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Dr. Raisa Montefiore hat ihr Leben der Entwicklung einer Formel gewidmet, die schwere Verbrennungen in Sekundenschnelle heilen kann – ein Versprechen an ihre verstorbene Zwillingsschwester Robyn. Als ein Polizist bei einer Explosion in ihrem Labor schwer verletzt wird, rettet Raisa sein Leben mit ihrer experimentellen Formel. Mit ungeahnten Folgen: Inspector Gideon Stern verwandelt sich in einen Werwolf. Die Labordaten sind zerstört, Raisas Mentor Dr. Woodman ist untergetaucht, und seine Spur führt sie und den widerwilligen Gideon in die Parallelwelt Hedon. Dort erwartet sie nicht nur die gefährliche Königin der Herzen, sondern auch die Wahrheit über Raisas eigene Vergangenheit. Während Gideon mit seinem neuen Alltag kämpft, muss Raisa sich entscheiden: zwischen Loyalität, Rache – und einer wachsenden Zuneigung zu dem Mann, den sie unwissentlich verflucht hat. "Red und der Wolf" ist ein Spin-off zur Reihe "Jezebel Files", kann aber eigenständig gelesen werden.
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Seitenzahl: 536
Veröffentlichungsjahr: 2025
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DEBORAH WILDE
VOLLMOND FÜR ANFÄNGER
RED UND DER WOLF 1
Aus dem Englischen von Stefanie Kersten
Über das Buch
Dr. Raisa Montefiore hat ihr Leben der Entwicklung einer Formel gewidmet, die schwere Verbrennungen in Sekundenschnelle heilen kann – ein Versprechen an ihre verstorbene Zwillingsschwester Robyn.
Als ein Polizist bei einer Explosion in ihrem Labor schwer verletzt wird, rettet Raisa sein Leben mit ihrer experimentellen Formel. Mit ungeahnten Folgen: Inspector Gideon Stern verwandelt sich in einen Werwolf.
Die Labordaten sind zerstört, Raisas Mentor Dr. Woodsman ist untergetaucht, und seine Spur führt sie und den widerwilligen Gideon in die Parallelwelt Hedon.
Dort erwartet sie nicht nur die gefährliche Königin der Herzen, sondern auch die Wahrheit über Raisas eigene Vergangenheit.
Während Gideon mit seinem neuen Alltag kämpft, muss Raisa sich entscheiden: zwischen Loyalität, Rache – und einer wachsenden Zuneigung zu dem Mann, den sie unwissentlich verflucht hat.
Über die Autorin
Deborah Wilde ist Weltenbummlerin, ehemalige Drehbuchautorin und Zynikerin durch und durch. Sie schreibt mit Vorliebe witzige Romane für Frauen in den Genres Urban Fantasy und Paranormal Romance.
In ihren Geschichten geht es um selbstbewusste, toughe Frauen, starke weibliche Freundschaften und Romantik mit einer Prise Charme und Feuer. Sie mag Happy Ends, und es ist ihr wichtig, dass auch der Weg dorthin ihre Leser:innen zum Lachen bringt.
Deborah Wilde lebt in Vancouver, zusammen mit ihrem Mann, ihrer Tochter und ihrer überaus eigenwilligen Katze Abra.
Die englische Ausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Howl at the Moon« bei Te Da Media Inc.
Deutsche Erstausgabe Oktober 2025
© der Originalausgabe 2023: Deborah Wilde
© für die deutschsprachige Ausgabe 2025:
Second Chances Verlag, Inh. Jeannette Bauroth,
Hammergasse 7–9, 98587 Steinbach-Hallenberg
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Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth
unter Verwendung von Motiven von yurkaimmortal, Acronym, cherylvb, faestock, James Thew, Amimy, feytullah, MdLothfor, alle www.stock.adobe.com
Lektorat: Julia Funcke
ISBN Taschenbuch: 978-3-98906-114-9
ISBN E-Book: 978-3-98906-113-2
www.second-chances-verlag.de
Titel
Über die Autorin
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Danksagung
Ich eilte mit zwei To-go-Bechern in den Händen über das Industriegelände und schwelgte gedanklich bereits in Visionen von Pumpkin Spice. Nicht von dem Gewürz – Mocha Latte mit einem doppelten Shot Espresso war die Droge meiner Wahl –, sondern von der virtuellen Probandin in meinem Labor. In früheren Versionen war meine treue simulierte Patientin mit Brandwunden gesprenkelt gewesen wie der traditionelle Herbst-Latte mit Zimt. Es war zwar ziemlich morbide, doch ich hatte mir den kleinen Spaß erlaubt, sie auf den Namen Pumpkin Spice zu taufen.
Aber hey, wenn unser Universum, das immerhin mit einem Mega-Kometen und einem schwarzen Loch aufwartete, nach Himbeeren schmeckte (echt wahr!), konnte ich meiner virtuellen 3D-Testperson mit ihren erschreckend realistisch aussehenden, schweren Brandverletzungen auch einen niedlichen Namen wie Pumpkin Spice verpassen.
Um vom Café zu meinem Labor zu kommen, musste ich eine Straße zwischen langen Ziegelsteingebäuden mit beigen und roten Rolltoren entlanggehen. Ich hielt die Luft an, als ich eine Horde blauer Müllcontainer passierte. Eine Ratte trippelte hoffnungsvoll hinter ihnen hervor, verschwand aber gleich wieder unter einem Gabelstapler.
Die Natriumdampf-Straßenlampen leuchteten auf und schickten ihren warmen, rötlich gelben Schein in den kühlen Abend hinaus. Wenn in der nächsten Stunde alles gut lief, konnte meine Substanz zur Schnellregenerierung schon bald in klinischen Studien an echten Verbrennungsopfern getestet werden.
Mein halbes Leben hatte ich mit meiner magischen Ausbildung, meiner Doktorarbeit in Chemogenetik und dem Vorantreiben meiner Forschung in diesem Labor verbracht, aber ich würde mein Versprechen einlösen können, bevor ich nächstes Jahr dreißig wurde. Ich nahm einen tiefen Schluck aus meinem Becher und genoss den Glücksmoment, den mir Schokolade und Koffein verschafften.
Plötzlich hallte das Heulen eines Kojoten von den Wänden wider, so laut, dass es sogar den Krach der Metallwerkstatt zwei Blocks weiter übertönte. Die pelzigen Mistviecher machten gerne mal die Gegend unsicher, wie Gangs beim Revierkampf, also beschleunigte ich meine Schritte etwas.
Mein Blick fiel auf ein mickriges Fleckchen halb verwelkter violetter Astern, die aus einem Spalt in der niedrigen Stützmauer wuchsen. Mit ihren leuchtenden Farben stachen sie so hell aus der tristen Umgebung aus Beton und Asphalt hervor, dass sie beinahe künstlich wirkten. Ich lächelte. Noch ein Underdog, der sich trotz schlechter Chancen behauptete.
Vorsichtig stapelte ich die Becher in meiner rechten Hand übereinander und weckte meine Webermagie. Ich war auf Licht spezialisiert, vor allem auf das Weben von präzise zielgerichteten Strahlen aus dem Rotlicht- und Infrarotbereich des Spektrums. Selbst wenn ich dieses Licht mit bloßem Auge nicht sehen konnte, spürte ich es. Mit einer höheren Kelvin-Zahl konnte ich zwar auch arbeiten – zum Beispiel mit Blaulicht oder Sonnenlicht –, aber der Umgang mit dem breiteren Spektrum war schwierig. Ich war dabei bestenfalls ungenau, und wenn ich die Kontrolle darüber verlor, konnte es gefährlich werden.
Ich strich mit meinen inzwischen blassorange glühenden Fingerspitzen über die Astern.
Webermagie manifestierte sich auf ganz unterschiedliche Weise. Manche Leute konnten Garn so lenken, dass sich ein Kleidungsstück auflöste, und daraus einen Kokon oder gar eine massive Spitze formen, um jemanden aufzuspießen. Andere verwoben Pflanzenmaterialien, während ein paar wenige das sogar mit Wasser oder Feuer hinbekamen. Alles hing vom Magielevel und von der Ausbildung ab. Weber auf einem niedrigen Level schafften es vielleicht, mit ihrer Magie einen kaputten Saum zu flicken, viel mehr aber nicht.
Die meisten mit diesem Magietyp arbeiteten als Bannweber und verbanden das Blut ihrer Kunden magisch mit den Schutzzaubern von Gebäuden. Ich konnte Sinnvolleres mit meinen Fähigkeiten anstellen, als für die Sicherheit von Konzernwolkenkratzern und Diktatoren zu sorgen.
Die violetten Blütenblätter der Astern richteten sich auf und wirkten auf einen Schlag voll und gesund, als ich ordentlich Licht in ihre Zellstruktur pumpte und die Fotosynthese damit beschleunigte. Ich tätschelte sie noch mal zum Abschied und bog um die nächste Hausecke. Meine Anspannung kämpfte mit kribbelnder Vorfreude, als die moderne Fassade von Perrault Biotech in Sicht kam. Mein zweites Zuhause war ein zweistöckiges, T-förmiges Gebäude. Im kurzen Teil des »T« befanden sich Büros, Konferenz- und Pausenräume, die Labore waren im langen Trakt untergebracht.
Es erinnerte mich jedes Mal an ein Superhelden-Hauptquartier: Von außen vollkommen unscheinbar, aber hinter diesen Türen revolutionierten wir im Stillen die Welt der Medizin. In dem Forschungslabor, in dem ich arbeitete, waren schon viele magische und wissenschaftliche Durchbrüche erzielt worden, und es war eine der Top-Adressen des Gesundheitssektors von Toronto. Würde ich heute Abend zu diesen Errungenschaften beitragen?
