl nach zu urteilen, mußte das nicht Jahrzehnte, sondern eher Jahrhunderte her sein. Hoch oben über dem Platz zogen zwei große Vögel in der Thermik ihre Kreise.

„Und nun?“ versetzte Lartis lakonisch.

„Wir suchen unseren Kontaktmann auf“, gab Kalusherian bekannt. „Bestimmt befindet er sich irgendwo bei den Abfertigungsgebäuden.“ Er wies auf die Bebauung am Rand des Platzes und begab sich zielsicher auf den Weg. Der mürbe Beton bröselte unter seinen Schritten.

Lartis wirkte nicht sonderlich überzeugt. „In diesen Ruinen?“ bemerkte er zweifelnd, machte sich aber daran, dem Legaten zu folgen.

Als nur wenig später aus der entgegengesetzten Richtung ein leises Knattern ertönte, erwies sich die Skepsis des Adepten als berechtigt. Überrascht blieb Kalusherian stehen. Er wandte sich um und erblickte ein betagtes Kraftfahrzeug, das über die holprige Piste des Landeplatzes rollte und rasch näherkam. Einige Meter vor ihnen kam der Wagen zum Stehen. Ein unauffälliger älterer Mann entstieg dem Gefährt und hielt ohne zu zögern auf den Legaten zu.

„Sie müssen Frado Kalusherian sein“, stellte er fest. „Wir haben über Funk miteinander gesprochen.“

Kalusherian nahm den harmlos wirkenden Alten voller Mißtrauen ins Visier, als ob eine Gefahr von ihm ausginge. Eine merkwürdige Stimmung lag über dieser Begegnung. Sekunden verstrichen, bevor sich der Legat zu einer Antwort aufraffen konnte.

„Dann sind Sie Gajomba“, erwiderte Kalusherian endlich, reichte dem Alten die Hand, und es war, als wenn eine Art Schatten von ihm gewichen wäre. „Und das ist Lartis, mein Adept.“

Gajomba begrüßte den Jungen mit einer Verbeugung. Lartis reagierte darauf mit reserviertem Kopfnicken und einem sich anschließenden Seitenblick auf Kalusherian. Der Legat tat so, als bemerke er es nicht.

„Ich halte hier am Raumlandeplatz Wache“, erzählte Gajomba, „für Fälle wie diesen hier, daß uns doch einmal jemand besuchen kommt.“ Er setzte Kalusherian und Lartis Fruchtsaft und Fladenbrote vor. „Und nun ist es gleich ein Legat.“ Er lächelte Lartis zu und ergänzte: „Ein Legat und sein Adept.“

Gajomba setzte sich zu den beiden an den Tisch und verteilte Becher und Teller. Kalusherian nutzte die Gelegenheit, um das Gespräch an sich zu ziehen. „Wie viele Menschen gibt es denn eigentlich noch auf Tanshor?“ erkundigte er sich.

„Tja, wieviel sind wir noch?“ griff Gajomba die Frage auf und strich sich durch seine spärlichen grauen Haare. „Ich weiß von insgesamt vierundvierzig. Vielleicht ist da noch der eine oder andere Einsiedler, von dem ich nichts gehört habe, aber mehr als fünfzig sind es sicherlich nicht.“

Kalusherian erwog, ob er nun direkt den Verbleib der übrigen Bewohner ansprechen sollte, aber wenn sich die Antwort darauf so einfach finden ließe, wäre es sicherlich auch der Erkundungsmannschaft vor drei Jahren gelungen. „War es nicht schwierig zu überleben?“ fragte er daher stattdessen. „Mit so wenigen Menschen und all die Zeit ganz auf sich selbst gestellt...“

Gajomba nahm seine randlose Brille ab und drehte sie nachdenklich in den Händen. „Wissen Sie, Frado“, entgegnete er schließlich, „unsere Ansprüche sind nicht hoch, und der Planet ist freundlich zu uns. Und dann zehren wir noch von Depots und Reserven, die einst für eine sehr viel größere Bevölkerung angelegt wurden. Aber sicher, leicht ist das alles nicht.“

Der Planet ist freundlich zu uns, wiederholte Kalusherian in Gedanken. Was für eine liebevolle Formulierung!

Lartis beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, trank von dem hellroten Saft und brach sich Stücke vom Fladen ab. Kalusherian beschloß, vorerst nicht weiter in den Tanshorianer zu dringen.

Auch Gajomba schien bemüht, das Thema zu wechseln. „Wie lauten ihre Pläne, Frado?“ Er nahm die Kanne und goß Lartis Saft nach. „Ich stehe Ihnen als Chauffeur und Fremdenführer zur Verfügung.“

„Unser erstes Ziel ist die Wallfahrtskapelle in den Bergen“, verriet Kalusherian.

