Die vorletzten Tage von Atlantis - Jan-Michael Dettmer - E-Book

Die vorletzten Tage von Atlantis E-Book

Jan-Michael Dettmer

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Beschreibung

Gut 100 Jahre nach einer weltumspannenden Katastrophe, dem „Großen Absturz“: Die Überlebenden haben sich in die Mauern ihrer „Stadt“, einem postapokalyptischen Hamburg, zurückgezogen. Ihre Geschicke werden von einer anonymen „Verwaltung“ gelenkt. Die beiden ungleichen Freunde Tino und Kolja betreiben hier ein Lokal namens „Atlantis“. Tino ist schwul und fürchtet sich vor körperlicher Nähe, Kolja hetero und erfüllt seine Bedürfnisse mit den Mitteln käuflicher Liebe. Ein außergewöhnlich schöner Sommer kündigt Veränderungen an. Fragen tun sich auf: Was verbirgt die Verwaltung auf der verbotenen Insel? Warum wird der Konsum der Droge „Blue“ geduldet? Und weshalb verschwinden Menschen wie Tinos ehemaliger Lover Robin spurlos? Miro und Alan, zwei junge Gäste aus dem „Atlantis“, locken Tino aus seinem Schneckenhaus. Tino läßt sich auf ein Experiment mit den beiden ein, das gezielt eine „außerkörperliche Erfahrung“ herbeiführen soll – und genau dies scheint ihnen auch zu gelingen. Doch der Preis dafür ist hoch: Alan und Miro sind wie vom Erdboden verschluckt, Tino landet nach einem Nervenzusammenbruch in der Psychiatrie. Kolja erhält merkwürdigen Besuch. Er nennt sich „Robin“, wie Tinos einstiger Freund. Dem Besucher gelingt es, den eingeschworenen Hetero Kolja zu verführen. Nach diesem Erlebnis ahnt Kolja, daß die Verwaltung finstere Geheimnisse vor den Bewohnern der Stadt hat, und beschließt, diesen auf den Grund zu gehen. Als Tino aus der Psychiatrie entlassen wird, bemerkt Kolja, daß er sich in den alten Freund verliebt hat. Dieser nimmt die Avancen, die Kolja ihm macht, aber gar nicht wahr. Um Tino aus seiner Lethargie aufzurütteln, konfrontiert er ihn mit den Ergebnissen seiner Recherchen – erfolglos. Frustriert handelt er sich eine „Landverschickung“ – die übliche Form des Strafvollzugs – ein. Miro taucht wieder auf und nimmt Koljas vorübergehend verwaisten Platz im „Atlantis“ ein. Er findet Zugang zu Tino und klärt ihn über die Rolle Robins und die wahren Ursachen seiner Probleme auf. Gemeinsam starten sie einen waghalsigen Versuch: die Erkundung der Zukunft. Miro und Tino werden in eine phantastische Vision gerissen. Aus der Perspektive eines Bewohners der Stadt in ferner Zukunft erleben sie die endgültige Apokalypse. Kolja kehrt aus der Landverschickung zurück und wirkt erneut verändert. Als Tino mit ihm am letzten Tag des Jahres die Messe besucht, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Die so fern gewähnte Zukunft ist näher, als er dachte...

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Ähnliche


Inhalt

Prolog: Nach dem Weltuntergang

Das Jahr der Mauersegler

Das Jahr der Geier

1. Der Traumantagonist

Die erste Vision: Totes Land

2. Der Schwarze General

Das Jahr der Eulen

1. Verzaubert

2. Geschichten am Limit

Die zweite Vision: Gericht

3. Einer zuviel

Epilog: Neubauten

Anhang

Fiktive Karte der Insel Atlantis nach Athanasius Kirchner: Mundus Subterraneus, 1665

Zu den Zeiten Schamgars, des Sohnes Anats, zu den Zeiten Jaels waren verlassen die Wege, und die da auf Straßen gehen sollten, die wandelten auf krummen Wegen. (...) Könige kamen und stritten; damals stritten die Könige Kanaans zu Taanach am Wasser Megiddos, aber Silber gewannen sie dabei nicht.

Vom Himmel her kämpften die Sterne, von ihren Bahnen her stritten sie wider Sisera. Der Bach Kischon riß sie hinweg, der uralte Bach, der Bach Kishon. Tritt einher, meine Seele, mit Kraft!

(Aus dem Deboralied; Richter 5, 6.19-21)

Prolog:

Nach dem Weltuntergang

Es ist geschrieben uns zur Warnung, uns, auf die das Ende der Zeiten gekommen ist.

(1.Korinther 10,11)

IM JAHR 107 PC IN EINER STADT, DIE EINST EINEN NAMEN TRUG

„Vielleicht sollte ich mal wieder einen Strip machen. Das kommt bei den Jungs immer gut an.“

„Ist der November so schlecht gelaufen?“ Tino wischte den Tresen ab. „Hab’ ich mir schon gedacht.“

„So geht es jedenfalls nicht weiter“, beschloß Kolja. Er legte den Stift, mit dem er die Monatsabrechnung durchgeführt hatte, zur Seite und lehnte sich zurück.

Tino ließ den Lappen fallen und sah Kolja an. „Du weißt, was ich davon halte.“ Kolja schwieg demonstrativ. „Du machst den Leuten was vor.“

„Das tue ich nicht.“

„Du ziehst dich aus, und sie finden dich geil“, entfaltete Tino seinen Gedankengang. „Aber es ist einseitig, und das finde ich unredlich.“

„Wenn sie nicht wüßten, daß ich hetero bin, wäre es das vielleicht“, widersprach Kolja. „Aber das ist hier ja wohl niemandem verborgen geblieben. Und anfassen lasse ich mich als Stripper sowieso nicht.“ Er seufzte. „Haben wir das nicht schon oft genug diskutiert?“

Tino trat an das große Fenster, das zur Straße lag, und stützte sich mit ausgebreiteten Händen daran ab. Die gegenüberliegende Seite verschwamm im grauen Nebel. „Dieses Wetter macht mich krank“, entfuhr es ihm matt. „Anfang Dezember... Der Winter fängt erst an.“

„Wenn du nicht einverstanden bist, lasse ich es“, lenkte Kolja ein.

Tino wandte sich wieder um. Sein Blick verlor sich im langgestreckten Schankraum, der fast auf gesamter Länge von der wuchtigen Theke durchzogen wurde. „Und wenn wir Siri bitten, noch einmal aufzutreten? Rico hat noch immer Kontakt mit ihr.“

„Siri ist seit über zwei Jahren nicht mehr auf der Bühne gewesen. Und sie will es auch nicht mehr. Das weißt du doch.“

Tino blickte Kolja lange an. Du sollst dich nicht für sie ausziehen, dachte er, das ertrage ich nicht. „Dann tu es“, sagte er leise.

* * *

SECHS JAHRE ZUVOR: NOVEMBER 101 PC

„Ihre Papiere, bitte!“

Tino fuhr zusammen. Der rot Uniformierte war wie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht. Fahrig durchsuchte er die Taschen seiner Kleidung. „Hier.“

Mißtrauisch betrachtete der Rote seinen Ausweis. Robin! schoß es Tino durch den Kopf. Ob er etwas mit Robins Verschwinden zu tun hat?

„Führen Sie verbotene Rauschmittel mit sich?“

Tino schlotterte am ganzen Leib. Kein Wunder, daß er den Verdacht des Roten schürte! „Nein, natürlich nicht.“

„Dann ziehen Sie bitte Ihre Jacke aus und leeren Sie die Hosentaschen!“ Tino folgte der Anordnung und reichte dem Roten seine Jacke, die dieser akribisch untersuchte. „Scheint alles in Ordnung zu sein. Denken Sie an die Ausgangssperre!“

„Ist ja gerade erst neun“, murmelte Tino, doch da war der Rote auch schon weitergezogen.

Robin! Warum hatten die Roten Robin festgenommen? Er hatte sich doch nichts zu Schulden kommen lassen. Und wo war er jetzt? Auf Landverschickung? Wenn er doch wenigstens ein Lebenszeichen von ihm erhielte! Wie lange war das jetzt schon wieder her? Zwei Monate? Oder drei? Tino wollte sich nicht genau erinnern. Die Zeit ohne Robin erschien ihm unerträglich.

Tino verließ den Park. Er brauchte Ablenkung. Seine Schritte führten ihn zu einer Kneipe in der Nähe, die er in letzter Zeit ab und zu aufgesucht hatte. Schwule Lokale mochte er im Moment nicht von innen sehen. Am Nebenhaus klebte ein halbverwittertes Plakat; es zeigte ein bestiefeltes Bein, das mit dem Absatz ein undefinierbares technisches Gerät zertrat. Keine Elektronik! prangte es in dicken signalroten Lettern quer über das Bild.

Tino betrat den langgestreckten Gastraum. Am Ende der Theke hockten drei Männer in vorgerücktem Alter und unterhielten sich ruhig. An einem der kleinen Tische zur Seite saß eine auffallend beleibte Frau mit ihrem schmächtigen Begleiter. Sie schwiegen sich an. Tino bestellte ein Bier und einen Klaren.

„Du warst schon öfter hier, oder?“

Der Mann hinter der Theke war etwa von Tinos Alter und erweckte einen sympathischen Anschein. Deshalb ließ Tino sich auf ein Gespräch ein. „Ja, ein paar Mal in den letzten Wochen.“

„Ich heiße Kolja.“ Der andere reichte Tino die Hand.

„Tino.“

„Du siehst bedrückt aus. Geht’s dir nicht gut?“

„Ich bin gerade in eine Kontrolle geraten“, verriet Tino.

„Das ist doch nichts Besonderes.“

„Vielleicht nicht.“ Tino umklammerte sein Bierglas. „Aber mein... ein Freund von mir ist vor ein paar Monaten von den Roten verschleppt worden.“

„Das tut mir leid.“ Kolja mußte sich abwenden, weil die Männer am Ende des Tresens eine neue Bestellung aufgaben. Als er wiederkam, brachte er die Schnapsflasche mit. „Ich geb’ dir einen aus“, teilte er mit und schüttete sich selbst auch ein Glas ein. „Prost!“

„Kannst du dir das überhaupt leisten?“ fragte Tino, als er das Pinnchen absetzte. „Allzuviel Betrieb ist hier ja nicht.“

„Na ja.“ Kolja zuckte die Achseln. „Der eine Drink wird mich schon nicht ruinieren. Was machst du denn so?“

„Ich arbeite in der Textilfabrik.“

„Gefällt dir das?“

„Die Verwaltung hat mich eingeteilt.“ Tino verzog einen Mundwinkel. „Ist halt ein Job wie andere auch.“

Kolja schielte an ihm vorbei auf die spärlich beleuchtete Straße. „Darf ich dich mal was Persönliches fragen?“

„Du bist ja schon dabei“, stellte Tino trocken fest.

