Jesus von Nazaret - Jens Schröter - E-Book

Jesus von Nazaret E-Book

Jens Schröter

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Beschreibung

Was können wir über Jesus von Nazaret wissen? Das Buch des renommierten Berliner Neutestamentlers Jens Schröter begibt sich auf die Spurensuche nach dem Wanderprediger aus Galiläa, der fest in den jüdischen Traditionen seiner Zeit verwurzelt war und zur zentralen Figur der heute größten Weltreligion geworden ist. Dabei werden neue archäologische Forschungen über die Orte seines Wirkens ebenso berücksichtigt wie aktuelle Erkenntnisse der Jesusforschung. Schröter zeigt Jesus im Kolorit seiner Zeit und lässt ein plastisches Bild von seinem Wirken in Galiläa und seiner Hinrichtung in Jerusalem entstehen. Das Buch endet jedoch nicht mit Jesu Tod, sondern erläutert auch die Anfänge des Glaubens an Jesus als den Christus und den Retter der Welt sowie frühe Deutungen seiner Person in kanonischen und nicht-kanonischen Schriften. [Jesus from Nazaret. Jew from Galiläa – Savior of the World] What can we know about Jesus of Nazaret? This book authored by the renowned Berlin New Testament scholar Jens Schröter searches for the earliest traces of the itinerant preacher from the Galilee who was deeply rooted in Jewish traditions of his time and became the central figure of what is today the world's largest religion. Thereby, new results from archaeological excavations of places of Jesus' activity as well as insights from current Jesus research are considered. Schröter sketches a vivid portrait of Jesus in his time by tracing his activity in the Galilee and his passion and crucifixion in Jerusalem. The book, however, does not end with Jesus' death, but also deals with the beginnings of faith in Jesus as the Christ, the savior of the world, and early interpretations of his person in canonical and non-canonical writings.

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Biblische Gestalten

Herausgegeben von Christfried Böttrich und Rüdiger Lux

Band15

Jens Schröter

Jesus von Nazaret

Jude aus Galiläa – Retter der Welt

Jens Schröter, Dr. theol., Jahrgang 1961, ist Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments sowie die neutestamentlichen Apokryphen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die kanonische und außerkanonische Jesusüberlieferung, die Geschichte des frühen Christentums und die Entstehung des Neuen Testaments.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

6., vollst. überarb. u. aktualis. Aufl. 2017

© 2006 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: behnelux gestaltung, Halle/Saale

Satz: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-05045-1

www.eva-leipzig.de

INHALT

Cover

Titel

Der Autor

Impressum

Vorwort

Vorwort zur 2. Auflage

Vorwort zur 6. Auflage

A. EINFÜHRUNG

1. Der »historische« und der »erinnerte« Jesus oder: Wie es »wirklich« war

2. Ein Blick in die Forschungsgeschichte

3. Das historische Material: Überreste und Quellen

3.1 Überreste

3.2 Christliche Quellen

3.2.1 Die Schriften des Neuen Testaments

3.2.2 Christliche Schriften außerhalb des Neuen Testaments

3.3 Nichtchristliche Quellen

4. Zu diesem Buch

B. DARSTELLUNG

1. Ein Jude aus Galiläa – Der historische Kontext Jesu

1.1 Der Nazarener

1.2 Der Galiläer

Exkurs: Synagogen und Wohnhäuser in Galiläa

1.3 Der Jude

1.3.1 Jesus im »allgemeinen Judentum« seiner Zeit

1.3.2 Jesus und die jüdischen »Parteien«

Exkurs: Essener in Qumran?

1.3.3 Johannes der Täufer

2. Die Herrschaft Gottes beginnt

2.1 Jesu Begegnung mit Johannes

2.2 Anfänge in Galiläa

2.2.1 Jenseits der Wüste

2.2.2 Gott oder Satan? Die Exorzismen und Heilungen Jesu

2.2.3 Die Gemeinschaft der Kinder Gottes

2.2.3.1 Heimatlosigkeit, Jüngerschaft und Zwölferkreis

2.2.3.2 Das neue Israel

2.2.3.3 Reinheit für die Unreinen

2.2.3.4 Gegner

2.3 Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu

2.3.1 Was meint der Begriff »Gottesherrschaft«?

2.3.2 Jesu Rede von der Gottesherrschaft

2.3.2.1 Gottesherrschaft und Gericht

2.3.2.2 Die Gottesherrschaft als Beginn der Heilszeit

2.3.2.3 Die Gottesherrschaft in den Gleichnissen Jesu

2.4 Leben im Angesicht der Gottesherrschaft: Das Ethos Jesu

2.4.1 Vorgriff auf die Ordnung des Gottesreiches: Das Ethos der Nachfolger Jesu

2.4.2 Das Ethos der »Familie Jesu«

2.4.3 Jesus und das jüdische Gesetz

2.4.3.1 Die Autorität Jesu und das Gesetz

2.4.3.2 Jesus und der Sabbat

2.4.3.3 Jesus und das Reinheitsgebot

3. Repräsentant Gottes oder Retter Israels? Das Selbstverständnis Jesu und das Urteil seiner Zeitgenossen

3.1 Jesus, der Menschensohn

3.1.1 Überblick über die Menschensohnworte

3.1.2 Zur Bedeutung der Rede Jesu vom »Menschensohn«

3.2 Ist Jesus der Christus?

3.3 Zusammenfassung

4. Die Jerusalemer Ereignisse

4.1 Das Auftreten in Jerusalem im Rahmen des Wirkens Jesu

4.2 Ursachen für Verhaftung und Hinrichtung Jesu

4.3 Das letzte Mahl

4.4 War der Tod Jesu ein Heilstod?

5. Jesus und die Anfänge des christlichen Glaubens

5.1 Auferweckung, leeres Grab, Erscheinungen: Tod und kein Ende

5.1.1 Die Traditionen von der Auferweckung und vom leeren Grab

5.1.2 Die Erscheinungen des Auferstandenen

5.2 Erhöhung zu Gott: Jesus als Herr

5.3 Zusammenfassung

C. WIRKUNG

1. Wahrer Mensch und wahrer Gott? Baudolino und die Kontroversen um das Wesen Jesu im frühen Christentum

2. Der apokryphe Jesus: An den Rändern des »offiziellen« Christentums

3. Advent und Weihnachten: Die Ankunft des Retters

4. Karfreitag und Ostern: Leid und Trost auf dem Antlitz Gottes

5. Die Bergpredigt: Wirkungen der Ethik Jesu

6. Religion und Kultur: Jesus in Kunst und Literatur der Gegenwart

7. Historischer Jesus – geglaubter Christus: Wer ist Jesus heute?

D. ANHÄNGE

1. Literaturverzeichnis

2. Karten

3. Bildteil

Weitere Bücher

Anmerkungen

VORWORT

Jesus ist aktuell, auch und gerade in unserer Zeit. Die Medien interessieren sich für ihn, Seminare und Vorlesungen über Jesus an Theologischen Fakultäten ziehen nach wie vor viele Studierende an, die Frage nach der Bedeutung seines Lebens und Sterbens beschäftigt viele Menschen, innerhalb der christlichen Kirchen und darüber hinaus. Was hat es auf sich mit dem Wanderprediger aus Galiläa, der als Unruhestifter von der römischen Administration hingerichtet wurde? Die Schriften des Neuen Testaments stimmen in all ihrer Vielfalt darin überein, dass sein Wirken eine Offenbarung Gottes war, neben der es fortan keinen anderen Weg zum Heil mehr gibt. Bei Jesus geht es demnach ums Ganze, um die Alternative: gelingendes Leben oder Scheitern, Sinn oder Sinnlosigkeit – in der Sprache der Bibel: um Heil oder Gericht. Das bewegte die Menschen zur Zeit Jesu, das fordert auch heute zur Auseinandersetzung mit ihm heraus. Welchen Weg zu einem heilvollen, erfüllten Leben hat Jesus verkündet? Wie sähe ein solcher Weg heute, in der Vielfalt der Religionen, der christlichen Konfessionen und des Atheismus, aus? Woran halten wir uns, wenn wir uns an Jesus halten?

Die frühen Christen haben die Zeugnisse über Jesus gesammelt und Erzählungen über sein Wirken und Geschick verfasst. Auf diese Weise ist das »Neue Testament« entstanden, das neben die maßgeblichen Schriften Israels trat und diese in ein neues Licht rückte. Die Geschichte Israels, die Weissagungen seiner Propheten, die Rede von Gottes Gesalbtem, dem Christus, und vom Sohn Davids – all dies wurde nun im Licht des Wirkens und Geschicks Jesu gelesen. Jesus wurde so zur zentralen Gestalt der christlichen Bibel. Der Band über Jesus nimmt deshalb eine Sonderstellung in der Reihe »Biblische Gestalten« ein.

Die Schriften des Neuen Testaments wollen in erster Linie als Zeugnisse des Glaubens an Jesus Christus gelesen werden. Für die Frage nach dem historischen Jesus bedeutet das eine besondere Herausforderung. Es gilt zu unterscheiden zwischen dem, was der historischen Rückfrage standhält, und der Legende, die sich schon im Neuen Testament um die Person Jesu gebildet hat, ohne beides auseinanderzureißen. Für die frühen Christen gehörten das historische Geschehen und seine Deutung durch das Glaubenszeugnis untrennbar zusammen. Historischer Forschung geht deshalb es um ein Jesusbild, das den Zusammenhang zwischen den historischen Ereignissen und ihren Deutungen nachvollziehbar werden lässt. Dies ist auch das Anliegen des vorliegenden Buches.