„Das ist in einem Tag zu schaffen“, beschied Gajomba. „Dann brechen wir morgen in der Frühe auf.“

*

Es war kühl, die Sonne stand erst knapp über dem Horizont und warf lange Schatten, als die drei aufbrachen. Der Einheimische saß hinter dem Steuer seines Fahrzeugs, und schnell war die kleine Ortschaft am Raumlandeplatz hinter ihnen zurückgefallen. Eine Zeit lang folgten sie der Küste, bis sie auf einen breiten Strom trafen, dessen Verlauf sie ins Landesinnere führte. Die Landschaften, die sie durchquerten, waren karg und menschenleer. Kalusherian hielt sich vor Augen, daß Tanshor auch vor dem Krieg nur sehr dünn besiedelt gewesen war und sich die Bevölkerung auf einige wenige Gebiete konzentriert hatte. Dennoch hatte die Einsamkeit für ihn etwas Beunruhigendes.

Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als sie sich zum ersten Mal einer kleinen Ansiedlung näherten. Eine Brücke überspannte einen Nebenfluß des großen Stromes, und am jenseitigen Ufer lag ein Dorf, das einen gespenstischen Anblick bot: eingestürzte Dächer, verwilderte Gärten, von Schlingpflanzen überwucherte Gebäude, geschwärzte Brandruinen – irgendwann hatte der Blitz eingeschlagen. Die Natur begann sich zurückzuholen, was Menschen ihr einst unter Mühen abgerungen hatten.

„Mit so wenigen Leuten können wir natürlich nicht alles in Ordnung halten“, bemerkte Gajomba, als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, und es klang wie eine Entschuldigung. „Wir kümmern uns, so gut es geht, um die zwei, drei Ortschaften, in denen die meisten von uns leben. Ein paar wichtige Straßen, der Raumlandeplatz... Mehr ginge über unsere Kräfte.“

„Schon gut“, beschwichtigte Kalusherian, obwohl der Anblick des verlassenen Dorfes ihn sehr bedrückt hatte. „Niemand kann das von Ihnen erwarten.“

Nach einer weiteren Stunde Fahrt wurde das Land allmählich hügeliger und bewaldeter. Gajomba war mittlerweile in das engere Tal eines anderen Flusses eingebogen und steuerte den Wagen weiter in das Bergland hinein. Die Straße war schadhaft, was Gajomba dazu zwang, langsamer zu fahren. Lartis, der sich bisher äußerst schweigsam verhalten hatte, äußerte nun seinen Unmut.

„Können wir nicht mal eine kleine Pause machen?“ schlug er vor. „Ich bin schon völlig verspannt.“

Der Fahrer hatte keine Einwände. „Aber natürlich, junger Mann. Noch ein paar Minuten Geduld, dann haben wir eine geeignete Stelle für eine Rast erreicht.“

Kalusherian beäugte den Komplex aus Wohngebäuden und Werkstätten, die den weitläufigen Hof umgaben, auf dem Gajomba den Wagen abgestellt hatte. „Was ist das?“ fragte der Legat. „Das ist doch... ein Sägewerk?“

„Ja“, bestätigte Gajomba. „Das hier war einmal ein Sägewerk. Natürlich wird es jetzt nicht mehr genutzt.“

Kalusherian runzelte die Stirn, sah sich wortlos um und betrachtete die Schuppen und Unterstände mit einer eigenartigen Scheu, als handele es sich um ehrfurchtgebietende Altertümer. Auch hier waren die Zeichen des Verfalls unübersehbar.

„He, was ist?“ Das war Lartis. „Was starrst du diese alten Gemäuer an? Gibt es hier denn irgendwas Besonderes?“

Kalusherian wandte sich dem Adepten zu und bedachte ihn mit einem schwer deutbaren Blick. „Jedes Indiz kann wichtig sein“, befand er ausweichend. „Kann ich mich ein wenig umsehen?“ Diese Frage galt Gajomba.

„Ich zeige Ihnen das Gelände“, bot dieser an. „Die Gebäude können wir nicht betreten. Sie verstehen, Einsturzgefahr!“

Kalusherian war einverstanden, und auch Lartis schloß sich den beiden an.

„Früher war hier eine Menge Betrieb“, berichtete Gajomba munter. „Halb Tanshor wurde von hier mit Holz versorgt. Es gab sogar eine Bahnlinie, die von der Küste her bis hierauf führte.“ Er deutete zur Seite, wo erst auf den zweiten Blick einige verrostete Bahngleise sichtbar wurden, die von Ranken und Gestrüpp gänzlich überwuchert waren.

Gajomba setzte seinen Vortrag fort, und Kalusherian blieb immer wieder stehen, um wie fasziniert das eine oder andere Detail zu begutachten, während Lartis sich eindeutig langweilte. Doch schließlich war es gerade der Adept, der eine interessante Beobachtung machte. Er wies die beiden anderen auf einige vergammelte Maschinen und Transportfahrzeuge hin, die im Freien herumstanden, und behauptete dazu: „Das sieht mir ganz danach aus, als wäre diese Anlage ziemlich überstürzt im Stich gelassen worden. Es würde mich nicht wundern, wenn die Tische in den Wohnhäusern noch gedeckt dastehen.“

Kalusherian sah Gajomba an und wartete auf einen Kommentar zu den Worten des Adepten, aber der Blick des Alten hatte sich auf einmal getrübt, als schaue er in eine unbestimmte Ferne. „Daran... Daran kann ich mich nicht erinnern“, stotterte er mit dünner Stimme.