„Du bist schwul, oder?“

„Ist doch nichts Besonderes“, griff Tino bewußt Koljas Formulierung von vorhin auf. Er betrachtete den Wirt. Bisher hatte er nicht den Eindruck gewonnen, daß auch er Männern den Vorzug gab. „Und du?“

„Nein, ich steh’ auf Frauen.“ Das Lächeln, das dabei auf sein Gesicht trat, war fast eine Entschuldigung.

Tino erwiderte das Lächeln. „Na, dann hätten wir das ja schon mal geklärt.“

Kolja begann, seine Finger zu kneten und sah sich um. „Du hast recht, die ‚Möwe’ läuft nicht gut“, gestand er. „Ich hab’ die Lizenz vor einem Vierteljahr vom Vorbesitzer übernommen. Er war fast achtzig. Seine Kundschaft ist weggestorben oder ins Heim gegangen. Und das ist der traurige Rest.“

„Da mußt du wohl irgendwas unternehmen.“

„Vielleicht würde eine schwule Kneipe besser laufen“, überlegte Kolja. „Vor ein paar Monaten hat das ‚Paradies’ zugemacht, ein paar Straßen weiter. Und bis jetzt ist nichts im Viertel, das es ersetzt hätte.“

Tino nickte. Das besagte Lokal war ihm nicht ganz unbekannt. „Na ja“, wandte er vorsichtig ein, „ein Hetero und eine schwule Kneipe...“

„Eben. Ich brauche einen schwulen Kompagnon.“ Er fixierte sein Gegenüber.

Tino schlug die Hände vor der Brust zusammen. „Meinst du etwa mich?“

„Warum nicht? Hättest du Lust?“

„Ich... Ich weiß nicht. Das muß ich erstmal überlegen.“

Kolja nahm die leeren Schnapsgläser und spülte sie aus. „Du sollst es ja nicht jetzt gleich entscheiden.“

„Wird die Verwaltung das überhaupt genehmigen?“

„Ach, in diesen Dingen stellen sie sich nicht so an. Für deinen Job in der Fabrik finden sie schon einen anderen.“

Bilder strichen Tino durch den Kopf: Er stand hinter der Theke und zapfte Bier, die Kneipe voller Leute. Der Gedanke begann ihm zu gefallen. „‚Zur Möwe’ ist kein so toller Name für einen schwulen Laden“, befand er spontan.

„Hey, du machst ja schon Pläne“, lachte Kolja. „Hast du denn eine bessere Idee?“

„Wie wäre es mit ‚Atlantis’?“ schlug Tino vor.

Ein paar Wochen später standen Tino und Kolja auf der Straße und begutachteten das neue Schild über dem Eingang.

„Atlantis...“, sinnierte Kolja. „Die Insel, die im Meer versank...“

Ein Anflug von Besitzerstolz erwachte in Tinos Brust. „Genau. Leben wir nicht auch auf so einer Insel, die allmählich untergeht?“

„Atlantis ist nicht allmählich untergegangen“, korrigierte Kolja, „sondern in einem Tag und in einer Nacht.“

„Oha! Da kennt sich aber jemand aus.“

Ein Windstoß fuhr Kolja durch die Haare. „Mich interessieren diese alten Geschichten“, stellte er fest. Tino fröstelte. Er legte die Arme schützend um seinen Körper. „Und den Weltuntergang haben wir ja auch schon hinter uns“, ergänzte Kolja.

„So? Und weshalb sind wir dann noch da?“ Tino musterte seinen neuen Geschäftspartner erwartungsvoll.

„Der Große Absturz, das Ende des Elektronischen Zeitalters – das war in Wahrheit der Weltuntergang. Wir sind nur noch das läppische Nachspiel.“

Mit der Eröffnung des „Atlantis“ bezog Tino zwei bislang ungenutzte Zimmer der verwinkelten großen Wohnung im Obergeschoß des Hauses, so daß er nicht nur Koljas Teilhaber, sondern auch sein Mitbewohner wurde. Seiner neuen Aufgabe widmete er sich mit Feuereifer, und im täglichen Schankbetrieb spielte sich alsbald ein fester Tagesrhythmus zwischen den beiden ungleichen Partnern ein. Um vier Uhr nachmittags öffnete Kolja das „Atlantis“, um einige Rentner aus der Nachbarschaft zu bewirten, die weite Wege scheuten und ihre Getränke weiterhin in vertrauter Umgebung einzunehmen wünschten. Gegen sechs – die ersten Gäste waren bereits wieder gegangen – übernahm Tino, und zwei Stunden später, wenn der größte Ansturm kam, stieß Kolja erneut zu ihm, um ihn zu unterstützen. Nach elf begann sich das „Atlantis“ dann langsam zu leeren, bevor um kurz vor Mitternacht die letzten Besucher mit Blick auf die bevorstehende Ausgangssperre eilig nach Hause huschten.

Erster Stammgast im neuen Lokal wurde Waldo. Pünktlich um sieben, so daß man die Uhr danach hätte stellen können, betrat er das „Atlantis“ – „Hallo, Tino!“ – und wuchtete seinen stattlichen Leib behäbig auf den Hocker am Kopfende der Theke, von wo er alles im Blick hatte. Diesen Stammplatz wagte ihn von Stund an niemand mehr streitig zu machen. Und sofern ein Unkundiger dennoch Anstalten traf, Waldos Beobachtungsposten zu okkupieren, so wurde er prompt auf die Gegebenheiten hingewiesen – nicht von Tino oder Kolja, sondern von den übrigen Gästen, die die älteren Rechte eifrig verteidigten: „Das ist aber Waldos Platz!“

Wie Tino und Kolja es erwartet hatten, rekrutierte sich ein Großteil der Gäste aus der ehemaligen Kundschaft des „Paradies“, aber nach und nach kamen auch weitere dazu, die aus benachbarten Stadtvierteln stammten. Wenn Tino und Kolja um zwölf den Schlüssel herumgedreht und die Rolläden heruntergelassen hatten, wurde in der Regel noch gespült und aufgeräumt, bevor die beiden sich nach einem letzten Schlummertrunk zur Ruhe begaben. Der Vormittag stand dann für Einkäufe und Bestellungen zur Verfügung, um die Bestände aufzufüllen. Ein gemeinsames Mittagessen folgte, und in den freien Stunden des frühen Nachmittags entwickelte Tino die Gewohnheit, sich noch einmal ein wenig die Füße zu vertreten, wobei Kolja ihn manchmal begleitete, besonders montags, wenn das „Atlantis“ seinen Ruhetag einlegte und er nicht schon wieder um vier für die Rentner öffnen mußte. Ihr Geschäft war gut angelaufen. Es sah danach aus, als sei das „Atlantis“ wie erhofft in eine Marktlücke gestoßen.

*

ANFANG 102 PC

„Hier ungefähr muß es gewesen sein.“ Tino blieb stehen.

„Weißt du denn es nicht mehr genau?“ wollte Kolja wissen.

„Doch. Es war hier.“ Tino deutete auf ein Café; das Haus, in dem es sich befand, ähnelte einem kleinem Tempel: ein Portal mit vier Säulen; ein trockengelegter Brunnen mit ramponierten Figuren davor. Ein Mann und eine Frau, die sich auf eine Robbe stützten, waren noch zu erkennen. „Das ‚Magnolia’. Dort haben wir uns getroffen. Anschließend wollten wir spazierengehen, ’runter zum See. Es waren viel Rote unterwegs. Die meisten kamen aus dem Garten dahinten. Razzia. Ich glaube, sie haben nach Drogen gesucht.“

Der „Garten“ war eine verwilderte Brache ein Stück südlich des Cafés. Solche Baulücken waren nicht selten in der Stadt. Die meisten Groß- und Hochbauten waren in den Jahren des Chaos’ nach dem Großen Absturz zerstört und später abgeräumt worden.

„Es... Es waren zwei Rote.“ Tino stockte. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Sie kamen direkt auf uns zu. Eine Streife und ein Offizier, mit schwarzem Kragen. Papiere, Drogenkontrolle, das Übliche. Aber der Offizier hat Robin gleich so komisch angeguckt, als stimme irgendwas nicht. Und dann befahl er, daß er mit aufs Revier kommen solle.“ Tino atmete schwer. „Was denn los sei, fragte ich. Es sei doch alles in Ordnung. Doch der Offizier meinte nur, daß mich das nichts anginge. Als ich nicht nachgab, wurde er rüde und drohte, mein Verhalten als Widerstand auszulegen. Ich gab klein bei und sagte mir, es würde sich schon alles aufklären.“ Tino schloß die Augen und biß sich auf die Unterlippe. „Seitdem ist Robin nicht wieder aufgetaucht.“

Kolja legte einen Arm um seine Schultern. Tino spürte, daß ihm die tröstende Geste gefiel. Ich darf nicht vergessen, daß er hetero ist, rief er sich selbst zur Ordnung.

„Und wenn sie ihm doch nur ein paar Monate Landverschickung aufgebrummt haben?“ meinte Kolja im Weitergehen.

Tino schüttelte entschieden den Kopf. „Weshalb denn? Außerdem werden die Listen mit den Landverschickten wöchentlich ausgehängt. Die hab’ ich natürlich kontrolliert.“ Er seufzte. „Willst du ihn mal sehen?“

„Hast du denn ein Foto?“

„Ja. Ich hab’ es immer bei mir.“ Tino griff in die Innentasche seiner Jacke und reichte Kolja ein Bild, das dieser aufmerksam betrachtete. Es zeigte einen ansteckend lachenden Jungen mit glatten blonden Haaren und strahlend blauen Augen.

„Er ist jünger als du“, stellte Kolja fest.

„Ja. Ein paar Jahre.“

„Ein hübscher Bursche.“ Kolja gab Tino das Foto zurück.