Eine Jesusdarstellung kommt nicht ohne einen Überblick über zentrale Fragestellungen und Positionen der Forschung aus. Bei einem Buch von diesem Format kann es sich dabei nur um eine Skizze handeln. Wer in neuere Werke der Jesusforschung schaut – etwa in das monumentale Opus von John P. Meier, das auch nach drei Bänden und über 2000 Seiten noch nicht abgeschlossen ist, oder in das nicht minder eindrucksvolle Werk von James D.G. Dunn mit einem Umfang von über 1000 Seiten1 -, dem steht vor Augen, auf wie vieles hier verzichtet werden musste. Auf diese und weitere Jesusbücher der zurückliegenden Jahre, die bei der Abfassung der vorliegenden Darstellung stetige Begleiter waren und mit denen die Diskussion aus Raumgründen oft doch nur implizit geführt werden kann, sei darum nachdrücklich hingewiesen.2

Ich widme das Buch dem Andenken meines Vaters. In philologischen Fragen sachkundig, in der Theologie ein interessierter und engagierter Laie, hat er mich immer wieder in Diskussionen verstrickt, die über die exegetische Fachwissenschaft hinausreichten. Dabei wurde mir deutlich, dass eine Beschäftigung mit Jesus erst dann zu ihrem Ziel gelangt, wenn sie dazu beiträgt, seine Bedeutung für die Gegenwart zu erhellen. Dass ich meinen Versuch, die Person Jesu nachzuzeichnen, nicht mehr mit ihm diskutieren kann, schmerzt mich. Die Widmung sei dafür ein kleiner, unzulänglicher Ersatz.

Marlies Schäfer, Sekretärin des Instituts für Neutestamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, und Friederike Gerlach, studentische Mitarbeiterin an meinem Lehrstuhl, haben das Manuskript sorgfältig gelesen und Vorschläge zur Präzisierung etlicher Formulierungen unterbreitet. Friederike Gerlach hat zudem viel Material für die Erarbeitung von Teil C beschafft, der sich mit der Wirkung Jesu beschäftigt. Nur ein Bruchteil davon konnte in die Darstellung eingehen. Beiden sei für ihr Engagement und Mitdenken herzlich gedankt.

Ein Dank geht schließlich an Frau Dr.Annette Weidhas von der Evangelischen Verlagsanstalt für die freundliche und sachkundige Betreuung des Manuskripts.

Leipzig/Berlin, März 2005

 Jens Schröter

VORWORT ZUR 2. AUFLAGE

Die erste Auflage dieses Buches ist auf viel Interesse und Wohlwollen gestoßen. Bei zahlreichen Vorträgen auf fachwissenschaftlichen Tagungen, Pastoralkollegs und in Kirchgemeinden ergaben sich zudem immer wieder Gelegenheiten, Ansatz und Thesen des Vorgelegten zu diskutieren. Dafür bin ich ebenso dankbar wie für die vielen schriftlichen Reaktionen, die ich auf das Buch erhalten habe.

Dass nunmehr eine zweite Auflage erforderlich wird, ist nicht zuletzt ein Zeichen für das wieder verstärkt wahrzunehmende Interesse an der Person Jesu und dem, was sich historisch und theologisch über sein Wirken und Geschick aussagen lässt. Diese Diskussion gehört zu den faszinierendsten Gebieten theologischer Forschung und reicht weit darüber hinaus in die Gebiete der Archäologie, Philosophie, Kunst- und Frömmigkeitsgeschichte. Dass sie zunehmend auch außerhalb der theologischen Fachwissenschaft auf Interesse stößt, ist in besonderer Weise ermutigend und erfreulich. Es zeigt, dass die Geschichte Jesu auch in der Gegenwart nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat, sondern nach wie vor Fragen nach Sinn und Ziel, Hoffnung und Trost menschlichen Lebens in sich aufzunehmen vermag. Die Jesusforschung ist deshalb ein Gebiet, bei dem akademische Theologie und christliche Lebensgestaltung in unmittelbaren Kontakt miteinander treten und sich gegenseitig befruchten.

Die Neuauflage des Buches erscheint im Wesentlichen unverändert. Es wurden lediglich einige Tippversehen getilgt und wenige Titel aus der seither erschienen Literatur ergänzt. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung wäre mit dem im Jahr 2007 erschienenen Jesusbuch Joseph Ratzingers, des gegenwärtigen Papstes BenediktXVI., erforderlich gewesen. Da dies jedoch die hier vorgelegte Darstellung sprengen und zu einem gesonderten Exkurs oder Anhang hätte führen müssen, wurde darauf verzichtet. Verwiesen sei stattdessen auf die Stellungnahmen katholischer und evangelischer Neutestamentler in dem von Thomas Söding herausgegebenen Band: Das Jesusbuch des Papstes. Die Antwort der Neutestamentler, Freiburg 2007.

Berlin, Mai 2009

Jens Schröter

VORWORT ZUR 6. AUFLAGE

Das Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches liegt inzwischen mehr als zehn Jahre zurück. Seither hat es fünf Auflagen und eine Übersetzung ins Englische erlebt.1 Dabei wurden Fehler beseitigt und gelegentlich Aktualisierungen vorgenommen. Nachdem auch die 5. Auflage ausverkauft war, erschien eine grundlegendere Überarbeitung sinnvoll und notwendig.

Die Jesusforschung hat sich seit dem ersten Erscheinen dieses Buches in mehrfacher Hinsicht weiterentwickelt. Neue Gesamtdarstellungen zur Person Jesu sind erschienen,2 Veröffentlichungen archäologischer Funde in Galiläa haben das Bild dieser Region des Wirkens Jesu weiter präzisiert,3 Handbücher geben weitgespannte Überblicke über die verschiedenen Bereiche der Jesusforschung.4 Alle diese Publikationen haben auf ihre Weise die Diskussion über den historischen Jesus und seine Bedeutung für den christlichen Glauben bereichert. Die vorliegende, neu bearbeitete Auflage hat von diesen Arbeiten dankbar profitiert.

Der Charakter des Buches ist der gleiche geblieben wie in den früheren Auflagen. Das Format der Reihe »Biblische Gestalten« ist darauf angelegt, die jeweilige biblische Figur so zu präsentieren, dass die Darstellung auch für Nicht-Fachleute zugänglich ist. Bei einer Jesusdarstellung ist das besonders wichtig, weil sich historische Begründung und gegenwärtige Verantwortung des christlichen Glaubens in Diskursen über die Person Jesu von Nazaret wie in einem Brennglas bündeln. Nicht zufällig ist die Jesusforschung deshalb ein Feld, das seit dem Entstehen von Aufklärung und historisch-kritischer Geschichtswissenschaft nicht nur die christliche Theologie intensiv beschäftigt, sondern auch darüber hinaus Interesse findet – in angrenzenden Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Archäologie und Philosophie, in den christlichen Kirchen und in der Öffentlichkeit. Die vorliegende Jesusdarstellung will deshalb nicht nur zum exegetischen und historischen Fachdiskurs beitragen, sondern auch zu einer methodischen und hermeneutischen Reflexion über die Aneignung von Wirken und Geschick Jesu in der Gegenwart.

Der Text des Buches wurde für die Neuauflage insgesamt durchgesehen. Dabei wurden an zahlreichen Stellen sprachliche und inhaltliche Veränderungen vorgenommen. Des Weiteren wurde neuere Literatur eingearbeitet, wodurch das Literaturverzeichnis gegenüber den früheren Auflagen noch einmal angewachsen ist. Dabei gilt nach wie vor, dass bei einem Thema wie dem hier behandelten nicht Vollständigkeit, sondern eine sinnvolle Auswahl von Sekundärliteratur das leitende Prinzip sein muss.

Grundlegender überarbeitet wurden die Teile A. 2 (»Ein Blick in die Forschungsgeschichte«) und A. 3 (»Das historische Material«). In der Darstellung der Forschungsgeschichte wurde der mit dem Begriff »Erinnerung« verbundene geschichtshermeneutische Zugang etwas eingehender erläutert. Dieser hat das Konzept des hier vorgelegten Jesusbuches von Beginn an geprägt. Angesichts der Diskussion über diesen Begriff in den zurückliegenden Jahren erschien es jedoch sinnvoll, einige grundlegende Bemerkungen zu dem damit verbundenen Konzept anzubringen. Auch der Abschnitt zum historischen Material wurde aktualisiert. Bei den »Überresten« wurden Ergänzungen angebracht, zudem wurden aktuelle Publikationen zu den apokryphen Texten eingearbeitet.

Eine gründlichere Revision hat auch der Exkurs zu Synagogen und Wohnhäusern in Galiläa (B. 1.2) erfahren. Dies wurde notwendig, weil sich die Forschungslage gegenüber der ersten Auflage dieses Buches maßgeblich verändert hat. Im Jahr 2009 wurde die Synagoge in Magdala entdeckt, wodurch erstmals eine Synagoge aus dem 1. Jahrhundert in Galiläa archäologisch bezeugt ist. Die Bedeutung Magdalas für das Galiläa der Zeit Jesu ist insgesamt deutlicher ans Licht getreten, was das Bild vom Profil dieser Region wesentlich bereichert und modifiziert. Kürzlich wurde zudem eine weitere, bislang noch nicht öffentlich zugängliche Synagoge in Tel Rekhesh (ca. 30km östlich von Nazaret) entdeckt, die sich vermutlich ebenfalls ins 1. Jahrhundert datieren lässt. Damit wäre eine weitere Synagoge für das Galiläa der Zeit Jesu und des Antipas bezeugt. Für die Möglichkeit, die betreffende Ausgrabungsstätte zu besuchen, danke ich herzlich meinem Kollegen und Freund Mordechai Aviam vom Kinneret College on the Sea of Galilee, Israel.

Gründlich überarbeitet wurde auch der Abschnitt zu den Exorzismen und Heilungen Jesu (B. 2.2.2). Er hat von einer nun schon mehrere Jahre währenden, sehr fruchtbaren Kooperation mit Philip van der Eijk, Alexander von Humboldt Professor of Classics and History of Science an der Humboldt-Universität, einem herausragenden Spezialisten für die antike Medizingeschichte, profitiert. Mit Philip van der Eijk habe ich in den zurückliegenden Jahren mehrfach Seminare durchgeführt und auch in anderer Weise zusammengearbeitet. Dabei stand immer wieder das Verhältnis von religiöser und medizinisch-wissenschaftlicher Perspektive auf Heil und Heilung im Mittelpunkt. Von diesen Unternehmungen habe ich viel mehr profitiert, als es im Rahmen der knappen Darstellung des genannten Abschnitts zur Geltung kommen kann.

Neu hinzugekommen ist der Abschnitt über die Gleichnisse (B. 2.3.2.3). In den vorangegangenen Auflagen waren die Gleichnisse bereits innerhalb der verschiedenen thematischen Teile über das Wirken Jesu behandelt worden. Das ist auch so geblieben. Es erschien jedoch sinnvoll, auf diesen Bereich der Wirksamkeit Jesu in einem eigenen Abschnitt einzugehen.

