Jezebel Files - Schlaflos in Hedon - Deborah Wilde - E-Book

Jezebel Files - Schlaflos in Hedon E-Book

Deborah Wilde

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Beschreibung

Ash zieht die Schlinge um ihre Feinde enger … und hofft inständig, dass das Seil hält. Ash will sich an Chariot und Isaac Montefiore rächen. Unerwartet kommt ihr dabei Isaacs Frau zu Hilfe – sie bittet Ash, einen Gegenstand zu finden, von dem Isaac besessen ist. Ash nimmt den Auftrag an, doch die Suche bringt sie zurück in Levis Leben und Rafael in große Gefahr. Auch mit der Herzkönigin gibt es neue Schwierigkeiten, und zu allem Überfluss wird Ashs Mutter von jemandem erpresst, der Ash als Unregistrierte zu entlarven droht, wenn Talia nicht endgültig von ihrer politischen Karriere zurücktritt. Geheimnisse, Rache und Magie verbinden sich im letzten Teil der »Jezebel Files« zu einer explosiven Mischung. Ein vor fünfzehn Jahren begonnener Betrug sorgt dafür, dass alles auf dem Spiel steht, was Ash wichtig ist. Ihr bleibt nur eine Chance, lebend aus der Sache herauszukommen …

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Seitenzahl: 514

Veröffentlichungsjahr: 2023

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DEBORAH WILDE

SCHLAFLOS IN HEDON

JEZEBEL FILES 4

Aus dem Englischen von Julia Schwenk

Über das Buch

Ash zieht die Schlinge um ihre Feinde enger … und hofft inständig, dass das Seil hält.

Ash will sich an Chariot und Isaac Montefiore rächen. Unerwartet kommt ihr dabei Isaacs Frau zu Hilfe – sie bittet Ash, einen Gegenstand zu finden, von dem Isaac besessen ist. Ash nimmt den Auftrag an, doch die Suche bringt sie zurück in Levis Leben und Rafael in große Gefahr. Auch mit der Herzkönigin gibt es neue Schwierigkeiten, und zu allem Überfluss wird Ashs Mutter von jemandem erpresst, der Ash als Unregistrierte zu entlarven droht, wenn Talia nicht endgültig von ihrer politischen Karriere zurücktritt.

Geheimnisse, Rache und Magie verbinden sich im letzten Teil der »Jezebel Files« zu einer explosiven Mischung. Ein vor fünfzehn Jahren begonnener Betrug sorgt dafür, dass alles auf dem Spiel steht, was Ash wichtig ist. Ihr bleibt nur eine Chance, lebend aus der Sache herauszukommen …

Über die Autorin

Deborah Wilde ist Weltenbummlerin, ehemalige Drehbuchautorin und Zynikerin durch und durch. Sie schreibt mit Vorliebe witzige Romane für Frauen in den Genres Urban Fantasy und Paranormal Romance.

In ihren Geschichten geht es um selbstbewusste, toughe Frauen, starke weibliche Freundschaften und Romantik mit einer Prise Charme und Feuer. Sie mag Happy Ends, und es ist ihr wichtig, dass auch der Weg dorthin ihre Leser:innen zum Lachen bringt.

Deborah Wilde lebt in Vancouver, zusammen mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrer überaus eigenwilligen Katze Abra.

Die englische Ausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Revenge & Rapture« bei Te Da Media Inc.

 

Deutsche Erstausgabe April 2023

 

© der Originalausgabe 2020: Deborah Wilde

© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2023:

Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,

Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth, Croco Designs,

unter Verwendung von Motiven von yurkaimmortal, Maksim Shmeljov,

faestock, longquattro, robin_ph

 

Lektorat: Stephanie Langer

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Judith Zimmer

Illustrationen: Michelle Heise

 

ISBN: 978-3-948457-04-4

 

www.second-chances-verlag.de

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Danksagung

KAPITEL 1

Vancouver brannte.

Von draußen drang das Geräusch von berstendem Glas zu mir, gefolgt vom Jaulen einer Alarmanlage und wütenden Stimmen, die sich wüste Beschimpfungen entgegenbrüllten. Die unterschwellige Anspannung, die sich in den letzten Monaten zwischen Nefesh und Weltigen aufgestaut hatte, entlud sich an diesem Juniabend.

Polizei- und Rettungswagensirenen schrillten in der Ferne, und der Geruch nach Rauch drang durch mein geschlossenes Fenster. Vermutlich waren gerade alle Cops der Stadt auf Streife.

In meinem Büro war es still, doch die Anspannung in der Luft war überdeutlich. Ich rollte mit dem Bürostuhl vor meiner neuen Ermittlungswand herum. Ganz oben befanden sich Fotos von den vier Teilstücken des Sefer Raziel HaMalakh, die Team Jezebel bereits hatte. Auf kleinen Kärtchen darunter war jeweils der Ort vermerkt, an dem sie in unseren Besitz gelangt waren. Dazu hatte ich noch die Art des jeweiligen Aufeinandertreffens mit Chariot notiert und mit Schnüren Verbindungslinien zwischen einzelnen Stellen gezogen.

Die Wand hatte ich inzwischen ein paarmal umsortiert, dem fehlenden Bruchstück des Sefer, das Chariot besaß, und den Identitäten der anderen Mitglieder der Zehn war ich jedoch noch kein Stück näher gekommen.

Mein Handy vibrierte, und ich nahm den Anruf abwesend an. »Du sollst doch nicht wach bleiben, bis ich zu Hause bin, Pri.«

»Sie haben die Brücken in die Innenstadt dichtgemacht, keiner kommt mehr rein oder raus«, erwiderte meine beste Freundin und Mitbewohnerin angespannt. »Und ich weiß nicht, wie lange die Hastings Street noch offen ist. Es ist fast Mitternacht, wenn du also jetzt nicht nach Hause fährst, sitzt du wahrscheinlich da fest.«

»Dann schlafe ich in meinem Bürostuhl. Ich habe mit der Firma telefoniert, die das Party-Lagerhaus gekauft hat, in dem der Golem Wache geschoben hat. Das sind total seriöse Bauunternehmer aus der Gegend, die daraus Eigentumswohnungen machen.« Ich warf einen Dartpfeil auf das Foto von Isaac Montefiore, auf dem sein Gesicht halb von der Kamera weggedreht war. »Wieder eine Sackgasse.«

»Sei nicht so streng mit dir. Jezebels führen diesen Kampf seit vierhundert Jahren. Du bist gerade mal knapp vier Monate dabei. Und du brauchst dringend Schlaf.«

»Erst muss ich noch die Welt retten«, meinte ich.

»Geht es wirklich um die Rettung der Welt oder darum, deine Feinde zu besiegen?«

»Spielt das eine Rolle, solange sie aufgehalten werden?«

Gerechtigkeit als ehrenwertes Ziel rang mit meinem Verlangen, Isaac Montefiore so gründlich zu vernichten, dass von seinem Leben nur rauchende Ruinen übrig blieben, in deren Asche ich meinen Namen hinterlassen konnte wie eine Künstlerin, die ihr Meisterwerk signierte. Es war wichtig, sich bei der Arbeit Ziele zu stecken.

»Das spielt sogar eine große Rolle«, entgegnete Priya sanft. »Dein Vater wurde ermordet. Meinst du nicht, dass du dir Hilfe suchen solltest? Das ist nicht gesund.«

»Ich habe mit dreizehn schon mehr als ausführlich über meine Gefühle gesprochen. Isaac zu Fall zu bringen, ist die einzige Therapie, die ich brauche«, fuhr ich sie an.

Meine Mopsdame Mrs Hudson hob den Kopf von ihrem Schlafplatz in dem Hundebett, das in einer Zimmerecke stand, und winselte leise. Sie hasste es, wenn ihre Mütter sich stritten.

»Genau das meine ich ja.« Priya seufzte gekränkt. »Für dich geht es nicht mehr um Chariot, sondern nur noch um Isaac. Seinetwegen hast du zwei geliebte Männer verloren und …«

Ich legte auf, rieb mir über die Augen und hätte mir beinahe den Finger hineingestochen, als ein lauter Knall das Gebäude erschütterte. Ein weiterer Knall folgte – jemand rammte die Sicherheitstür im Erdgeschoss ein –, dann hörte ich die Triumphschreie von siegesgewissen Plünderern, die Beute witterten.

Nicht mit mir.

»Bleib«, wies ich Mrs Hudson an und schlich mich die beiden Treppenabsätze hinunter in die Lobby. Die Plünderer zertrümmerten gerade eine der Bürotüren.

Ich passte einen Mann ab, der mit einem Armvoll Laptops aus der kleinen Game-Design-Firma kam, die von zwei Nefesh-Frauen betrieben wurde. Die beiden hatten die Räume erst vor Kurzem angemietet, nachdem sie jahrelang von ihrer Wohnung aus geackert hatten, um in dem männerdominierten Geschäft Fuß zu fassen. Das hatten sie mir erzählt, als wir mal gemeinsam in der Schlange vor dem Café an der Straßenecke gewartet hatten.

»Bring das zurück«, forderte ich den Kerl auf.

Der untersetzte Mann schaute mich aus zusammengekniffenen Augen an. Er musste dringend mal zum Friseur und stank nach schalem Bier und saurem Hass. »Bist du eine von den Drecks-Nefesh?«

Ich verschränkte die Arme. »Und was wäre, wenn?«

Sein Blick huschte für den Bruchteil einer Sekunde nach links.