„Kannst du das denn beurteilen?“

„Wieso nicht? Ich bin ja nicht blind.“

Tino steckte das Bild wieder ein. „Ja sicher. Du hast ja recht.“

Eine Weile schwiegen sie sich an. Sie folgten einer breiten Straße, zu deren Seiten sich einige vergleichsweise imposante Bauten reihten. Der Zustand der Fassaden war allerdings erbarmungswürdig: Farbe blätterte; der Putz rieselte. Vor langer Zeit hatte die Verwaltung eine Bestimmung erlassen, der zufolge kein Gebäude mehr höher als sechs Stockwerke sein durfte, mit Ausnahme der unmaßgeblich geringen Zahl derer, die den Großen Absturz und seine Folgen heil überstanden hatten. Alles andere galt als unsicher.

„Ich will dich ja nicht zusätzlich beunruhigen“, begann Kolja schließlich. „Aber...“

„Aber was?“

„Es gibt da so Gerüchte über geheime Projekte der Verwaltung.“

„Projekte? Was für Projekte?“

„Fortpflanzungsprojekte...“ deutete Kolja an.

Tino schnaubte ärgerlich. „Robin ist schwul.“

„Aber vielleicht ist er fruchtbar.“

„Das ist doch nur so eine Verschwörungstheorie, die irgendwelche Leute aus Langeweile zusammengesponnen haben“, verwarf Tino das Argument.

„Mag schon sein“, steckte Kolja zurück. „Es wird halt viel erzählt.“

Die zwei lenkten ihre Schritte durch Nebenstraßen allmählich in Richtung „Atlantis“ zurück, als sie an einem der mehr oder weniger vernachlässigten Stadtparks vorbeikamen. Etliche davon hatten einen einschlägigen Ruf...

„Gehst du da eigentlich auch manchmal hin?“ fragte Kolja und wies auf die Grünanlage zu ihrer Rechten.

„Selten. Seitdem ich mit Robin zusammen bin... war, ist das alles irgendwie fade.“

„Ich wollte, sowas gäb’s auch für Heteros“, offenbarte Kolja sich ungeniert.

Tino schmunzelte. „Hast du nie ’ne Freundin gehabt?“ Er sah seinen Nebenmann an. Kolja hatte eine gute Figur, die er durch regelmäßige sportliche Übungen in Form hielt, und verlockte mit großen dunklen Augen. „Ich meine... Versteh mich nicht falsch, aber du wärst doch eine gute Partie.“

Kolja lachte. „Alles, nur keine feste Bindung! Dafür bin ich nicht geschaffen.“ Er breitete die Arme aus. „Jetzt, wo wir das ‚Atlantis’ haben, bleibt mir nicht einmal die Zeit für einen Aufriß in der Disko. Da bleiben höchstens die Nutten auf der Hafenmeile. Auch egal.“

„Tja, vielleicht hast du recht“, überlegte Tino laut. „Das gibt’s für Schwule ja auch.“

Kolja runzelte die Stirn. „Nein, so abgebrüht bist du nicht. Aber du wirst schon wieder jemanden finden.“

„Oder Robin kommt zurück.“

Das „Atlantis“ brummte. Und das war nicht zuletzt das Verdienst zweier neuer Gäste, Rico und Danny, die unabhängig voneinander etwa ein Vierteljahr nach der Eröffnung auf der Bildfläche erschienen und beide Mittelpunkt eines umfangreichen Freundeskreises waren.

Rico: geschlitzte Augen und schmale Lippen, auf denen meist ein gewinnendes Lächeln stand; nackenlange Haare, sehnig und durchtrainiert, laut und doch charmant – ein schwuler Macho.

Danny: groß und schlank, schwarze Haare, eine auffällige, wenn auch nicht unförmige Nase, die Gesten ebenso geziert wie berechnet; eine Tucke, wie sie im Buche stand.

Zwei, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, und doch – was kaum ein Außenstehender für möglich gehalten hätte – bandelten die beiden miteinander an und verliebten sich. Es war so etwas wie der Urknall für das „Atlantis“. Alles schien sich um das neue Traumpaar zu drehen, so daß ihnen alsbald die Spitznamen „Chef“ und „Chefin“ beigelegt wurden. Ihre Entourage füllte allabendlich das Lokal – sowie Kolja und Tino die Kasse. Unerschöpflich war der Gesprächsstoff, den die beiden den Gästen boten, und sie präsentierten sich im Licht der allgemeinen Aufmerksamkeit wie der Sonnenkönig und seine Braut.

Nur Waldo verharrte unbeeindruckt von all der Aufgeregtheit auf seinem Hocker wie ein Fels in der Brandung, und wenn sich einmal ein kurzer Moment der Muße fand, amüsierte er sich mit Tino oder Kolja über die Allüren der illusteren Gesellschaft, die sich hier versammelt hatte. Sobald die Uhr auf halb zwölf rückte, zelebrierten Rico und Danny ihren Aufbruch, wobei den Inhabern des „Atlantis“ die Ehre einer persönlichen Verabschiedung zuteil wurde: Tino mit angedeuteter Umarmung und Küßchen; Kolja, was den „Chef“ betraf, mit einem festen Händedruck, während die „Chefin“ ihm eine Kußhand und ein maliziöses Grinsen schenkte.

„Wie kommst du eigentlich damit klar?“ wollte Tino eines Tages von Kolja wissen.

„Womit?“

„Womit schon? Der einzige Hetero zu sein unter all den Schwulen. Umgekehrt stell’ ich mir das nicht immer so witzig vor.“

Kolja schmunzelte in sich hinein. „Ich mag die Atmosphäre, wirklich! Und ich mag auch die Leute.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit“, deutete Tino an.

Jetzt lachte Kolja laut. „Ja sicher. Viele haben es schon versucht. Nicht zuletzt Rico.“

„Rico?“

„Ja, kurz bevor er mit Danny zusammengekommen ist. Aber es war kein Problem für ihn. Er hat es gleich akzeptiert.“

„Du verstehst dich ganz gut mit Rico, wie?“

„Ich glaub’, schon.“

„In gewisser Weise seid ihr euch ähnlich“, behauptete Tino. „Bis auf diesen einen Punkt natürlich.“

Die Bebauung blieb hinter ihnen zurück, und die Straße öffnete sich zu einem weiträumigen Platz. Auf der gegenüberliegenden Seite wurde die Stadtmauer sichtbar; ein häßlicher, mehrere Meter hoher Wall aus Beton, der von schartigen Zacken und Stacheldraht gekrönt war. Das Nordtor, eine vielfach gesicherte Schleuse, die sich darin auftat, wurde von einer schwerbewaffneten Patrouille Roter bewacht. Der verhangene Himmel verstärkte den düsteren Eindruck dieser Szenerie. Vormittags, wenn die Laster Lebensmittel und Rohstoffe von den nicht minder bewachten Farmen auf dem Land in die Stadt brachten, um deren Bewohner zu versorgen, herrschte hier oft lebhafter Betrieb. Jetzt aber lag über allem eine bedrückende Stille.

Koljas Miene wirkte verschlossen. „Ein trostloser Ort“, bemerkte er grollend.

„Hast du nicht mal erzählt, früher seien die Städte auch von Mauern und Toren umgeben gewesen?“

„Lange vor dem Großen Absturz, ja. Wahrscheinlich dienten sie ähnlichen Zwecken wie heute, aber...“ Kolja verzog das Gesicht. „...das waren ästhetische Bauwerke mit Türmen und Mauerkronen. Dies hier ist... abstoßend.“

„Und anscheinend doch notwendig“, erwiderte Tino sachlich. „Letzte Woche soll es wieder einen Überfall auf einen Transport gegeben haben.“

„Ich hab’ davon gehört.“ Kolja schüttelte den Kopf. „Daß diese Idioten es nie aufgeben!“

Aus dem Wachgebäude neben dem Tor trat ein Offizier, der dem Posten offenbar neue Anweisungen gab.

„Irgendwie zieht es mich immer wieder hierhin“, gestand Tino.

Die Roten machten sich daran, die Schleuse zu öffnen. In der Ferne kündigten Motorengeräusche einen sich nähernden Kraftwagen an.

„Nanu“, staunte Kolja. „Wer kommt denn um diese Zeit in die Stadt?“

Tino entgegnete nichts. Die Roten schwärmten aus, und nach beendeter Kontrolle rumpelte ein Fahrzeug im Schrittempo durch die geöffneten Tore.

„Ein Bus!“ Kolja klang verwirrt. „Aber was...?“ Er verstummte, weil das Transportmittel eine Reihe Menschen unterschiedlichen Alters ausspuckte, die sich in der Umgebung zu verteilen begannen.

„Es sind Landverschickte“, löste Tino das Rätsel auf. „Sie haben ihre Strafarbeit auf den Farmen abgebüßt und kehren in die Stadt zurück.“

Kolja ging ein Licht auf. „Deshalb sind wir hierher gekommen. Du wolltest sehen, ob nicht vielleicht doch Robin dabei ist.“

„Ja.“ Tino wandte sich enttäuscht ab. „Aber du siehst ja selbst: kein Robin.“

Kolja berührte ihn vorsichtig. „Tino...“ sagte er eindringlich.

„Scheiße!“ Tino kickte einen Kieselstein weg. Zorn und Liebeskummer mischten sich. Tränen schossen ihm in die Augen. Er unterdrückte sie. „Ich vermisse ihn so sehr.“

Kolja nahm ihn in die Arme. Tino ließ sich hineinfallen. Verstehst du das überhaupt? dachte er dabei. Meinst du wirklich, du könntest mich trösten?

Aus dem grauen Himmel erscholl der aggressive Schrei einer großen Möwe.

*

JUNI 102 PC

Oft war das nicht allzu große „Atlantis“ bis auf den letzten Platz gefüllt – und darüber hinaus. Um der drangvollen Enge zu entgehen, wichen die Gäste an den eher spärlich gesäten schönen Junitagen bis auf die Straße aus. Ein Umstand, der nicht ohne Konsequenzen bleiben sollte. Doch es waren erst die plötzlich abreißenden Gespräche und die darauf einsetzende Stille, die Tino aufmerksam werden ließen. Aber da standen die beiden Roten auch schon direkt vor ihm am Tresen. Tino erstarrte. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, daß Kolja sich durch die Menge zu ihm kämpfte.