Während der verschiedenen Auflagen, die das Buch seit seinem ersten Erscheinen im Jahr 2006 erlebt hat, hatte ich vielfach Gelegenheit, die hier entwickelte Sicht mit Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren und das hermeneutische Vorgehen sowie Ergebnisse der Einzelanalysen auf Pastoralkollegs, in Pfarrkonventen, Akademien und Gemeinden vorzustellen. Dabei haben sich oft spannende Diskussionen ergeben, von denen ich stets profitiert habe. Es war und ist eine sehr erfreuliche Erfahrung, dass sich Menschen aus dem akademischen und kirchlichen Bereich, auch solche, die keine nähere Beziehung zum christlichen Glauben haben, mit ernsthaftem Interesse auf Fragen nach den historischen Anfängen und inhaltlichen Grundlagen des christlichen Glaubens im Wirken und Geschick Jesu sowie nach der Bedeutung seiner Person für unsere Gegenwart einlassen.

Nicht zuletzt habe ich seit dem ersten Erscheinen dieses Buches – und bereits davor – in Lehrveranstaltungen und Vorträgen, zunächst in Leipzig, seit 2009 dann in Berlin, aber auch in Rom und Jerusalem sowie an anderen Orten, immer wieder über den historischen Kontext Jesu, Konturen seines Wirkens und Inhalte seiner Lehre sowie über den Zusammenhang von historischem Jesus und christlichem Glauben referieren und diskutieren können. Den vielen Studierenden, die an Lehrveranstaltungen und Vorträgen zu diesem Thema teilgenommen haben, bin ich dankbar für engagierte Diskussionen und kritische Rückfragen.

Das Buch ist seit seiner ersten Auflage dem Andenken meines Vaters gewidmet. Er war für mich immer ein wichtiger Gesprächspartner: akademisch gebildet, theologisch interessiert, kirchlich engagiert. Seiner sei auch im Vorwort dieser Neubearbeitung gedacht.

Ich danke der Evangelischen Verlagsanstalt: Frau Dr.Annette Weidhas, Frau Christina Wollesky und Frau Mandy Bänder für freundliche Begleitung und sachkundige Betreuung des Manuskripts. Ich danke meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Berlin für stets interessante und inspirierende Gespräche in guter Atmosphäre. Ich danke Katharina Simunovic und Florian Lengle für die Korrekturen des Manuskripts.

Berlin, im März 2017

Jens Schröter

A. EINFÜHRUNG

1. DER »HISTORISCHE« UNDDER »ERINNERTE« JESUSODER: WIEES »WIRKLICH« WAR

Jesus von Nazaret hat für unseren Kulturkreis eine einzigartige Bedeutung. Keine andere Person hat eine ähnliche Wirkung hervorgerufen und die europäische Geschichte in einer vergleichbaren Weise geprägt. Die christliche Prägung der griechisch-römischen Spätantike, das Gegenüber von Papst und Kaiser im Mittelalter, die Kreuzzüge, die reformatorischen Aufbrüche im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, die Deklaration der Menschenrechte sowie die Verfassungen zahlreicher Staaten des europäischen und nordamerikanischen Kulturraums – um nur einiges zu nennen – sind geschichtliche Wirkungen derjenigen Religion, in deren Zentrum das Bekenntnis zu Jesus Christus steht. Die Spuren der Beschäftigung mit Jesus in Musik und Dichtung, Film und Malerei, Philosophie und Geschichtsschreibung – bis hin zur Zeitrechnung post Christum natum1 – zeugen von der einzigartigen Faszination, die von ihm seit etwa zweitausend Jahren ausgeht. Viele Menschen haben sich in ihren Lebensentwürfen an seiner Lehre ausgerichtet. Die Bergpredigt diente zu allen Zeiten, bis in die jüngste Vergangenheit, immer wieder als kritischer Maßstab – nicht nur innerhalb der christlichen Kirchen.2 Die Seligpreisungen, das Gebot der Feindesliebe und das Vaterunser sind auch dem Christentum fernstehenden Menschen als zentrale Inhalte der Verkündigung Jesu bekannt.

Auch der Leidensweg Jesu hat zu allen Zeiten eindrucksvolle Darstellungen gefunden – man denke nur an die Passionsmusiken Johann Sebastian Bachs oder den Isenheimer Altar von Mathias Grünewald (vgl. dazu Teil C. 4) – und sogar zur imitatio seiner Schmerzen inspiriert. Bis in die Gegenwart und die Alltagskultur hinein finden sich von der Leidensgeschichte Jesu angeregte Motive – wie z.B. auf dem Plakat, mit dem das Deutsche Rote Kreuz vor einigen Jahren für Blutspenden warb und das auf die neutestamentlichen Abendmahlsworte anspielt (Anhang, Abbildung 1). Wir kommen auf die Wirkungen Jesu im dritten Teil dieses Buches zurück. Zuvor ist aber ein Weg zurückzulegen, der uns in die Zeit führen wird, in der der Wanderprediger Jesus von Nazaret in Galiläa und Jerusalem auftrat. Die Wirkungen, die von ihm ausgegangen sind, können ohne eine Beschäftigung mit diesen Ursprüngen nicht verstanden werden – auch wenn sie darin nicht aufgehen, sondern oftmals kreative Weiterentwicklungen darstellen, die von der prägenden Kraft der Gestalt Jesu zeugen.

In den zurückliegenden Jahrzehnten ist die Diskussion darüber, wer Jesus »wirklich« war, neu entbrannt. Zahlreiche seither erschienene Jesusbücher haben unterschiedliche Bilder seiner Person gezeichnet. Jesus erscheint als Sozialrevolutionär, der sich für die Armen und Unterdrückten einsetzt, als Prophet, der das baldige Hereinbrechen des Gottesreiches ankündigt, als Weisheitslehrer, der eine radikale Ethik verkündet oder als Charismatiker, der eine neue Gemeinschaft gründet, die sich von den überkommenen gesellschaftlichen Normen kritisch absetzt. In der folgenden Darstellung wird deutlich werden, wie diese Entwürfe nach der hier vorgelegten Sicht zu beurteilen sind. An dieser Stelle ist dagegen zunächst festzuhalten, dass die neue internationale und konfessionsübergreifende Jesusforschung auf eindrückliche Weise die Bedeutung der Frage nach Jesus für die christliche Theologie und darüber hinaus ins Bewusstsein gerufen hat.

Wie konnte Jesus eine derartige Bedeutung erlangen und zum Zentrum einer eigenen Religion werden? Die Zeugnisse der frühen Christenheit geben hierauf eine eindeutige Antwort. Die Einzigartigkeit Jesu besteht darin, dass in seiner Person Gott und Mensch unmittelbar miteinander in Verbindung treten. Durch das Wirken Jesu wird die Herrschaft Gottes auf der Erde aufgerichtet, Jesus ist »Bild«, »Abdruck« oder »Wort« Gottes. Er gehört auf die Seite Gottes, ist derjenige, durch den Gott in der Welt erschienen ist und an dem er in einzigartiger Weise gehandelt hat, indem er ihn von den Toten auferweckt hat. Der Glaube an Jesus Christus ist deshalb nach christlicher Überzeugung der einzige Weg zum Heil Gottes, der Mitvollzug seines Weges von Tod und Auferweckung vermittelt neues Leben. Das bedeutet zugleich, dass das Bekenntnis zu Jesus Christus dasjenige zum Gott Israels voraussetzt und umfasst. Drei Texte des Neuen Testaments, die diese Überzeugung auf je eigene Weise zum Ausdruck bringen, seien genannt.

1) Das Johannesevangelium spricht in besonders intensiver Weise von der engen Beziehung zwischen Jesus und Gott. Der eigentlich unsichtbare Gott wird durch Jesus bekannt gemacht (Joh 1,18); Jesus und der Vater sind eins (Joh 10,30); wer Jesus, den Sohn, sieht, der sieht zugleich Gott, den Vater (Joh 14,9). Jesus wird deshalb als das »Wort« bezeichnet, das schon vor der Erschaffung der Welt bei Gott war. Andere Schriften des Neuen Testaments nennen Jesus in ähnlicher Weise »Bild«, »Erstgeborener« oder »Abglanz« Gottes und bringen damit seine enge Verbindung mit Gott zum Ausdruck.3 Jesus ist demnach von allen anderen Menschen unterschieden. Er gehört auf die Seite Gottes und ist zugleich derjenige, der ihn unter den Menschen repräsentiert. Diese einzigartige Verbindung von Gott und Mensch in Jesus Christus ist das Zentrum des christlichen Glaubens.

2) In Lk 12,8f. (par. Mt 10,32f.) heißt es: »Jeder der sich zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem wird sich auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes.«

Hier wird eine Gerichtsszenerie entworfen: Am Ende der Zeit steht man vor Gott und seinen Engeln, Jesus, der Menschensohn, kann für einen eintreten oder auch nicht. Es hängt vom eigenen Bekenntnis zu Jesus vor den Menschen ab, ob er dies tut und man gerettet wird, oder ob man zu den Verurteilten gehört, weil man Jesus im irdischen Leben verleugnet hat. Der Text bringt demnach zum Ausdruck, dass mit der Stellung zu Jesus zugleich diejenige zu Gott auf dem Spiel steht und damit die Entscheidung über Leben und Tod, Heil und Unheil fällt.

3) In 2Kor 5,14f. schreibt Paulus: »Einer ist für alle gestorben, also sind alle gestorben. Und er ist für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und auferweckt wurde.«

Paulus überträgt hier das Geschick Jesu Christi auf die Glaubenden: Sie sind ihrem alten Leben »gestorben« und haben jetzt Anteil am neuen Leben des auferweckten Jesus und sind durch die Zugehörigkeit zu ihm zu einer »neuen Schöpfung« geworden (V. 17). Tod und Auferweckung Jesu Christi werden also als ein Ereignis verstanden, an dem die Menschen teilhaben können und das ihnen die Möglichkeit eines neuen Lebens eröffnet. Der Text macht somit deutlich, dass die Zugehörigkeit zu Jesus Christus konkrete Folgen für das eigene Leben hat. Nach der Auffassung des Paulus wie auch aller anderen Autoren des Neuen Testaments muss der Glaube im Leben Gestalt gewinnen und zur Anschauung gebracht werden. Deshalb findet sich im Neuen Testament immer wieder die Aufforderung zu einem Leben, das dem Glauben an Jesus Christus entspricht. Die Evangelien beziehen sich dazu unmittelbar auf die Lehre Jesu selbst, etwa auf seine Auslegung der Tora.