Ich fuhr herum, komplett in meine stachelige Blutrüstung gehüllt, und blockte den Schlag des Angreifers mit dem Unterarm ab. Der Baseballschläger spaltete sich mittendurch, meine Rüstung hielt dagegen tadellos. Mit Schwung riss ich dem Kerl den Schläger aus der Hand und schwang ihn durch die Luft. Nur Zentimeter neben dem Kopf des Manns krachte der Schläger in die Wand.

Der scharfe Geruch nach Urin erfüllte die Luft, und der Kerl nahm die Beine in die Hand.

»Jetzt zu dir.« Ich ließ die Rüstung verschwinden und wandte mich mit einem kalten Lächeln wieder dem anderen Mann zu. »Du wirst die Computer zurückbringen, das Büro aufräumen, und dann wirst du zusammen mit deinen Freunden für den Rest der Nacht hier Wache halten und dafür sorgen, dass so etwas nicht noch mal passiert.«

Mit einem verächtlichen Schnauben marschierte er mit den Laptops an mir vorbei. Ich packte ihn an den Armen und riss sie mit einem Ruck nach unten, was ihm beide Schultern auskugelte. Sein dünner, hoher Aufschrei erinnerte frappierend an den eines Kätzchens. Da seine Arme nun nutzlos an seinen Seiten baumelten, fielen die Laptops zu Boden. Ich nahm mir vor, die Besitzerinnen zu fragen, wie viele ersetzt werden mussten.

»Haben wir einen Deal?«

Er wimmerte, stierte unfokussiert in die Gegend und atmete schwer.

»Du Riesenbaby.« Ich renkte ihm die Gelenke nacheinander wieder ein. Die Technik hatte Miles mir während einer Trainingsstunde beigebracht, bei der er mir die Schulter ausgekugelt hatte. Gnade kannte er bei unseren Übungseinheiten nicht. Tatsächlich hatte das meine Kampffähigkeiten um ein Vielfaches verbessert, doch jedes Mal, wenn ich die Fitnessräume verließ und dabei wie ein gut durchgeklopftes Steak aussah, hasste ich Levi dafür, dass er mich hatte hängen lassen.

»Deal oder kein Deal?«, wollte ich von dem Plünderer wissen.

Er hielt sich die Schultern. »Du durchgeknallte Schlampe.«

Ich riss den Baseballschläger zusammen mit einem Schwall Putz aus der Wand und klatschte ihn mir gegen die Handfläche. »Ich habe Magie und einen Baseballschläger. Du hast etwa zweihundertsechs echt zerbrechliche Knochen. Wofür entscheidest du dich? Willst du mich weiter beleidigen, oder entscheidest du dich doch lieber für unsere geschäftliche Vereinbarung?«

»Wir werden Wache halten.« Der verächtliche Zug um seinen Mund verschwand, als ich den Schläger anhob. Er zuckte zusammen, doch ich ließ den Schläger nur an meiner Schulter ruhen.

Ich zog eine Augenbraue nach oben. »Na dann, hopp.«

Sofort rannte er wieder in das Büro und gab seinen Freunden Anweisungen. Zufrieden, weil mein Gebäude geschützt sein würde, bis die Plünderungen nachließen, ging ich zurück nach oben, um Mrs Hudson zu holen. Den kaputten Baseballschläger stellte ich neben meinem Ecksafe ab, dann schnappte ich mir mit einem leisen Pfiff meine Lederjacke.

Die Hündin kannte das bereits, da wir dieses Spiel inzwischen mehrere Male pro Woche spielten. Sie hielt still, sodass ich die Leine an ihrem Halsband einhaken konnte, bevor wir die Treppe hinuntergingen und in die Nachtluft hinaustraten. Die Einbrecher waren so sehr damit beschäftigt, das Büro wieder aufzuräumen, dass sie von unserem Abgang nichts mitbekamen. Ich mochte Männer, die Befehle befolgten.

Draußen herrschte blankes Chaos. Schaufenster waren eingeschlagen worden, und die Leute nutzten jede Ausrede, um die Gebäude auszurauben. Jemand rannte an mir vorbei und schwenkte dabei einen Karton voller kitschiger Kanada-T-Shirts, als wäre es die olympische Fackel. Hoffentlich würde die Dummheit dieser Menschen zeitnah dafür sorgen, dass sie aus dem Genpool ausgeschlossen wurden.

Ich schnappte mir Mrs Hudson, damit sie nicht auf die Glassplitter trat, die auf dem Kopfsteinpflaster glitzerten wie Diamantstaub. Auf dem Weg durch den Tumult meldete sich eine leise Stimme in mir, die meinte, dass ich alldem nicht derart gleichgültig gegenüberstehen sollte. Immerhin hatte meine Mutter den Anti-Nefesh-Gesetzesentwurf verfasst, der die Lunte an dieses Pulverfass aus Hass und Angst gelegt hatte.

Wir kamen an einem historischen Gebäude vorbei, das in Flammen stand. Das Dach war eingebrochen, und Feuerwehrleute kämpften verzweifelt mit Wasserschläuchen gegen den Brand, um wenigstens die Art-déco-Fassade zu retten.

Vor zwei Monaten hatte die Königin von Hedon House Pacifica darüber informiert, dass einer der Gründer der Reinheitsallianz Geld über den magischen Schwarzmarkt gewaschen hatte. Das allein war schon eine üble Sache. Hinzu kam, dass der aktuelle Vorsitzende der Partei, Jackson Wu, an diesem Unternehmen beteiligt war.

Ich nickte einem Jungunternehmer mit einem Rucksack voller Spraydosen zu, die reißenden Absatz fanden – hauptsächlich bei Weltigen, die die Ideale der Reinheitsallianz teilten, wenn ich die Graffiti an den umliegenden Wänden richtig deutete. Kapitalismus vom Feinsten.

Aus mir vollkommen unverständlichen Gründen hielt Levi die Sache mit Wu immer noch zurück. Das Gesetz war das Thema aller Nachrichtensendungen, und die täglichen Berichte über die Wut der Weltigen und die Sorge der Nefesh über die potenziellen Auswirkungen der Gesetzesänderung schürten die Unruhe der Leute nur noch. Warum ließ Levi die Menschen dieses Chaos durchleben, wo er es doch einfach beenden könnte?

Ein berittener Polizist trabte an mir vorbei und stieß einen Pfiff mit einer Trillerpfeife aus. Seine Maßregelung galt einer geschäftigen Gruppe, die an einem Auto rüttelte. Die Leute jubelten dem jungen Mann zu, der auf der Motorhaube stand und die Windschutzscheibe eintrat.

Als die Tage länger und wärmer geworden waren, waren auch die Spannungen zwischen den beiden Gemeinschaften gewachsen, bis sich heute ein läppischer Streit zwischen einem Nefesh- und einem weltigen Sportfan über Tickets für den Stanley Cup zu stadtweiten Unruhen ausgeweitet hatte. Die Ausschreitungen dauerten nun schon zehn Stunden an, und so bald würden sie wohl auch nicht nachlassen.

Eishockey-Tickets. Wie kanadisch. Ich lachte in mich hinein und machte ein paar Schritte zur Seite, um einem Pick-up auszuweichen, der mir in Schlangenlinien entgegenkam. Über ihm zucken waschechte Blitze durch die Luft.

Die junge Frau, die für die elektrischen Entladungen verantwortlich war, schrie: »Sterbt, Weltige!«, als der Pick-up an mir vorbeiraste.

Mrs Hudson und ich schafften es heil zu meinem Auto Moriarty. Obwohl der graue Toyota das einzige Fahrzeug auf dieser Ebene des Parkhauses und damit leichte Beute war, hatte sich niemand daran zu schaffen gemacht. Zumindest dieser Lieblingsfeind würde wohl auf ewig Teil meines Lebens bleiben.

Nachdem Mrs Hudson es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte, lenkte ich das Auto auf die Water Street hinaus. Wegen der vielen Leute, die in Gruppen durch die Stadt marodierten, und der Straßensperren der Polizei kam ich nur langsam voran.

Die Radiosender übertrugen Ansprachen vom Bürgermeister und von Levi, die zu Ruhe aufriefen und die Leute aufforderten, zu Hause zu bleiben. Vor allem Levi betonte eindringlich, dass Gewalt nicht toleriert werden würde. Das Durcheinander und der Hass setzten ihm sicher unglaublich zu.

Da die Brücken nicht befahrbar und die Straßen jenseits von Gut und Böse waren, sah ich mich gezwungen, mir einen Weg kreuz und quer durch die Innenstadt zu suchen, bis ich es schließlich zur Auffahrt auf die Cambie Street Bridge schaffte und wieder nach Westen abbog.

Im Vergleich zur Innenstadt herrschte im Rest von Vancouver eine fast schon gespenstische Stille. Es war gerade mal ein Uhr nachts Anfang Juni, und vor den Bars und Restaurants hätte reger Betrieb herrschen sollen. Doch stattdessen zogen Block für Block dunkle Schaufenster und mit Brettern vernagelte Türen an mir vorbei.

Moriarty war das einzige Fahrzeug auf der Straße. Nur einmal begegnete mir ein leerer Bus. Er hatte etwas von einem Geisterschiff. Auf der Zielanzeige war ein gruseliges »AUSSER BETRIEB« in fetten Großbuchstaben zu lesen. Als er an mir vorbeifuhr, strahlten mich lächelnde Gesichter von der Werbung für ein Turnier zugunsten des Vancouver General Hospital an. Golf. Igitt. Ein Fünfer-Eisen in den Händen machte nur dann gute Laune, wenn man gerade mit einem Mord davongekommen war.

Die trostlose Stimmung in meiner Heimatstadt hätte mir sicher zu schaffen gemacht, wäre ich nicht von dem Jagdfieber gepackt worden, das mich jedes Mal ergriff, wenn ich diese ganz bestimmte Stecke fuhr.