Komisch, dachte Kalusherian, er weiß genau Bescheid, wie dieser Betrieb früher gearbeitet hat, aber wo die Menschen geblieben sind, die hier tätig waren – dessen kann er sich vorgeblich nicht entsinnen!

„Wir sollten weiterfahren“, mahnte Gajomba, während der Legat noch seinen Gedanken nachhing, und es klang wieder so geschäftsmäßig wie zuvor. „Sonst werden wir es heute nicht mehr schaffen.“

Lartis lümmelte sich wieder auf die Rückbank, Gajomba nahm hinter dem Steuer Platz, Kalusherian auf dem Beifahrersitz.

„Es wird Zeit, daß ich Ihnen etwas über Klariane erzähle“, bemerkte Gajomba unvermittelt, als sie auf die Straße zurückgekehrt waren.

„Klariane?“ wiederholte der Legat. „Wer ist das?“

„Klariane wohnt am Ende des Tales, am Fuße des Kapellenberges. Vor dem Krieg betrieb sie recht erfolgreich einen Gasthof. Heute ist sie etwas... schrullig. Sie lebt im festen Glauben, die Touristen würden eines Tages zurückkehren, und will ihr Anwesen deshalb nicht verlassen. Aber sonst ist sie eine liebe und patente alte Dame. Haben Sie ein wenig Geduld mit ihr!“

*

„Touristen!“ rief Klariane und schlug dabei die Hände zusammen. „Gajomba, du hast Touristen mitgebracht. Ich wußte, sie würden eines Tages wiederkommen.“

Gajomba begrüßte die Frau mit einer vertraut wirkenden Umarmung. „Klariane, ich möchte dir den Legaten Kalusherian vorstellen und Lartis, seinen Adepten.“

Die rundliche alte Frau musterte die beiden Ankömmlinge aus großen Augen. „Ein Legat!“ wunderte sie sich. „Ja, was will denn ein Legat bei mir?“

„Frado Kalusherian möchte die Kapelle inspizieren.“

„Ach, die Kapelle!“ Klarianes Gesicht hellte sich wieder auf. „Eine schöne Kapelle! Wie oft habe ich sie den Touristen gezeigt!“

Kalusherian beschloß, selbst die Initiative zu ergreifen. „Wir wären froh, über Nacht bei Ihnen zu Gast sein zu dürfen, Klariane“, erklärte er.

„Willkommen, Frado! Willkommen in meinem Haus!“ Klariane ging auf den Legaten zu, reichte ihm und Lartis die Hand, und Kalusherian staunte über ihren kräftigen Händedruck. „Es ist eine Freude für mich, Sie zu bewirten“, bekräftigte sie. „Die Gäste sind ja so selten geworden. Manchmal kommt Gajomba oder einer von den anderen, aber – ach! Kommen Sie erst einmal herein!“

Während die Besucher der Einladung folgten, betrachtete Kalusherian noch einmal das Haus und seine Umgebung. Klarianes Anwesen lag am Rande eines lichten Bergwaldes inmitten eines penibel gepflegten Gartens, der in einem auffälligen Gegensatz zur ungebändigten Natur stand, die sie zuvor durchquert hatten: Obststräucher, bunte Blumenrabatten, akkurate Gemüsereihen, eine große Wiese mit Hühnern und anderem Geflügel. In ähnlichem Zustand präsentierte sich der Gasthof. Die Fassade war zwar ein wenig verwittert, aber sonst erstrahlte alles in tadellosem Glanz, die sauberen, grün gerahmten Fenster ebenso wie die schlichte Eingangstür und die altertümliche kleine Leuchtreklame darüber: „Bei Klariane“. Die Wirtin und ihre Gäste traten ein.

„Laß uns hier noch ein paar Tage bleiben“, versuchte Lartis zu scherzen. „Hier gibt es die beste Verpflegung, die wir auf unserer Mission bisher erhalten haben“

Kalusherian schob den leeren Teller zur Seite und trank einen Schluck Wein. Die Dämmerung hatte eingesetzt. „Ich weiß nicht“, zweifelte er. „Irgendwie finde ich das alles merkwürdig. Hast du nicht das Gefühl, daß die irgendetwas vor uns verbergen?“

Lartis lehnte sich zurück und fuhr sich durch die blonden Haare. „Du bist einfach zu mißtrauisch“, versetzte er. „Mir gefällt es hier jedenfalls.“

Der Legat ließ seinen Blick durch den Gastraum schweifen. Die Einrichtung war ein wenig verbraucht und atmete den Charme längst vergangener Jahre, aber auch hier zeugte der gepflegte und ordentliche Zustand von der sorgsam waltenden Hand der Wirtin. Allein in den Plastikblumen auf den Tischen hatte sich Staub verfangen. An der Theke waren die Hocker aufgereiht, als würde im nächsten Moment eine Gästeschar eintreten, um sich darauf niederzulassen. Die bleierne Stille, die Kalusherian und Lartis umgab, erinnerte freilich daran, daß dergleichen nicht geschehen würde.