„Sind Sie der Inhaber des Lokals?“ schnarrte der kleinere der beiden Ordnungshüter.

„Ja, gemeinsam...“

„...mit mir“, ergänzte Kolja, der in diesem Augenblick zur Stelle war.

„Besitzen Sie eine Lizenz für Außengastronomie?“

Tino bekam große Augen. „Außengastronomie?“ echote Kolja.

„Ja. Wenn Ihre Gäste Getränke auf der Straße einnehmen, benötigen Sie eine Lizenz für Außengastronomie.“

Kolja strich sich verlegen durch die Haare. „Also... das... war mir nicht bekannt.“

Der Rote fixierte Kolja unter mißtrauisch heruntergezogenen Augenlidern hinweg. „Dann wollen wir noch einmal großzügig sein. Sollten sich die Verstöße fortsetzen, kommen Sie um eine Strafe nicht herum. Aber für heute ist hier erstmal Schluß.“ Er setzte sich in Positur und warf den Kopf in den Nacken. „Feierabend!“ rief er mit Befehlsstimme. „Gehen Sie bitte nach Hause! Am Ausgang Drogenkontrolle!“ Mit einer Handbewegung wies er seinen Kollegen an, die angekündigte Maßnahme durchzuführen.

Tino und Kolja wechselten betretene Blicke und fügten sich ins Unvermeidliche. Unter gedämpftem Gemurmel leerte sich das Lokal, während die beiden abkassierten. Die Prozedur zog sich in die Länge, da sich die Kontrolle der Roten bisweilen zur Leibesvisitation ausweitete. Grußlos zogen schließlich auch die Ordnungshüter von dannen.

„Eine Lizenz für Außengastronomie!“ Kolja spie das Wort aus. „Was ist das nur wieder für eine Schikane!“

Tino zuckte die Achseln. „Da kannst du eben nichts machen. Laß uns lieber aufräumen.“

Kolja grummelte irgend etwas Unverständliches in sich hinein und fing wie Tino an, die überall herumstehenden Gläser einzusammeln.

„Was, zum Teufel, ist das denn?“ Tino hielt eine kleine Papiertüte in der Hand, die er vom Fußboden aufgelesen hatte, und brachte eine Anzahl unscheinbarer weißer Pillen daraus zum Vorschein.

„Zeig mal her!“ forderte Kolja alarmiert und unterzog den Fund einer eingehenden Begutachtung. „Das ist nur Blue“, gab er das Ergebnis bekannt. „Gott sei Dank!“

„Blue? Wie kannst du da so sicher sein?“

„Wenn du’s zerbröselst, riecht es ein wenig wie Pfefferminz.“

Tino nahm die Tüte mit den Pillen wieder an sich. „Aber Blue ist doch auch verboten, oder nicht?“

„Ja, schon. Aber deswegen machen die Roten keinen Aufstand. Sie nehmen es dir ab, und das war’s.“

„Hast du das Zeug denn schon mal genommen?“ wollte Tino wissen.

„Zwei oder drei Mal. Aber das ist lange her. Es hat mir nichts gebracht.“

„Und wie wirkt es? So, wie man sich erzählt?“

Kolja stellte ein Tablett mit Gläsern auf der Theke ab. „Im wesentlichen schon. Das Einsetzen der Wirkung merkst du daran, daß deine Wahrnehmung blaustichig wird. Daher ja auch der Name: ‚Blue’ gleich blau. Dann wirst du irgendwie passiv. Deine Reaktionen verlangsamen sich. Es ist seltsam. Blue macht weder euphorisch noch richtig apathisch, aber alles fällt von dir ab, der ganze Gefühlskram. Du fühlst dich einfach ‚cool’, wie man so sagt. Das ist übrigens – genau wie ‚blue’ – Britisch.“ Kolja rückte die Hocker vor der Theke zurecht. „Aber wie gesagt: Ich weiß nicht, was man davon hat.“

Gedankenverloren steckte Tino die Tüte mit den Pillen in die Hosentasche.

„Und du willst wirklich diese Lizenz beantragen?“

„Warum nicht? Versuchen kann man es ja mal.“

Tino sah an dem mächtigen Gebäude in die Höhe, das sich unweit eines Ausläufers des innerstädtischen Sees erhob. Einst – so hieß es – hatte es ein repräsentativer Turm überragt, den man irgendwann nach dem Großen Absturz wegen Einsturzgefahr abgetragen hatte. „Warum heißt es eigentlich ‚Rathaus’?“ versuchte Tino zu witzeln. „Lösen die darin vielleicht Kreuzworträtsel?“

Kolja lupfte, ohne amüsiert zu wirken, die Augenbrauen. „Weil es früher Sitz des Rates war. Der Rat wurde gewählt und lenkte die Geschicke der Stadt.“

„Gewählt? Von wem denn?“

„Von allen erwachsenen Bewohnern der Stadt.“

Tino wirkte konsterniert. „War das nicht ziemlich umständlich?“

„Na ja“, räumte Kolja ein. „Ein gewisser Aufwand muß das schon gewesen sein.“

„Diese alten Kamellen...“ Tinos Stimme stockte kurz. „Wieso interessiert dich das nur so sehr?“

„Ich geh’ jetzt ’rein“, beschloß Kolja, ohne auf die Äußerung einzugehen. „Kommst du mit?“

„Nein. Zuviel Rote.“

„Die Verwaltungsangestellten sind zivil.“

„Trotzdem. Ich warte hier auf dich.“

„Und? Was war?“ rief Tino, als Kolja durch das schmiedeeiserne Doppeltor trat, das die Eingangshalle des Rathauses zum Markt hin abschloß.

Kolja breitete die Arme aus. „Was schon? Der Antrag wird bearbeitet.“ Das überhohe, reich verzierte Tor fiel hinter ihm zu. Im Rundbogen darüber prangte ein Wappen.

„Aha. Was bedeutet das?“

„Abwarten. Mehr läßt sich vorerst nicht tun.“ Kolja war sichtlich unzufrieden. „Man müßte Beziehungen zu diesen Leuten knüpfen. Sie sind doch nicht kaserniert, so wie die Roten. Sie leben ganz normal in der Stadt. Unter den Rentnern, die nachmittags kommen, ist auch so ein ehemaliger Verwaltungsbediensteter. Aber der nützt uns wohl nicht mehr viel.“

„Vielleicht unter unseren anderen Gästen...“ erwog Tino.

„Ja, sicher. Warum sollte es bei der Verwaltung weniger Schwule geben als anderswo?“

Tino schlug den Kragen seiner Jacke hoch, da ein lästiger Nieselregen aufgekommen war. Wenn dieses Wetter anhielt, benötigten sie die Lizenz für Außengastronomie eh nicht mehr. „Am besten wäre es natürlich, sich gleich einen Vorgesetzten zu angeln.“

Kolja stieß verächtlich Luft aus. „Vorgesetzte! Hast du denn schon mal einen kennengelernt? Kein Mensch weiß doch, wie diese Verwaltung wirklich arbeitet. Aber Vorsicht! Das sind Fragen, die man besser gar nicht stellt.“

„Es muß doch eine Art von Hierarchie geben“, widersprach Tino. „Wie soll so eine Institution sonst funktionieren?“

Kolja sah an Tino vorbei. Sein Blick wirkte verschleiert. „Der Schwarze General“, murmelte er.

„Der Schwarze General? Wer ist das?“

„Er soll Oberbefehlshaber der Roten und gleichzeitig Leiter der Verwaltung sein.“

Tino winkte ab. „Das ist doch auch nur wieder eins dieser albernen Gerüchte.“

„Ich weiß nicht. Ich war mal mit einem Typen befreundet, der kannte jemanden, der den General einmal kurz gesehen haben will, bei einer Großrazzia der Roten.“

„Ach, komm! ‚Der Freund eines Freundes hat erzählt...’ So fangen doch all diese Märchen an, die sich nie beweisen lassen.“

„Dann laß uns gehen.“ Kolja schritt aus, und Tino setzte ihm nach. „Und wenn das nichts wird mit der Außengastronomie, habe ich noch eine andere Idee.“

Die Stirnwand der Gaststube öffnete sich zu einem kleinen Flur, der rechterhand in ein Treppenhaus überging, das die Privaträume im ersten Stockwerk erschloß. Gegenüber davon war ein Gelaß, das als Abstellkammer diente. Die Verlängerung des Flurs bildete dagegen ein weiterer Gang, der zu den Toiletten führte und auf der rechten Seite von einer nachträglich eingezogenen Bretterwand begrenzt wurde. In ihr befand sich eine Tür.

„Diesen bescheuerten Antrag hätten wir uns auch sparen können. Warum sind wir nicht sofort darauf gekommen?“ Kolja drehte den klobigen Schlüssel um. Das leicht angerostete Schloß schnappte geräuschvoll auf. Kolja stieß die Tür auf und suchte den Lichtschalter. Ein paar nackte Glühbirnen verbreiteten schummrige Helligkeit, die einen wenig erhebenden Anblick enthüllte. Alle Gegenstände in dem großen Raum waren von einer dicken Staubschicht überzogen: die aufeinander gestapelten Tische und Stühle ebenso wie die kleine Bühne und der abgewetzte Parkettfußboden. Vor den Fenstern hingen schwere Vorhänge. Es roch muffig.

„Der Vorbesitzer hat diesen Zustand vor über zwanzig Jahren hergestellt, weil er für den Saal keine Verwendung mehr hatte“, berichtete Kolja.

„Und du bist sicher, daß wir dafür keine Genehmigung brauchen?“ stichelte Tino. „Eine Saal- oder eine Bühnenlizenz vielleicht?“

„Nein. Vorsichtshalber habe ich mich ja gleich danach erkundigt.“

Tino seufzte und ging einige Schritte umher. Dabei machte er, verborgen hinter einigen Stühlen, eine merkwürdige Entdeckung. „Ein Klavier!“ Angewidert schnippte er eine eingetrocknete Spinne weg und hob den Deckel, von dem dicke Staubflocken herabrieselten. Unbeholfen schlug er einige Tasten an und entlockte dem Instrument ein paar schräge Akkorde.