Ich hielt am Bordstein ein gutes Stück von Isaacs Herrenhaus in Dunbar entfernt an, stellte den Motor ab und starrte in die Dunkelheit, die sein beeindruckendes Anwesen einhüllte. Der Wind flüsterte in den Bäumen des Pacific Spirit Regional Park hinter mir, eines weitläufigen Waldgebiets mit zahlreichen Wanderwegen, das größer war als der Golden Gate Park in San Francisco.

Ich trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, während ich Isaacs Fenster aufmerksam im Blick behielt, falls sich dahinter etwas rührte.

Er war das einzige Mitglied der Zehn von Chariot, dessen Identität wir kannten, und ihn zu beschatten, hatte bislang nichts gebracht. Seine Meetings standen immer in direkter Verbindung zu seiner Sicherheitsfirma, und bei sozialen Anlässen war seine Frau mit von der Partie, die ihren Ehemann hasste und sicher nicht Teil der Organisation war. Das bedeutete, dass alles, was mit Chariot zu tun hatte, übers Telefon oder über Textnachrichten laufen musste.

Wenn es möglich gewesen wäre, hätten wir jedes seiner Geräte verwanzt, in der Hoffnung, so einen Durchbruch zu erzielen, aber der Mann war auf Cybersecurity und Datenverschlüsselung spezialisiert. Er wusste, wie man seinen digitalen Fußabdruck versteckte – unter anderem mit einem durch ein VPN, ein virtuelles privates Netzwerk, verschlüsselten Internetverlauf. Außerdem koppelte er sein Handy nicht mit seinem Auto.

Isaac schien unantastbar.

Ein mir bekannter Tesla tauchte am anderen Ende des Blocks auf, und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Seit ich im April Isaacs Verbindung zu Chariot aufgedeckt hatte, schlief ich kaum noch. Also hatte ich mit den nächtlichen Überwachungen begonnen, weil ich meine Schlaflosigkeit so wenigstens nutzen und das Montefiore-Anwesen ausspähen konnte.

Die Alarmanlage deckte Vorder- und Hintertür sowie die Fenster im Erdgeschoss ab. Kameras gab es jedoch nicht, und jemand, der sich öffentlich derart vehement gegen Magie aussprach, nutzte sicher keine Schutzzauber.

Während mancher meiner Nachteinsätze war auch der Tesla da. Er war das Schokoladenfabrik-Äquivalent unter den Elektroautos: Niemand kam rein oder raus. Er hielt immer zu weit entfernt, als dass ich hätte hineinschauen können, und ich näherte mich ihm nie.

Brauchte ich auch gar nicht – Levis Gesicht war auf ewig in meinen Verstand eingebrannt. Ich sah ihn förmlich vor mir, wie er die langen Finger in einer eleganten Geste auf dem Lenkrad ruhen ließ. Nach dem chaotischen Tag heute hatte er sicher seine Krawatte gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet – seine Art, ein bisschen runterzukommen. Wachsam blieb er trotzdem, und ihm würde jedes Detail auffallen, das vom Normalzustand abwich. Hatte er sich die rabenschwarzen Haare gerauft, sodass ihm einzelne Strähnen vom Kopf abstanden, und zeigten sich violette Schatten unter seinen Augen, weil er so erschöpft war?

Nie im Leben hätte er das Krisenzentrum verlassen, wenn er nicht sicher gewesen wäre, dass Polizei und Feuerwehr alles unter Kontrolle hatten und seine Anwesenheit die Leute nur von ihrer Arbeit ablenkte. Und ich verwettete mein bescheidenes Vermögen darauf, dass Miles strenge Anweisungen hatte, ihn sofort zu informieren, wenn sich die Situation auch nur um ein Jota änderte.

Er musste total fertig sein, warum also war er hergekommen? Wusste er, dass ich da war? War ihm klar, was ich hier machte?

Ich klammerte mich so fest ans Lenkrad, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten.

Tagsüber ignorierten Levi und ich uns sorgfältig. Als Hausoberhaupt war er immer noch mein Chef, doch ich hielt mich vom Hauptgebäude so gut wie möglich fern. Wenn wir uns denn mal über den Weg liefen, taten wir weiter so, als wären wir Erzfeinde.

Aber war das überhaupt noch vorgespielt? Ich wusste es nicht mehr.

Mrs Hudson klopfte mit dem Schwanz auf den Sitz und stemmte die sandfarbenen Pfoten gegen das Armaturenbrett. Sie war nur ein paarmal in Levis Tesla mitgefahren, aber irgendwie erkannte sie das Auto ihres Angebeteten jedes Mal.

Ich nahm einen Schluck von meinem pappsüßen Kaffee, den ich mir bei einem Drive-in mitgenommen hatte, doch den bitteren Geschmack bekam ich auch mit noch so viel Zucker nicht von der Zunge.

»Nein, Süße. Wir können nicht …« Fünfzehn Jahre lang hatten Levi und ich einander Beleidigungen an den Kopf geworfen und ständig versucht, uns gegenseitig zu übertrumpfen, was beinahe genauso viel Spaß gemacht hatte wie unsere Wortgefechte als Freunde. Wir hatten uns unsere Narben gezeigt, er hatte mich mit Biscotti gefüttert und mir dann das perfekte Glück geschenkt, auch wenn es nur von kurzer Dauer gewesen war. »Levi gehört nicht mehr zu uns.«

Normalerweise ignorierte mich die Mopsdame und reckte weiter den Hals, aber heute gab sie auf. Sie gab ein leises Seufzen von sich und ließ sich zurück auf den Beifahrersitz sinken, wo sie resigniert den Kopf auf die Pfoten legte.

Blut rauschte in meinen Ohren, und mein Brustkorb fühlte sich plötzlich ganz eng an. Er hatte meinen Hund kaputt gemacht. Und das war einfach zu viel. Ich öffnete die Autotür mit einem Ruck. Vielleicht war das dumm oder eine Kurzschlussreaktion. War mir egal.

Ich stieg aus, stopfte meine dunklen Locken unter eine schwarze Strickmütze und streifte mir dünne Handschuhe über. Meine Lederjacke ließ ich im Auto zurück, auch wenn ich in der kühlen Brise ein wenig fror. Dem Tesla und der potenziellen Reaktion seines Fahrers gönnte ich keinen weiteren Blick, als ich mich auf Isaacs Grundstück schlich.

Schon vor ein paar Wochen hatte ich mich für den Weg über das Garagendach und entlang des Ziersimses entschieden, der direkt unter einem Badezimmerfenster verlief. Meiner Erfahrung nach verriegelten die wenigsten Leute die Badezimmerfenster im ersten Stock. Und wenn Isaac es doch tat? Dann war es eben ein gescheiterter Versuch.

Aber wenn nicht? Dann konnte ich schnell sein Arbeitszimmer durchsuchen und direkt wieder verschwinden.

Dank meiner verstärkten Körperkraft zog ich mich relativ mühelos nach oben. Mein rechter Oberschenkel mit der alten Verletzung protestierte schwach, doch das kompensierte ich durch den vermehrten Einsatz meines Oberkörpers. Fest an die Hauswand gedrückt arbeitete ich mich auf dem Sims Stück für Stück vor. Der Ausblick auf den Garten, den nachtblühende Pflanzen silbern schimmern ließen, war beeindruckend, doch ich zählte weiter die Fenster ab, bis ich am vierten angelangt war.

Der Rahmen fühlte sich klebrig an, und der Winkel, in dem ich das Fenster aufzustemmen versuchte, war ungünstig, also ließ ich mir Zeit. Ich wollte schließlich kein Geräusch verursachen und das Glas auch nicht beschädigen. Plötzlich hörte ich das kaum wahrnehmbare Quietschen von Torangeln, und eine Gestalt schlüpfte lautlos in den Garten. Es hätte auch Tag sein können, so gut war Levis Gesicht im Mondlicht sichtbar.

Meine Brust wurde wieder eng. Egal, wie sehr ich mir das Gegenteil wünschte, der eiskalte Ausdruck in Levis blauen Augen blieb, ebenso wie der unlesbare Gesichtsausdruck, den er wie eine Maske aufgesetzt hatte. Wie gerne hätte ich den tiefblauen Ton gesehen, den seine Augen immer angenommen hatten, kurz bevor er mich küsste. Damals, als sich seine Welt noch um mich gedreht hatte.

Ich verlor den Halt. Mein Fuß rutschte ab, und ich prallte hart mit dem Knie gegen den Mauervorsprung, während ich mich verzweifelt mit den Fingerspitzen an die Fensterbank klammerte.

Levi machte einen Schritt in meine Richtung, blieb dann jedoch stehen. Es hatte mal eine kurze Zeit gegeben, in der ich hätte fallen können und sicher gewesen wäre, dass er mich auffing.

Ein Muskel an meinem Kiefer zuckte. Ich zog mich wieder hoch und packte das Fenster erneut, um es dieses Mal richtig aufzuschieben und mir so Zugang zum Haus zu verschaffen. Dann kletterte ich ins Bad und befahl mir, mich ja nicht umzudrehen. Nicht noch mal.

Levi war weg.

KAPITEL 2

Meine Stiefel ließ ich unter der Badewanne mit den Löwenfüßen stehen und schlich mich dann den Flur hinunter zu Isaacs Arbeitszimmer. Wo es sich befand, wusste ich noch von einem früheren Besuch. Von dem Abend, an dem alles den Bach runtergegangen war. Aber hey, ich war schon mal aus der Hölle entkommen. Also würde ich es wieder schaffen. Und dieses Mal hatte ich einen Krieg zu gewinnen.