„Ob die Touristen wirklich einmal wiederkommen werden?“ überlegte der Adept laut.

„Die Touristen von damals...“ begann Kalusherian und unterbrach sich selbst, weil Klariane und Gajomba den Raum betraten.

„Hat es Ihnen geschmeckt, Frado? Und Ihnen, Lartis?“

Lartis zeigte auf die leeren Teller und Schüsseln. „Noch irgendwelche Fragen?“ entgegnete er mit respektloser Nonchalance, und Klariane und Kalusherian lachten.

„Ach, es ist schön, mal wieder Gäste im Haus zu haben“, freute sich die Wirtin. „Wieviel Spaß haben wir früher gehabt, wenn das Haus voll war! All diese bunten Vögel! Ach, das waren Zeiten!“

„Setzen Sie sich ein wenig zu uns“, forderte Kalusherian die beiden auf.

„Ich würde mich lieber zurückziehen“, gestand Gajomba. „Die Fahrt hat mich doch ziemlich angestrengt.“

Kalusherian kam dieser Umstand nicht ungelegen. Man wünschte sich eine gute Nacht, und Klariane gesellte sich zu ihren Gästen. Kalusherian schüttete ihr einen Becher Wein ein. Die Wirtin prostete dem Legaten zu und nahm einen ordentlichen Schluck.

„Schön haben Sie es hier, Klariane“, meinte Kalusherian lächelnd. „Schade, daß es so wenig Leute erleben können.“

„Ja, das war früher anders.“ Klariane setzte den Becher ab. „Aber jetzt, wo es allmählich wieder Kontakte zur Außenwelt gibt... Die Touristen kommen wieder, bestimmt!“

Kalusherian nickte zustimmend. „Dieser Erkundungstrupp, der vor drei Jahren auf Tanshor war, ist der auch hier bei Ihnen gewesen?“

Klariane schüttelte den Kopf. „Nein, davon habe ich nur gehört. Gesehen habe ich niemanden. Die waren – glaube ich – nicht sehr lange da.“

Kalusherian wußte, daß er auf einem schmalen Grat wandelte. Vielleicht war es möglich, aus der ein wenig verschrobenen alten Frau eher etwas herausholen als aus dem kontrolliert erscheinenden Gajomba. Andrerseits war sie möglicherweise leichter aus dem Gleichgewicht zu bringen, und der Legat hatte Skrupel, diese Schwäche mit kühler Berechnung auszunutzen und sie am Ende in unabsehbare psychische Konflikte zu verwickeln. Aber letztlich hatte Kalusherian keine Wahl. Wenn er etwas über die Vergangenheit erfahren wollte, mußte er sie auch ansprechen. Er bemerkte Lartis’ prüfendes Mienenspiel, der wohl wußte, worauf der Legat hinaus wollte. „Klariane, wie lange ist es eigentlich her, daß die Touristen ausgeblieben sind?“

Kalusherian sah förmlich, wie es hinter der Stirn der Wirtin zu arbeiten begann. „Die Touristen... Ja, Frado... Moment, das war... direkt vor dem Krieg. Das ist über zwanzig Jahre her.“

Kalusherian nickte abermals. Der Adept warf ihm erneut seltsame Blicke zu, die der Legat nicht recht einzuordnen vermochte. Wollte er ihn vor irgend etwas warnen? „Und irgendwann“, steuerte Kalusherian vorsichtig das angepeilte Ziel an, „sind dann auch die Einheimischen verschwunden.“

„Der Exodus.“

Die lapidare Entgegnung Klarianes versetzte Kalusherian in erhöhte Anspannung. „Ja, der Exodus. Können Sie sich erinnern, wann der Exodus war? Wann sind die Tanshorianer gegangen?“ Klariane dachte angestrengt nach und atmete schwerer. Schon hatte Kalusherian wieder Gewissensbisse, weil er die Frau in solch eine Lage gebracht hatte.

„Das war kurz danach.“ Klariane rang mit sich. „Kurz nachdem die Touristen ausgeblieben sind. Das ist fast genauso lange her.“

Trotz aller Bedenken schritt Kalusherian nun den eingeschlagenen Weg bis zu Ende. „Und was ist damals passiert? Warum haben die Menschen Tanshor verlassen?“ Bange Sekunden des Schweigens verstrichen, und Kalusherian dachte bereits, daß die Wirtin eine Antwort schuldig bleiben würde.