„Wie?“ meinte Kolja. „Kannst du spielen?“

„Hat sich das angehört, als wenn’s so wär’?“

„Ehrlich gesagt: nein.“ Kolja hustete. Der aufgewirbelte Staub reizte seine Atemwege. „Es gibt andere Prioritäten.“

Danny hatte sich ein Tuch um den Kopf gebunden und hielt den Besen vor sich wie einen zum Stoß bereiten Degen. „Wo ist der Feind?“

„Hier.“ Kolja deutete durch die geöffnete Tür.

Danny – vorgestreckter Kopf, grimmige Miene – stürmte kampfbereit hindurch. Um sogleich mit einem erstickten Aufschrei stehenzubleiben. „Bei allen heiligen Tunten! Ist das hier eine vorelektronische Grabkammer? Ich hoffe, ihr habt die Mumien schon weggeräumt.“

Kolja, gefolgt von Tino, Rico und Waldo, betrat ebenfalls den Saal. „Du siehst, Zorro, es gibt eine Menge zu tun.“

Während Tino und Danny zunächst die verdreckten Fenster reinigten, machten sich Kolja, Rico und Waldo mit schwerem Gerät daran, die Bretterwand zu beseitigen. Nach einer Weile stützte Danny sich mit verschränkten Armen auf seinen Besen und beobachtete die Bemühungen der drei. „Hach, nun schau sich einer diese Kerle an!“ fing er an herumzutucken. „Ganze Wände reißen sie nieder.“

Tino postierte sich neben der „Chefin“ und schlug denselben Tonfall an. „Ja, diese Kraft“, flötete er. „Wie sich die Muskeln unter dem Hemd abzeichnen!“

Waldo grinste über das feiste Gesicht und reckte sich, was aber nur dazu führte, daß sich sein ansehnlicher Wanst vorschob.

„Meinst du nun meinen Kerl oder deinen?“ hakte Danny nach.

„Kolja ist nicht mein Kerl.“

„Also das vergeß ich doch immer wieder.“

„Eure Tuntenshow interessiert hier niemanden“, tönte Rico, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. „Wenn die Damen stattdessen mit dem Putzen fortfahren würden?“

Danny klimperte mit den Augenwimpern. „Hach, ich mag es, wenn er mich so grob anfaßt.“ Sagte es und schwang wieder den Besen.

Am Abend eines langen Tages war die Bretterwand niedergelegt, aller Schmutz entfernt und Tische und Stühle wieder aufgestellt. Nur da, wo die Wand gestanden hatte, waren ein paar schadhafte Stellen geblieben, die in nächster Zeit ausgebessert werden mußten. Die fünf hatten sich um einen Tisch plaziert – Tino hatte Schnittchen geschmiert, Kolja Bier gezapft – und griffen beherzt zu.

„Das gefällt mir richtig gut.“ Kolja betrachtete zufrieden das vollbrachte Werk. „Die Bühne, das Klavier... Daraus müßte man eigentlich mehr machen.“

„Wie wär’s mit einer kleinen Tuntenshow“, erbot Danny sich unverzüglich.

Rico legte eine Hand auf sein Knie. „Tino und Kolja wollen die Gäste anlocken und sie nicht verscheuchen.“

Waldo nahm sich einen neuen Happen vom Teller. „Ich kannte mal jemanden, der Klavier spielen konnte.“

„Das hat Tino auch schon versucht“, seufzte Kolja. „Über das Ergebnis decken wir lieber den Mantel des Schweigens.“

„Man müßte Klavier spielen können“, brummte Waldo auf eine einfache Melodie. „Wer Klavier spielt, hat Glück bei den Jungs.“

„Bei den Frauen“, verbesserte Kolja.

„Ja, das wissen wir ja“, warf Danny pikiert ein.

„Der ursprüngliche Text des Liedes heißt aber so: Wer Klavier spielt, hat Glück bei den Frauen.“

„Überstürzen wir nichts“, mahnte Tino und setzte das Bierglas ab. „Warten wir erst einmal ab, ob der Saal überhaupt von den Leuten angenommen wird.“

Manchmal spürte Tino, wie ihn Blicke trafen, die über das bloße Interesse der Gäste an ihrem Wirt hinausgingen. Tino fühlte sich davon verunsichert und scheute sich, auf diese Annäherungsversuche einzugehen. Nächsten Montag könnte ich mal wieder in den Park gehen, beschloß er halbherzig und ahnte schon, daß aus diesem Vorhaben nicht viel werden würde.

Manchmal, wenn ein neuer Gast hereinkam, spähte Tino zur Tür. Manchmal zuckte er zusammen, weil ein Blondschopf erschienen war. Robin? Aber jedes Mal war es ein anderer, der ihm da schließlich entgegenblickte. Würde er es jemals schaffen, sich ihn aus dem Kopf zu schlagen?

Manchmal trank Tino mit Waldo einen Kurzen, wenn dieser wie üblich um Punkt Sieben seine Aufwartung machte.

„Hallo, Tino!“

Der Angesprochene wollte bereits zur Schnapsflasche greifen, als ihn ein Blick auf die Uhr belehrte, daß es erst kurz vor sieben war. Tino wandte den Kopf und schaute dem Ankömmling ins Gesicht. Es war nicht Waldo.

„Conny?“

„Wie er leibt und lebt.“

„Warst du nicht auf Landverschickung?“

„Ja, seit einem Vierteljahr bin ich wieder in der Stadt.“ Der Mann lachte Tino an. „Und erst gestern habe ich davon gehört, daß du diesen Tuntenschuppen hier aufgemacht hast.“

Tino lächelte schief. „Ja, zusammen mit Kolja.“

„Dein Freund?“

„Nein, Kolja...“ Es schien ihm beinahe peinlich, das auszusprechen: „...ist hetero.“

„Ach so.“ Connys Reaktion war denkbar knapp. „Und was macht sonst die Liebe?“

Die direkte Art des anderen war Tino nicht so ganz recht, zumal er ihm seit über einem Jahr nicht mehr begegnet war. „Du hast die Geschichte mit Robin noch mitgekriegt?“

„Robin? Nicht, daß ich wüßte. Da müssen mich die Roten bereits verknackt haben.“

Tino überlegte, warum Conny die Landverschickung auferlegt worden war. Hatte es sich um eine Drogensache gehandelt? „Ist ja auch egal.“ Er hatte kein Verlangen, wieder in den alten Wunden zu wühlen. „Das ist eh vorbei.“ Er stellte Conny ein Bier hin.

„Na ja, hier hast du ja wahrscheinlich jeden Abend freie Auswahl.“

Tinos Antwort fiel ein wenig säuerlich aus. „No sex, please. We are British.“

„Hä?“

„Das ist Britisch. Dieselbe Sprache, aus der Worte wie ‚Blue’ oder ‚cool’ stammen.“

„Und was heißt das nun?“

„Keinen Sex, bitte“, übersetzte Tino. „Wir sind britisch.“

Conny war irritiert. „Und wie haben sich diese Leute dann fortgepflanzt? Durch Ableger?“

Erleichtert bemerkte Tino, daß er seinem Gegenüber die Initiative entwunden hatte. „Nun“, verriet er. „Vor dem großen Absturz soll das gang und gäbe gewesen sein. Man nannte das auch ‚Klonen’. Aber vielleicht waren sie nur so prüde, daß sie nicht zugeben wollten, Sex zu haben.“

„Woher hast du nur solche Sprüche?“

Tino füllte einem anderen Gast das Bierglas. „Ach, das hab’ ich mir von meinem Kompagnon abgeguckt. Der ist ganz vernarrt in diesen alten Kram. Allmählich beginnt das abzufärben.“

„Hallo, Tino!“

„Hallo, Waldo!“ Tino spendierte ihm heute keinen Schnaps.

Conny blieb den ganzen Abend, doch Tino konnte sich erst wieder um ihn kümmern, als der Betrieb im „Atlantis“ gegen halb zwölf merklich abgeebbt war. Er nahm einen freien Hocker und setzte sich neben Conny.

„Na, wie hat es dir gefallen?“ sprach er ihn an.

„Ganz nett. Ich hab’ ein paar alte Bekannte aus dem ‚Paradies’ getroffen.“

„Hast du den Saal gesehen?“

„Ja. Eben, als ich auf Toilette war.“

„Den haben wir letzte Woche wieder auf Vordermann gebracht“, berichtete Tino. „Am Wochenende platzt der Laden aus allen Nähten. Da können wir zusätzlichen Raum gut gebrauchen.“

„Darf ich mal auf dem Klavier spielen?“

Tino stutzte. „Du kannst Klavier spielen?“

„Nicht so richtig.“ Conny lächelte verlegen. „Damals im Heim hab’ ich mir so’n bißchen von der Lehrerin abgeschaut. Aber ich hab’s lange nicht mehr probiert.“

„Komm, mach doch mal“, forderte Tino ihn auf und erhob sich wieder. Conny ließ sich nicht lange bitten und folgte ihm zum Musikinstrument im Saal. Er nahm Platz, machte ein paar schnelle Lockerungsübungen mit den Fingern und griff in die Tasten. In Tinos Ohren war es ein deutlicher Wohlklang. Kein Vergleich jedenfalls zu seinem unbeholfenen Geklimper.

„Viel hab’ ich nicht drauf“, wiegelte Conny ab und setzte einen Schlußakkord. „Ein wenig Unterhaltungsmusik, ein paar Stimmungslieder...“

„Das ist doch super“, widersprach Tino. „Wenn du willst, kannst du Samstag auftreten. Das kommt bestimmt gut an.“

„Meinst du?“ zweifelte Conny.

„Na klar. Du hast frei trinken dafür. Nimm die Zeche von heute schon mal als Vorschuß.“

Conny schloß den Klavierdeckel und sah auf die Uhr. „Na gut“, willigte er ein. „Aber jetzt wird es Zeit für mich. Ich will keine Scherereien mit den Roten.“

Tino winkte ab. „Ach, wegen zwei oder drei Minuten stellen sie sich nicht so an.“

„Das weiß man eben nicht so genau“, entgegnete Conny und verschränkte die Arme. „Manchmal lassen sie dich eine Viertelstunde nach Mitternacht noch laufen, und dann greifen sie einen, kaum daß es zwölf geschlagen hat. Darauf habe ich mich einmal zuviel verlassen.“

„Warst du deshalb auf Landverschickung?“

„Ja, sicher.“

„Nicht wegen...“ Tino verstummte.