Ich schlüpfte in den Raum und knipste hinter vorgehaltener Hand meine Stiftlampe an, um den Schein abzumildern. Es roch schwach nach einem scharfen Gewürz. Leider fiel mir an der Einrichtung nichts Ungewöhnliches auf, was auf ein Versteck hingedeutet hätte. Ich schüttelte jedes einzelne der etwa ein Dutzend Bücher in den Regalen und wühlte mich durch die unverschlossenen Schreibtischschubladen, doch auch hier fand ich leider keinen hilfreichen Masterplan, den Isaac mit dem Blut seiner Feinde zu Papier gebracht hatte.

Plötzlich lagen zwei scharfe rote Dolche in meinen Händen, deren Manifestierung ich gar nicht bemerkt hatte. Rasch steckte ich sie mir unter den Ledergürtel und setzte mich in Isaacs federnden Bürostuhl.

Er war nicht höher als die Besuchersessel, was ein subtiles psychologisches Machtgefälle erzeugt hätte. An den Wänden zeugten keine Auszeichnungen von Isaacs glorreichen Errungenschaften. Hinter seinem Schreibtisch hing ein nichtssagendes Aquarellgemälde von einem für die Gegend typischen Wald. Nichts in diesem Raum deutete auf einen Wunsch nach Gottgleichheit hin.

Wir hatten den Mann in den letzten Monaten gründlich durchleuchtet. Nach außen hin war er ein respektierter Unternehmer. Menschen, die sich in der Öffentlichkeit bewegten, achteten sorgsam auf ihre Wirkung, und Isaac tat das bis zur Perfektion. Ich bewunderte die Intelligenz, die eine derart makellose Fassade erforderte. Zu Hause sah die Sache jedoch ganz anders aus. Dieses Arbeitszimmer war sein privates Heiligtum, also wo hatte er seine Geheimnisse versteckt?

Auf seinem Schreibtisch lag eine halb gerauchte Zigarre in einem Kristallaschenbecher, daneben befanden sich ein leerer Tumbler und ein paar sauber gestapelte Zeitungen. Ich schnüffelte an dem Glas. Bourbon. Teurer Alkohol und eine Zigarre vor dem Bett, während er die Schlagzeilen des Tages durchblätterte. Isaac war überaus technikversiert, es wäre für ihn also naheliegend, Nachrichten online zu lesen. Das roch für mich nach einem Ritual.

Er mochte seine Rituale; das verriet mir die Akribie, mit der er seine aufziehbare Uhr pflegte. Das Zitat aus dem Alten Testament, das in die Uhr eingraviert war, stand mit seinem Codenamen in Verbindung. Wenn er sie zu seinem Eintritt in den Kreis der Zehn bekommen hatte, dann verbarg er seine Aktivitäten für Chariot schon seit Jahren. Dazu musste man vollkommen skrupellos sein.

Isaac spielte seine Spielchen schon sehr lange, nutzte und opferte seine Schachfiguren, wie es ihm passte. Ihn zu schlagen, würde mir ein Genuss sein.

Ich ließ den Lichtstrahl über die erste Seite des in der Mitte gefalteten internationalen Wirtschaftsteils gleiten, weil ich neugierig war, welcher der doch recht trockenen Artikel ihn interessiert hatte. Da fiel mir ein Fleck ins Auge. Ich zog mir die Handschuhe aus und betastete das klebrige Papier, bevor ich mit einem Geruchstest bestätigte, dass das ein Bourbon-Fleck war.

Warum hatte Isaac seinen Drink verschüttet? In dem Artikel ging es um den Tod von Deepa Anand, einer Weltigen, in der indischen Stadt Bengaluru. Sie war Mitte fünfzig gewesen und hatte eine ganze Reihe privater Finanzierungsunternehmen betrieben, sprich: Geldverleihe. Kurz wurde auch ihre Rolle in dem Skandal um überzogene Zinskonditionen erwähnt, der das Land vor ein paar Jahren erschüttert hatte, und dass sie auf einer Pilgerreise zu einem Ort namens Char Dham an den Komplikationen einer Herzerkrankung gestorben war.

Ich machte die Stiftlampe aus und ließ mich in Isaacs Stuhl nach hinten sinken, während ich den Zigarrenstummel zwischen den Fingern drehte und darüber nachdachte, inwiefern dieser Zeitungsartikel von Bedeutung war. Was, wenn jeder der Zehn etwas zu Chariot beitrug, wie meine Teammitglieder zu unserer Mission? Issac wäre dann wohl für die Cybersicherheit verantwortlich wie bei uns Priya. Deepa könnte für die Beschaffung von privaten Mitteln zuständig gewesen sein. Außerdem wäre es für sie ein Leichtes gewesen, Geld zu waschen.

Chariot hatte zwar die Macht und Reichweite eines internationalen Konzerns, war aber tatsächlich keine zusammenhängende Organisation. Man konnte es sich eher wie einen Verbund aus verschiedenen Teilbereichen vorstellen, einige legal, die meisten jedoch nicht, und allesamt wurden sie von den Zehn gelenkt. Unsere Seite war bislang nur ein paar ihrer Machenschaften auf die Spur gekommen, hauptsächlich den illegalen. Die wenigen rechtskonformen Firmen, die wir Chariot zuordneten, verbargen alle wesentlichen Details unter verschlungenen Rechnungspfaden und Strohfirmen, hinter denen immer nur weitere Strohfirmen steckten. Selbst Priya konnte diese Netzwerke trotz all ihrer Hackerfähigkeiten nicht entwirren.

Ich verspannte mich, als ich vom Gang her ein Knarzen hörte, und lauschte auf Schritte, doch es war nur ein Geräusch des Hauses. Wenn Deepa Mitglied der Zehn gewesen war, würde mein Sekretär Rafael Behar sich vor Freunde überschlagen. Ihre Identität könnte eine echte neue Spur zu Chariots Bruchstück des Sefer Raziel HaMalakh sein.

Dieser mystische, vom Erzengel Raziel verfasste Text war bei seinem Fall auf die Erde in fünf separate Schriftrollen zerbrochen. Sollte Chariot auch die restlichen Teile in seinen Besitz bringen und das Buch so zusammensetzen, könnten sie dadurch Unsterblichkeit erlangen und die Welt als lebende Götter neu ordnen, die sich nur um sich selbst scherten.

Als ich schließlich wieder in den dunklen Flur hinausschlüpfte, trat plötzlich eine Gestalt aus den Schatten. Ich griff nach einem der Dolche. Niemand in diesem Haus wusste von meiner Magie, und ich hatte keine vernünftige Erklärung für meine Anwesenheit. Sollte das hier meine Coming-out-Party werden, würde am Ende nur noch einer von uns am Leben sein, um zu feiern.

Doch vor mir stand eine zierliche Frau, die sich an die Aufschläge ihres Bademantels klammerte und mich mit offenem Mund anstarrte. Nicola Montefiore war in einer Ehe mit dem brutalen Mistkerl gefangen, das wusste ich, aber es änderte nichts daran, dass ich nicht riskieren konnte, dass sie Alarm schlug.

Aus dem Schlafzimmer ertönte ein lautes Schnarchen, das uns beide zusammenzucken ließ. Nicola schüttelte heftig den Kopf und presste einen Finger auf ihre Lippen, bevor sie mir mit einer Geste bedeutete, dass ich gehen sollte. Konnte ich darauf vertrauen, dass sie mich nicht verriet? Hatte ich denn eine Wahl?

Ich seufzte. Levis Mutter würde ich sicher nichts antun. Also ließ ich die Dolche verschwinden und sprintete ins Badezimmer, wo ich mir meine Stiefel schnappte und nach draußen in die Dunkelheit floh. Den Garten verließ ich auf dem gleichen Weg, auf dem ich gekommen war. Ich beschleunigte meine Schritte, als ich an der Vorderseite des Hauses ankam. Endlich hatte ich eine potenzielle Spur, und zum Glück war der Tesla inzwischen auch weg.

Ich erreichte Moriarty und wähnte mich schon in Sicherheit, als mich plötzlich jemand von hinten packte. Mein Körper reagierte, bevor mein Hirn Gelegenheit dazu bekam, und ich griff nach Levis Armen. Sein Jackett fühlte sich unter meinen Fingern weich an, doch die Muskeln darunter waren stahlhart angespannt. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie sie unter der Haut spielten, Levis nackten Körper über mir und das mutwillige Grinsen auf seinem Gesicht, während er sich in mir bewegte.

Ich schluckte und machte mich mit einem Ruck zur Seite los. Levi hatte mich dazu gebracht, ganz naiv an eine wundervolle Zukunft zu glauben, und sie mir dann weggenommen. Zurückgeblieben war nur eine schmerzende Leere in mir. Priya irrte sich bei dem, was sie über meine Wut dachte. Sie war nicht ungesund. Sie hielt mich am Leben, denn um mich herum war alles dunkel und tödlich und drohte mich zu verschlingen.

»Was zum Henker machst du hier?«, zischte er.

Ich machte einen Schritt zurück, um dem Geruch seiner Magie nach bernsteinfarbenem Scotch und Schokolade zu entkommen, aber nach all der Zeit, die wir gemeinsam verbracht hatten, hatte sich sein Duft unauslöschlich in meinen Körper und meine Seele eingebrannt. Ich konnte ihm nicht entfliehen. »Dreimal darfst du raten.«

Mrs Hudson stürzte sich praktisch aus dem Auto, als ich die Tür öffnete, und hätte in ihrer Hast beinahe einen Purzelbaum geschlagen, weil sie so dringend zu Levi wollte, dass sie über ihre Leine stolperte.