Das würde ich wohl bald herausfinden.
Ich schob die Eingangstür auf und betrat die Lobby zu den leisen Bossa-nova-Klängen von »The Girl from Ipanema«, die aus in der Decke installierten Lautsprechern drangen.
Ella Fortose, die Officemanagerin der Forschungseinrichtung, unterschrieb gerade Papiere, die unsere Empfangsmitarbeiterin Kaitlin für sie vorbereitet hatte. Ella war knapp über sechzig, trug elegante Seidenkostüme und hatte die Haare zu einem perfekten Chignon frisiert – und sie hielt mit ihrem farbcodierten, durchorganisierten Kalender den ganzen Laden am Laufen.
»Kaffee zur Feier des Tages?« Sie legte die letzte Akte auf den Stapel.
»Nur der handelsübliche Wachmacher.«
»Wenn jemand diese letzte Hürde überwinden kann, dann Sie. Vom ersten Tag an haben Sie sich in die Arbeit gestürzt und sich von keinem Rückschlag entmutigen lassen.« Sie zog ihr Handy aus der Tasche und wischte mit perfekt manikürten Fingern übers Display. »Dieses Mal schaffen Sie es. Ich bin mir sogar so sicher, dass ich schon die Oreos mit Doppelfüllung besorgt habe.«
Die Erwähnung der Leckerlis, die sie als Erfolgsprämien vergab, ließ mich aufhorchen. Kindisch vielleicht, aber trotzdem bei allen beliebt. »Bekomme ich drei, wenn ich das hinkriege?«
Ella schürzte die Lippen und gab ein empörtes Prusten von sich. »Raisa, sie bekommen die ganze Packung.«
Ich grinste von einem Ohr zum anderen.
»Und ich habe da noch ein Rätsel für Sie. Ah. Hier ist es.« Sie verengte die Augen ein wenig, um etwas auf dem Display zu erkennen, setzte dann jedoch die Brille auf, die sie sich in die Haare geschoben hatte. »›Bringt schnaubend mit Volldampf die Fracht ans Ziel.‹«
Ich stellte den Becher für meinen Chef auf dem Schreibtisch ab und ging den Kreuzworträtselhinweis im Kopf durch, während ich meinen Mocha Latte austrank. Ella zwang uns nicht nur alle, bei ihren geliebten komplexen Rätseln zu helfen, sie hatte das Ganze sogar zu einer Art Arbeitsspiel gemacht. Jeden Monat wurde jemand aus der Belegschaft zu ihrem »Helfer-Hirn« gekürt, bekam Kekse und die Ehre eines Fotos an der Pinnwand im Pausenraum. Der Wettstreit tobte erstaunlich erbittert, und ein paar Leute waren sogar so weit gegangen, Ella mit Chai Latte zu bestechen, damit sie sie mehr Rätsel lösen ließ als die anderen Angestellten.
Möglicherweise hatte ich das auch schon mal gemacht.
Aber so gerne ich den ersten Platz erringen wollte, dieses Mal schüttelte ich den Kopf. »Tut mir leid. Da fällt mir nichts ein.«
Nachdem ich meinen leeren Becher in die Recyclingtonne geworfen hatte, schnappte ich mir den anderen und legte dann den Daumen auf das kleine Biometriegerät, das an der Wand neben dem Empfangstresen hing.
Ella drohte mir scherzhaft mit der Faust. »Na schön. Überlassen Sie mich ruhig meinem Schicksal.«
»Ich komme wieder, um mir die Oreos abzuholen.« Ich warf ihr noch ein Luftküsschen zu, während die kleine Lampe am Scanner grün aufleuchtete und sich das Schloss der massiven Stahltür mit einem leisen Klicken entriegelte. Sie trennte den öffentlich zugänglichen Bereich des »T« vom längeren Segment, in dem die Forschenden arbeiteten.
Die leise Jazzmusik wurde vom Summen der Klimaanlage abgelöst, und die stylishe Einrichtung wich nackten Betonwänden und Rohren, die unverkleidet an der Decke verliefen. Wenigstens waren die alten Neonröhren inzwischen gegen LEDs ausgetauscht worden.
Ich ging an den Aufzügen zur oberen Etage vorbei, in der die wissenschaftlichen Einrichtungen und der kleine Vortragssaal lagen, und nahm die Treppe nach unten. Mit jedem Meter, den ich tiefer ins Gebäude gelangte, krampfte sich mein Magen mehr zusammen, und meine Schritte hallten unheilvoll von den Wänden wider. Ich schluckte, um den sauren Geschmack im Mund loszuwerden, und holte tief Luft.
Wird schon klappen. Ich schloss die letzte Sicherheitstür zu meinem Labor auf.
In meinem Reich gab es weder Bunsenbrenner noch Reagenzgläser. Auf den riesigen Monitoren auf meinem Schreibtisch stand eine ganze Parade von Herr-der-Ringe-Figuren, und die beiden Bildschirme wachten wie Götterzwillinge über meine Zettelwirtschaft aus verschiedenfarbigen Post-its. Auf einer Seite des Raums befand sich ein klimatisierter Serverraum von der Größe eines begehbaren Kleiderschranks. Dort wurde die nötige Rechenleistung erzeugt, um der komplexen Programmierung Leben einzuhauchen, die meine Formel für das Zusammenspiel von Webermagie und Chemie an einem virtuellen menschlichen Körper simulierte.
Aktenschränke und Bücherregale, in denen alles von Chemie über Maschinenbau und Computerprogrammierung bis hin zu Magie zu finden war, schufen die gemütliche Atmosphäre einer Privatbibliothek. Poster von großen Denkern wie Descartes, Ada Lovelace und der Zeichentrickmaus Brain waren das i-Tüpfelchen auf der persönlichen Note. Meine Denkhöhle war schon echt großartig.
Vor den Bildschirmen hockte Dr. Richard Woodsman, ein brillanter Genetiker und der Direktor der Einrichtung, und beobachtete meinen neuesten Versuch. Er hatte einen kurzen, grau melierten Afro, und sein Laborkittel war zerknittert. So wie ich ihn kannte, hatte er vermutlich darin geschlafen. Woody war die laboreigene Version des Phantoms der Oper – der hellste Kopf der Welt auf dem schönsten Spielplatz der Welt. Da er ledig und kinderlos war, musste er nicht nach Hause, wenn er nicht wollte (oder Ella ihm verklickerte, dass er dringend mal wieder duschen sollte), also kampierte er oft neben den Maschinen, half dem technischen Personal bei Wartung und Einbau komplexer Einheiten, unterhielt sich mit Praktikanten und trank zu jeder Tages- und Nachtzeit Kaffee, während er ein Projekt durchsprach. Das freundlichste Phantom aller Zeiten und ein durch und durch angenehmer Mann.
Ich hängte meine Jacke an den Haken, an dem schon mein Laborkittel hing. Da ich nicht mit gefährlichen Materialien arbeitete, verzichtete ich meistens auf Schutzkleidung. Anschließend tätschelte ich den Monitor, auf dem sich meine virtuelle Patientin langsam im Kreis drehte. Ihre Haut wies aktuell sowohl dunkel verkohlte als auch weiße Stellen auf, wie es für Verbrennungen vierten Grades typisch war.
»Hi, Pumpkin Spice«, sagte ich. »Wie geht’s dir, Süße?«
»Sie sind schon recht wunderlich«, kommentierte Woody.
»Sie nennen sie Deadpool, das macht Sie mindestens genauso wunderlich.«
Mein Mentor grinste und schnappte sich den Becher aus meiner Hand. Bei der Bewegung fielen mir die vier Kugelschreiber auf, die in der Brusttasche seines Laborkittels klemmten. Ich runzelte die Stirn. So abgelenkt, dass er dermaßen viele Stifte angesammelt hatte, war er meines Wissens erst zweimal gewesen: einmal wegen einer drohenden Budgetkürzung und das andere Mal, als er einen Anruf mit der Info bekommen hatte, dass er eine Ehrung für seine bahnbrechende Forschung zu Stammzellen und Genom-Editierung erhalten sollte.
Da ich nicht wusste, was heute emotional dahintersteckte, und mir die Erfahrung gezeigt hatte, dass er erst damit rausrücken würde, wenn er so weit war, stupste ich ihn nur an der Schulter an. »Hey, Quasimodo. Ordentlich hinsetzen.«
»Für Sie immer noch Dr. Quasimodo.« Woody nahm einen Schluck aus dem Becher und verzog angewidert das Gesicht. »Das ist kein Mocha mit doppelt Espresso und doppelt Sahne.«
»Nein, das ist grüner Tee. Schön, dass Ihre vier Doktortitel so herausragende Beobachtungsfähigkeiten hervorgebracht haben.« Da Woody mein ergonomisches Wunderwerk von Bürostuhl okkupierte, ließ ich mich auf den altersschwachen Besucherstuhl fallen. Die Sitzfläche war schief und eine der Rollen kurz vorm Ableben, weswegen ich persönlich das Ding ja schon vor einer halben Ewigkeit entsorgt hätte – wäre es nicht der ungeschlagene Champion der mitternächtlichen Bürostuhlrennen mit den Kollegen auf dem Gang. »Ich werde nicht noch zu Ihrem hohen Blutdruck beitragen«, meinte ich. »Und jetzt hören Sie auf zu meckern, und bewundern Sie weiter meine Genialität.«
»Sie sind eine Nervensäge.« Er notierte sich etwas auf dem Block, der auf seinem Schoß lag.