„Wegen – was?“

Tino schüttelte den Kopf. „Ist schon gut. Vergiß es.“

*

HERBST 102 PC

Tino hatte gerade die beiden Schnapsgläser ausgespült, aus denen er und Waldo getrunken hatten, als ein Blonder eintrat. Zu athletisch für Robin! Er blinzelte. Aber das ist ja... Tino und Waldo starrten den anderen Mann mit offenstehendem Mund an.

„Kolja...“ Waldos Stimme war ganz dünn.

„Du... Du hast dir... die Haare gefärbt“, stammelte Tino.

„Stimmt.“ Kolja gab den Unbekümmerten. „Steht es mir?“

Es dauerte eine Weile, bis Waldo eine Antwort zustande brachte: „Einen schönen Mann kann nichts entstellen.“

„Und warum...?“ Tino konnte den Blick nicht abwenden.

„Ab und zu brauch’ ich Abwechselung“, stellte er unverbindlich fest. „Immer dasselbe ist doch langweilig.“ Verdutzt ließ er die beiden zurück und ging nach oben in die Wohnung.

Koljas neue Haarfarbe war natürlich das Gespräch des Abends. Lediglich die „Chefin“ hielt sich mit ihren Kommentaren auffällig zurück. Doch sie hatte sich noch etwas aufgespart...

Rico hatte sich bereits vorzeitig verabschiedet, als Danny sich vor Kolja aufbaute und ihn mit schiefem Blick musterte. „Sehr schön!“ ließ er ironisch fallen. „Nun werden dich die Schwestern noch lieber haben als zuvor. Hast du das vielleicht für’s Geschäft getan?“

„Aber wie kommst du denn darauf?“ Kolja versuchte, den launigen Tonfall aufzugreifen. „Stehst du etwa nicht auf blond?“

Dannys Miene fror plötzlich ein. Etwas ging in ihm vor. „Weißt du, was?“ zischte er mit leiser Stimme. Er machte eine Kunstpause und lächelte falsch. „Du bist ein Verkappter. Welcher Hetero würde sich wohl sonst in diesen Schuppen stellen und sich obendrein die Haare blondieren? Also mach endlich Schluß mit dem Theater!“

Auf Koljas Stirn bildete sich eine Zornesfalte. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. „Dazu hast du kein Recht...“ Besorgt registrierte Tino, daß Koljas Stimme vor Zorn bebte.

Auch Danny schien die Reaktion nicht entgangen zu sein, denn er wich ein Stück zurück und grummelte seinerseits: „Na dann. Honi soit qui mal y pense.“

Tino und die unmittelbar Umherstehenden hielten noch mal die Luft an, dann wandte die „Chefin“ sich ab, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Kolja starrte ihr nach, noch immer sichtlich aufgebracht.

„War das vielleicht auch Britisch?“ versuchte Tino, die Spannung mit einer Bemerkung zu lösen.

„Nein, ich glaube nicht“, stieg Kolja darauf ein. „Irgendeine andere alte Sprache. Das kriege ich schon noch heraus.“

„Mir scheint, ihr habt ein gemeinsames Hobby.“

Kolja trank einen kräftigen Zug aus einem halb geleerten Bierkrug. „Damit dürften die Gemeinsamkeiten aber auch erschöpft sein“, knurrte er.

Er sollte recht behalten. Das Verhältnis von Kolja und Danny blieb seit dieser Episode dauerhaft atmosphärisch gestört.

*

MÄRZ 103 PC

Nach einem guten Jahr war es mit der Freundschaft von Rico und Danny vorbei. Es hatte kein öffentliches Zerwürfnis gegeben, es war keine lautstarke Auseinandersetzung vorangegangen – das Publikum merkte es einfach daran, daß Rico tagelang ohne seine „Chefin“ im „Atlantis“ aufkreuzte. Tino sorgte sich ein wenig, daß Danny auf Dauer fortbleiben und einen Teil der Kundschaft abspenstig machen würde, aber nach circa vierzehn Tagen schlug er wieder auf, als sei er nie weg gewesen, einen gut gewachsenen Jüngling im Schlepptau, und behauptete sein Terrain. Und da sich beide Beteiligten beharrlich darüber ausschwiegen, was zum Ende ihrer Beziehung geführt hatte, boten der „Chef“ und die „Chefin“ selbst dann noch Stoff für endlose Gespräche, als sie schon längst nicht mehr zusammen waren. Deren Inhalt lautete kurzgefaßt:

Erstens: Warum haben die beiden sich getrennt?

Zweitens: Werden sie wieder zusammenkommen?

Und drittens...

„Wie findest du denn Ricos Nachfolger?“

Tino zuckte die Achseln. „Na, ganz niedlich. Aber das Format von Rico hat er nicht.“

Conny grinste. „Ach, woher kennst du denn das Format von Rico?“

Tino spritzte ihm einige Tropfen Wasser ins Gesicht. „Du weißt schon, wie ich das gemeint habe“, fügte er hinzu.

„Nein, mal im Ernst“, setzte Conny nach. „Sind wir nicht immer davon ausgegangen, daß die Rollen bei Rico und Danny eindeutig verteilt waren?“

„Ja und?“

„Ja und!“ äffte Conny nach. „Kannst du dir denn etwa vorstellen, daß dieses Püppchen Danny den Chef macht?“

„Na, dann läuft’s bei den beiden eben andersrum.“

„Ja, vielleicht.“ Conny senkte verschwörerisch die Stimme. „Vielleicht war es aber auch mit Rico nicht ganz so, wie wir gedacht haben, und in der Kiste hat jemand anders die Chefin gespielt.“

Tino bekam spitze Ohren. Wider Willen hatte Conny sein Interesse erweckt. „Meinst du wirklich...?“

Conny lupfte wissend die Augenbrauen. „Na ja. Vor allem, wenn man bedenkt, was man so über das Format von Danny hört.“

Tino schüttelte sich. „Schluß jetzt!“ forderte er, als ein in diesen Mauern eher ungewohnter Anblick seine Aufmerksamkeit abzog: Eine junge Frau stand am Tresen, zierlich und von fast knabenhafter Gestalt. Ihre glatten schwarzen Haare klebten naß am Kopf. Möglicherweise hatte sie vor dem Regen Unterschlupf gesucht.

„Hallo“, sagte sie und lächelte überwältigend. „Ich hätte gern einen Tee.“

„Minze, Kamille, Hagebutte?“ bot Tino an.

„Minze ist okay.“

Tino servierte ihr das Bestellte. „Bitte schön, einen Tee.“

„Ich bin Siri“, stellte die Frau sich vor.

„Tino. Es regnet ziemlich stark, wie?“

„Das ist ein schwuler Laden hier, oder?“ erwiderte Siri, ohne auf Tinos Bemerkung einzugehen.

„Na, das hast du ja schnell gemerkt.“

„Ich bin ja nicht bescheuert.“ Sie lächelte dabei wieder, was ihren Worten jegliche Schärfe nahm.

In diesem Moment tauchte Kolja auf, der im Saal Bestellungen aufgenommen hatte. Sein Blick erfaßte Siri und blieb an ihr hängen.

„Oha“, kokettierte sie. „Einen Typen, der auf Frauen steht, scheint es hier ja doch zu geben.“

Tino schaute abwechselnd von Kolja zu Siri, und es bedurfte keiner großen Phantasie, um zu erkennen, daß hier spontan ein Funke übergesprungen war.

Siri blieb über Nacht bei Kolja. Es war der Beginn einer kurzen, aber heftigen Affäre.

Daß Siri des öfteren bei Kolja übernachtete, sah Tino zunächst gar nicht gern. In den allerersten Tagen ihres Zusammenseins argwöhnte er sogar, daß sie ihm seinen Platz in der gemeinsamen Wohnung oder im „Atlantis“ streitig machen würde. Solche Befürchtungen erwiesen sich jedoch rasch als unbegründet. Was blieb, waren Bedenken hinsichtlich der Roten. Es widersprach zwar nicht der Ausgangssperre, wenn man die Nacht in einer fremden Wohnung verbrachte, doch da Tino und Kolja nun einmal eine Gaststätte betrieben, konnte ein unwilliger Beobachter womöglich unterstellen, daß eine geschäftliche Beherbergung stattfinde.Lizenzen für Beherbergungsbetriebe wurden aber grundsätzlich nicht erteilt, da die Verwaltung den Standpunkt einnahm, es seien genügend leerstehende Wohnungen vorhanden, und auswärtige Gäste, die auf eine Unterkunft angewiesen waren, gab es ja ohnehin keine mehr.

Siri kam nicht nur zu Kolja; sie hielt sich auch häufig im „Atlantis“ auf, und mit ihrer unkomplizierten, offenen Art schaffte sie sich schnell Freunde. Die meisten Gäste fanden sie sympathisch, sie lachten und scherzten mit ihr, und Siri bewegte sich zwischen ihnen wie ein Fisch im Wasser, frei aller Sorge, jemand könne ihr Temperament und ihre Kontaktfreude als sexuelles Interesse mißverstehen.

Einige Tage nach Siris erstem Auftauchen im „Atlantis“ – es war ein Samstag – setzte sich Conny ans Klavier und spielte auf. Tino, der gerade im Saal Getränke verteilte, sah, wie Siri hereinkam, langsam zum Klavier herüberschlenderte und wartete, bis Conny das Stück beendet hatte.

„Du spielst ganz gut“, lächelte sie.

Conny verzog verlegen einen Mundwinkel. „Na ja, es geht so.“

„Meinst du, daß du mich begleiten könntest?“

„Begleiten? Wobei?“

Siri warf ihre schwarze Mähne in den Nacken. „Beim Singen natürlich, du Dummerchen.“

„Vielleicht...“

„Bevor wir damit die Öffentlichkeit beglücken“, meinte Siri, „sollten wir das aber doch lieber einmal proben.“

Am Samstag darauf war Premiere. Siris Lieder handelten von der Suche nach Nähe und der Sehnsucht nach anderen Zeiten, ohne in Gefühlsduselei und falsches Pathos zu versinken. Die Texte waren bildhaft und die Melodien eingängig, kurz: Siri traf den Nerv ihrer Zuhörer, die es ihr mit hingebungsvollem Applaus lohnten. Siris Darbietungen sprachen sich herum wie ein Lauffeuer, und bald war es dabei im „Atlantis“ so voll wie nie zuvor, so daß Rico oder ein anderer der Stammgäste beim Ausschank helfen mußte.