Die enge Verbindung von Gott und Mensch in Jesus Christus, die in den genannten Texten zum Ausdruck kommt – er ist »Wort Gottes«, himmlischer Fürsprecher im letzten Gericht, Vermittler neuen Lebens –, wurde in den frühen Bekenntnissen des Christentums – dem Apostolikum, dem Bekenntnis von Nicäa und Konstantinopel, dem Chalcedonense – in je eigener Weise festgehalten. Sie war für das Christentum, ungeachtet konfessioneller Unterschiede, lange Zeit die unhinterfragte Glaubensgrundlage. Erst dem neuzeitlichen Bewusstsein wurde die Vorstellung, Jesus sei in gleicher Weise Gott und Mensch gewesen, zum Problem. Die Aufklärung bestimmte die menschliche Vernunft zum kritischen Maßstab, der auch an die biblischen Schriften anzulegen sei. Das führte zur Unterscheidung von rational nachprüfbaren Berichten und »Mythen«, die vergangene Ereignisse deuten, von diesen selbst aber zu unterscheiden sind. Das im 19. Jahrhundert entstehende historische Bewusstsein machte zusätzlich den Abstand deutlich, der zwischen der Welt des Neuen Testaments und der eigenen Zeit liegt. Der Zugang zur Vergangenheit wurde in der Konsequenz an methodisch kontrollierte Quellenforschung gebunden, die zu einem möglichst vorurteilsfreien Geschichtsbild führen sollte.

Aufklärung und historisch-kritische Geschichtswissenschaft nötigten demnach zu neuem Nachdenken über das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus. Sicher erschien nunmehr nur, dass Jesus Mensch war, die Einheit von Gott und Mensch in seiner Person konnte dagegen nicht länger als unproblematisch vorausgesetzt werden. Das Interesse konzentrierte sich in der Folge darauf, was mit den Mitteln historischer Forschung über sein Wirken und Geschick herauszufinden ist. Damit war die Frage nach dem »historischen Jesus« geboren. Sie fragt nach Jesus, ohne dabei das Bekenntnis zu seiner Göttlichkeit vorauszusetzen. Die oben genannte, in seiner göttlichen Natur begründete Einzigartigkeit war damit in Frage gestellt. Lassen sich, so wurde nunmehr gefragt, die Erkenntnisse über den Menschen Jesus mit dem Bekenntnis seiner Göttlichkeit, lässt sich der »historische Jesus« mit dem »geglaubten Christus« vereinbaren? Die historische Jesusforschung gibt auf diese Frage zwei Antworten.

Die erste Antwort besagt: Zwischen den Resultaten historischer Forschung und Glaubensüberzeugungen ist zu unterscheiden. Historische Forschung kann anhand der überlieferten Zeugnisse ein Bild von der Wirksamkeit Jesu entwerfen und nach den Ursachen für seine Hinrichtung fragen. Ob er in göttlicher Autorität wirkte, ob Gott ihn vom Tod auferweckte und ob er zum endzeitlichen Gericht wiederkehren wird, kann dagegen nicht mit den Mitteln historischer Kritik entschieden werden. Historische Jesusforschung urteilt deshalb auch nicht über die Wahrheit des christlichen Glaubens. Sie stellt vielmehr die Grundlage dafür bereit, seine Entstehung nachzuvollziehen. Sie macht deutlich, dass das christliche Bekenntnis eine Reaktion auf den Anspruch Jesu darstellt, die das Neue Testament als »Nachfolge« oder als »Glaube« bezeichnet, neben der es aber auch andere Möglichkeiten gibt, sich zu Jesus zu verhalten. Bereits die in den frühen Quellen berichteten Konflikte zeigen, dass die Autorität Jesu auf den Geist Gottes zurückgeführt oder als Bund mit dem Satan gewertet werden konnte.4

Historische Jesusforschung zielt also auf das Verstehen des Zusammenhangs von Geschehnissen und ihrer späteren Deutung, von Ereignis und Erzählung.5 Sie befragt die Quellen daraufhin, ob sich das von ihnen Berichtete tatsächlich ereignet hat, warum gerade diese Dinge von Jesus berichtet werden, anderes dagegen nicht und wie sich Ereignis und Deutung zueinander verhalten. Historische Jesusforschung betrachtet die Quellen also mit einem kritisch-differenzierenden Blick.

Die Bibelwissenschaften haben maßgeblich zur Ausprägung dieses kritischen Bewusstseins beigetragen, dessen Anfänge sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lassen.6 In der Jesusforschung begegnet es zum ersten Mal in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einer Schrift mit dem Titel »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), von der Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) posthum sieben Teile als »Fragmente eines Ungenannten« publizierte. Seither ist die Unterscheidung zwischen den Ereignissen des Lebens und Wirkens Jesu einerseits, ihrer Darstellung in den Evangelien andererseits, eine Voraussetzung der Beschäftigung mit Jesus, deren Berechtigung niemand bezweifelt.

Die zweite Antwort lautet: Historische Forschung stellt die Vergangenheit nicht so wieder her, wie sie sich einst ereignet hat. Sie befragt die Quellen vielmehr aus ihrer eigenen Zeit heraus, versteht die Vergangenheit also im Licht ihrer eigenen Gegenwart. Für die historische Jesusforschung bedeutet das: Sie entwirft Bilder der Person Jesu, die dem Kenntnisstand über die damalige Zeit entsprechen, die zudem geprägt sind von der jeweiligen Sicht auf die Wirklichkeit und denjenigen Annahmen, die bei der Interpretation der Texte stets – bewusst oder unbewusst – eine Rolle spielen. Historische Jesusforschung setzt den christlichen Glauben also der kritischen Prüfung durch geschichtswissenschaftliche Methoden aus. Dabei gelangt sie niemals zu sicheren, unrevidierbaren Resultaten über die Vergangenheit. Sie stellt aber ein Bild Jesu vor Augen, das in der jeweiligen Gegenwart vor den Quellen rational und ethisch verantwortet ist. Historische Jesusforschung ist also kein dem christlichen Glauben entgegengesetztes Unterfangen, wiewohl man auch ohne Christ zu sein sich mit Jesus als historischer Person befassen kann. Für den christlichen Glauben stellt die historische Jesusforschung dagegen die Herausforderung dar, ihr Bekenntnis zu Jesus angesichts der je aktuellen Erkenntnisse über Jesus und seine Zeit zu formulieren.

Historische Jesusforschung stellt für die Verhältnisbestimmung von historischem Jesus und geglaubtem Christus also zugleich eine Herausforderung und einen Gewinn dar. Die Herausforderung besteht darin, das Bekenntnis zu Jesus der kritischen Prüfung durch wissenschaftliche Forschung auszusetzen und angesichts der dabei zutage geförderten Ergebnisse immer wieder neu zu durchdenken. Der Gewinn besteht darin, dass das Bekenntnis auf diese Weise den je aktuellen Erkenntnis- und Verstehensbedingungen korrespondiert und nicht zu einem abständigen und nur schwer vermittelbaren Inhalt wird. Auch das sei etwas näher erläutert.

Die zahlreichen literarischen und archäologischen Quellen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckt und veröffentlicht wurden,7 haben zu einer wesentlich genaueren Wahrnehmung des Judentums der Zeit Jesu geführt. Heutige Jesusdarstellungen unterscheiden sich gerade an diesem Punkt von solchen, die vor dem Bekanntwerden dieser Schriften verfasst wurden. Dazu beigetragen hat aber auch, dass die jüdischen Quellen heute mit anderen Augen betrachtet werden. Verantwortlich hierfür ist die Neubesinnung auf das Verhältnis des Christentums zum Judentum, die in der christlichen Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ausgelöst nicht zuletzt durch die Shoa – einsetzte. Sie hat die Sensibilität für die Verwurzelung des Christentums im Judentum wesentlich befördert. Niemand bestreitet heute, dass Jesus und Paulus im Kontext des antiken Judentums verstanden werden müssen – als galiläischer Wanderprediger der eine, als zu Jesus Christus bekehrter Diasporajude und Pharisäer der andere. Die Erforschung des antiken Judentums als des historischen Kontextes für das Wirken Jesu und die Entstehung des christlichen Glaubens hat Thesen wie etwa diejenige eines »arischen Jesus« oder paganer Religiosität als Mutterboden des frühen Christentums als auf einer problematischen Entgegensetzung von »Judentum« und »Christentum« erweisen können. Dass Jesus fest in den jüdischen Schriften und Traditionen seiner Zeit verwurzelt war, wird heute von niemandem bestritten. Der historische Kontext Jesu, des Juden aus Galiläa, kann deshalb nicht zuletzt zu einem neuen Blick auf diejenigen Traditionen führen, die Juden und Christen miteinander verbinden.8 Das zeigt: Nicht nur die Quellenlage, auch der Blick auf die Quellen hat sich verändert. Historische Forschung hat immer auch eine Korrektivfunktion im Blick auf das Verständnis der Gegenwart im Horizont der Spuren der Vergangenheit.