„Das Unglück!“ Klariane sprach jetzt emphatisch und stoßweise, wie ein Medium in Trance. „Das Unglück oben in den Bergen. Das große Unglück im Zamatal.“

Kalusherian erschrak. Er fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Lartis berührte spontan die zitternden Hände Klarianes, um sie zu beruhigen. Doch da lief bereits eine Art Wetterleuchten über ihr volles Gesicht. Ihre Aufregung ebbte so schnell ab, wie gekommen war, und sie sah den Legaten und seinen Adepten an, als sei sie gerade aus einem kurzen Tagtraum aufgetaucht. „Möchten die Herren noch etwas zu trinken haben?“

Lartis verneinte. „Ich möchte jetzt auch schlafen gehen“, stellte er fest.

„Ich habe den Herren ein schönes Zimmer zurechtgemacht“, versicherte Klariane in mütterlichem Tonfall. „Bergblick. Sie nehmen doch ein gemeinsames Zimmer?“

„Das ist in Ordnung so“, erklärte Lartis, bevor Kalusherian in der Lage war, einen Einwand zu erheben. Er entfernte sich, während Kalusherian sich noch einen Becher Wein nachschenken ließ.

Als Kalusherian das Zimmer aufsuchte, bot sich ihm ein bemerkenswertes Bild. Quer über das große Bett lag wie hingegossen der Adept, den Kopf schlafend zur Seite gelegt, und doch hatte der Legat sofort das sichere Gefühl, daß der offensichtliche Eindruck täuschte und Lartis sich lediglich schlafend stellte. Es fiel Kalusherian schwer, sich von diesem Anblick loszureißen. Der wohlmodellierte, durchtrainierte Körper des Adepten elektrisierte ihn: seine breiten, aber nicht überproportionierten Schultern, die schmalen Hüften, die von einem hellen Flaum bedeckten, kräftigen Beine. Bis auf eine kurze Sporthose war Lartis unbekleidet. Die blonden Haare umgaben ungebändigt seinen Kopf.

Kalusherian atmete heftig durch. Er durfte dieser Versuchung nicht nachgeben. Vorsichtig ergriff er einen Zipfel der beiseite geschobenen Decke und schlug sie über den nahezu nackten Leib des Adepten. Dann raffte er einige Kissen zusammen, breitete sie auf dem Boden aus und verschaffte sich so ein wenig bequemes Nachtlager.

*

„Gut geschlafen?“

Kalusherian wandte sich vom geöffneten Fenster nur kurz Lartis zu und murmelte irgend etwas Unverständliches. Tief sog er die erfrischende Morgenluft in seine Lungen und betrachtete das großartige Bergpanorama. Der Himmel war klar, nur am Fuße der Gipfel hingen noch einige Nebelschleier.

„Und? Wie geht es heute weiter?“ wollte der Adept wissen.

„Wir sehen nach der Kapelle“, gab Kalusherian mürrisch zur Antwort. Er schaute dabei weiter aus dem Fenster. „Und dann reisen wir ab.“

Lartis seufzte. „Ich wäre wirklich gern noch ein wenig hiergeblieben.“

„Du kannst ja später einmal als Tourist wiederkommen“, versetzte der Legat spitz.

Er spürte, wie Lartis’ Blicke sich in seinen Rücken bohrten. „Ach ja, als Tourist. Was für eine Form von Tourismus war das eigentlich hier auf Tanshor?“

Nun kehrte Kalusherian sich doch von der Aussicht ab und sah den Adepten, der sich zum Sitzen im Bett aufgerichtet hatte, lauernd an. „Du bist doch sonst so ein cleveres Kerlchen“, zog er den Jungen auf. „Hast du dir das noch nicht selbst zusammengereimt?“

Lartis verzog nachdenklich die Augenbrauen und wirkte längst nicht mehr so souverän wie noch kurz zuvor. Kalusherian lächelte süffisant. Er hatte den Spieß umgedreht und kostete den Sieg aus.

„Es waren homosexuelle Touristen“, ließ der Legat die Katze aus dem Sack.

Lartis warf den Kopf in den Nacken. „Ach so! Die ‚bunten Vögel’. Ja, natürlich.“

„Allerdings hättest du das genauso gut im Dossier nachlesen können“, hielt Kalusherian ihm vor.

Lartis zog einen Flunsch. „Jajaja“, maulte er.

Der Legat kramte in seinem Gepäck und holte die dickleibige Akte hervor, um sie mit leichtem Schwung zu dem Adepten aufs Bett zu werfen. „Hier: Kapitel 5.3. Die Morgenlektüre.“

Lartis ächzte, griff nach dem Wälzer und fror auf einmal in der Bewegung ein. Er hinterließ einen geistesabwesenden Eindruck. „Das Bild...“ entglitt es ihm unwillkürlich.

„Was für ein Bild?“ drängte Kalusherian.

„Schon gut“, wehrte Lartis ab. „Nicht weiter wichtig. Vergiß es einfach!“

Kalusherian kannte den Adepten mittlerweile gut genug, um zu wissen, daß es keinen Zweck hatte nachzusetzen. „Dann lies!“ lautete die knappe Aufforderung des Legaten. Schicksalsergeben suchte Lartis die angegebene Stelle.