Mitten auf dem ersten Höhepunkt ihrer Popularität erkaltete Siris so hitzig begonnene Beziehung zu Kolja und brach endgültig entzwei. Tino rechnete damit, daß Siri nun auch ihre Auftritte im „Atlantis“ einstellen würde und haderte im stillen bereits mit den entgehenden Einnahmen. Doch Siri hatte – jenseits ihrer Liaison zu Kolja – die Leute im „Atlantis“ längst so sehr in ihr Herz geschlossen, daß sie gar nicht daran dachte, das Lokal zu meiden, was Tino mit gelindem Erstaunen wie auch mit Erleichterung zur Kenntnis nahm.

*

MITTE 103 PC

„Also hast du Schluß gemacht.“ Tino blickte hinaus auf den großen Fluß.

„Im Grunde schon“, bestätigte Kolja, der neben ihm auf der Hafenmauer saß. „Siri ist... nett, aber eine feste Beziehung ist einfach nicht das richtige für mich. Siris Ausstrahlung hat mich das für einen Moment vergessen lassen.“

„Du bist unfähig, dich zu binden.“

„Nenn es meinetwegen auch so“, räumte Kolja ein, ohne eingeschnappt zu sein. „Jedenfalls geht es mir jetzt wieder besser.“

Tino schaute hinaus auf die graue Wasserfläche unter dem bewölkten Himmel. Rostige, halb versunkene Schiffe, die nie wieder auf Fahrt gehen würden, lagen vor Anker. Am gegenüberliegenden Ufer breiteten sich verrottete Hafenanlagen aus. Sie gehörten bereits nicht mehr zum Gebiet der heutigen Stadt. Nur etwas weiter flußabwärts sah es anders aus: Dort legten die bewaffneten Patrouillenboote der Roten an sowie der Passagierdampfer, der von Frühjahr bis Herbst Tagesausflügler zu einer der Flußmündung vorgelagerten Insel verbrachte. Noch weiter unten lagen die Fischkutter, aber das war von hier aus nicht einsehbar. Was Tino vor Augen stand, war die malerische Morbidität des Verfalls, doch diese Augen hatten es nie anders erblickt, und so deprimierte es ihn nicht allzusehr.

„Wir sind schon ein seltsames Paar“, nahm er das Wort wieder auf. „Ein Schwuler, der keinen Sex hat, und eine Hete, die keine Frau länger als eine Stunde an ihrer Seite erträgt.“

„Siehst du“, sagte Kolja und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Zwei eingeschworene Junggesellen. Wir sind wie geschaffen füreinander, und der doofe Sex kann uns dabei nicht in die Quere kommen.“ Tino schielte mißtrauisch zu Kolja hinüber. „Oder?“ entglitt es diesem irritiert.

„Du kannst mit mir vielleicht nichts anfangen.“ Tino strich Koljas Hand vorsichtig von seiner Schulter. „Aber von meiner Warte aus könnte es – rein theoretisch – sehr wohl anders sein.“

„Willst du denn Sex mit mir?“

„Um Gottes Willen! Nein.“

„Na, das sag’ ich doch.“

Möwen schaukelten im Wind. Ihre Schreie gellten Tino in den Ohren. Er begreift es nicht, dachte er.

Der Boom des „Atlantis“ hielt, nicht zuletzt der begeisternden Auftritte Siris wegen, an und spülte neue Gäste in das Lokal. Einer davon war ein gesetzter, distinguiert wirkender Herr in den Fünfzigern, der eine ganze Zeit lang kaum aus der Reserve zu locken war. Waldo gelang es als erstem, ihn in ein Gespräch zu ziehen, und nach einer Weile stellte sich heraus, daß er als Bediensteter in der Verwaltung arbeitete. Kolja war wie elektrisiert und erinnerte sich gleich seiner alten Pläne, einen guten Draht zur Verwaltung zu etablieren. Er kredenzte dem Neuen Gratisgetränke und reservierte ihm beim folgenden Auftritt Siris einen Platz unmittelbar vor der Bühne. Tino erschien sein Vorgehen ein wenig zu plump, doch verfehlte es offenbar nicht so ganz seine Wirkung. An einem Freitag kurz vor Toresschluß – die meisten Gäste hatten im Hinblick auf die nahende Ausgangssperre das „Atlantis“ bereits verlassen – sprach der umworbene Besucher Tino und Kolja an:

„Ihr solltet ein wenig besser auf eure Kunden aufpassen.“

Kolja erschrak sichtlich. „Drogen?“ vermutete er.

Der andere schüttelte den Kopf. „Nein, in der Hinsicht ist mir nichts aufgefallen. Ein bißchen Blue vielleicht, aber das ist nicht so tragisch. Ich meine etwas anderes.“

Tino schaute ihn erwartungsvoll an. „Ja?“

Der Verwaltungstyp zögerte kurz. „Also... auf euren Toiletten... da spielt sich so allerhand ab.“

„Ist das denn verboten?“

„Nicht direkt. Aber ich hab’ da auch schon Kerle gesehen, von denen ich weiß, daß sie sich am ehemaligen Bahnhof als Stricher anbieten.“ Er räusperte sich. „Man könnte das also auch ohne viel Federlesens als Prostitution auslegen. Und auf Prostitution außerhalb der dafür vorgesehenen Bezirke reagieren die Ordnungskräfte, wie ihr wißt, ziemlich allergisch...“

„Scheiße!“ rutschte es Kolja heraus.

Tino war ebenfalls ratlos. „Was sollen wir denn dagegen tun?“

„Zumindest solltet ihr die Damentoilette abschließen. Siri kann sich ja den Schlüssel holen. Und dann vielleicht eure Stammgäste bitten, die Augen offenzuhalten und die Leute anzusprechen, wenn sie es gar zu toll treiben.“

Tino und Kolja sahen sich an und nickten einander zu. „Werden wir tun“, versprach Kolja und reichte seinem Gegenüber die Hand. „Und wie lautet eigentlich der Name des freundlichen Herrn, dem wir diesen Hinweis zu verdanken haben?“

„Ich bin Harry“, erklärte er und warf einen Blick auf die große Uhr, die an der Wand hinter der Theke hing. „Und jetzt wird es Zeit für mich.“

Die Ausgangssperre, folgerte Tino, galt also auch für ihn.

*

ANFANG 104 PC

Tino sah an dem großen, aus roten Backsteinen erbauten Gebäude empor, das irgendwann einmal als Schule gedient haben mochte. Heute war es ein Übergangswohnheim für Jugendliche, die mit sechzehn aus dem Kinderheim entlassen und hier auf ein eigenständiges Leben in der Stadt und eine berufliche Tätigkeit vorbereitet wurden.

„Was gibt das denn?“ lästerte Conny, mit dem er an diesem Tag unterwegs war. „Willst du dir hier vielleicht einen neuen Lover ausgucken?“

Tino grinste müde. „Keine Angst“, versicherte er. „Ich werde doch nicht in Dannys Revier wildern.“

„Die Zeit im Übergangsheim war nicht die schlechteste“, entsann Conny sich beiläufig.

„Ich weiß nicht.“ Tino geriet ins Zaudern. „Meine Erinnerung daran... ist irgendwie blaß. Aber immerhin hab’ ich da meine erste sexuelle Erfahrung gemacht.“

„Na, die hatte ich schon mit fünfzehn im Kinderheim.“

„Hört, hört!“

Auf Connys Gesicht trat ein versonnener Ausdruck. „Meine erste große Liebe. Allerdings kam das hauptsächlich von meiner Seite. Für ihn war es wohl eher so ein Experimentieren.“ Er breitete die Arme aus. „Nie wiedergesehen.“

„Wieso nicht?“

„Na, ist aus deinem Jahrgang denn niemand verschwunden?“

„Verschwunden? Wie meinst du das?“

„Na, wo lebst du denn, Junge?“ plusterte sich Conny ein wenig auf. „Ist dir vielleicht entgangen, daß ein oder zwei Leute aus jedem Jahrgang beim Übertritt vom Kinder- ins Übergangsheim verlorengehen? Vermutlich rekrutieren die Roten auf diese Weise ihren Nachwuchs.“

„Ach, diese Geschichten. Gut, davon habe ich natürlich auch schon gehört.“

„Na bitte.“ Conny fuhr sich durch die krausen Haare. „Nun mach nicht auf ‚Unschuld vom Lande’. Die Rolle nimmt dir sowieso niemand ab.“

Tino hörte kaum hin. Er war in Gedanken versunken. „Verschwunden wie Robin“, murmelte er. „Ob die Roten ihn auch...?“

Connys Blick nagelte Tino fest. „Wer kann das schon wissen?“ In seiner Stimme brodelte es. „Dein Robin kehrt nicht mehr zurück. Akzeptier das doch mal!“

Tino wandte sich brüsk von ihm ab. „Laß uns weitergehen!“

Eine große Hauswand auf der gegenüberliegenden Straßenseite war mit einer in die Jahre gekommenen Fassadenmalerei bedeckt. Sie zeigte vor schwarzem Hintergrund eine unendliche Reihe von weißen Nullen und Einsen, deren Färbung langsam in ein warnendes Orange überging, um schließlich in eine rot wabernde Explosion zu münden, die fast die Hälfte des Bildes einnahm. „Digitale Technik – der Untergang“ stand in fetten Buchstaben über die rote Explosionswolke geschrieben.

„Es soll demnächst wieder mehr Razzien geben“, verriet Tino. „Harry hat durchblicken lassen, daß sie mehr Landverschickte für die Arbeit auf den Farmen brauchen.“

„Ich bin kuriert“, bekannte Conny. „Ich nehme mich schon in acht.“

„War es wirklich so schlimm?“

„Was heißt ‚schlimm’? Viel körperliche Arbeit, ja. Aber es wird keiner ausgepeitscht oder so. Das sind Schauermärchen.“

„Wohin haben sie dich eigentlich gesteckt?“

„Das war ’ne reine Rohstoff-Farm. Hanf, Flachs, Ölpflanzen und so weiter. Immer noch besser als so ein stinkender Hof mit Vieh.“

Es begann zu dämmern, und die spärlich verteilten Straßenlaternen sprangen an. Aber auch von diesen funktionierten nicht alle.