Historische Forschung ist demnach der Vergangenheit wie der Gegenwart gleichermaßen verpflichtet. Sie bewahrt die Spuren des Gewesenen vor dem Vergessen, sie wehrt zugleich einer Instrumentalisierung der Vergangenheit zu ethisch fragwürdigen oder politisch vordergründigen Zwecken.9

Zwischen einem mittels historischer Forschung entworfenen »historischen Jesus« und dem »irdischen Jesus« ist darum zu unterscheiden: Der »historische Jesus« ist stets ein Produkt der Quellenauswertung durch einen Interpreten oder eine Interpretin. Abhängig davon, wie die Quellen beurteilt und zusammengefügt werden, entstehen dabei verschiedene Bilder. Historische Jesusdarstellungen – gerade auch diejenigen der neueren, auf intensiver Quellenauswertung basierenden Forschung – weisen deshalb z.T. beträchtliche Unterschiede auf. Zu einem eindeutigen Bild von Jesus wird historische Forschung niemals gelangen, denn die Quellen lassen nicht nur eine Deutung zu. Der »irdische Jesus« ist dagegen der Jude, der im 1. Jahrhundert in Galiläa gelebt und gewirkt hat und stets nur vermittelt durch Deutungen zugänglich ist. Spätere Zeiten sind für diese Deutungen auf Zeugnisse verwiesen, die Rückschlüsse auf die Person Jesu und ihren Kontext ermöglichen. Historische Jesusdarstellungen, wie andere historische Darstellungen auch, sind darum immer eine Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit und leisten so einen Beitrag zum Verstehen der Wirklichkeit. Das Resultat einer heutigen historischen Jesusdarstellung ist darum der erinnerte, vergegenwärtigte Jesus aus einer spezifischen Perspektive vom Anfang des 21. Jahrhunderts.10

Wie war es »wirklich«? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn Tatsachen und Ereignisse innerhalb eines Zusammenhangs gedeutet werden, der sich erst dem Blick späterer Interpreten erschließt. Die historischen Ereignisse des Wirkens und Geschicks Jesu, um die es im Folgenden geht, müssen aus den Quellen erschlossen, miteinander verknüpft und in einen historischen Kontext eingeordnet werden. Ob ein Zeitgenosse Jesu ihn in dem Bild, das dabei entsteht, wiedererkennen würde, bleibt eine hypothetische Frage, die aber auch nicht über den Wert einer heutigen Jesusdarstellung entscheidet. Wichtiger ist: Ein solches Jesusbild muss unter gegenwärtigen Erkenntnisbedingungen nachvollziehbar und an den Quellen orientiert sein – auch und gerade dort, wo uns Jesus in diesen Quellen fremd und unbequem erscheint. »Wirklich« meint dann: angesichts der je aktuellen Verstehensvoraussetzungen plausibel, wobei die jeweilige Gegenwart im Licht der Zeugnisse der Vergangenheit als gewordene verstanden wird. Die Frage, wer Jesus war, kann deshalb von derjenigen, wer er heute ist, nicht getrennt werden.

2. EIN BLICKINDIE FORSCHUNGSGESCHICHTE

Eine heutige Jesusdarstellung baut auf der mehr als zweihundertjährigen Arbeit historisch-kritischer Forschung auf. Sie profitiert von den dabei gewonnenen Erkenntnissen über die Quellen sowie über den politischen, religiösen und kulturellen Kontext Jesu.

Die historisch-kritische Jesusforschung wird zumeist in drei Phasen eingeteilt: die sog. »liberale Leben-Jesu-Forschung«, die das 19. Jahrhundert bestimmte und am Beginn des 20. Jahrhunderts an ihr Ende kam, die sog. »neue Frage nach dem historischen Jesus«, deren Beginn in der Regel in dem wichtigen Vortrag Ernst Käsemanns über »Das Problem des historischen Jesus« von 1953 gesehen wird,11 sowie die in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzende, sich selbst als »dritte Frage« (»Third Quest«) nach dem historischen Jesus bezeichnende Richtung. Man kann natürlich auch hiervon abweichende Einteilungen vornehmen.12 Im Folgenden soll es jedoch nicht um derartige Einteilungsfragen, sondern um einige grundlegende Merkmale der neuzeitlichen Jesusforschung gehen.13

Eine wichtige Voraussetzung für die Frage nach dem historischen Jesus ist die oben schon genannte Beurteilung der biblischen Schriften am Maßstab der kritischen Vernunft. Dass die Bibel, in christlicher Antike und christlichem Mittelalter Grundlage des Welt- und Menschenbildes, in der Neuzeit zum Gegenstand wissenschaftlicher Kritik wurde, ist eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Entwicklung. Sie bildet die Grundlage für das historisch-kritische Bewusstsein, das die Aussagen der Heiligen Schrift nicht mehr automatisch mit der Wahrheit gleichsetzt, sondern zwischen historischer Wirklichkeit und Deutung unterscheidet. Diese heute selbstverständlich erscheinende Unterscheidung war zur Zeit ihrer Entstehung eine regelrechte Revolution.

Innerhalb der Jesusforschung wird diese Entwicklung zuerst bei dem schon genannten Hermann Samuel Reimarus greifbar. In seiner bereits erwähnten Schrift zur Verteidigung der »vernünftigen Verehrer Gottes« stellt er eine Differenz zwischen der Lehre Jesu und der Entstehung des christlichen Glaubens fest und bezeichnet es als einen »gemeinen Irrthum der Christen«, beides miteinander vermischt zu haben. Die Verkündigung Jesu selbst sei eine im Kontext des Judentums angesiedelte ethische Belehrung, ausgerichtet auf »Aenderung des Sinnes, auf ungeheuchelte Liebe Gottes und des Nächsten, auf Demuth, Sanftmuth, Verläugnung sein selbst, auf Unterdrückung aller bösen Lust«, auf moralische Besserung des Menschen also, jedoch nicht auf ein neues, das Judentum ablösendes Religionssystem. Dieses hätten vielmehr erst die Apostel (Reimarus meint hier die Verfasser der neutestamentlichen Briefe, im Unterschied zu den Evangelisten als Geschichtsschreibern) nach Jesu Tod entwickelt und an die Stelle der einfachen, natürlichen Religion Jesu das System eines leidenden, vom Tode auferstehenden und nach seiner Himmelfahrt zum Gericht wiederkommenden Erlösers gesetzt.

Trotz etlicher Unzulänglichkeiten, auf die hier nicht näher einzugehen ist, ist die Theorie von Reimarus die erste konsequente Erklärung der Lehre Jesu aus ihrem historischen Kontext heraus. Dass die Frage nach Jesus immer auch eine Aufgabe historischer Forschung ist, wurde dabei durch Reimarus (und Lessing) zu Recht herausgestellt und in der neueren Jesusforschung wieder deutlich hervorgehoben. Die Kenntnisse über die politischen, sozialen und religiösen Verhältnisse der Zeit Jesu sind dabei heute ungleich präziser als zu Zeiten von Reimarus. Diese Kenntnisse bilden einen wichtigen Bestandteil gegenwärtiger Jesusdarstellungen. Um das Auftreten Jesu zu beschreiben, muss danach gefragt werden, mit welchen Menschen er in Kontakt kam, müssen die sozialen und politischen Verhältnisse der Gegend, in der er wirkte, in den Blick genommen werden. Um den historischen Kontext Jesu auszuleuchten, sind alle Materialien, die hierüber Informationen liefern, heranzuziehen. Biblische und außerbiblische Texte halten Kenntnisse zur Geschichte Palästinas und des galiläischen Judentums bereit. Archäologische Funde, Inschriften oder Münzen helfen, dieses Bild zu konkretisieren. Die umfassende Berücksichtigung dieses Materials ist in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten zu einem festen Bestandteil der Jesusforschung geworden.14 Mit dem Programm, Jesus aus seinem konkreten jüdischen Kontext heraus zu verstehen, bewegt sich die Jesusforschung dabei in den Spuren von Reimarus.

Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus dem besonderen Charakter der Evangelien. Hatte noch Reimarus – ähnlich wie auch Lessing – deren Verfasser als glaubwürdige Geschichtsschreiber betrachtet,15 so entdeckte David Friedrich Strauß (1808–1874), dass die Berichte über Jesus von Motiven geprägt sind, die größtenteils aus dem Alten Testament oder dem Judentum stammen (wie etwa die Erwartung des kommenden Messias) und die nunmehr auf Jesus übertragen wurden, um die Bedeutung seiner Person zum Ausdruck zu bringen. Strauß verwendete hierfür den Begriff »Mythos« und verstand darunter die »geschichtsartige Einkleidung« von Ideen, die in der Person Jesu als verwirklicht angesehen wurden und deren höchste die Idee der Gottmenschheit sei. War bei Reimarus zum ersten Mal das Verhältnis von Wirken Jesu und Entstehung des christlichen Glaubens thematisiert worden, so werden bei Strauß die Evangelien selbst auf ihre historische Grundlage hin befragt. Die dabei eingeführte Differenzierung zwischen historischer Wirklichkeit und deutender Darstellung ist seither aus der Jesusforschung nicht mehr wegzudenken.

Die von Strauß aufgeworfene Frage, ob die historischen Ereignisse des Wirkens Jesu zur Wahrheit des Christentums dazugehören oder aber zugunsten der »Ideen«, mit denen sie gedeutet wurden, letztlich verzichtbar seien, wird von Martin Kähler (1835–1912) in einem berühmt gewordenen Vortrag von 1892 mit dem bezeichnenden Titel »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus« dahingehend beantwortet, dass der Versuch, hinter den biblisch bezeugten Christus auf den historischen Jesus zurückgehen zu wollen, ein Holzweg sei. Die neutestamentlichen Darstellungen seien Verkündigung, deren Wahrheit nicht mit den Mitteln historischer Kritik erhoben werden könne. Es gelte vielmehr, den wirklichen in dem gepredigten Christus zu erkennen. Eine Unterscheidung von historischen Ereignissen und ihrer Deutung durch den christlichen Glauben, der ihnen erst nachträglich eine Bedeutung verleihe, lehnte Kähler dagegen vehement ab.

Die Linie von Strauß zu Kähler lässt sich über Rudolf Bultmann und Paul Tillich bis zu dem nordamerikanischen Exegeten Luke Timothy Johnson verlängern.16 Das Kennzeichen dieser Position ist es, eine Rekonstruktion des historischen Jesus jenseits der christlichen Glaubenszeugnisse – und damit das Projekt eines »historischen Jesus« – angesichts der Quellen für nicht realisierbar und theologisch für unsachgemäß zu halten. Die Deutungen seines Wirkens und Geschicks aus der Sicht des christlichen Glaubens seien genau diejenige Form, in der Jesus geschichtlich wirksam geworden sei, deshalb sei es methodisch wie sachlich unangemessen, unabhängig hiervon nach einem »historischen Jesus« suchen zu wollen.