Kapitel 5.3: Der Tourismus auf Tanshor. Im Jahre der Wiederauffindung 1972 erstand der wohlhabende homosexuelle Kaufmann Eleador von Barsidan einen Berghof im Zamatal auf Tanshor als Altersruhesitz. Im Laufe der Jahre entstand auf dem weitläufigen Gelände ein Gästehaus, das zahlreiche Freunde und Bekannte Eleadors beherbergte. Viele Homosexuelle von Barsidan, Trangkún, Iljeo und anderen Zentren der Koalition lernten dadurch den abgelegenen Planeten kennen. Bald erwarben auch andere hier Eigentum, womit die Keimzelle für den künftigen Tourismus gelegt war. Für die in bescheidenen Verhältnissen lebenden Tanshorianer bedeuteten die Landverkäufe zunächst einen unverhofften und höchst willkommenen Geldsegen. Zudem begannen die Einheimischen, sich selbst am aufblühenden Tourismusgeschäft zu beteiligen. In den letzten beiden Jahrzehnten vor dem Krieg entwickelte sich Tanshor und insbesondere das Zamatal zum bevorzugten Urlaubsziel homosexueller Touristen von zahlreichen menschlichen Siedlungswelten in der Galaxis...

*

... Der wirtschaftliche Erfolg, an dem – wie oben erwähnt – auch ein Teil der Tanshorianer beteiligt war, kaschierte freilich nur die gesellschaftlichen Probleme, die durch den Tourismus entstanden waren. Die bäuerlich geprägte, traditionell gesinnte Mehrheit der Einheimischen hegte eine deutliche Abneigung gegen die offen auftretenden Homosexuellen. Schon beim Verkauf an Eleador im Jahre 1972 dW hatte es einen Einspruch gegeben, weil „der Käufer einen zweifelhaften Leumund habe und sein Lebenswandel unter der Bevölkerung Anstoß errege“. Für einige Jahre überlagerte das Gewinnstreben diesen Affekt, obwohl er vor allem von Tanshorianern, die vom Tourismus nicht profitierten, immer wieder artikuliert wurde. In den Jahren vor dem Krieg wurde der Unmut so stark, daß sich letztendlich die Tourismusgegner durchsetzten und im Jahre 2005 dW ein „Gesetz zur Eindämmung der öffentlichen Unsittlichkeit“ erließen, das die „öffentliche Darstellung homosexueller Gesinnung“ verbot und „auswärtige Personen, die sich homosexuell verhalten“ des Planeten verwies. Damit war der Tourismus mit einem Schlag zum Erliegen gekommen. Kurz darauf brach der Krieg aus.

Lartis hatte wieder einmal laut gelesen und klappte das Dossier zu. „Das ist ja ’n Ding!“ entfuhr es ihm, halb verblüfft, halb empört.

Kalusherian war die vernehmliche Lektüre gar nicht recht gewesen, weil ihr Fahrer dadurch zum unfreiwilligen Zuhörer geworden war. Gajomba aber lenkte mit stoischer Ruhe den Wagen und verbreitete den überzeugenden Eindruck, das alles ginge ihn nicht das Geringste an.

„Und was passierte danach?“ forschte Lartis nach. „Die Tourismusgegner sind wohl an der Macht geblieben?“

„Die ausgewiesenen Homosexuellen sind die letzten, die Informationen von Tanshor überbracht haben“, erläuterte Kalusherian. „Was danach geschah, wissen wir nicht. Und dann kam schon der Krieg. Und...“ Er warf Gajomba einen vorsichtigen Seitenblick zu. „...der Exodus. Oder auch umgekehrt.“ Seine Stimme hatte sich gesenkt, aber Gajomba zeigte keine Regung.

Kalusherian breitete die sperrige Karte auf der Motorhaube aus. „Also: Hier unten an der Küste liegt der Raumlandeplatz. Von hier aus sind wir entlang des Hembat – das ist der große Strom – ins Landesinnere gefahren.“ Der Legat zeichnete den Weg mit dem Finger nach. „Dann sind wir dem Grünen Fluß gefolgt und in die westlichen Ausläufer des Hochgebirges eingedrungen, zu Klariane. Hier!“ Kalusherian tippte auf die entsprechende Stelle der Karte. „Die Tanshor-Kordilleren – so heißt dieses Gebirge – bilden einen riesigen Bogen von Westen nach Norden.“ Kalusherian umriß die Konturen, während Lartis sich näher an die Karte drängte. Dabei berührte er den Legaten an der Schulter – war es Zufall oder verdeckte Absicht? – Kalusherian jedenfalls zuckte sofort zurück.