»Dr. Nervensäge für Sie«, erwiderte ich honigsüß. War das eine gute Notiz? Eine schlechte Notiz? Zum wiederholten Mal verfluchte ich seine komische Kurzschrift, die ich nicht lesen konnte. Porca miseria, er wollte mich doch nicht schon wieder meine komplette Forschung noch mal überarbeiten lassen, oder? Natürlich würde ich dem folgen – mein Ehrgeiz, die besten Ergebnisse zu erzielen, war genauso groß wie seiner –, aber die Vorstellung weckte in mir auch den Wunsch, mir die Taschen mit Steinen zu füllen und mich in den Fluss zu stürzen. Irgendwann würde man mich dann unter einer Trauerweide finden, die Hände auf der Brust gefaltet und das Gesicht wundervoll blass und natürlich nicht eklig aufgedunsen. Ja, ich hatte alles genau geplant, richtig erkannt.
Wenn man Magie in wissenschaftliche Forschung implementieren wollte, musste man sich an strenge Gesetze halten. Klinische Studien an Menschen waren verboten, bis die digitalen Resultate fehlerfrei wiederholt werden konnten. War das der Fall, wurden sie von einer darauf spezialisierten Regierungsbehörde auf Herz und Nieren geprüft. Weltige Wissenschaftler mussten sich nicht mit diesem zusätzlichen Zeitfresser herumschlagen.
Jeder Tag, den ich damit verbrachte, virtuelle Versuche durchzuführen, verzögerte die praktische Anwendung der Ergebnisse – und Leute starben an schweren Verbrennungen. Ob Weltige oder Nefesh (die ja immerhin eigene Magie besaßen), alles Geld der Welt konnte einem keine Behandlung erkaufen, die es noch nicht gab. Nicht mal Level-fünf-Heiler konnten so gravierende Schäden reparieren.
Aber meine Formel schon.
Urplötzlich tauchte das Bild von blauen Augen in meinem Kopf auf, die mich zwischen durchgebluteten Verbänden angsterfüllt anschauten, und ich blinzelte rasch ein paarmal, um es wieder zu vertreiben. Dieser Testlauf musste einfach funktionieren und mich so einer klinischen Studie einen Schritt näher bringen. Alles andere war inakzeptabel.
Auf dem Bildschirm ging das Experiment problemlos voran, Pumpkin Spice’ freiliegendes Knochen- und Muskelgewebe heilte. Wob man Rotlicht auf zellulärer Ebene in einen menschlichen Körper, verkürzte das zwar die Regenerationszeit, aber das allein brachte mich noch nicht an mein Endziel: alle inneren und äußeren Verletzungen, die durch Verbrennungen hervorgerufen wurden, innerhalb von Sekunden oder Minuten heilen zu können.
Nach vielen gescheiterten Versuchen hatte sich schließlich ein modifiziertes Hsp60-Protein als bester Partner für meine Magie erwiesen. Proteine waren unglaublich: große, komplexe Moleküle, die in Zellen Schwerstarbeit leisteten. Ohne sie hätten unsere Gewebe und Organe weder Stabilität noch Funktion oder die Fähigkeit zur Regulierung.
Ich strickte die Mischung aus Magie und dem Hitzeschockprotein in die Struktur der betroffenen Zellen, um die Wundheilung im ganzen Körper zu beschleunigen – zumindest im virtuellen Modell.
Vorsichtig warf ich Woody einen Seitenblick zu, denn sein anhaltendes Schweigen machte mich langsam nervös. War er so fasziniert, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte? Listete er in Gedanken gerade all meine Fehler auf? Oder noch schlimmer – langweilte er sich? Ich spielte an meinen zahlreichen Ohrpiercings herum, glitzernden Steckern und Goldringen, und drehte die kleine diamantbesetzte Helix, die meine Schwester und ich uns an unserem dreizehnten Geburtstag hatten stechen lassen. Das war den anschließenden Hausarrest wert gewesen. Meine Selbstberuhigungsmethoden waren vielleicht seltsam, aber sie wirkten und lösten ein wenig die Anspannung in mir.
Ich hatte meiner Kombination aus Magie und Wissenschaft den Spitznamen »Roter Teppich« verpasst, weil ich mir immer vorstellte, dass sie sich auf ähnliche Art im Körper entfaltete, und außerdem behandelte man jemanden, dem man den roten Teppich ausrollte, besonders gut. Ich hoffte, dass meine Formel genau das tun würde.
Woody tippte gegen einen der Monitore. »Glauben Sie, dass das Hsp60 die Lösung ist?«
Ich krümmte die Daumen unter meine anderen Finger, damit ich meine ohnehin schon mitgenommene Nagelhaut nicht noch weiter malträtierte. Nach den Jahren als Doktorandin, in denen mir mein Principal Investigator – die Leiterin des Labors – auf die Finger geschaut hatte, wusste ich es sehr zu schätzen, dass Woody mir beibrachte, selbst Verantwortung für meine Forschung zu übernehmen. Andererseits wäre es auch total okay für mich, wenn er mir einfach ein Fleißbienchen verpasste und mich in die nächste Phase übergehen ließ.
»Das Hsp60 verbindet sich gut mit der Magie.« Ich überprüfte die Vitalwerte der Probandin. »Alles sieht stabil aus, und die Infektion ist zurückgegangen.«
»Und?« Der Kerl hätte einen exzellenten Therapeuten abgegeben. Jemanden, der einen dazu brachte, seine Probleme selbst zu lösen, um nach Ablauf der Stunde hundertfünfzig Mäuse dafür zu berechnen.
Ich sprach aus Erfahrung.
»Und es gibt kein besseres Protein als ein Hitzeschockprotein«, rappte ich.
Mein Mentor zog eine Augenbraue nach oben. »Dr. Montefiore, wenn Sie schon reimen müssen, machen Sie doch wenigstens eine ganze Strophe draus.«
Ich holte einen Cutter aus meiner Schreibtischschublade und schnitt die Plastikriemen durch, die ein Bündel neuer Kabel zusammenhielten, um sie gegen ein paar ausgediente im Server auszutauschen. »Die Sache ist noch nicht in trockenen Tüchern, aber ich habe den Weg zum Erfolg geebnet. Schauen Sie hier.«
Wie aufs Stichwort schrillte ein Alarm aus den Lautsprechern des Monitors, und auf dem Bildschirm breiteten sich Krebstumore im ganzen Körper der virtuellen Patientin aus. Mein Puls schoss in die Höhe, doch ich ermahnte mich, dass ich dafür eine Lösung hatte.
Meine Roter-Teppich-Formel ließ Gene mutieren, was die zelluläre Morphologie – Sachen wie Aufbau und Größe – beeinflusste. Das war toll, wenn die Mutation dem von mir angestrebten Ergebnis diente, wenn also Zellen dadurch gesund und widerstandsfähiger als zuvor wurden. Nicht so gut war es dagegen, wenn die Mutation den Bach runterging. Oder wissenschaftlicher ausgedrückt: wenn das Ganze zu einer übermäßigen Zellteilung führte. Für Laien verständlich? Turbo-Krebs.
Innerhalb weniger Sekunden schwollen überall auf Pumpkin Spice’ Körper Tumore an. Das war jedoch nicht das Ende der Fahnenstange für unsere Probandin. Ich, Dr. Montefiore, würde nie jemanden einfach so aufgeben, nicht mal, wenn die Person nur virtuell war.
Ich starrte angespannt auf den Bildschirm und wartete. Komm schon, mein Schatzzz.
Der Großteil meiner aktuellen Forschung widmete sich der Kontrolle genau dieses Moments, der Suche nach einem Abschaltmechanismus, einem tumorhemmenden Protein, das ich mit meinem Serum verabreichen konnte, um den Krebs zu vernichten. Das Hsp60 konnte ich dazu nicht nutzen, weil es anders arbeitete, aber mein neuester Versuch war unglaublich vielversprechend gelaufen. Ich hatte das Ganze aus jedem Blickwinkel genauestens unter die Lupe genommen, bevor mein Assistent Julian die Eigenschaften in die Software-Umsetzung meiner Formel programmiert hatte.
Das tumorhemmende Protein sollte inzwischen eigentlich seinen Dienst tun. Ich umklammerte den Cutter fester und war versucht, ihn wie einen Wurfstern in den Computer zu pfeffern, um den verdammten Alarm loszuwerden. Ja, der Krebs war immer noch da. Das kapierte ich auch ohne den akustischen Hinweis.
Woody sagte nichts weiter dazu, und ich starrte weiterhin wie gebannt auf den Bildschirm. Das Herz rutschte mir in die Hose und immer tiefer, bis es schließlich zuckend irgendwo neben meinen Füßen liegen blieb.
Das war das Problem mit meinem Roten Teppich: Ich musste den Krebs schnell zurückdrängen, damit der Körper seine wertvolle Energie darauf verwendete, innere Verbrennungen zu heilen, verletzte Haut zusammenzuflicken und sich von dem Trauma zu erholen. Auf dem Bildschirm tauchten Tumore auf und schrumpften wieder, aber nicht schnell genug. Meine virtuelle Patientin wurde schwächer und schwächer, während die Zahl der lebenden Zellen stetig abnahm, bis Pumpkin Spice nur noch durch einen dunklen Umriss dargestellt wurde und sich nichts mehr rührte.
Tot.
Ich legte den Kopf auf die Tischplatte. Meine linke Hand krallte sich in die Kabel, mit der rechten drückte ich unwillkürlich die Klinge des Cutters in die Schreibtischplatte. Es tut mir so, so leid, Robyn.
Neben mir brummte Woody leise.
Ich ließ mich auf meinem halb kaputten Stuhl nach hinten sinken. »Ja, Sie hatten recht, okay? Dieses Protein war eine Fehlentscheidung und ...«
»Das war kein ›Ich hab’s Ihnen doch gesagt‹«, unterbrach er mich.