»Und wenn sie dich erwischt hätten? Was dann?« Er beugte sich nach unten, um den Hund hinter einem Ohr zu kraulen, und eins von Mrs Hudsons Hinterbeinen zuckte prompt vor Wonne.

»Hast du dir Sorgen um mich gemacht oder um die Konsequenzen, die es für das House haben könnte?«, fragte ich.

»Ich mache mir immer Sorgen um mein House.«

Es würde mir zwar keinen Spaß machen, ihm meine Faust ins Gesicht zu rammen, aber die Vorstellung war dann doch verführerischer als die, einfach nach Hause zu fahren, meinen Schlafanzug anzuziehen und eine Runde Netflix anzuwerfen. »Deine Prioritäten sind mir klar.«

Levi deutete auf das Haus seiner Eltern. »Und mir deine.«

Sein Lächeln war rasiermesserscharf. Ich verstand ihn nur zu gut. Wir balancierten auf demselben schmalen Grat, wo jede Bewegung die, die uns am nächsten standen, brutal verletzen konnte. In seinen Augen stand ein Funkeln – er wollte, dass ich zurückschlug.

Aber was sollte es bringen, uns immer wieder aufs Neue zu verletzen?

»Immerhin ist uns das beiden bewusst.« Ich schnappte mir Mrs Hudsons Leine und bugsierte sie zurück ins Auto.

»Vollkommen.«

Ich schaute ihm nicht hinterher, als er ging.

Zu Hause angekommen drehte ich mit Mrs Hudson noch eine Runde um den Block, damit sie ihr Geschäft verrichten konnte, und fiel dann ins Bett, nur um irgendwann von einem schrillen Klingeln geweckt zu werden. In meinem Schlafzimmer war es dunkel, aber ich nahm an, dass es früher Nachmittag sein musste. Ich tastete nach meinem Handy und wischte mir übers Gesicht. Welcher Tag war heute? Kurz überlegen … ach ja. Donnerstag.

Mrs Hudson war nirgendwo in Sicht, also hatte Priya sie sich wohl mal wieder gierig gekrallt.

»Hallo?«, murmelte ich, nachdem ich den Anruf angenommen hatte.

»Ich muss mit dir reden, Ashira. Jetzt gleich.«

Ich schüttelte den Kopf, um das benommene Gefühl loszuwerden. Talia klang untypisch aufgebracht. »Was ist los?«

»Nicht übers Telefon.«

»Soll ich zu dir ins Büro kommen?«, fragte ich.

»Nein!«

Talia hatte eine Heidenangst, dass ich mich direkt an ihrem Arbeitsplatz outete, obwohl ich bisher immer äußerst zurückhaltend gewesen war und Rücksicht auf ihre Position genommen hatte. Meine eigene Mutter vertraute mir nicht. Ich versetzte meiner Decke einen Tritt und beförderte sie damit zu Boden.

»Mein Büro«, erwiderte ich. »In einer halben Stunde.« Ich sprang aus dem Bett, zog mich in Rekordzeit an und suchte dann geschlagene fünf Minuten lang meine Autoschlüssel, bevor ich sie schließlich in einem meiner Stiefel fand. Dieser verflixte Hund.

Eilig verließ ich die Wohnung und vermied dabei den Blick zur gegenüberliegenden Tür, hinter der Arkady Choi wohnte, früher auch bekannt als mein Freund und Nachbar. Ich sprach nicht mehr mit ihm, weil ich immer noch nicht herausgefunden hatte, was er mir verheimlichte und warum er mich belog, aber er gehörte weiterhin zu Team Jezebel. Theoretisch.

Wir hatten entschieden, ihn nicht rauszuwerfen. Na ja, Rafael und Priya hatten das entschieden, und ich hatte widerstrebend zugestimmt, nachdem sie mich lange genug bearbeitet hatten. Viel gab es für ihn seitdem allerdings nicht zu tun. Rafael und ich übernahmen die Beschattung von Isaac, weswegen ich Arkady nicht oft begegnete. Darüber war ich nicht gerade traurig.

Überraschenderweise benahm sich Moriarty und sprang nach nur wenigen Zickereien an. Die Stadtreinigung hatte unermüdlich daran gearbeitet, die Straßen freizuräumen, doch die Nachwehen der Unruhen waren überall präsent: vernagelte Fenster, verbogene und fehlende Straßenschilder, das ausgebrannte Skelett eines Autos und die Handwerker, die in meinem Bürogebäude eine neue Eingangstür einbauten.

Ich machte einen kurzen Abstecher zu den Game-Designerinnen und erklärte ihnen meine Rolle bei der Zerstörung ihrer Laptops. Sie waren froh, dass sich damit auch das Rätsel um den Mann klärte, den sie heute Morgen schlafend auf ihrer Türschwelle vorgefunden hatten und der mit weit aufgerissenen Augen hochgeschreckt war, nur um wie ein durchgeknallter Gandalf jeden zu bedrohen, der an ihm vorbeiwollte. Außerdem erfuhr ich, dass ihre Versicherung für alle Schäden aufkommen würde.

Wie ich zufrieden feststellte, war in keins der anderen Büros im Erdgeschoss oder im ersten Stock eingebrochen worden.

Talia wartete im Empfangsbereich, den sich meine Detektei Cohen Investigations mit den übrigen Büros auf der Etage teilte. Sie spielte angespannt mit dem Saum ihres Blazers aus Rohseide und schaute sich fast schon gehetzt um.

Mir drehte sich der Magen um, und ich beeilte mich, meine Bürotür aufzuschließen. »Was ist passiert?«

Sie ließ sich in einen der Besucherstühle vor meinem Schreibtisch sinken und schob mit zitternden Fingern ihr Handy zu mir rüber.

Ich drückte auf »Play« und konnte ein erschrockenes Aufkeuchen nicht unterdrücken. Das Video war eine Aufnahme von mir bei der Gala im Aquarium, an dem Abend, an dem sich meine Magie manifestiert hatte. Es zeigte, wie ich Levi zu Boden presste und mit einem Messer bedrohte. Wenigstens konnte man aus diesem Filmwinkel nicht sehen, dass ich den Dolch zuvor aus meinem Blut erschaffen hatte.

Ich spielte das Video noch dreimal ab und achtete dabei sorgfältig auf die Einzelheiten dessen, was man darin erkannte. Nicht mal meine verstärkte Körperkraft wurde offensichtlich, weil ich so schnell wieder von Levi abgelassen hatte. »Man sieht, wie ich Levi mit einem Messer bedrohe. Das ist kein Beweis für meine Fähigkeiten, und es ist ausreichend dokumentiert, dass ich eine Weltige bin.«

Levi hatte den Antrag auf Aufnahme in die Datenbank von House Pacifica vernichtet, als ich zugestimmt hatte, für ihn zu arbeiten, also gab es nicht mal mehr dieses Formular, das das Gegenteil bewies.

Talia antwortete mit einer Mischung aus Lachen und Schluchzen. »Sie wissen es. Schau dir die Nachricht an, die sie mitgeschickt haben.«

Sie stammte von einer unterdrückten Nummer. Wenn Sie nicht zurücktreten, werde ich allen erzählen, dass Ihre Tochter eine Unregistrierte ist. Sie haben zehn Tage, um Ihren Posten aufzugeben. Überlegen Sie gründlich, was Sie tun wollen, sonst sieht Ihre Zukunft triste aus.

»Triste« mit einem e am Ende. Niemand erpresste meine Mutter, und schon gar nicht irgendein Arschloch, das nicht mal richtig schreiben konnte. Und warum zehn Tage? Das war ziemlich großzügig. Gab es da nicht diese universelle Drei-Tage-Regel bei Erpressungen? Ich warf einen Blick auf den Kalender. Die Frist lief am vierzehnten Juni ab.

Irgendwer da draußen wusste, dass ich Magie besaß, hatte bislang aber nichts aus diesem Wissen gemacht. Wer? Und warum? Wenn Chariot dahintersteckte, warum sollte Talia dann zurücktreten, wo Isaac doch ein begeisterter Unterstützer der Reinheitsallianz war?

Was, wenn jemand dahintersteckte, der uns viel näher stand? Ich spulte das Video noch einmal schneller durch. Was könnte Arkady sich davon versprechen, Talia zu erpressen? Wenn er mich untergraben wollte, gab es dafür einfachere Mittel und Wege. Er wusste alles über die Jezebels, also könnte er mich ohne Weiteres einfach an Chariot verraten. Ich lud mir eine Kopie der Nachricht runter. War das ein bizarrer Versuch, Levi zu beschützen? Auch das ergab keinen Sinn. Levi hatte einen Haufen Probleme wegen Talia, aber er würde es nie gutheißen, sie zu erpressen, um sie auszuschalten.

Wenn es also nicht von jemandem kam, der mich im Visier hatte …

»Hast du irgendwelche Feinde?«, fragte ich.

»Die gesamte Nefesh-Gemeinschaft«, erwiderte sie trocken.

»Die meisten Nefesh wissen weder, wer du bist, noch dass du dieses Gesetz entworfen hast. Wer auch immer dir das geschickt hat, versucht, mich gegen dich zu verwenden. Das riecht nach was Persönlichem.«

»Da ist niemand. Mein Leben ist keine Seifenoper, die nur aus Geheimnissen und Skandalen besteht.« Sie stopfte das Handy zurück in ihre Handtasche. »Zumindest war es das bis vor Kurzem nicht.«

Sie hatte Angst und war wütend. Deswegen blieb ich nachsichtig und schluckte meine sarkastische Erwiderung runter.