Der Adept ignorierte seine Reaktion. „Und wo ist nun das Zamatal?“

„Hier.“ Der Legat markierte einen Punkt, der bereits relativ hoch im Norden lag. „Die Zama entspringt im Hulben-Massiv und durchläuft dann ein ausgedehntes Hochgebirgstal. Am Ausgang des Zamatals liegt die Hochebene von Zamagull. Das ist der zentrale Ort des Gebietes und Sitz des wichtigsten Heiligtums, unser nächstes Ziel.“

Lartis rückte wieder ein Stück ab und ließ seinen Blick über ihre Umgebung schweifen. Von der kleinen Kuppe, auf der sie sich befanden, hatte man eine gute Aussicht auf den mäandernden Hembat, in dessen Oberfläche sich das warme Licht der Abendsonne spiegelte.

„Du kennst dich ja schon ganz gut aus“, konnte sich der Adept einen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen, aber es klang nicht aggressiv, sondern eher ein wenig müde.

Kalusherian faltete wortlos die Karte zusammen und begab sich zu Gajomba, der abseits vom Fahrzeug ein bescheidenes Lagerfeuer entzündet hatte. „Die Wege sind weiter, als ich dachte“, räumte Kalusherian ein. „Werden wir es morgen bis Zamagull schaffen?“

Gajomba nickte gemächlich. Im milden Schein des Abends wirkte sein Gesicht weniger gealtert als sonst. „Die Straße ist gut“, stellte er fest, „und das Wetter stabil. Das wird kein Problem sein.“

Kalusherian spähte hinaus in die prärieartige Landschaft auf der flußabgewandten Seite. Die Umrisse begannen sich nach und nach im schwindenden Licht aufzulösen.

„Wenn ich fragen darf, Frado“, nahm Gajomba das Wort wieder auf, „was ist mit der Kapelle geschehen?“

Der Angesprochene stutzte. Die ganze Fahrt über hatte der Alte kaum ein Wort gesprochen und sein Anliegen für sich behalten. Kalusherian zögerte. „Der Zustand der Kapelle war zum Glück einwandfrei“, teilte er schließlich nüchtern mit. „Daher konnten wir sie für einen möglichen späteren Gebrauch versiegeln. Klariane allerdings kann die Kapelle weiter betreten – um sie den Touristen zu zeigen, falls sie wiederkommen...“

„Das ist gut“, befand Gajomba nur. Wieder wurde es still. Selbst Tierlaute waren kaum zu verzeichnen, allenfalls ein Insekt, das surrend vorüberflog. Ein ganz leichter Luftzug strich über Kalusherians Gesicht. „Ich werde die Nacht hier draußen verbringen.“ Gajomba verkündete es mit halb geschlossenen Augen, ohne den Legaten anzusehen. „Das tue ich gerne. Der Adept und Sie können im Wagen schlafen.“

„Ja, gut.“ Kalusherian merkte auf einmal, daß er es als unangenehm empfunden hätte, in unmittelbarer Nähe zu dem Tanshorianer zu nächtigen. Sein Blick suchte Lartis, und er fand ihn nach wie vor jenseits des Feuers stehen. Er starrte auf den Fluß und die untergehende Sonne. In den Niederungen stieg Nebel auf. Es war, als seien sie die einzigen Lebewesen auf diesem Planeten.

„Diese Einsamkeit ist überwältigend“, flüsterte Lartis, als es völlig dunkel geworden war und er neben Kalusherian im umgebauten Fahrzeugfond lag. „Es ist, als ob der Planet zu einem spräche. Aber ich verstehe ihn nicht.“

„Mmh“, machte Kalusherian einsilbig.

„Warst du schon öfter auf solch menschenleeren Planeten?“

„Ab und zu.“

„Und? Hast du das denn noch nie gefühlt?“ fragte Lartis in die Finsternis hinein.

Kalusherian argwöhnte, daß das Gespräch in einen neuen Annäherungsversuch des Adepten münden würde, und war daher bestrebt, den Dialog abzubrechen. „Für dich ist das eben alles noch neu“, beschied er schroff und drehte sich auf die andere Seite.

*

Willkommen im Ferienland Zamagull.

Entgeistert fixierte Kalusherian das erstaunlich gut erhaltene Schild am Straßenrand. Die Vergangenheit schien wie ein Schatten über diesem Planeten zu hängen, doch nichts hätte diesen Umstand besser illustrieren können als diese anachronistische Begrüßungstafel.

Vor den Reisenden weitete sich eine flache, von Gestrüpp und Buschwerk durchzogene Landschaft. „Früher weideten hier überall Viehherden, die keine Bäume hochkommen ließen“, veranschaulichte Gajomba. „Tja, das ist lange vorbei.“

Noch während Gajomba sprach, wurde hinter einer leichten Bodenwelle die Sicht auf ihr Ziel frei. Wie eine archaische Burg lag die Stadt inmitten der trostlosen Hochebene. Graue, zinnenbewehrte Mauern umgaben den Ort, über die sich nur die Dächer einiger größerer Gebäude erhoben: Zamagull! Kalusherian hielt den Atem an. Für einen Moment verschwand die Stadt wieder aus seinem Gesichtsfeld, um nach der nächsten Kurve erneut aufzutauchen, jetzt bereits ein ganzes Stück näher als zuvor. Was für ein Anblick! Die Stadt lag da, als sei sie aus einem fernen Zeitalter hierher versetzt worden, düster und abweisend einerseits und doch von einer Faszination, welche die Neugier eines jeden Betrachters wecken mußte.