Diese Position hat in der deutschsprachigen Jesusforschung eine nachhaltige Wirkung ausgeübt. Ihr prinzipielles Recht liegt in dem Insistieren darauf, dass historische Forschung nicht hinter die christlichen Glaubensüberzeugungen zu dem »wirklichen« Jesus vordringt. Dass die nachösterlichen Glaubensüberzeugungen die Darstellungen des vorösterlichen Wirkens Jesu maßgeblich geprägt haben, steht außer Frage. Gleichwohl wäre es voreilig, die historische Jesusfrage damit grundsätzlich zu verabschieden. Zwischen historischen Ereignissen und deren Deutung kann in den Evangelien durchaus unterschieden werden, Konturen der historischen Person Jesu lassen sich in den Entwürfen der Evangelien erkennen. Eine grundsätzliche Skepsis gegenüber einem historisch-kritisch erstellten Bild Jesu17 ist deshalb überzogen.18 Zu einem solchen Bild gehört wesentlich mehr als das, was Bultmann als historisch gesichert über das Wirken Jesu sagen zu können meinte.19

An dieser Stelle wird eine Tendenz erkennbar, die die Jesusforschung im Gefolge Bultmanns maßgeblich geprägt hat. Die Jesusdarstellungen dieser Phase, der sog. »neuen Frage nach dem historischen Jesus«, waren in der Regel auf seine »Verkündigung« konzentriert. Das »Eigentliche« seines Wirkens wurde also vornehmlich in seinen Worten und Gleichnissen gesehen, der historische und soziale Kontext dagegen eher beiläufig als »Rahmen« abgehandelt.20 Vorausgesetzt ist dabei die durchaus zutreffende Einsicht, dass den Evangelien Überlieferungen vorausliegen, die sie selbst in einen chronologischen und geographischen Rahmen gestellt haben. Dieser »Rahmen« ist allerdings keineswegs belanglos. Er vermittelt vielmehr wichtige Kenntnisse über die Zeit und die Regionen des Wirkens Jesu und bettet sein Wirken in konkrete soziale, kulturelle und religiöse Zusammenhänge ein. Er ist deshalb für eine Interpretation seines Auftretens unverzichtbar. Dagegen wäre es nicht einleuchtend, die Bedeutung Jesu auf seine »Verkündigung« zu reduzieren, diese ihren konkreten Zusammenhängen zu entheben und die konkreten Kontexte, die sein Wirken historisch erst verstehen lassen, an den Rand zu stellen.

Die mit den Namen von Strauß, Kähler, Bultmann und Johnson verbundene Linie der Jesusforschung formuliert also ein wichtiges Korrektiv gegen eine naive Gleichsetzung von historischer Forschung und vergangener Wirklichkeit: Die Bedeutung des Wirkens und Geschicks Jesu lässt sich nicht unabhängig von den Deutungen in den frühen Quellen erfassen. Historische Darstellungen müssen vielmehr verständlich machen, wie Deutung und historisches Ereignis aufeinander zu beziehen sind. Andererseits spricht die Einsicht in den »mythischen« oder »kerygmatischen« Charakter der Evangelien nicht gegen ihren Wert als historische Quellen. Der historische Kontext des Wirkens Jesu bleibt vielmehr durchaus erkennbar und erlaubt es, Konturen seines Auftretens nachzuzeichnen.

Ein dritter Aspekt der historischen Jesusforschung verbindet sich mit dem Namen von Albert Schweitzer (1875–1965). Schweitzer hatte die Abhängigkeit historischer Darstellungen von den Urteilen und Wertmaßstäben ihrer Verfasser innerhalb der Jesusforschung deutlich erkannt. In seiner »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« kritisierte er die Jesusdarstellungen der Forschung des 19. Jahrhunderts dafür, dass sie die Fremdheit Jesu nicht ernst genommen und ihn um den Preis der Bewahrung seiner Besonderheit in ihre eigene Zeit hineingeholt hätten, aus der er allerdings wieder in seine eigene Zeit zurückgekehrt sei.

Hatte Schweitzer damit zu Recht auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die in einer unreflektierten Aneignung der Vergangenheit liegt, so besitzt auch sein eigener Entwurf eine methodische Schwäche: Schweitzer wollte an die Stelle der geschichtlichen Erkenntnis, die der Vorläufigkeit unterworfen sei, das von wandelbaren historischen Urteilen unabhängige Fundament des christlichen Glaubens setzen.21 Dieses meinte er in der »Persönlichkeit« und dem »Willen« Jesu zu finden, die von dem Vorstellungsmaterial, in das sie gekleidet wurden, unabhängig seien.22 Damit steht Schweitzer in der Tradition eines Geschichtsbildes, das durch die Orientierung an großen Persönlichkeiten gekennzeichnet ist und sich auch schon vor ihm in der Jesusforschung bemerkbar gemacht hatte.23 Zugleich bereitete Schweitzer mit der Betonung des angeblich zeitlosen »Willens Jesu« eine Richtung vor, an die dann vor allem in der oben angesprochenen, auf die »Verkündigung« Jesu konzentrierten Richtung angeknüpft wurde.

Schweitzer geht es also, ähnlich wie Kähler und Bultmann, um ein sicheres Fundament, auf das sich der Zugang zu Jesus gründen kann. Gesucht wird dieses Fundament von allen drei Forschern jenseits wandelbarer historischer Urteile. Diese Vorstellung ist jedoch eine Illusion. Es kann bei der Beschäftigung mit Jesus nicht darum gehen, das »zeitlos Gültige« vom wandelbaren »Material«, in das es gekleidet wurde, absondern zu wollen. Das lässt sich unschwer an Schweitzer selbst zeigen: Seine Konzentration auf die vermeintlich zeitlose »Persönlichkeit« Jesu und seinen »Willen« sind dem Persönlichkeitsideal des 19. Jahrhunderts und einer bestimmten Sicht auf die »spätjüdische« Apokalyptik verpflichtet – und damit durchaus zeitbedingt, wenn auch auf andere Weise als die von ihm kritisierten Darstellungen. Christlicher Glaube kann nicht auf ein »unerschütterliches Fundament« oder eine »ewige Vernunftwahrheit« im Sinne Lessings gegründet werden. Er ist vielmehr stets von den geschichtlichen Entwicklungen und den damit verbundenen Veränderungen der Sicht auf die Vergangenheit betroffen; er ist der ständigen Prüfung an den Quellen unterworfen und kritischen Fragen nach der Plausibilität seiner Wirklichkeitsdeutung ausgesetzt. Genau darauf gründet die Stärke eines Glaubens, der sich solch kritischer Prüfung nicht verweigert. Nur ein intellektuell und ethisch verantworteter Glaube ist davor gefeit, sich in einen Sonderbereich zurückzuziehen und zur Ideologie zu werden. Nur ein solcher Glaube kann deshalb im offenen Diskurs über die Deutung der Wirklichkeit bestehen.

Schließlich ist ein Weiteres zu bedenken: Dass die Evangelien vor- und nachösterliche Überlieferungen miteinander verschmelzen, verleiht dem Unterfangen der kritischen Jesusforschung von vornherein eine Ambivalenz: Die Frage, welche Überlieferungen als authentisch, welche als spätere Deutungen, welche Facetten für ein Bild von Jesus als besonders markant und charakteristisch, welche als eher belanglos beurteilt werden, hängt immer auch von dem vorausgesetzten Gesamtbild vom Wirken Jesu und seinem historischen Kontext ab.

Die Vielfalt der Jesusbilder in der neueren Forschung liefert dafür einen eindrücklichen Beleg. Die Differenzen entstehen nicht – jedenfalls nicht in erster Linie – dadurch, dass mit verschiedenen historischen Materialien gearbeitet würde, sondern durch die jeweils vorausgesetzten Annahmen über historische Plausibilitäten. So hält etwa Ed Parish Sanders die jüdische »Restaurationseschatologie« (»restoration eschatology«) für denjenigen Kontext, innerhalb dessen die Wirksamkeit Jesu interpretiert werden müsse. Dabei hält er die Erzählung von der Tempelaustreibung für den sichersten Ausgangspunkt einer Untersuchung des Wirken Jesu und beginnt seine Darstellung mit deren Analyse.24

Für Richard A. Horsley sind dagegen die sozialen Verhältnisse im Palästina des 1. Jahrhunderts der maßgebliche Kontext, um das Wirken Jesu zu interpretieren. Anders als bei Sanders wird die Wirksamkeit Jesu deshalb wesentlich stärker im Blick auf ihre politischen und sozialen Implikationen hin befragt. Jesus wollte die Gottesherrschaft als neue Ordnung, die sich gegen Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit richtet, bereits gegenwärtig erfahrbar machen und nicht, wie Sanders meint, auf die zukünftige, von Gott selbst heraufgeführte Ordnung verweisen.25

Lassen sich für verschiedene Einordnungen Jesu in sein historisches Umfeld Argumente anführen, so bedeutet das nicht, dass die Darstellungen dadurch beliebig würden. Es zeigt jedoch, dass sich die historisch-kritische Jesusforschung in einem gewissen »Unschärfebereich« bewegt, da sie es als historisches Unternehmen mit Quellen zu tun hat, die kein eindeutiges Bild der Vergangenheit vermitteln. Ihr Ziel kann deshalb nicht das Erreichen des einen Jesus hinter den Texten sein, sondern ein auf Abwägen von Plausibilitäten gegründeter Entwurf, der sich als Abstraktion von den Quellen stets vor diesen bewegt.

Für diesen geschichtshermeneutischen Zugang wurde der Begriff der »Erinnerung« in die Jesusforschung eingeführt.26 Damit ist nicht die individuelle Aufbewahrung von Inhalten des Wirkens und der Lehre Jesu im Gedächtnis seiner Nachfolger gemeint,27 sondern die Aneignung der Vergangenheit aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart. Dieser Zugang knüpft an ein Verständnis des Erinnerungsbegriffs an, das Jan Assmann im Anschluss an Maurice Halbwachs entwickelt hat.28 Assmann geht – wie auch Halbwachs – von der sozialen, kollektiven Dimension des Gedächtnisses aus, in dem diejenigen Traditionen aufbewahrt werden, die für das Selbstverständnis einer Gemeinschaft grundlegend sind. Zu dieser Form des Gedächtnisses gehört deshalb immer auch die Aktualisierung und Inszenierung von Traditionen im Leben von Gemeinschaften – etwa durch Erzählungen, Rituale, Gedenktage und dergleichen. Für das Judentum ist in diesem Sinn etwa die Exoduserzählung eine Tradition, die im Gedächtnis des jüdischen Volkes aufbewahrt, gelesen und bei der Passahfeier rituell inszeniert wird. In der Christentumsgeschichte lässt sich dem die Feier des Abendmahls vergleichen, die an das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern in Jerusalem anknüpft und Jesus in der mahlfeiernden Gemeinde vergegenwärtigt. »Erinnerung« bezeichnet diesem Verständnis zufolge den Rückgriff auf für bedeutsam gehaltene Vergangenheit, die in Erzählungen, Ritualen, Festen und anderen Formen angeeignet und vergegenwärtigt wird.