»Was soll ich antworten?«, wollte sie wissen.

»Gar nichts. Reagier nicht. Sie haben keine Beweise, und wenn du antwortest, wirkt es, als hättest du was zu verbergen. Ich kümmere mich darum, versprochen.«

»Deine Magie wird mich alles kosten.« Der Schmerz stand ihr ins Gesicht geschrieben, und das traf mich bis ins Mark.

»Mom.« Ich streckte die Hände nach ihr aus.

Sie schüttelte den Kopf, machte eine abwehrende Geste und verließ das Büro. Zurück blieb nur der Duft ihres Rosenparfüms.

Wir waren auf einem so guten Weg gewesen. Ja, unsere Beziehung fußte vor allem darauf, dass wir vieles sorgsam umschifften. Aber unsere wöchentlichen Frühstückstreffen waren inzwischen richtig angenehm. Sie war sogar ein paarmal mit mir und Mrs Hudson entlang des Hafendamms spazieren gegangen. Ich massierte mir die Schläfen und fühlte mich, als wäre gerade eine Handgranate neben mir gelandet.

Das einzig Gute: Der Zünder war nicht aktiviert. Noch nicht.

Ich rief Rafael an, um ihm die Sache mit Deepa zu erzählen. Zufrieden mit meinem Fund stimmte er mir zu, dass das vielleicht genau der Durchbruch war, den wir so dringend brauchten. Mit einem Mal sah mein Tag nicht mehr ganz so düster aus, und ich legte auf. Als Nächstes würde ich Priya darauf ansetzen, in der Vergangenheit der Frau zu wühlen. In letzter Zeit arbeitete Pri hauptsächlich an Projekten für House Pacifica, aber sie konnte nie widerstehen, wenn es darum ging, schmutzige Geheimnisse auszugraben.

In diesem Moment betrat Nicola Montefiore mein Büro und verkündete: »Ich will Sie engagieren.«

So viel zum Thema Luftholen. Ich hörte praktisch, wie der Stift der Granate gezogen wurde.

Ka-wumm.

KAPITEL 3

Statt einer Antwort legte ich mir einen Finger an die Lippen, schaltete mein Handy aus und bedeutete ihr, das Gleiche zu tun. Wer wusste schon, wie stark Mr Cybersecurity seine Frau überwachte?

Um auf Nummer sicher zu gehen, schloss ich beide Geräte zusammen mit meinem Laptop in Eleanors Büro ein – es ging doch nichts über eine gesunde Paranoia. Meine Grafikdesign-Büronachbarin war gerade nicht da, aber wir hatten Schlüssel zu den Räumen der jeweils anderen. Mit dem Gefühl, alle infrage kommenden Sicherheitsmaßnahmen getroffen zu haben, kehrte ich in mein Büro zurück und machte eine auffordernde Geste hin zu Nicola.

»Ich will Isaac verlassen.«

Ich öffnete und schloss den Mund ein paarmal und gab dabei sicher eine hervorragende Fisch-Imitation ab. »Mrs Montefiore …«

»Nicola, bitte.« Ich hatte Levis Mutter immer als stille Frau eingeschätzt, deren verletzliche Erscheinung zu ihrem mangelnden Rückgrat passte. Heute hielt sie sich jedoch kerzengerade, und ich erkannte die Entschlossenheit in ihrem nach vorn gereckten Kinn und dem Unterton, der zusammen mit dem italienischen Akzent in ihren Worten mitschwang.

»Ist gestern Nacht noch was passiert?« Hatte Isaac meinen nächtlichen Besuch doch mitbekommen und seine Wut an seiner Ehefrau ausgelassen? »Droht Ihnen Gefahr, wenn Sie zu Hause bleiben?«

»Nein. Isaac hat nie die Hand gegen mich erhoben, aber …« Sie fummelte an ihrem Schal herum, der elegant um ihren Hals drapiert war. »Ich weiß nicht, was es mit dieser Schriftrolle auf sich hatte, die ich beim Aufräumen von Levis Zimmer vor ein paar Monaten gefunden habe, doch ich weiß, dass sie wichtig ist.« Ihr Schulterzucken wirkte so typisch italienisch. »Warum hätte man sie sonst verstecken sollen?«

Das war eine berechtigte Frage.

»Aber es war nicht Isaac, der sie dorthin gelegt hat. Er wusste nichts von Levis Versteck, und selbst wenn, hätte er es nie benutzt.« Sie verzog die korallenrot geschminkten Lippen. »Sie wissen, wie Isaac und Levi zueinander stehen.«

Interessant, dass sie es nicht als Frage formuliert hatte. »Ja.«

Sie nickte. »Levi hat sie da auch nicht hingetan. Wo hätte er als Kind so etwas herhaben sollen? Und jetzt ist er ein erwachsener Mann und hat sein eigenes Haus.«

»Ja«, erwiderte ich wehmütiger als beabsichtigt.

»Sie wissen etwas darüber. Sie können helfen.« Oh verdammt. Dass Nicola sich Gedanken über die Schriftrolle machte und das als eine Art Rechtfertigung nutzte, um sich aus Isaacs Fängen zu befreien, war gefährlich.

»Ich arbeite exklusiv für eine Versicherungsgesellschaft und nehme keine Fälle von Privatleuten mehr an.« Rasch kritzelte ich eine Telefonnummer auf einen Klebezettel. »Diese Scheidungsanwältin kann ich Ihnen wärmstens empfehlen. Sie kann Ihnen dabei helfen, einen Weg zu finden, wie Sie ihn verlassen können …«

»Es war …« Nicola schürzte die Lippen und seufzte. »Es war Adam, nicht wahr?«

»Adam?« Meine Stimme klang hölzern, mein Lächeln glich vermutlich eher einer Grimasse.

»Si. Anders kann ich es mir nicht erklären. Er hat die Schriftrolle versteckt, als er Isaac an jenem Abend besucht hat. Vor vielen Jahren. Da habe ich Ihren Vater zum letzten Mal gesehen.«

Mir blieb der Mund offen stehen. »W-woher …?«

Sie lächelte und sah ihrem Sohn dabei so ähnlich, dass ich den Blick für einen Moment abwenden musste. »Alle unterschätzen die Ehefrauen und Mütter, aber wir wissen mehr, als man meint, bella.«

Ich tippte mir mit einem Kugelschreiber gegen den Oberschenkel und versuchte, das Chaos in meinem Kopf zu sortieren. Sie wusste nichts von der Bedeutung der Schriftrolle. War ihr bewusst, dass Isaac zu Chariot gehörte? Bis jetzt war mir tatsächlich nie der Gedanke gekommen, mit ihr darüber zu sprechen, dabei war sie seit vielen Jahren mit dem Mann verheiratet. Sie war nicht blind – genau wie Talia, die von der Beschwerde der Krankenschwester gewusst hatte, der ich nach dem Ausbruch meiner magischen Fähigkeiten nach meinem Autounfall beinahe die Magie entzogen hätte. Auf die Idee, dass Talia Bescheid wusste, wäre ich auch nie gekommen.

»Sagt Ihnen das Wort ›Chariot‹ irgendwas?«, fragte ich.

Nicola schüttelte den Kopf, und nichts in ihrem Blick oder Gesichtsausdruck deutete auf eine Lüge hin. »Nein. Steht das damit in Verbindung?«

»Vergessen Sie, dass Sie es je gehört haben.« Das klang harscher, als ich es beabsichtigt hatte, also schlug ich einen versöhnlicheren Tonfall an. »Bitte.«

»Oh, ragazza. Werden Sie mir helfen? Ich kann nicht mehr mit ihm leben. Mein Sohn wurde schon so sehr verletzt, und jetzt wurde ihm auch noch das Herz gebrochen.«

Ich knackte den Stift in zwei Teile. »Das spielt keine Rolle.«

»Für mich schon. Dieser Mann …« In ihrem Ton schwang so viel Abscheu mit, und ihre Augen hatten sich verdunkelt. »… hat genug Schaden angerichtet. Bei uns beiden. Es reicht. Basta.« Sie machte eine ausladende Handbewegung.

Nicola wirkte wie die personifizierte Entschlossenheit. Sie würde das durchziehen, mit mir oder ohne mich. Isaac hatte meinen Vater ermorden lassen, weil dieser sich von ihm abgewandt hatte, also musste ich sehr vorsichtig vorgehen, damit die Geschichte sich nicht wiederholte.

Bei Chariot gab es bei Verrat keine zweite Chance. Ein Vergehen, und das war’s. Endgültig. Das galt erst recht für Isaac und seine Verlustängste.

Nicola würde ein langes, erfülltes Leben führen. Levi würde mich hassen, aber ich war nun mal einer der wenigen Menschen, die hinter Isaacs Fassade blickten, und darum konnte ich Nicola davon abhalten, versehentlich irgendwas auszuplaudern, das ihr Leben in Gefahr bringen würde. Mit mir an ihrer Seite hatte sie eine bessere Chance, dieses Minenfeld unbeschadet zu durchqueren, als ohne mich.

»Ich werde Ihnen helfen«, sagte ich.

Ihre Schultern sackten nach unten, und sie sah so erleichtert aus, dass mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog.

»Wo soll ich anfangen?« Normalerweise beauftragten mich Menschen in ihrer Situation, weil ihre Ehepartner fremdgingen, oder manchmal auch, weil sie Geld unterschlugen. Jetzt war ich neugierig auf ihre Antwort.