»Dann könnten Sie ja vielleicht Ihre Gesichtsmuskeln zum Einsatz bringen, um die Intention deutlich zu machen.« Ich führte es mit übertriebener Mimik vor. »Oder noch besser: Benutzen Sie doch einfach richtige Wörter. Moment mal ... War das ein Mitleidsbrummen? Das will ich nämlich auch nicht.«
Er tippte einen Befehl in die Tastatur, woraufhin ein Fenster mit den Testergebnissen aufpoppte und der Alarm abbrach. »Der Abschaltmechanismus hat deutlich besser funktioniert, als ich erwartet hatte.«
Ich blinzelte ein paarmal verdutzt. Mehr als einmal hatte ich meine Überzeugung in Bezug auf das tumorhemmende Protein in harten Diskussionen ihm gegenüber verteidigen müssen, und der schwarze Bildschirm war der Beweis dafür, wie sehr ich danebengelegen hatte. Aber wenn Woody nicht glauben würde, dass es damit machbar war, hätte er das niemals so gesagt. »Womit begründen Sie diese Schlussfolgerung?«, fragte ich zurückhaltend.
Er tippte sich mit seinem Kugelschreiber gegen die Unterlippe, und sein goldener Siegelring mit dem Rubin glänzte im Licht. »Sie haben trotz der Tumore eine Regeneration von insgesamt dreiundachtzig Prozent erzielt. Ich habe die Simulation zweimal durchlaufen lassen und jedes Mal identische Werte bekommen.«
Ich rollte mit meinem Stuhl zu dem kleinen Kühlschrank, der in einer Ecke unter einem riesigen Whiteboard stand. »Bringen mir dreiundachtzig Prozent Ihre Genehmigung ein, Kontakt mit Dr. Nakahara aufzunehmen?«
»ABC, Kid.«
Sein Lieblingsmotto »Abschluss bedeutet Cash« entlockte mir ein amüsiertes Schnauben. Genehmigungen gab es nur für vollständige Ergebnisse. Vorsichtig schob ich den Sixpack Cola beiseite, den ich zur nächtlichen Koffein-Notversorgung hier lagerte, und holte das mit einem Stopfen verschlossene Reagenzglas aus dem obersten Fach.
Von Roter Teppich gab es viele, viele digitale Versionen, doch dieses Reagenzglas enthielt die einzige physische Manifestation meiner Infrarot-Webermagie und des Hsp60-Proteins in einer nicht toxischen, injizierbaren Lösung.
»Ich bin so nah dran, Woody. Stellen Sie es sich nur mal vor. Keine Infektionen, keine Belastung der Atemwege und keine schmerzhaften Hauttransplantationen mehr.« Ich drückte mir das Röhrchen mit dem Serum an die Brust. »Einfach das Schätzchen hier verabreichen, und bäm! Dazu brauche ich nur Dr. Nakaharas Hilfe.« Zusammen könnten wir den Tumorhemmer in meine Arbeit einbauen und damit das Problem des Krebszellenwachstums eindämmen.
»Uns liegen zwar ausreichend wissenschaftliche Belege für tumorhemmende Proteine vor ...« Woody wühlte in den Taschen seines Laborkittels und warf zusammengeknüllte Aluminiumfolie von der Größe eines Squash-Balls auf den Schreibtisch. Aus diesem Kittel förderte er immer wieder höchst bemerkenswerte Dinge zutage. Ich hatte schon alles gesehen, von Behältern mit Formaldehyd über Petrischalen bis hin zu einem Turnschuh mit kaputter Sohle, den er endlich mal reparieren lassen wollte, also überraschte mich nichts mehr, was aus diesen Taschen kam.
Halb fasziniert, halb ungeduldig und sehr angespannt wartete ich darauf, dass er weitersprach, und stellte das Reagenzglas währenddessen zurück in den Kühlschrank.
Er legte eine Gabel, zwei Pipetten und eine Trockenbatterie auf die Tischplatte, bevor er schließlich einen mitgenommen aussehenden Streifen Kaugummi aus der Tasche fischte. Er wickelte ihn aus, steckte das Papier wieder ein und schob sich das nach Pfefferminz riechende Stückchen in den Mund.
»Aber ich bin nicht ganz davon überzeugt, dass dieses spezielle Protein sich so leicht in Ihren Regenerations-Cocktail integrieren lässt, obwohl ich die Wahrscheinlichkeiten dazu geprüft habe. Sie haben viele der Variablen bei der Programmierung des Abschaltmechanismus einberechnet, doch bis Dr. Nakahara ihre Meinung dazu abgibt, kann ich es nicht als empirisch bewiesen anerkennen, dass das die Lösung des Problems ist. Wenn Sie es noch mal anders angehen wollen, tun Sie das. Aber führen Sie sich gerne vor Augen, wie weit Sie schon gekommen sind, Dr. Montefiore. Und denken Sie immer daran, dass Sie niemanden enttäuschen. Okay?«
Ich nickte erleichtert und zwang mich, die nach unten gesackten Schultern zu straffen. »Okay.«
Sein Handy vibrierte. Er warf einen Blick aufs Display und schob es zurück in die Tasche. Danach erhob er sich und ließ die Schultern ein paarmal kreisen. »Ich mache dann mal meinen Spaziergang.«
Woodys tägliche Spaziergänge waren das Ergebnis etlicher Ermahnungen seines Hausarztes. Der hatte zunehmend frustriert seine Sorge zum Ausdruck gebracht, dass Woody sich entweder in einen Wurm oder in einen Pilz verwandeln würde, nachdem er so lang im Dunkeln vor sich hin gemodert hatte, ohne vor die Tür zu gehen. Ella hatte am Empfangstresen sogar eine Tafel aufgestellt, auf die er jedes Mal einen kleinen Sticker in Gestalt tanzenden Gemüses kleben durfte, wenn er sich an der frischen Luft bewegt hatte. Bekamen die Labormitarbeitenden oder Forschenden mit, dass keine neuen Gemüsesticker auf der Tafel auftauchten, zogen wir ihn nach Strich und Faden damit auf. Ein schönes System.
»Viel Spaß, alter Mann. Holen Sie sich Ihren Sticker, und genießen Sie die Erfolgsendorphine.«
Er warf mir einen Blick aus verengten Augen zu. »Ich bin dreiundsechzig, nicht Methusalem.«
»Vom Alter her könnten Sie mein Vater sein. Und jetzt raus in die Welt, und nutzen Sie hübsch Ihre Seniorenrabatte.«
Er drohte mir mit dem Kugelschreiber, als wäre es ein Messer. »Eines Tages werde ich Ihre Organe in Scheiben schneiden und ...«
»Und sie in der Schlucht hinterm Haus den Tieren zum Fraß vorwerfen. Jaja. Haben Sie mal drüber nachgedacht, Ihre gewalttätige Ader mit Meditation zu kurieren?«
»Hat bei Ihnen ja auch super geklappt.«
»Ich bin zur Hälfte Italienerin, was ist Ihre Ausrede? Außerdem ...« Ich atmete demonstrativ durch. »... bin ich eine Oase der Ruhe und des Mitgefühls.« Ich machte eine scheuchende Handbewegung. »Also kümmern Sie sich ein bisschen um sich selbst, und bekommen Sie ja keinen Schlaganfall. Das würde mir den Tag versauen.«
Er lachte, und seine weißen Zähne bildeten einen starken Kontrast zu seiner dunklen Haut. Dann wandte er sich zum Gehen, drehte sich aber noch mal um. »Tun Sie diesem alten Mann doch bitte einen Gefallen.« Er holte eine noch verpackte Spritze aus einer seiner Taschen und warf sie mir zu. Eine Ecke der Plastikverpackung war nicht richtig verschweißt. »Sagen Sie Ella bitte Bescheid, dass die Thermoformung bei dieser Bestellung fehlerhaft war.«
»Klar doch.« Ich stopfte die Spritze in die hintere Tasche meines Rocks. Lieber die komplette Lieferung reklamieren, als Kontamination durch mangelhafte Verpackung zu riskieren.
Woody klopfte mir auf die Schulter und verließ das Labor.
Jetzt, wo er meinem Roter-Teppich-Serum sein Okay gegeben hatte, konnte ich einen Besprechungstermin mit Dr. Nakahara vereinbaren. Ihre jahrelange Krebsforschung war das letzte Puzzleteil, das mir noch fehlte.
Das Leben so vieler Menschen würde sich zum Besseren verändern.
Ich konnte mein Versprechen halten.
Mit einem Ruck zog ich den Cutter aus der Schreibtischplatte und machte mir nicht mal die Mühe, die Beschädigung mit der Tastatur zu verstecken. Das hatte ich schon etwa sechs ähnliche Löcher vorher aufgegeben.
Die Feuerschutztür am Ende des Gangs wurde geöffnet und fiel mit einem lauten Klacken wieder zu. Das Phantom hatte das Gebäude verlassen.
Ich griff nach meinem Handy. Nach etlichen Anrufen, bei denen ich von einem Empfang zum nächsten weitergeleitet wurde, erwischte ich Dr. Nakahara schließlich im Universitätskrankenhaus und überredete sie, sich mit mir zu treffen. Ich hatte gerade wieder aufgelegt und wollte meinem Assistenten Julian eine Nachricht schreiben, dass die Drinks am Montagabend nach der Arbeit auf mich gingen, als Ella in den Raum platzte.
Ihre Wangen waren gerötet, und sie hatte sich irgendwo an ihrer hautfarbenen Strumpfhose eine Laufmasche geholt, die sich jetzt als Leitermuster über ihr Bein zog. »Wo ist Woody?«
»Befolgt draußen ärztliche Anweisungen. Warum?«
»Die Polizei ist da. Mit einem Durchsuchungsbefehl.« Sie gestikulierte wild vor ihrem Gesicht herum und hätte mir mit ihrem Handy beinahe ein Auge ausgeboxt.