Die kritische Prüfung des historischen Materials wird damit in keiner Weise überflüssig. Die Aneignung der Vergangenheit wird sich vielmehr auf solche Zeugnisse stützen, die kritischer Analyse als verlässlich erscheinen. Ein am Erinnerungsbegriff orientierter Zugang zur Vergangenheit – und damit auch zur Jesusüberlieferung – ist sich aber dessen bewusst, dass die Zeugnisse der Vergangenheit die für die Gegenwart bedeutsame Geschichte nicht unmittelbar enthalten. Diese muss vielmehr erst durch eine auf kritischer Analyse und kreativer Einbildungskraft basierende Erzählung aus ihnen geschaffen werden. Die Aneignung der Vergangenheit ist demzufolge ein Prozess, bei dem die historischen Quellen aus der Perspektive der Gegenwart gedeutet und zu einem Bild zusammengefügt werden, das dem jeweiligen Erkenntnisstand und den Voraussetzungen, mit denen wir die Quellen interpretieren, entspricht. Die historische Erzählung gründet dabei auf den Zeugnissen der Vergangenheit und wird sich durch sie korrigieren lassen. Sie ist zugleich ein Produkt historischer Einbildungskraft, die aus den Zeugnissen der Vergangenheit lebendige, bedeutsame Geschichte erschafft.29

Für die Frage nach dem historischen Jesus ist diese geschichtshermeneutische Perspektive von großer Bedeutung. Die aktuelle Jesusforschung steht der Auffassung, nicht der »historische Jesus«, sondern nur der »geglaubte Christus« sei für den christlichen Glauben von Bedeutung, skeptisch gegenüber. Sie fasst die Jesusforschung stattdessen primär als geschichtswissenschaftliche Unternehmung auf, die auf der Grundlage kritischer Analyse des historischen Materials ein Bild Jesu in seinem historischen Kontext zeichnet. Die Jesusforschung der Gegenwart ist zugleich dadurch charakterisiert, dass sie die zur Verfügung stehenden Quellen in umfassender Weise für die Beschreibung des historischen Kontextes Jesu heranzieht. Dies macht eine geschichtshermeneutische Reflexion notwendig, die zu Bewusstsein bringt, dass der »historische Jesus« nicht der »wirkliche Jesus« hinter den Quellen ist, sondern ein Produkt, das auf historisch-kritischer Quellenanalyse und historischer Einbildungskraft beruht. Jesusbilder – auch historisch-kritische – sind deshalb vielfältig, selektiv und revidierbar. Gerade darin haben sie ihre Bedeutung für die Rezeption Jesu in der jeweiligen Gegenwart.

Fassen wir diesen Überblick zusammen, so zeigt sich: Die Jesusforschung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat wichtige methodische und inhaltliche Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit Jesus unter den Bedingungen des neuzeitlichen historisch-kritischen Bewusstseins geschaffen. Sie bewegt sich dabei in der Spannung von historischer Rekonstruktion, die wissen will, wie es »wirklich« war, und nachösterlicher Konstruktion, die dies für unerreichbar hält und sich stattdessen an den nachösterlichen Glaubenszeugnissen orientiert. Bei beiden Optionen handelt es sich um Radikallösungen, die für sich genommen unzureichend sind. Gemeinsam verleihen sie der neuzeitlichen Jesusforschung jedoch eine Dynamik, die sich als äußerst fruchtbar erweist: Die Beschäftigung mit den Quellen stellt ein Bild der Vergangenheit vor Augen, das als Produkt der Gegenwart jedoch immer veränderlich, fehlbar und unvollständig bleibt. Historische Jesusforschung kann deshalb den christlichen Glauben niemals begründen oder gar seine Richtigkeit beweisen. Sie kann jedoch zeigen, dass dieser Glaube auf dem Wirken und Geschick einer Person gründet, das sich, wenn auch nicht in jedem Detail, so jedoch in wichtigen Facetten auch heute noch nachzeichnen lässt. Damit leistet sie für die Verantwortung des christlichen Glaubens in der modernen Welt einen substantiellen Beitrag.

3. DASHISTORISCHE MATERIAL: ÜBERRESTEUND QUELLEN

3.1 Überreste

Johann Gustav Droysen, der Begründer neuzeitlicher Methodik historischen Arbeitens, unterteilte das Material, das dem Historiker zur Verfügung steht, in »Überreste« und »Quellen«. Damit ist gemeint: Es gibt einerseits Zeugnisse der Vergangenheit, die für den Gebrauch in der damaligen Zeit bestimmt waren, nicht jedoch dazu, Ereignisse festzuhalten, um sie der Nachwelt zu überliefern. Hierzu rechnete Droysen z.B. Geschäftsbriefe, Korrespondenzen, Gesetze usw. In den Quellen dagegen »sind die Vergangenheiten, wie menschliches Verständnis sie aufgefasst und ausgesprochen, als Erinnerung geformt hat, überliefert.« Hierbei handelt es sich also um solche Zeugnisse, in denen sich Menschen ein Bild ihrer eigenen Zeit gemacht, ihre Wirklichkeit interpretiert und festgehalten haben.30

Wenden wir diese Unterscheidung auf die historische Jesusforschung an, so gehören diejenigen Dinge zu den »Überresten«, die Informationen über den kulturellen, politischen, sozialen und religiösen Kontext Jesu liefern. Hierzu zu rechnen sind z.B. die archäologischen Zeugnisse aus Galiläa, die die Ausgrabungen der zurückliegenden Jahrzehnte zutage gefördert haben. Die jüdische Prägung Galiläas wurde durch diese Zeugnisse eindrucksvoll herausgestellt.31 Hierzu gehören weiter Münzen, die Aufschluss darüber geben, dass Herodes Antipas, der Herrscher in Galiläa zur Zeit Jesu, die jüdische Prägung dieser Region respektierte, indem er keine Münzen mit seinem eigenen Bild oder mit demjenigen des römischen Kaisers prägen ließ. Einige der wichtigen Funde werden im Folgenden kurz vorgestellt.

1) Die Pilatusinschrift von Cäsarea Maritima (Anhang, Abbildung 2).32 Sie ist im Israel-Museum in Jerusalem ausgestellt. Eine Kopie steht im antiken Cäsarea, wo die Inschrift gefunden wurde. Der Text lautet:

[NAUTI]S TIBERIEUM

[PO]NTIUS PILATUS

[PRAEF]ECTUS IUDAE[A]E

[REF]E[CIT]

[Den Seeleuten hat dieses] Tiberieum

[Po]ntius Pilatus

[Praef]ect von Judaea

[wieder errichtet]

Das »Tiberieum« ist demnach ein Gebäude, das Pontius Pilatus »den Seeleuten« (nautis) errichten lassen hat. Möglicherweise handelt es sich dabei um einen Leuchtturm (daher die Ergänzung »Den Seeleuten«), vielleicht auch um einen Sakralbau (dann könnte die erste Zeile zu AUGUSTIS ergänzt werden).33 Zu Ehren des Kaisers Tiberius trug das Gebäude den Namen »Tiberieum«. Die Inschrift belegt, dass Pontius Pilatus die Amtsbezeichnung »Präfekt« trug, nicht »Prokurator«, wie es bei Tacitus heißt.

2) Das Kaiaphas-Ossuar (Anhang, Abbildung 3). Im Jahr 1990 wurden in einer Familiengrabstätte in Jerusalem 12 Ossuare entdeckt. Das größte dieser Ossuare, das sich jetzt im Israel-Museum befindet, enthält die Knochen eines etwa sechzigjährigen Mannes und einiger seiner Familienmitglieder. Es wurde zudem aufwendig verziert. Auf der Längsseite findet sich die Aufschrift »Joseph, Sohn des Ka(ia)phas«, auf der Schmalseite die gekürzte Version »Joseph, Sohn des Kph«.

Es könnte sich um das Familiengrab des Hohenpriesters Kaiaphas handeln, den auch die Evangelien des Neuen Testaments und Josephus nennen (Josephus nennt in Ant. 18,35 »Joseph« als Zweitnamen des Kaiaphas). Obwohl die Lesart »Kaiaphas« nicht völlig gesichert ist, könnte das Ossuar dasjenige des Hohenpriesters Kaiaphas und seiner Familie sein. Das wird durch ein 2011 bekannt gewordenes Ossuar unterstützt, das die Aufschrift trägt: »Miriam, Tochter des Jeschua, Sohn des Kaiaphas, Priester von Maaziah, aus dem Hause Imri«. Damit ist ein weiterer Beleg für den Hohenpriester Kaiaphas ans Licht gekommen.

3) Das 1986 im See Gennesaret gefundene Boot (Anhang, Abbildung 4).34 Es stammt aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. und wird deshalb mitunter auch als »Jesus-Boot« bezeichnet (obwohl natürlich niemand weiß, wer es tatsächlich benutzt hat). Nach einer ebenso komplizierten wie spektakulären Bergungs- und Konservierungsaktion ist es heute in der Allon-Ausstellungshalle des Kibbuz Nof Ginnosar in der Nähe von Kafarnaum zu besichtigen. Die Abmessungen der gefundenen Überreste betragen ca. 8,20m x 2,30m, die Maße für das ganze Boot betrugen demnach ca. 10m x 3m. Damit hatte es eine beachtliche Größe, die es zum Transport mehrerer Personen oder größerer Mengen von Gütern geeignet erscheinen lässt. Auffällig ist die Verwendung vieler Holzarten bei der Herstellung sowie bei späteren Reparaturen, die darauf schließen lässt, dass Bauholz knapp war. Ein Schiffsmosaik aus dem nahe gelegenen Magdala zeigt ein Boot ähnlichen Typs. Das Boot kann eine Szene wie die in Mk 4,35–41 beschriebene veranschaulichen:

Jesus schläft dort »im Heck«, was auf ein größeres Boot mit ausgearbeitetem Heck schließen lässt.