»Finden Sie dieses Ding, von dem er so besessen ist, damit ich die Hälfte davon bekomme. Ich will, dass er weiß, was ich ihm weggenommen habe.«

Ich schluckte ein hysterisches Lachen runter. Das Einzige, was Isaac wirklich unbedingt wollte, waren die vier Schriftrollenbruchstücke, die sich im Besitz von Team Jezebel befanden. Mit ihnen wollte er Unsterblichkeit erlangen. Würde ziemlich schwer werden, ihm die Hälfte davon vor dem Scheidungsgericht abzuluchsen. Allerdings wusste sie, dass Levi eine Schriftrolle besaß, und sie hatte diese nicht explizit erwähnt, worauf bezog sie sich also?

Sie musste mein Zögern bemerkt haben, denn sie lehnte sich etwas nach vorn und stützte sich mit den Händen auf meinem Schreibtisch ab. »Sie haben doch gestern nach einem Hinweis auf dieses Ding gesucht, nicht wahr? Die bamah?«

»Die was bitte?« Ich konnte den Begriff noch nicht mal googeln, weil mein Handy und mein Laptop sich in Eleanors Büro befanden.

»Bamah. Vor ein paar Tagen habe ich ihn beim Telefonieren belauscht. Isaac hat dabei wohl auch zum ersten Mal davon gehört. Er war dann ganz aufgeregt und ist seitdem davon besessen, sie zu finden.«

Wenn diese bamah Isaac wichtig war, war es sie ab jetzt auch für mich. Insbesondere, wenn Deepa Anand irgendwie damit in Verbindung stand.

»Wissen Sie sonst noch irgendwas darüber?« Ich schnappte mir einen anderen Kugelschreiber.

»Er sagte, dass sie chiuso ist … Come si dice?« Sie untermalte ihre Worte mit ausladenden Gesten. »Geschlossen.«

Das notierte ich mir. »Vielleicht ist diese bamah nichts, was Ihnen dabei nützt, Isaac zu verlassen«, warnte ich sie. »Aber so oder so werde ich Ihnen dabei helfen, aus dieser Situation rauszukommen.« Sie griff nach ihrem Portemonnaie, aber ich machte eine abwehrende Handbewegung. »Nein. Bitte. Ich kann Ihr Geld nicht annehmen.«

Ich nehme lieber das Ihres Sohns. Normale Kommunikation war mit Nicola nicht möglich, falls Isaac tatsächlich ihr Handy verwanzt hatte, also würde Levi den Mittelsmann spielen müssen. Und das war doch wirklich die Kirsche auf dem Sahnehäubchen unseres beschissenen letzten Aufeinandertreffens.

Nachdem ich die Telefone und meinen Laptop wieder rübergeholt hatte, informierte ich Nicola darüber, dass ich über Levi mit ihr in Kontakt bleiben würde, und verdeutlichte ihr noch einmal, wie wichtig es war, dass sie ihrer normalen Alltagsroutine nachging, bis sie von mir hörte.

»Ich habe in dieser Ehe schon so lange überlebt. Ich werde vorsichtig sein. Und Ashira?« Nicola drückte meine Hand. »Ich weiß nicht, was mit Adam passiert ist, aber wenn Isaac etwas damit zu tun hatte? Mi dispiace.«

»Nicht Ihre Schuld«, erwiderte ich mit belegter Stimme.

»Bitte lassen Sie die Vergangenheit nicht Ihre Zukunft bestimmen.« Sie schaute abwesend aus dem Fenster. »Lassen Sie nicht zu, dass Sie eines Tages aufwachen und feststellen, dass Sie Ihr Leben und Ihr Glück aus Angst weggeworfen haben.«

Gute Frau, da sprichst du mit der falschen Person. »Das möchte wirklich niemand«, sagte ich.

Nachdem sie gegangen war, ließ ich mich wieder in meinen bequemen Bürostuhl sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Das verdammte Schicksal legte es wirklich darauf an, dass sich meine und Levis Wege ständig kreuzten. Mein Leben war keine Liebeskomödie.

Die Leute unterschätzten immer die Ehefrauen und Mütter. Hatte Nicola eine Verbindung zwischen dieser bamah, der Schriftrolle und meinem Vater hergestellt und war damit zu der vermutlich einzigen Privatdetektivin gekommen, die ein persönliches Interesse an alldem hatte? Selbst wenn sie mich zur Mithilfe manipuliert hatte, war ihre Erleichterung echt gewesen, als ich zustimmte. Jetzt hatte ich ihr mein Wort gegeben und würde es nicht brechen.

Ich atmete langsam aus. Augen zu und durch, Ash.

Der Anruf bei Levi ging auf die Mailbox, wen sollte ich also anrufen, um rauszufinden, was er gerade machte? Pest oder Cholera? Mir war nicht nach einem Schlagabtausch mit seinem Vorzimmerdrachen, deshalb entschied ich mich für das kleinere Übel.

Ich drückte eine Kurzwahltaste. »Hallo, Miles. Hier ist die freundliche Jezebel aus der Nachbarschaft.«

»Und so wird ein stressiger Tag zu einem absolut beschissenen. Wundervoll«, gab er trocken zurück.

»Unglücklicherweise liegt das weniger an meiner bezaubernden Persönlichkeit als daran, dass du kein Leben hast. Wo ist Seine Lordschaft?«

Stille.

»Hallo? Miles?« Ich stellte das Handy auf Lautsprecher, legte es auf meinen Schreibtisch und klickte mit der Maus, damit mein Laptop sich einschaltete. Was war eine bamah?

»Seit zwei Monaten tust du alles, um ihm aus dem Weg zu gehen«, entgegnete er. »Was willst du jetzt plötzlich von ihm?«

»Über dein ungesundes Interesse an meinem Leben haben wir uns doch schon mal unterhalten. Ich tue überhaupt nichts, was irgendwie mit ihm in Verbindung steht. Das würde ihm eine Bedeutung zumessen, die er für mich nicht mehr hat.«

Ich hörte statisches Rauschen und ein Seufzen. Schließlich setzte Miles deutlich leiser wieder zum Sprechen an. »Wirst du ihm wieder wehtun?«

Ich schnaubte, um den Schmerz zu überspielen, den diese Frage in mir auslöste. »Wo bliebe denn die spaßige Unberechenbarkeit, wenn ich dir das verraten würde? Und du kannst mich mal. Ich habe einen Fall, über den ich ihn umgehend informieren muss.«

Laut dem allwissenden Internet war bamah das hebräische Wort für eine heilige oder hohe Stätte. Die Engelsfeder war an einer von Ashiras Kultstätten in der Nähe der archäologischen Ausgrabung entdeckt worden, bei der Omar Tannous gearbeitet hatte. Hatte Nicola möglicherweise »vergraben« gemeint und nicht »geschlossen«? Könnte es noch ein anderes wichtiges Artefakt geben, das Chariot in einer bamah vermutete? Unsere Bruchstücke vielleicht? Und was hatte Deepas Tod mit alldem zu tun? Hatte er überhaupt etwas damit zu tun?

»Sollte ich darüber Bescheid wissen?«, fragte Miles.

»Ja, aber du musst dich hinten anstellen. Levi sollte es als Erster erfahren.«

Darüber musste Miles einen Moment lang nachdenken. »Komm ins Hauptgebäude. Und gib Rafael auch Bescheid. Es gibt noch was, das wir alle miteinander besprechen müssen.«

»Bekomme ich eine Vorwarnung, um was es geht?«

»Nein. Wir treffen uns in einer halben Stunde in Levis Büro.« Er legte auf, bevor ich dagegen protestieren konnte.

Es war nur ein Raum und ich ein Profi. Alle Erinnerungen, die ich mit diesem Büro verband, waren irrelevant, und sie waren auch sicher nicht der Grund für die Umwege, die ich auf der auf der Fahrt dahin machte.

House Pacifica erstrahlte in dem tiefdunklen Rotton, den das Gebäude während der letzten beiden Monate dauerhaft angenommen hatte. Ich bog in die Tiefgarage ein und rutschte unruhig auf meinem Sitz herum. Bislang gab es keinen Beweis dafür, dass das Haus wie ein Stimmungsring auf Levi reagierte, und selbst wenn, war das nicht mein Problem.

Im sechsten Stock angekommen marschierte ich an den Kunstwerken vorbei, die die blassgoldenen Wände schmückten, und lehnte mich über den Empfangstresen, hinter dem Levis persönliche Assistentin ihren Schreibtisch hatte.

»Verrrroooniiiiicaaaa«, trällerte ich und genoss, wie sie das Gesicht verzog.

Die blonde Frau sah in ihrem Rock mit Hahnentrittmuster und der cremefarbenen Bluse wie immer aus wie aus dem Ei gepellt. Sie stand auf und verschränkte die Arme. »Sie werden ihn jetzt nicht ablenken. Er hat in zehn Minuten ein außerordentlich wichtiges Meeting.«

»Ich weiß. Deswegen bin ich hier.«

Sie stöhnte auf. »Nein. Ignorieren Sie ihn doch bitte weiter. Das war so angenehm.« Sie zupfte an einem ihrer Perlenohrringe.

Grinsend deutete ich auf ihre Hand. »Sie haben da einen schrecklichen Tell. Spielen Sie ja nie Poker. Sie können es ruhig zugeben – Levi war ohne mich unausstehlich.«

»Miles weiß nicht, wann man besser mal die Klappe hält.« Sie blätterte einen Stapel Dokumente durch und klebte »Hier unterschreiben«-Zettel auf einige Seiten. »Levi ist noch nicht da. Warten Sie im Empfangsbereich.«

»Kann ich …?« Meine Stimme zitterte ein wenig, und ich räusperte mich. »Ich glaube, ich brauche einen Augenblick, um mich zu akklimatisieren, bevor Levi kommt. Kann ich drinnen warten?« Jetzt, wo ich so kurz davor stand, das Büro zu betreten, geriet meine unbeschwert-selbstsichere Fassade ins Wanken.