»Wie lautet denn der Vorwurf?«, stammelte ich perplex.
»Geldwäsche«, flüsterte Ella.
Ich lachte oder versuchte es zumindest. Heraus kam nur ein seltsam erstickter Laut. »Das ist doch lächerlich. Haben die sich mal informiert, was wir hier machen?«
Perrault Biotech gab es seit fast dreißig Jahren. Wir waren ein echtes, angemeldetes Unternehmen, das dringend benötigte Forschung zu komplexen Traumata betrieb. Wir waren quasi die Speerspitze der modernen Medizinforschung. Und diese Leute dachten – was? Dass wir genug Zeit hätten, um Däumchen zu drehen und zwielichtigen Quatsch mit Geld anzustellen? Niemand – mir fiel wirklich keine einzige Person ein – rackerte sich hier ab, um reich zu werden.
Wir rackerten uns aus wesentlich besseren Gründen ab.
»Versuchen Sie es weiter bei Woody.« Ich stürmte an Ella vorbei und rannte schon fast die Treppe hinauf und durch die Sicherheitsstahltür in unseren Empfangsbereich.
Dort herrschte das blanke Chaos. Ellas leise »stimmungsaufhellende« Musik ging im Stimmengewirr der Polizisten unter, und unzählige uniformierte Officer strömten mit Kartons voller Akten und Computern aus dem Gebäude. Einige zogen Stränge aus Kabelsalat hinter sich her.
Auf gar keinen Fall. Woody würde vermutlich ewig brauchen, um dieses nervige Missverständnis aufzuklären, was den Fortschritt unserer Arbeit massiv behindern würde. Ich war lange genug Akademikerin, um mich mit fehlenden Genehmigungen und dem Schneckentempo der Bürokratie auszukennen. Ich musste diese Leute aufhalten, bevor noch mehr Schaden entstand, und so meinem Chef Zeit verschaffen, bis er wieder da war.
Also eilte ich durch die Milchglastür, die den Empfangsbereich vom Großraumbüro trennte, und sprach eine Polizistin an, die gerade dabei war, die Festplatte aus Ellas Computer auszubauen.
»Wer hat hier das Sagen?«, wollte ich wissen.
»Ich.« Ein schlanker, durchtrainierter Mann drehte sich zu mir um. Er trug einen maßgeschneiderten Anzug, Brille, und seine dunkelblonden Haare waren zu einem perfekten Fade-Schnitt frisiert. Nichts schien seinem scharfen Blick zu entgehen, als er mich aufmerksam musterte. »Inspector Gideon Stern. Was gibt es denn für ein Problem?«
Wollte der mich verarschen? Ich schaute mich um. Der Fußboden war mit Papieren übersät, in den Regalen klafften große Lücken, wo vorher elektronische Geräte gestanden hatten, und ein paar Mitarbeitende, die trotz der fortgeschrittenen Stunde noch hier waren, saßen verschüchtert auf einer Bank. Was an dieser Situation war denn bitte kein Problem?
Jemand hatte sogar Ellas Helfer-Hirn-Pinnwand aus dem Pausenraum konfisziert und auf ein paar Festplatten gelegt. Bestimmt würde das Foto von Dr. Ferguson beim Gähnen den Cops einen echten kriminalistischen Durchbruch bei ihren Ermittlungen liefern.
Kochend vor Wut und kurz vor einer massiven Explosion, schaute ich Inspector Stern wieder in die Augen. »Was Sie hier machen, beeinträchtigt aktiv die Arbeitsfähigkeit dieses Labors.«
Er verengte die Augen hinter seiner Hornbrille, kniff die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Um uns herum zerlegten Officer weiter die Büros, während Stern sich wie ein Kugelfisch vor mir aufplusterte. Sein Jackett verrutschte etwas und enthüllte so die Polizeimarke an seinem Gürtel.
Ich richtete mich zu meiner vollen Größe von eins vierundsechzig auf, was leider nichts daran änderte, dass er mich locker um einen halben Kopf überragte – aber wenn er dachte, dass ich deswegen vor ihm kuschen würde, hatte er sich gewaltig geschnitten. Ich hatte nichts für Cops übrig, die ihre Macht ausnutzten, um andere Leute einzuschüchtern.
»Also?«
»Alle Unterlagen dieser Einrichtung sind nun Teil unserer Ermittlungen. Unglücklicherweise muss ich Ihre Arbeit also wohl weiterhin beeinträchtigen.« Damit ließ er mich stehen und marschierte auf die Tür zum Empfang zu.
So ein Arsch. Ich eilte ihm nach, und meine Doc Martens hallten laut auf dem Fliesenboden wider. »Ich arbeite im Labor, aber schön zu sehen, wie schnell man von Ihnen in eine Schublade gesteckt wird.«
Er warf mir einen Seitenblick zu und nahm die Brille ab, um sie zu putzen. »Ich bitte um Entschuldigung, Ms ...«
Er machte mir gerade das schönste Geschenk des ganzen beknackten Abends. »Doktor«, korrigierte ich ihn und bedachte ihn mit einem hübschen Augenaufschlag. »Donatella.«
Die meisten Kerle sprangen sofort auf die Visionen von heißblütigen Italienerinnen an, die ich heraufbeschwor, wenn ich diesen Namen schnurrte. Das erleichterte es mir, ihnen den Todesstoß zu versetzen. Inspector Stern jedoch nicht. Leider machte er seinem Namen – stern wie streng – alle Ehre und rettete damit seine metaphorische Halsschlagader. Stattdessen spannten sich seine Kiefermuskeln an, und er setzte die Brille wieder auf. »Dr. Donatella, und weiter?«
Ich blinzelte. Tja, jetzt gab es kein Zurück mehr. Wer A sagte, musste auch B sagen. »Mutant-Ninjaturtle. Ist ein Doppelname.«
Er schaute mich noch einen Moment lang an, ging dann aber vor einem mit Glas gesicherten Bücherregal in die Hocke. Die Scheibe stand offen, und er beschäftigte sich mit der Beschriftung der dicken Aktenordner, in denen archivierte Projekte aufbewahrt wurden. Als wäre ich weniger interessant als Papier.
Ich ballte die Hände zu Fäusten, um seine Aufmerksamkeit nicht mit einem Fingerschnippen wieder auf mich zu lenken. Wir waren hier erst fertig, wenn ich rausbekam, ob sein Team in die Labore weiterziehen würde, sobald sie die Büros leer geräumt hatten – wie eine Horde Grinchs. Als ich gerade den Mund aufmachte, um eine entsprechende Frage zu stellen, kam mir der Inspector zuvor.
»Als Spontan-Einfall gebe ich Ihrer schlagfertigen Mutant-Ninjaturtle-Erwiderung eine glatte Sieben«, meinte er.
»Spontan?« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dann hat Mendelejew das Periodensystem wohl auch mal eben am Frühstückstisch aufgestellt? Ich bitte Sie. Dr. Mutant-Ninjaturtle ist eine wohldurchdachte Kunstfigur.«
Der Inspector zog sechs Ordner aus dem Regal. »Ich stehe zu meinem Urteil.«
Ich blieb ihm dicht auf den Fersen. Dieser Kerl war ja total verbohrt, und ich würde ihn auf keinen Fall aus den Augen lassen, bevor ich nicht meine Antworten hatte. »War Ihre Durchsuchung unserer Einrichtung denn ein spontaner Einfall? Dann gebe ich ihm eine glatte Minus-eine-Milliarde.«
»Hören Sie, Dr. Mutant-Ninjaturtle«, erwiderte Stern und sortierte die Ordner auf seinem Arm etwas um, damit keiner herunterfiel.
Ich biss mir auf die Innenseite einer Wange.
»Bei allem Respekt – ich muss Ihnen gar nichts mitteilen«, fuhr er fort. »Aber nachdem Sie offensichtlich aufgebracht genug sind, um mir nachzulaufen, bestätige ich hiermit, dass wir auch die Labore durchsuchen werden. Wir durchsuchen alles. Ich bin autorisiert, jedes Datenfitzelchen in diesem Gebäude mitzunehmen. Wenn Sie sich also weiter aufregen wollen, gehen Sie gerne nach hinten und setzen sich zum Rest der Belegschaft auf die Bank. Dann können Sie sich alle zusammen aufregen.«
Die Tür zur Rezeption traf mich an der Schulter, aber das nahm ich nur am Rand wahr. »Wie ... wie können Sie es wagen?«, stammelte ich. »Was beherrsche ich denn außer meinen Gefühlen sonst noch nicht, Ihrer Meinung nach? Mathe? Das Aufschrauben von Gläsern?«
Ich redete weiter, aber mir sackte der Magen in die Kniekehlen, und in Gedanken war ich bei meiner Forschung im Labor. Die würde er sich auch holen. Ich musste hier weg und alles retten und ...
»Lassen Sie mich raten«, sagte Stern viel zu liebenswürdig. »Sie zerdenken gerne alles.«
Aus den Lautsprechern dudelte eine instrumentale Coverversion von »All Out of Love« von Air Supply. Eine Luftzufuhr wie im Bandnamen wäre schön gewesen, denn die Arroganz dieses Kerls verbrauchte all den Sauerstoff im Raum.Zählte es, wenn ich nicht „ganz ohne Liebe“ dastand, sondern „ganz außer Puste“?
»Wunderbar, wie Sie voreilige Schlüsse über eine Ihnen absolut fremde Person ziehen«, gab ich zurück. »Abgesehen davon denke ich Dinge gerne bis zum Ende durch. Und als Polizist mit dieser Krawatte sollten Sie das auch mal ausprobieren.«
Er schaute hinunter auf das Kleidungsstück, als hätte er dessen Existenz vollkommen vergessen. »Was stimmt damit nicht?«
Ich schnappte mir die Ordner, die er auf dem Arm hatte, klatschte sie auf den Schreibtisch am Empfang und stützte mich mit meinem vollen Körpergewicht darauf. »Ist das Ihr Ernst? Dann hätte ich eine Rätselfrage für Sie: Was könnte an pinken Donuts auf der Krawatte eines Cops nicht stimmen?«
»Das sind Kreise.« Er versuchte, die Ordner unter meiner Hand hervorzufischen, aber ich setzte mich darauf.