3.2 Christliche Quellen

3.2.1 Die Schriften des Neuen Testaments

Zu den Quellen, die Aufschluss über den historischen Jesus geben, gehören diejenigen Zeugnisse, die historisch auswertbare Informationen aufbewahrt haben und nicht ihrerseits von älteren Quellen abhängig sind. Spätere Zeugnisse malen das Leben Jesu dagegen häufig legendarisch aus und gehören deshalb in die Wirkungsgeschichte der ältesten Quellen. Sie spiegeln Konstellationen späterer Phasen der Christentumsgeschichte wider, etliche sind zudem Ausdruck christlicher Frömmigkeit, die die Person Jesu in Legenden, bildlichen Darstellungen und rituellen Vollzügen zur Anschauung bringt.35 Diese Zeugnisse, von denen einige in Teil C dieses Buches besprochen werden, können im vorliegenden Abschnitt, der sich auf die historisch auswertbaren Informationen konzentriert, übergangen werden.

Die Jesusüberlieferung wurde in ihren Anfängen mündlich weitergegeben. Dieser Prozess, der aller Wahrscheinlichkeit nach bereits während der Wirksamkeit Jesu einsetzte, hat ihren Charakter grundlegend geprägt. Als ursprünglich mündliche Überlieferung behielt sie ihre Variabilität bei der je konkreten sprachlichen und inhaltlichen Gestaltung auch während und nach ihren ersten Verschriftlichungen. Das wird sofort deutlich, wenn man verschiedene Versionen eines Wortes, eines Gleichnisses oder einer Episode aus dem Leben Jesu nebeneinander stellt. Dass diese Flexibilität auch in der schriftlichen Jesusüberlieferung erhalten blieb, kann an ihrer Verarbeitung in frühchristlichen Schriften sowie an der Textüberlieferung unschwer abgelesen werden.36 Nimmt man hinzu, dass Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Griechisch gesprochen hat – die Sprache aller Autoren des Neuen Testaments –, sondern Aramäisch, dann wird deutlich, dass bereits die älteste zugängliche Überlieferung sprachlich wie inhaltlich ein ganzes Stück von Jesus entfernt ist: Sie ist durch einen Prozess mündlicher Überlieferung und inhaltlicher Deutung hindurchgegangen und in eine andere Sprache übersetzt worden; sie wurde in bestimmte Formen gefasst – etwa in Spruchgruppen, Heilungserzählungen oder kleine Episoden über Berufungen und Streitgespräche –; sie wurde in Erzählungen mit je eigenem sprachlichen und inhaltlichen Profil integriert; sie wurde in Texten überliefert, von denen verschiedene, voneinander abweichende Manuskripte existieren, deren älteste bis ins 2. Jahrhundert zurückreichen. Auf der Grundlage dieser Quellen können wir aus heutiger Perspektive Bilder von Jesus zeichnen, die von unseren Kenntnissen über diese Quellen abhängig, von der Person, auf die sich diese Quellen beziehen, jedoch zu unterscheiden sind.

Die ältesten Texte, aus denen wir etwas über Jesus erfahren, sind die Briefe des Paulus. Paulus geht es zwar nur am Rande darum, Biographisches über das Wirken Jesu zu berichten, dennoch finden sich in seinen Briefen Spuren früher Überlieferungen.37 Dazu gehört zunächst die Notiz über »die Nacht, in der Jesus ausgeliefert wurde«, mit der Paulus seinen Bericht von der Einsetzung des Herrenmahls in 1Kor 11,23–25 beginnt. Dazu gehört auch die Erwähnung der davidischen Herkunft Jesu (Röm 1,3), auf die noch zurückzukommen ist.38 In beiden Fällen zitiert Paulus Überlieferungen, die in eine frühe Zeit zurückreichen.

An einigen Stellen bezieht sich Paulus im Zusammenhang von Anweisungen, die er erteilt, ausdrücklich auf ein »Wort des Herrn«. Neben den gerade genannten Einsetzungsworten des Herrenmahls gehören hierzu das Verbot der Trennung von Mann und Frau (1Kor 7,10f.) sowie die Anordnung, dass die, die das Evangelium verkünden, auch von ihm leben sollen (1Kor 9,14). Auch in 1Thess 4,15 spricht Paulus »in einem Wort des Herrn«, allerdings zitiert er dort kein Jesuswort, sondern beruft sich auf die Autorität Jesu. An anderen Stellen weisen die Formulierungen des Paulus Berührungen mit den synoptischen Evangelien auf, ohne dass er sich dabei ausdrücklich auf Jesus oder den »Herrn« berufen würde.

Das Wort vom Dieb in der Nacht in 1Thess 5,2 (vgl. auch 2Petr 3,10 sowie Offb 3,3; 16,15) begegnet in analoger Weise in Lk 12,39/Mt 24,43 sowie in Ev Thom 21,5–7. Hier wird die Metapher vom Dieb in einem Bildwort Jesu verwendet. Der Kontext ist in allen Fällen die Aufforderung zur Wachsamkeit angesichts des unbekannten Zeitpunktes des Kommens Jesu zum Gericht.

Die Aufforderung zum Friedenhalten in 1Thess 5,13 (vgl. Röm 12,18) wird in Mk 9,50 (vgl. Mt 5,9) als Gebot Jesu angeführt.

Zur Aufforderung in 1Thess 5,15/Röm 12,17, Böses nicht mit Bösem zu vergelten, sowie zur hiermit nahe verwandten Mahnung in Röm 12,14, die Verfolger zu segnen und nicht zu verfluchen, finden sich Analogien in der Feldrede bzw. Bergpredigt (Lk 6,28/Mt 5,44) sowie in 1Petr 3,9. Es handelt sich um einen Topos urchristlicher Paränese, der sowohl in den synoptischen Evangelien als auch in der Briefliteratur rezipiert wurde.

Das Wort über das Wohlverhalten gegenüber dem Feind in Röm 12,20, bei Paulus ein Zitat aus Spr 25,21, begegnet in der synoptischen Überlieferung als Feindesliebegebot Jesu (Lk 6,27.35/Mt 5,44).

Zum Topos in Röm 14,14, dass nichts von sich aus unrein ist, ist das Jesuswort in Mk 7,15/Mt 15,11 zu vergleichen: »Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, kann ihn unrein machen.«

Das Wort über den Berge versetzenden Glauben in 1Kor 13,2 besitzt Analogien in Mk 11,22f./Mt 17,20 (vgl. auch Lk 17,6 sowie in Ev Thom 48 und 106).

Die Stellen zeigen, dass bereits vor der Entstehung der Evangelien ein Überlieferungsbereich existierte, in dem die Lehre Jesu, gemeinsam mit anderen Überlieferungen, im Urchristentum weitergegeben wurde. Die Unterscheidung von »echten« Jesusworten und anderen, nicht auf Jesus zurückgehenden Überlieferungen spielte dabei keine Rolle. Entscheidend ist vielmehr, dass die urchristliche Unterweisung insgesamt als durch den Herrn autorisiert angesehen wurde. Das gilt auch für Paulus, wie vor allem solche Formulierungen belegen, in denen er auf die Autorität des Herrn bzw. Jesu verweist, ohne dabei ein Jesuswort zu zitieren.39

Der irdische Jesus ist demnach als derjenige von Bedeutung, der zugleich der auferweckte und zu Gott erhöhte Herr ist.

Die für die historische Jesusfrage wichtigsten Schriften innerhalb des Neuen Testaments sind die Evangelien. Diese entstanden einige Jahrzehnte nach der Wirksamkeit Jesu und halten die Erinnerung an sein Wirken und Geschick nunmehr in Form von Erzählungen fest. Sie verarbeiten hierzu sowohl die Lehre des Urchristentums wie auch biographische Traditionen über seine Herkunft, Orte und Personen seines Wirkungskreises sowie die Umstände seines Todes. Innerhalb des Überlieferungsprozesses gibt es demnach eine Kontinuität der Erinnerung an Jesus, durch die zentrale Aspekte seiner Wirksamkeit festgehalten wurden. Dabei lassen sich bestimmte Formen erkennen, in denen die Jesusüberlieferung bereits vor der Entstehung der schriftlichen Erzählungen weitergegeben wurde. In Chrien (bzw. Apophthegmen), knappen Szenen mit einem Ausspruch oder einer Tat als Pointe, werden Worte und Handlungen Jesu,40 in Heilungserzählungen seine außergewöhnlichen Taten, in Sentenzen und Gleichnissen seine Lehren überliefert.

Die Evangelien erzählen das Wirken und Geschick Jesu allerdings nicht in einer Anordnung, die der historischen Darstellung zugrunde gelegt werden könnte. Sie ordnen die Überlieferungen vielmehr oftmals unter formalen Aspekten – etwa dadurch, dass sie Gleichnisse, Streitgespräche oder Heilungen zusammenstellen –, entwerfen Szenen des Lehrens Jesu – etwa am See Gennesaret, auf einem Berg oder bei einem Mahl – und geben dem geographischen Aufriss durch die Gegenüberstellung von Galiläa und Jerusalem eine symbolische Bedeutung. Die Einzelereignisse, etwa Gleichnisse und Machttaten Jesu, seine Berufungen von Nachfolgern oder die Kontroversen mit Gegnern, erhalten ihre Bedeutung demnach innerhalb der von den Verfassern der Evangelien entworfenen Jesuserzählungen.

Man kann sich das an einem Beispiel verdeutlichen: Das Gleichnis vom großen Gastmahl wird bei Lukas von Jesus anlässlich der Einladung zu einem Essen im Haus eines Pharisäers erzählt und ist mit dieser Situation eng verknüpft: Jesus fordert den Gastgeber auf, zu einem Essen nicht diejenigen einzuladen, von denen man eine Gegeneinladung erhofft, sondern die Armen, Krüppel, Lahmen und Blinden. Diese Aufforderung wird anschließend durch das Gleichnis illustriert (Lk 14,12–24). Auch Matthäus erzählt eine Version dieses Gleichnisses (Mt 22,1–14). Bei ihm ist es jedoch Bestandteil einer längeren Rede, bestehend aus drei Gleichnissen (Mt 21,28–22,14), die Jesus anlässlich seiner