Veronica war da gewesen, als ich zuletzt in Levis Büro gewesen war – direkt nachdem ich vom Tod meines Vaters erfahren hatte. Damals hatte sie Mitgefühl gezeigt. Ich hoffte, dass sie das jetzt wieder tun würde.

Sie zupfte einen weiteren Klebezettel ab, und ein Muskel in ihrer Wange zuckte. Ich wappnete mich gegen ein Nein. Doch irgendwas musste ihr wohl meine Verzweiflung verraten haben, denn ihr strenger Gesichtsausdruck wurde weicher, und sie gab mit einem Nicken nach. »Wenn Sie was anfassen, sind Sie tot.«

»Würde ich Ihnen diese Genugtuung verschaffen? Wohl kaum.«

Ich verharrte für einen Moment im Türrahmen, weil der Duft von Levis Magie schwer in der Luft hing. Bei meinem letzten Besuch hatten Sherlock-Bücher auf dem Couchtisch gelegen und daneben dieses dumme Schloss, mit dem er sich so begeistert von mir das Knacken hatte beibringen lassen.

Sämtliche Spuren, die ich hinterlassen hatte, waren systematisch entfernt worden. Selbst das Sofa, auf dem Levi mich getröstet hatte, nachdem ich von der Ermordung meines Vaters erfahren hatte, war durch ein ähnliches Modell ersetzt worden. Sein Charme reichte jedoch nicht an den des Originals heran.

Ich ließ mich auf dem erinnerungsfreien Sitzmöbel nieder, den Kopf gesenkt, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt. Mich hinter sich zu lassen, war eine Sache, aber Levi hatte mich ausgelöscht. Warum war das für ihn so einfach?

Ein nerviger Klimperton näherte sich von draußen.

»Mach das aus, Ark«, hörte ich Miles’ Stimme. »Dieses Geräusch bohrt sich direkt in mein Hirn.«

»Meine Einhörner erstechen die Putten nicht so effizient, wenn ich nicht höre, wie sie sie aufspießen.«

»Verdammt noch mal«, erwiderte Miles.

»Nur noch ein Level, Babe«, sagte Arkady.

»Das hast du gestern Abend auch gesagt.«

Sein Freund schenkte ihm ein schiefes Grinsen, als sie eintraten. »Und wenn ich mich recht entsinne, wurde deine Geduld reichlich belohnt.«

Ich räusperte mich, und die beiden Männer schauten zu mir rüber.

Miles schaffte es tatsächlich, gleichzeitig zu erröten und mir einen finsteren Blick zuzuwerfen.

»Och, du siehst aus wie eine Mischung aus Schneewittchen und Rumpelstilzchen«, meinte ich.

»Klappe, Cohen.« Er setzte sich auf einen der Zusatzstühle, die wohl für das Meeting aufgestellt worden waren. Alter, sein Hintern war so stramm, dass er nicht über die Stuhlkante hing wie bei normalen Menschen.

Arkady hatte seine schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und sein T-Shirt verkündete: »Moralisch flexibel«. Er nahm verkehrt herum auf einem Stuhl Platz und widmete sich wieder seinem Handyspiel, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, Augenkontakt mit mir aufzunehmen.

Wenn man Menschen in sein Leben ließ, wurde es zum Hütchenspiel und Vertrauen zu dem kleinen Ball, den man dabei herumschubste. Es spielte keine Rolle, wie klug man war, wie genau man die Bahn des Balls verfolgte – irgendwann hob man den Becher hoch und fand nichts darunter vor. Das hatte ich vorher schon gewusst, und trotzdem hatte ich zugelassen, dass Priyas Optimismus mich beeinflusste.

Meine beste Freundin war die Nächste, die den Raum betrat, zusammen mit Mrs Hudson. Priya zupfte sich einen nicht existenten Fussel von ihrem gepunkteten Wickelkleid. »Hast du ausgeschmollt?«

Ich bückte mich nach Mrs Hudson, doch Priya brachte sie außerhalb meiner Reichweite. »Ja. Tut mir leid, dass ich einfach aufgelegt habe.«

»Tut mir leid, dass ich in Sachen gestochert habe, die dir unangenehm sind.« Sie ließ den Hund von der Leine, der prompt begeistert bellte und dann die Umgebung abschnüffelte.

Hektisches Klingeln ertönte, und Arkady reckte triumphierend die Faust in die Luft. »Hab ich dich, du kleiner Scheißer.«

Priya wuschelte ihm durch die Haare. »Ach, du armer, armer Junkie.«

»Du bist ja nur neidisch, weil du es nicht über Level zwei hinaus geschafft hast.« Er schlang ihr einen Arm um die Taille. »Wir können nicht alle brillante Einhorn-Attentäter sein.«

Gespielt beleidigt rubbelte Priya mit den Fingerknöcheln über seinen Kopf.

Ich kniff die Lippen zusammen – dieses dumme Handygame, das sie gemeinsam spielten, war mir natürlich vollkommen egal – und machte auf der Couch Platz, damit Pri sich zu mir setzen konnte.

Rafael eilte mit vor Anstrengung geröteten Wangen herein. In den Händen hielt er zwei Tassen, die dampfend Earl-Grey-Duft verbreiteten. Eine davon reichte er Priya. »Ich dachte mir, dass du vielleicht einen kleinen Muntermacher gebrauchen kannst.«

Sie strahlte übers ganze Gesicht und nahm die Tasse entgegen. »Danke. Das ist ja lieb von dir.«

»Und was ist mit mir?«, fragte ich.

Er runzelte die Stirn. »Trinkst du nicht normalerweise Kaffee?«

»Schön, dass du das bemerkt hast. Hast du mir einen mitgebracht?«

»Ich … äh … nein?«

Wessen Sekretär war er eigentlich?

In diesem Moment kam Levi in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Rafael warf ihm einen dankbaren Blick zu und quetschte sich zwischen Priya und mich.

»Alle da.« Levi strahlte in seinem eleganten schwarzen Anzug mit seinen streng zurückgegelten Haaren pure Überheblichkeit aus. »Gut.« Er marschierte zu seinem Schreibtisch, zog Arkady und Miles mit ihrem schlechten Filmgeschmack auf, weil er offenbar von ihnen zu einem Kinobesuch genötigt worden war, neckte Priya mit ihrem Koffeinkonsum und fragte sogar Rafael, ob ihm das Restaurant gefallen hätte, das er ihm empfohlen hatte.

Neue Möbel, ein neuer Freundeskreis – oh, Seine Lordschaft war fleißig gewesen. Ich presste den Absatz meines Stiefels gegen die Couch und hinterließ so einen schwarzen Fleck.

Miles durfte Levi gerne behalten. Aber auch wenn ich sauer auf Arkady war, war er mein Freund gewesen, nicht Levis, also durfte Montefiore auch nicht mit ihm ins Kino gehen. Ganz egal, ob Arkady mit Miles zusammen war. Und Priya und Rafael? Die waren gleich raus. Zu Levi hatten sie eine rein berufliche Beziehung und sonst nichts.

Ich beruhigte mich mit meiner üblichen Alphabetisierungstechnik.

Ausbluten lassen, Busunfall, Chemikalienvergiftung, Dartpfeil ins Auge … Meine Laune verbesserte sich schlagartig. »Ist das hier ein berufliches Meeting oder nicht?«, wollte ich wissen. »Ich habe noch andere Dinge zu tun.«

»Stimmt. Deine noble Bestimmung lässt dir kaum Zeit für soziale Interaktion.« Levi zog seine Manschetten zurecht.

»Ach, wie toll muss es sein, wenn man nichts zu tun und deswegen alle Zeit der Welt dafür hat.«

Miles und Arkady warfen mir missbilligende Blicke zu, weil ich Levi beleidigt hatte, während Priya und Rafael ihr belustigtes Lächeln versteckten, was meine Stimmung deutlich hob.

Levis Mundwinkel zuckten, und mein Herz machte einen kleinen Satz. Das war fast wie in alten Zeiten, als wir uns sarkastische Kommentare an den Kopf geworfen und einander angegrinst hatten. Oder wie wenn man vor der Bude eines Magiers stand und den Ball verfolgte, der blitzschnell von Becher zu Becher rollte, und man ganz sicher zu wissen glaubte, wo er sich befand. Aber ich hatte wieder einmal den Becher angehoben, unter dem sich kein Ball befand, denn Levi setzte einen betont neutralen Gesichtsausdruck auf, nickte und sagte: »Fangen wir an.«

KAPITEL 4

Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, wuselte Mrs Hudson auch noch zu Levi rüber und kratzte mit der Pfote an seinem Hosenbein. Ich ging die paar Schritte zu ihnen und wollte sie gerade hochheben, als Levi sich nach unten beugte. Die Berührung unserer Hände schickte ein Kribbeln meinen Arm hinauf.

Ohne mich anzusehen, reichte er mir den leise winselnden Hund. Mrs Hudson auf dem Arm, ging ich zurück zum Sofa und nahm erneut neben Rafael Platz.

»Wie die meisten von euch wissen«, wandte Levi sich währenddessen an die Runde, »habe ich während der letzten beiden Monate versucht, Beweise dafür zu finden, dass Jackson Wu an der Geldwäsche in Hedon beteiligt war.«

Hatte er das? Den Gesichtsausdrücken der anderen nach zu schließen, war das nur Rafael und mir neu.