Und die Krawatte ... Ich blickte ihn nur bedeutungsvoll an.
»Ach, verdammt«, murmelte er und verzog das Gesicht. »Ich dachte, das wären Kreise.« Er umrundete den Tresen und ging auf die Stahltür zu.
Ich rannte ihm nach, um ihm den Weg zu verstellen.
»Kann zeitnah jemand kommen und uns hier aufmachen?«, rief er.
»Bin dran«, antwortete eine Polizistin, holte ihr Handy aus der Tasche und verließ damit das Gebäude.
»Viel Glück dabei.« Ich grinste. »Die Tür ist massiv und biometrisch gesichert. Zugang zu den Laboren erhalten Sie nur mit meinem Fingerabdruck auf diesem Scanner. Und dazu müssten Sie mich schon k. o. schlagen.«
Er hatte doch echt die Nerven, mich kalkulierend zu mustern.
»Pfeifen Sie Ihre Handlanger zurück, bis unser Direktor Dr. Woodsman wieder hier ist, um Ihren Durchsuchungsbeschluss zu prüfen.« Woody würde eine Lösung finden. Das tat er immer.
Stern machte einen Schritt zur Seite. »Öffnen Sie die Tür.«
Ich bewegte mich mit ausgebreiteten Armen in dieselbe Richtung und ignorierte seinen Befehl.
»Da ich derjenige mit der Marke bin und Sie die ausgeflippte Wissenschaftlerin, die für ein mutmaßlich kriminelles Unternehmen arbeitet, würde ich an Ihrer Stelle darüber nachdenken, meine Anweisungen doch zu befolgen.« Er versuchte noch einen Moment lang, an mir vorbeizukommen, aber ich ließ ihn nicht. Schließlich atmete er geräuschvoll aus und trat einen Schritt von mir weg.
»Bringen Sie uns in die Labore.«
»Nein.«
Er ließ ein Paar Handschellen vor meiner Nase baumeln. »Ich kann Sie dazu zwingen.«
»Sie dürfen unsere Forschung nicht mitnehmen«, sagte ich. »Die ist Eigentum der Einrichtung.«
»Und doch habe ich ein Schriftstück, das mir genau das erlaubt.«
»Ein Blatt Papier hatte Doctor Who auch, und vor dem haben auch nicht alle gekuscht.«
Der Inspector stopfte die Handschellen zurück in seine Hosentasche. »Was haben Sie nur mit diesen Anspielungen auf Popkultur? Kommen Sie damit immer an, wenn Sie wütend sind?«
Ein drahtiger Cop in Woodys Alter informierte Stern darüber, dass das Netzwerk zerlegt worden war und sie mit dem Abbau der Server beginnen konnten. Im ersten Moment war ich etwas irritiert, dass ein älterer Mann sich einem jüngeren gegenüber so offensichtlich wie ein Untergebener verhielt. Der Inspector war sicher erst Anfang dreißig, nur ein paar Jahre älter als ich. Doch dann drang der Inhalt ihrer Worte zu mir durch.
Die Server abbauen.
Perrault Biotech hatte mehrere verschiedene Netzwerke, wie jedes mittelgroße Unternehmen. Die beiden sprachen vermutlich über die administrativen Server, auf denen die Finanzdaten und Dinge wie unsere E-Mails gespeichert wurden. Aber wenn Stern eine Genehmigung dafür hatte, konnte er problemlos auch jeden anderen Server im Gebäude einsacken.
Auch den mit meiner virtuellen Patientin und meinen jahrelang hart erarbeiteten, komplexen Forschungsergebnissen drauf.
Ich biss die Zähne zusammen. Das kannst du schön vergessen, du Arsch.
Der Inspector machte einen freundschaftlichen Scherz über die Körperkraft des Officers, der ihn seinerseits mit einer Bemerkung aufzog und dann wieder ging. Sterns Lächeln verschwand sofort, als er sich mir erneut zuwandte. »Öffnen Sie die Tür.«
Menschen strahlten ein winziges bisschen Infrarotlicht ab, das ich wahrnahm. Mithilfe meiner Magie sammelte ich Sterns und wob es zurück in seine Zellen. Die zusätzliche Wärme reichte aus, um seine Wangen zu röten und eine Schweißperle über seine Schläfe rinnen zu lassen.
»Hören Sie auf, bis der Direktor wieder da ist«, erwiderte ich. »Was ist das denn für eine Nacht-und-Nebel-Aktion, dass Sie hier einfach reinplatzen und sich kein Stück an die Regeln halten?«
»Angesichts der Vorwürfe gegen dieses Unternehmen sollten Sie sich beim Thema ›An die Regeln halten‹ lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.« Stern schob einen Finger unter seinen Kragen, um seinem Hals ein wenig Luft zu verschaffen. »Ich erledige meine Arbeit effizient, und bevor jemand sich an den Daten zu schaffen machen oder etwas löschen kann. Und genau so gehen wir hier auch vor, Dr. Mutant-Ninjaturtle.«
»Das ...« Ich stampfte mit dem Fuß auf. »Muss das sein, das ist doch Schnee von gestern.«
»Da Sie Dinge ja so gern zerdenken, sollten Sie mir dankbar sein, dass ich Sie daran erinnere. So haben Ihre Neuronen etwas zu tun.« Er tupfte sich die Stirn mit dem Ärmel ab. »Aufmachen. Sofort.«
»Wenn Sie mich zwingen wollen, irgendwelche Türen für Sie zu öffnen ...« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um auf Augenhöhe mit ihm zu kommen. »... lernen Sie die Bedeutung des Ausdrucks ›spontane Selbstentzündung‹ kennen.«
Ein blass orangefarbenes Leuchten tanzte über meine Fingerknöchel. Da mir nur wenig Licht zur Verfügung stand, konnte ich ihn nicht in Flammen aufgehen lassen – leider –, aber es reichte für einen richtig guten Bluff.
»Ich könnte Sie wegen Angriffs auf einen Polizisten festnehmen«, gab er grollend zurück.
Da hatte er wohl recht. Ooh, und wenn er das machte, hatte er niemanden mehr, der die Stahltür für ihn entriegelte. Die Forschenden, die dahinter in ihren Laboren arbeiteten, hatten offenbar noch nichts von dem Chaos hier mitgekriegt (okay, ein paar von denen würden es nicht mal merken, wenn die vier Reiter der Apokalypse an ihnen vorbeigaloppierten). Ella war unten, und von den verbleibenden Angestellten hatte niemand eine entsprechende Freigabe.
Um eine Anklage wegen Behinderung der Ermittlungen machte ich mir kaum Sorgen, also ließ ich es drauf ankommen und hielt ihm meine Handgelenke hin. »Sie wollen mich anzeigen, weil ich Sie zum Schwitzen gebracht habe, Inspector?«, fragte ich unschuldig und schenkte ihm erneut einen Augenaufschlag. »Dabei will ich doch nur, dass der Direktor Ihren Durchsuchungsbefehl prüft und bestätigt. Das alles hier überfordert eine arme Blondine wie mich, wie Sie mit Ihrem brillanten Verstand sicher schon geschlussfolgert haben.«
Seine Finger zuckten ein wenig, als wollte er mich am liebsten erwürgen, aber letztlich brachte er mich weder um die Ecke, noch legte er mir Handschellen an.
Ich würde die Tür nicht aufmachen. Okay. Ich musste ihn einfach nur hinhalten, bis Woody wieder da war. Der würde sich um ihn kümmern, und ich konnte mir währenddessen überlegen, wie ich dafür sorgte, dass Stern meine Forschung nicht in die Finger bekam. Hmmm. Kannte ich jemanden, der einen Van besaß?
»Hören Sie«, sagte Stern etwas leiser. Er strich sich seufzend durch die dunkelblonden Haare. »Es macht mir keinen Spaß, Leuten zu schaden, die wegen der Fehlentscheidungen krimineller Akteure zwischen die Fronten geraten. Aber ich bin stolz auf meine Arbeit und habe mich strikt an die Vorschriften gehalten. Ich habe fast zwei Jahre lang ermittelt und alle Fakten und Zahlen immer wieder bis ins Kleinste geprüft. Dieser Fall war der schwierigste und anspruchsvollste meiner gesamten Berufslaufbahn. Das ist kein Missverständnis, kein Fehler. Glauben Sie mir, ich habe versucht, einen zu finden. Hier geht es um gut versteckten Betrug, und nachdem ich so extrem viel Arbeit und Zeit in diese Sache gesteckt habe, werde ich ihr jetzt einen Riegel vorschieben.«
Das war nicht einfach nur ein aufgeblasener Polizist. Vor mir stand jemand, der meine Projekte, meine Karriere, mein Leben zerstören wollte, und zwar mit der gleichen Einstellung, mit der ich mir das alles aufgebaut hatte.
»Bei Ihnen geht es um zwei Jahre, bei mir um mehr als zehn.« Ich ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass es wehtat. »Ich habe alles für meine Forschung gegeben.«
Ein Cop mit dem Körperbau eines Footballers betrat das Gebäude. In den Händen hielt er einen schweren Rammbock, und seine Schritte hallten dumpf auf dem Boden wider, als er auf die Stahltür zuging.