„Zamagull ist eine der ältesten Siedlungen des Planeten“, dozierte plötzlich Lartis vom Rücksitz aus. „Aus Furcht vor der ungezähmten Natur errichteten die ersten Bewohner eine befestigte Stadt. Obwohl sich diese Vorsichtsmaßnahme im Laufe der Zeit als überflüssig herausstellte, wurde die Befestigung dennoch aus Gründen der Tradition beibehalten.“

„Aha“, kommentierte Kalusherian trocken. „Wir haben also im Dossier gelesen?“

„Aber gewiß“, trumpfte der Adept auf.

Zamagull war mittlerweile bereits ziemlich nahe gekommen. Das geöffnete Stadttor zeichnete sich vor Kalusherians Augen ab. Schon aus dieser Entfernung wirkte die Stadt verlassen, obgleich es hier, unmittelbar vor den Mauern, tatsächlich noch einen kleinen Trupp Hornvieh gab, das friedlich die Steppe abweidete. Die großen Quadersteine der Mauer wiesen deutliche Verwitterungsspuren auf. Hier und da hatten kleine Pflanzen in den Ritzen einen Wurzelgrund gefunden. Im großen und ganzen aber präsentierte sich der Mauerring unbeschädigt. Kalusherian und Lartis sahen staunend hinauf zu den wuchtigen Toranlagen, die sie nun auch schon passierten. Sie waren in Zamagull.

Der Legat und sein Adept trotteten über das Kopfsteinpflaster. Wortlos schauten sie sich um. Von innen erschien Zamagull wesentlich kleiner und enger als von außen: zwei Hauptstraßen, die sich an einem zentralen Platz kreuzten; ein Gewirr von Gassen; nicht mehr als einige hundert Häuser insgesamt. Der Zustand der meisten Gebäude war beklagenswert, aber nicht desolat. Verrammelte Fenster und Eingänge, zugemauerte Türen, blinde Fensterscheiben, blätternde Fassaden, Unkraut, das in den Dachrinnen Fuß gefaßt hatte – die Zeichen des Verfalls begegneten ihnen auf Schritt und Tritt. Und doch war spürbar, daß hier nicht einfach alles verkam, sondern daß es Hände gab, die sich nach Kräften mühten, dem völligen Ruin zu wehren.

„Wie es hier wohl früher ausgesehen hat?“ überlegte Lartis laut.

Kalusherian schwieg eine Weile, bevor er sich zu einer Antwort aufraffte. „Sicher war es eine belebte Stadt“, bemerkte er seltsam tonlos.

„Was ist hier nur geschehen?“ Der Adept versuchte, durch ein stumpf gewordenes Fenster ins Innere eines Hauses zu sehen. „Wo sind all die Menschen nur geblieben?“

„Genau das wollen wir ja herausfinden.“

„Aber du mußt doch irgendeine Idee haben.“ Lartis wandte sich vom Fenster ab. „Irgendeine Vorstellung, einen Verdacht, dem du folgst.“

Kalusherian zuckte die Achseln. „Hast du denn einen?“

Lartis verschränkte die Hände im Nacken. „Ich weiß auch nicht. Vielleicht hat es doch mit dem Krieg zu tun. Oder mit der Ausweisung der Touristen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ach nein, das ist ja verrückt.“

Kalusherian entgegnete nichts.

„Ob es hier auch Touristen gegeben hat?“ erwog der Adept. „Und wenn ja, was hat man mit ihnen gemacht nach diesem komischen Gesetz? Hat man sie festgenommen? Hat man sie beschimpft und aus der Stadt getrieben?“

„Hör auf damit!“ Kalusherian brauste unvermittelt auf. „Das sind doch alles Spekulationen. Das führt zu nichts.“

Lartis kniff die Augen zusammen. „Schon gut. Kein Grund sich aufzuregen.“

Kalusherian biß sich schuldbewußt auf die Unterlippe. „Tut mir leid“, murmelte er betreten. „Laß uns zurückgehen!“

Die Häuser rund um den ehemaligen Marktplatz waren besser in Schuß. Hier hatten die wenigen derzeitigen Bewohner Zamagulls Quartier bezogen. Ganze acht waren es an der Zahl. Einer davon hielt sich allerdings, wie man ihnen mitgeteilt hatte, gerade außerhalb der Stadt auf.

„Trinken wir noch was?“ erkundigte sich Lartis, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatten. In einem als Gemeinschaftshaus ausgewiesenen Gebäude hatten Kalusherian und Lartis zwei für sie vorbereitete Zimmer bezogen. Zwei Zimmer, wie der Legat erleichtert registriert hatte.

„Ja“, willigte Kalusherian ein. „Das wär’ gar nicht so schlecht.“

„Ich kümmere mich darum.“