„Hat es in der Zeit denn keinen Überfall gegeben?“

„Du meinst diese plündernden Banden, von denen man sich erzählt?“

„Ja, klar.“

Conny wiegte den Kopf. „Nein. Die Farm war schwer bewacht. Überall bewaffnete Rote. Auf der Nachbarfarm soll es einmal so eine Attacke gegeben haben. Aber selbst erlebt habe ich das nicht. Hat mir auch nicht gefehlt.“

In ihrem Rücken erklang ein rumpelndes Geräusch.

„Die Straßenbahn fährt“, erkannte Conny.

Die altersschwache Straßenbahn war das einzige öffentliche Beförderungsmittel und verkehrte auf einem Rundkurs durch das Stadtgebiet, den die Verwaltung zwei Jahrzehnte nach dem Großen Absturz angelegt hatte – wenn sie denn verkehrte. Eher stand sie jedoch irgendeines Defektes wegen still, weil passende Ersatzteile fehlten und sich nur wenige Fachleute mehr mit der Technik auskannten. Zudem waren metallische Werkstoffe sowieso permanente Mangelware und wurden woanders dringender gebraucht. Aber heute hatten sie Glück, und so legten sie einige Stationen mit der Bahn zurück, die sie dem „Atlantis“ näherbrachte.

Als sie ankamen, war es kurz vor sechs. Die Rentner waren schon weg, dafür war Rico vor Ort, was um diese Zeit eher ungewöhnlich war.

„Gut, daß du da bist“, begrüßte Kolja seinen Kompagnon. „Rico und ich haben nämlich noch was vor.“

Tino fragte sich, was die beiden wohl aushecken mochten. „Na, denn bis um acht“, meinte er freilich nur.

Zwei Stunden später betrat Kolja das „Atlantis“ mit einer neuen Haarpracht: Die Grundfarbe seines Schopfes war diesmal schwarz, allerdings waren hier und da einige kastanienrote Strähnchen aufgebracht. Tino verdrehte etwas die Augen, doch war seine Überraschung nicht mehr so groß wie beim ersten Mal.

„Hast du Rico dazu gebraucht?“ erkundigte er sich reserviert.

„Ja“, lautete Koljas Antwort. „Als arbiter elegantiarum.“

„Als – was?“ platzte Waldo heraus.

„Als jemand, der ein sicheres Urteil in Fragen des guten Geschmacks abgibt.“

„Kolja kann Britisch“, kommentierte Tino mit unterschwelligem Spott.

„Nun sagt schon endlich, daß es ihm steht!“ ging Rico energisch dazwischen

Tino warf Waldo einen verzweifelten Blick zu. „Gewiß. Was würde Kolja nicht stehen?“ Und mußte im stillen doch zugeben, daß es tatsächlich irgendwie zu ihm paßte.

Im Laufe des Abends erschien auch Siri auf der Bildfläche. Sie hängte sich an Rico, den sie offenbar besonders gut leiden konnte. Tino beobachtete die beiden. Wenn er es nicht besser gewußt und seine Hand dafür ins Feuer gelegt hätte, daß der „Chef“ weiblichen Reizen absolut gleichgültig gegenüberstand, hätte man die zwei problemlos für ein turtelndes Paar halten können. Aber es war nichts als Sympathie – und ein wenig Show, von beiden Seiten.

Dazu kam, daß Siri recht eifrig von Ricos Bieren mitgetrunken hatte und, da sie nicht viel vertrug, rasch in eine angeheiterte Stimmung kam, die sie noch ausgelassener werden ließ, als es ohnehin schon ihrem Naturell entsprach. Irgendwann stimmte sie spontan eines ihrer Lieder an, was Rico seinerseits dazu veranlaßte, in ihren Gesang einzufallen, und im Handumdrehen kam ein fast schon perfektes Duett zustande. Die Umstehenden verfielen in perplexes Schweigen; anschließend erfolgte stürmischer Beifall, und Conny beschwor die beiden sogleich, am nächsten Samstag gemeinsam aufzutreten. Rico sträubte sich, aber dem vereinten Drängen Siris, Connys und der anderen vermochte er sich am Ende nicht zu entziehen. Nur Danny hielt sich demonstrativ abseits, setzte sich zu Waldo an die Theke und zischte ihm und Tino zu: „Nun will sie also auch noch als Chanteuse avancieren, die Gute.“

Den wenigen Neidern zum Trotz überzeugte Rico mit einer klangvollen Stimme, die den gefühlvollen Ton Siris optimal ergänzte, und der gemeinsame Vortrag peppte einige ihrer Lieder auf, an die man sich schon allzusehr gewöhnt hatte. Andere arrangierte Siri gemeinsam mit Conny um, dazu brachte sie auch ein paar neue Stücke. So waren es letztlich nur einige Songs, die Siri und Rico als Duo darboten, und doch entpuppten sich gerade diese als Attraktionen, die Siri und das „Atlantis“ auf einen neuen Gipfel der Beliebtheit führten. Es war eine goldene Zeit für das „Atlantis“ und seine Inhaber.

*

APRIL 105 PC

Gut zwei Jahre waren seit Siris Debut vergangen, als eine abrupte Zäsur erfolgte.

„Tino! Kolja!“ Kaum daß Gesang und Klavierspiel verstummt waren, die für gewöhnlich gedämpft aus dem Saal bis in den Schankraum her-überklangen, kam Danny mit allen Anzeichen des Aufruhrs nach vorne gestürmt. „Schnell! Siri ist zusammengeklappt.“

Augenblicklich unterbrachen beide ihre Tätigkeit am Tresen, hasteten zusammen mit der „Chefin“ nach hinten und drängten sich durch die Menge. Siri lag flach auf der Bühne, ein Kissen unter ihrem Kopf. Rico und Conny waren über sie gebeugt. Sie war totenbleich, aber bei Bewußtsein.

„Was ist denn bloß passiert?“ sorgte Kolja sich.

„Einfach umgekippt“, schnappte Rico. „Von jetzt auf gleich.“ Er fächelte ihr mit der Hand Luft zu, eine hilflose Geste. Siri hustete und wollte etwas sagen, aber sie brachte nur ein Krächzen zustande. „Nicht sprechen“, beschwor Rico sie. „Keine Anstrengung.“

Endlich löste sich aus dem Publikum, das die Szene aufgeregt umringte, eine einzelne Person und gab sich als Krankenpfleger zu erkennen. Er fühlte Siri den Puls und fragte sie nach Schmerzen oder Taubheitsgefühlen. Die Angesprochene schüttelte matt den Kopf.

„Der Puls flattert zwar etwas, ist aber sonst normal“, gab er schließlich bekannt. „Ich glaube nicht, daß es was Ernstes ist. Aber sicherlich wäre es besser, wenn sie ein wenig mehr Ruhe hätte.“

„Wir bringen sie auf die Couch in der Abstellkammer“, entschied Tino. Rico und Conny nahmen die schmächtige Frau und trugen sie aus dem Saal. Tino und der Krankenpfleger folgten in die Kammer, die Menge der Schaulustigen blieb vor der zugesperrten Tür.

Die Lebensgeister kehrten bereits in Siri zurück. „Nun macht nicht so einen Aufwand wegen mir. Es geht mir schon wieder viel besser.“

„Ganz langsam!“ deckelte Rico ihr Aufbegehren. „Du bleibst erstmal schön liegen. Was – in aller Welt – ist eigentlich los mit dir?“

„Mir ist ganz plötzlich speiübel geworden. Dann wurde mir schwarz vor Augen...“

„Gleich am Montag gehst du ins Hospital und läßt dich untersuchen.“

„Ach, wozu das denn?“

„Siri?“ Rico nahm ihre Hand und brachte sie so dazu, ihn anzusehen. „Du gehst zum Arzt. Versprichst du’s mir?“

Einige Tage später kreuzte Siri wieder im „Atlantis“ auf, zeitiger als üblich; es war noch vor acht. Tino stand allein hinter der Theke.

„Hallo, Siri!“ Tino stellte das Bier ab, das er angezapft hatte, und wandte sich der Sängerin zu. „Geht’s dir gut?“

„Schon okay“, antwortete sie ungewohnt wortkarg, und das Lächeln, das sie dabei versuchte, mißlang ihr. Sie wirkte ernst. Ihre schwarzen Haare waren stumpf und strähnig.

„Warst du im Hospital?“

„Ja.“ Siri nickte und verkniff die Lippen.

Tino hatte mit einer ausführlicheren Auskunft gerechnet. Da diese jedoch auch nach längerem Warten ausblieb, setzte er noch einmal an. „Und? War irgendwas?“

Siri wand sich förmlich. Schließlich rückte sie etwas von den übrigen Thekengästen ab und sagte leise, so daß nur Tino und Waldo sie verstehen konnten: „Ich bin schwanger.“

Hätte Tino noch das Glas von vorhin in Händen gehalten, in diesem Moment wäre es ihm zweifellos entglitten. Baff vor Erstaunen starrten Waldo und er die junge Frau an, die im Unterschied zu sonst plötzlich einen sehr verletzlichen Eindruck machte.

„Du kriegst ein Kind?“ flüsterte Waldo.

„Wie konnte das denn passieren?“ fügte Tino hinzu.

„Das kommt davon, wenn eine Frau mit einem Mann schläft.“ Ein wenig von der alten, energiegeladenen Siri blitzte durch die ironische Äußerung. Trotzdem klang es eher lahm und resigniert.

„Du wolltest also kein Kind?“ Waldo fingerte nervös an seiner Brille herum.

„Nee.“

„Wußtest du denn nicht“, raunte Tino, „daß du fruchtbar bist?“

„Nein. Natürlich nicht.“

„Hey, gibt’s hier eigentlich kein Bier mehr?“ klang es mißgelaunt herüber. Tino verließ die beiden anderen für einen Moment und sorgte dafür, daß die übrigen Gäste Nachschub erhielten.

„Ich will nicht in diese Mühle geraten“, klagte Siri, als Tino wieder zurückkehrte.

„Mühle? In was für eine Mühle?“

„Ja, weißt du denn nicht, was sie mit Frauen wie mir machen? Hast du noch nie von den geheimen Fruchtbarkeitsprogrammen der Verwaltung gehört?“

„Also, um geheime