»Es tut mir leid.« Der Inspector schob mich sanft aus der Gefahrenzone. »Ich finde es furchtbar, wenn Unschuldige ins Kreuzfeuer geraten.«
»Dann schubsen Sie mich nicht rein!« Ich packte ihn am Ärmel. »Hören Sie auf.«
Stern schüttelte den Kopf. »Die Mühlen der Justiz sind schon angelaufen.«
Ich öffnete den Mund. Um zu protestieren, zu schreien, keine Ahnung. Ich musste etwas sagen, irgendwie mehr Zeit rausschinden, Roter Teppich retten, mein Projekt retten – aber zum ersten Mal in meinem unglaublich produktiven Leben fiel mir einfach nichts ein.
»Mistkerl«, stieß ich hervor, um nicht loszuheulen.
Der Officer ging in Stellung und holte mit dem Rammbock aus, um die Stahltür zu öffnen.
Stern wollte wohl noch etwas erwidern, aber ich sollte nie herausfinden, ob es auf eine sarkastische oder eine ehrliche Antwort hinauslief.
Weil in diesem Moment das Gebäude in die Luft flog.
Ich wurde gegen Stern geschleudert, der mich mit eisernem Griff auffing und den anderen Arm ausstreckte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Der Cop mit dem Rammbock schaffte es, das bleischwere Ding festzuhalten, und drückte es wie einen Football an sich, als er zu Boden ging. Unterlagen regneten wie Schneeflocken auf uns runter, ein paar Stühle flogen gegen die Wände, und eine Glühbirne platzte.
Meine Ohren klingelten vom Dröhnen der Erschütterung, und ich konnte nur fassungslos auf den Boden starren. Die Explosion musste im Keller des Laborflügels stattgefunden haben, aber dort gab es keine gefährlichen Chemikalien oder Bunsenbrenner. Es gab ein Labor, das speziell für Versuche unserer hauseigenen Feuer-Elementarin ausgestattet war, doch die war diese Woche im Urlaub. Sonst war da unten nur noch das Büro meines Assistenten Julian, und der war schon nach Hause gegangen.
Der Feueralarm schrillte los und machte es mir noch schwerer, das Durcheinander in meinem Kopf zu ordnen.
Der Inspector drückte sanft meine Schulter, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. »Wo ist der Haupthahn fürs Gas?«
Wie süß, dass er ein Gasleck vermutete. »Kein Geruch nach faulen Eiern«, entgegnete ich mit bleischwerem Herzen. Gleichzeitig fühlte sich alles taub an.
Das war eine elektrische Explosion gewesen. In meinem Kopf baute sich ein schematisches Netz aus Verknüpfungen auf, aus denen sich logische Schlussfolgerungen ergaben. Unten gab es einen Raum für Elektrik, den zentralen des Gebäudes. Direkt neben dem Serverraum, der die Rechenleistung für meine Arbeit erbrachte. Direkt neben meiner Denkhöhle.
»Reine Vorsichtsmaßnahme«, sagte Stern. »Wir wissen noch nicht, was da gerade passiert ist.«
Etwas Schlimmes, so viel stand fest. Es geschah immer etwas Schlimmes, wenn mein Körper sich so anfühlte, kalt und wie ausgehöhlt und als wäre ich nicht mehr drin.
Ich brachte stammelnd die Wegbeschreibung zur Gasuhr hervor, die sich ganz hinten rechts an einer Außenwand befand, und Stern wies einen Officer an, den Hahn zuzudrehen. Zwei andere schickte er in den Bürotrakt, damit sie nach den Mitarbeitenden dort schauten und den Rettungsdienst riefen.
»Hey.« Der Tonfall des Inspectors hatte sich verändert. Er fasste mich erneut an der Schulter. »Wie heißen Sie wirklich?«
Meine Zähne klapperten so heftig, dass ich kaum etwas herausbrachte. »Raisa.«
»Hören Sie mir zu, Raisa.« Er umfasste mein Gesicht sehr vorsichtig mit beiden Händen, als wäre ich verletzt. Merkwürdig. »Ich weiß nicht, was hier gerade passiert, aber in diesem Flügel sind wahrscheinlich noch Menschen. Menschen, die verletzt sein könnten. Wenn ich meine Zeit damit verschwenden muss, die Tür aufbrechen zu lassen, bekommen Ihre Kollegen da drin vielleicht nicht die Hilfe, die sie brauchen. Wir müssen jetzt schnell handeln. Bitte, lassen Sie mich in die Labore.«
»Wenn noch Forschende da sind, dann im oberen Stockwerk«, sagte ich.
»Danke.«
Ich nickte knapp und eilte zum Scanner. Nur am Rand bekam ich mit, wie der Inspector hinter mir laut Anweisungen gab. In mir kämpfte das Bedürfnis, meinen Kollegen zu helfen, mit dem nicht gerade kleinen Rest Verdacht, dass Stern mich manipuliert hatte, um seinen Durchsuchungsbeschluss weiter zu vollstrecken.
Der Scanner funktionierte nicht, schaltete nur von Gelb auf Rot, als hätte ihm die Explosion einen Schock verpasst. Fluchend drückte ich den Daumen noch dreimal auf das kleine Feld und riss die Tür auf, als das Lämpchen endlich grün aufleuchtete.
Stern hatte sich mit ein paar seiner Teammitglieder in Stellung gebracht und warf einen sichernden Blick in den Gang. »Ich sehe nirgendwo Hinweise auf Einsturzgefahr, aber bleibt wachsam.«
»Möglicherweise sind Chemikalien ausgetreten«, fügte ich hinzu. »Wenn Sie ein Brennen in den Augen oder auf der Haut spüren, könnte das auf ein halbes Dutzend gefährlicher Säuren hindeuten, also gehen Sie beim ersten Kribbeln sofort wieder raus.«
Stern schaute mir in die Augen und nickte dankbar. »Haltet euch an ihre Anweisung.«
Ich hielt den Polizisten die Tür auf, und sie eilten an den Aufzügen vorbei direkt zur Treppe, während ich den Empfangsbereich nach Schäden absuchte. Die Glasfassade hatte einen riesigen Sprung, der sich wie ein Spinnennetz über die Fläche zog, und der Fotodruck der nächtlichen Skyline von Toronto, der hinter dem Tresen an der Wand gehangen hatte, lag mit zerbrochenem Rahmen auf dem Boden. Daneben hatten sich die Unterlagen verteilt, die Ella zuvor unterschrieben hatte.
Ich keuchte erschrocken auf, und eiskalte Panik breitete sich in mir aus. Ella war da unten. Ich hätte sie bemerkt, wenn sie mein Labor wieder verlassen hätte. Sie könnte bewusstlos sein oder ... Ich schluckte. Nein. Sie konnte nicht tot sein. Dafür war sie zu kompetent, hatte ihr Leben zu sehr im Griff.
Also rannte ich zur Treppe und schlug, anders als die Polizisten, den Weg zum Keller ein, wobei ich immer zwei Stufen auf einmal nahm. Zum Glück entdeckte ich weder in den Wänden noch in der Decke Risse, doch unten spähte ich trotzdem vorsichtig in den langen Gang.
Kein toxischer Geruch schlug mir entgegen, und weder meine Augen noch meine Haut zeigte eine unangenehme Reaktion. Der Feueralarm bearbeitete mein Hirn wie ein Presslufthammer, aber es gab keine Hinweise auf ein offenes Feuer, und die Tür zum Elektrobetriebsraum sah intakt aus, keine Rußflecken an den Wänden um sie herum.
Sofern es hier unten brannte, breitete sich das Feuer nicht aus. Gut. An einer Rauchvergiftung zu sterben, während ich an einer bahnbrechenden Behandlungsmethode für Verbrennungsopfer arbeitete, wäre ironisch – aber auch echt ätzend.
Ich hielt auf mein Büro zu, wurde im nächsten Moment jedoch wieder nach hinten gezerrt.
»Raus. Sofort«, befahl Stern. Er deutete auf die Risse, die sich durch den kaputten Putz der Wände zogen, und die absackenden Deckenbereiche. »Was auch immer Sie vorhatten, vergessen Sie’s. Hier ist es nicht sicher. Und am Durchsuchungsbeschluss hat sich nichts geändert.«
»Vaffanculo! Ich wollte keine Beweise zerstören, Arschloch.« Ich befreite mich aus seinem Griff. »Unsere Officemanagerin Ella ist hier unten.«
»Ich hole sie«, erwiderte er in autoritärem Ton.
»Sie haben keine Ahnung, wo Sie nach ihr suchen müssen. Ich schon, und wissen Sie, was? Dazu muss man an einem weiteren biometrischen Scanner vorbei. Ich brauche Sie nicht.«
»Dann gehen wir zusammen«, gab er unwillig nach.
Ich wollte mich an ihm vorbeidrängeln, doch genauso gut hätte ich versuchen können, eine massive Ziegelwand zu durchbrechen. »Ich verstehe, dass Sie ein absoluter Kontrollfreak sind und alles absegnen müssen, was ich tue, aber ziehen Sie doch mal für einen Moment in Betracht, dass ich für das hier qualifizierter bin als Sie. Sie sind nicht unverwundbar, Clark Kent.«
»Ich bin ausgebildet«, gab er knurrend zurück.
»Ich ebenso. Und ich komme am Scanner meines Labors vorbei.« Ich machte ein paar Schritte den Gang hinunter und nutzte meine Kräfte, um das LED-Licht der Deckenlampen mit einer Bewegung meiner Finger in Bänder zu verwandeln. Unter dem Einfluss meiner Magie verhielt sich das Licht so, als hätte es die physische Struktur von flexiblem Garn.
Stern blieb der Mund offen stehen. »Was zum ...«
Ich hatte keine Zeit dafür, die Garnstränge zu einem stabileren Gewebe zu flechten, also konzentrierte ich mich darauf, aus einzelnen Strahlen x-förmige Gebilde zu formen, die ich in Decke und Boden einstrickte, sodass ein Stützkonstrukt entstand. Nicht meine beste Arbeit, doch es würde verhindern, dass der Keller einstürzte.
Der Gesichtsausdruck des Inspectors war nicht zu deuten. Ich hätte meinen Hintern darauf verwettet, dass er keine Magie besaß. Aber Nefesh-hassende Weltige waren gerade mein kleinstes Problem. Allerdings erklärte es, warum er unser Labor so unbedingt schließen wollte.
Rasch drängte ich die Wut zurück, die in mir hochkochte, und rannte zur Augenspülstation ein Stück vor der Feuerschutztür, hinter der sich mein Labor befand. Als ich mir den Pullover über den Kopf zerrte, gab Stern einen merkwürdigen Laut von sich, vielleicht Überraschung oder Protest, aber der konnte mich mal. Im Moment kümmerte er mich in etwa so viel wie die Staubflusen in einem Trocknersieb und war hier auch genauso nützlich. Ich ließ das Wasser über den Pullover laufen, bis er ordentlich nass war, und wickelte ihn mir so um den Kopf, dass ich einen Ärmel vor Mund und Nase hatte. Und deswegen, Ladys und Gentlemen, macht man bei Sicherheitseinweisungen kein Nickerchen.
Weiter ging es zur Tür.
Ich drückte meinen Daumen auf den Scanner und stieß die Tür auf. Der beißende Gestank nach brennendem Plastik ließ meine Augen tränen. Das war nicht gut, aber wenn Ella hier irgendwo war, musste ich sie rausholen. Ich kniff die Augen ein wenig zusammen und drückte mir den nassen Stoff fester auf Mund und Nase, während ich das Labor betrat.
Mein Serverraum bestand nur noch aus Glasscherben und verbogenem Metall. Dass dort die Explosion stattgefunden hatte, war offensichtlich. An der hinteren Wand, wo sich die elektrischen Anschlüsse befanden, loderten Flammen empor.
Kurz nach meiner Einstellung bei Perrault Biotech hatte ich einen Rundgang durch diesen Raum mit seinen vielen summenden Geräten gemacht und jedem einzelnen dafür gedankt, dass es mir dabei half, mein Lebenswerk zu erschaffen. Das klang vielleicht albern, aber ich hatte es ernst gemeint.
Jetzt brannten die Server, die Pumpkin Spice und all meine anderen virtuellen Patienten mit ihren lustigen Spitznamen zum Leben erweckt hatten. Wertvolle Daten schmolzen zu unrettbaren Klumpen zusammen.
Meine Augen tränten. Gott, jedes Mal, wirklich jedes Mal zerstörte Feuer mein Leben.
Natürlich hatte ich ein externes Daten-Back-up. Das wusste ich. Aber trotzdem konnte ich einen gequälten Laut nicht unterdrücken. Mein Magen sackte mir in die Kniekehlen, und Panik ließ mein Herz wie wild hämmern.
Meine Arbeit wurde vernichtet, und ich konnte rein gar nichts dagegen tun.
Hinter mir fluchte Stern laut. »Die Sprinkleranlage wurde deaktiviert.«
»Wasser schützt das Gebäude, Trockenlöschmittel das Equipment«, zitierte ich wie auf Autopilot aus unseren Sicherheitsübungen.
»Tja, hier drin wird gar nichts geschützt.« Stern schob sich an mir vorbei und rief nach Ella.
Was du nicht sagst. Ist ja auch nur mein Serverraum, der immer noch in Flammen steht. Für meine masochistische Ader erlaubte ich mir einen weiteren Blick auf das Ausmaß der Zerstörung, bevor ich Stern folgte.
Wir fanden Ella auf dem Boden, ihr Bein war unter einem umgestürzten Aktenschrank eingeklemmt, und ihr Handy war außer Reichweite gelandet. Tränen standen ihr in den Augen, aber in diesem Teil des Raums war die Rauchentwicklung nur gering, weswegen sie kaum hustete.
»Zugpferd«, sagte Ella.
»Was?« Ich ging neben ihr auf die Knie und untersuchte ihre Augen auf Hinweise für eine Gehirnerschütterung.
Stern stemmte sich mit der Schulter gegen den Aktenschrank und schob ihn ächzend beiseite.
»Der Kreuzworträtselhinweis«, erklärte Ella. »Ich bin drauf gekommen. Hatte ja nichts anderes zu tun, während ich hier festsaß.«
»Na, ein Glück, dass dieses Rätsel nun gelöst ist.« Ich wollte ihr auf die Beine helfen, aber ihr entfuhr ein schmerzerfülltes Zischen. Ihr Knöchel war um gute fünfundvierzig Grad verdreht, und ich musste rasch wegsehen, weil sich bei dem Anblick mein Magen verkrampfte. Mit Verbrennungen kam ich klar. Mit Körperteilen, die in ungesunden Winkeln abstanden, weniger.
»Wo geht’s am schnellsten raus?«, fragte Stern.
»Im Flur gibt es einen Notausgang, der nach draußen zu einer Einfahrt führt«, antwortete ich.
Er gab die Info per Funk durch und erklärte auch gleich die Situation mit den Sprinklern. Dann hievten wir Ella in die Senkrechte. Sie konnte das Bein nicht belasten, also nahm Stern sie kurzerhand auf die Arme.
Für den Bruchteil einer Sekunde überkam mich der irrationale Impuls, ihren Platz auf dem Boden einzunehmen, wie Arthur Dent in einem meiner Lieblingsbücher, der den Bulldozer daran hindern wollte, sein Haus für eine Umgehungsstraße dem Erdboden gleichzumachen.
Ich musterte Sterns sicher gut hundert Kilo reine Muskelmasse und Sturheit. Eine Diskussion mit einem Bulldozer wäre erfolgversprechender. Am besten schaffte ich ihn hier so schnell wie möglich raus. Ich hielt ihm die Tür auf und deutete auf den Notausgang, der sich nur zehn Meter weiter befand. »Gehen Sie. Ich bin direkt hinter Ihnen und sorge dafür, dass uns nichts auf den Kopf fällt.«
»Direkt hinter mir«, ermahnte er mich und trug Ella dann in den Gang hinaus.
Ich war zwar keine geborene Sprinterin, aber trotzdem ziemlich schnell.
Die Lichter im Labor flackerten. Ich hatte nur noch eine letzte Chance.
Und ich war nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben.
Ich rannte auf die andere Seite des Raums. Riss den Kühlschrank auf, schob die Coladosen beiseite. Zwei Sekunden, und ich hielt das Reagenzglas mit dem Roten Teppich fest in der Hand. Eilig verstaute ich das Röhrchen in meinem BH, wo es niemand finden würde.
Einen Moment nahm ich mir noch Zeit, um das zu betrachten, was von den letzten beiden Jahren meines Lebens übrig war. Die Poster von Brain und Ada rollten sich auf, wurden zu Asche und verkohltem Papier. Ich wischte mir über die Augen und eilte nach draußen. Dort versuchte ich noch, die Tür zum Labor wieder zu schließen, aber sie klemmte.
Und natürlich gab der Scanner genau jetzt mit einem letzten, grausamen Funkenknistern den Geist auf.
»Ach, verdammt.« Jetzt konnte ich nur noch auf direktem Weg von hier verschwinden. Ich hätte diesen Teil des Gangs gerne weiter mit meinen Lichtstützen abgesichert, aber dazu hatte ich keine Zeit mehr, weil sich der Rauch inzwischen auch hier verteilte.
Ich zog den nur noch leicht feuchten Ärmel straffer über meine Nase und hielt eilig auf den Notausgang zu. Als ich gerade an Julians Büro vorbeikam, hörte ich Woody meinen Namen rufen.
Ich blieb wie angewurzelt stehen.
Hatte Ella ihn telefonisch erreicht? Ich schüttelte den Kopf. Selbst wenn, würde er sich nicht in Gefahr bringen, indem er sich Hals über Kopf in einen brennenden Bereich begab. Diesem Mann waren seine Sicherheitsübungen heilig. Ich musste mir das einbilden.
Ein lauter Knall hinter mir ließ mich erschrocken zusammenzucken. Rauch drang in giftigen Wolken aus meinem Labor, und die Flammen leckten bereits an den Wänden des Flurs. Hustend schaute ich zwischen dem Ausgang, dem immer näher kommenden Feuer und den Sprinklern hin und her, die weiterhin standhaft den Dienst verweigerten. Was hatten die Dinger nur für ein Problem?
Woody würde sich zwar nicht absichtlich in eine Gefahrenzone begeben, aber selbst wenn er nichts von dem Durchsuchungsbeschluss wusste, die Explosion hatte er sicher gehört. Natürlich kam er da zurück, um zu helfen und sich persönlich davon zu überzeugen, dass seiner Belegschaft nichts fehlte.
Konnte ich dieses Risiko eingehen? Könnte ich damit leben, wenn er sich auf der Suche nach mir verletzt hatte und ich zwar mein Serum, nicht aber meinen Mentor rettete?
Das wütende Fauchen und Knistern des Feuers war alles, was ich noch hörte. Meine Haut fühlte sich heiß an und spannte, und selbst die eisige Kälte in meinem Inneren machte mich nicht immun gegenüber den Funken, die von den Flammen in meine Richtung geschickt wurden. Ich atmete weiter vorsichtig durch den feuchten Ärmel, doch der Rauch brannte in meinem Rachen, und ich schmeckte Asche auf meinen Lippen.
Rasch nutzte ich den Stoff, um meine Hand vor dem potenziell heißen Metallknauf zu schützen, und stieß zittrig Julians Tür auf, die zum Glück nicht weiter gesichert war.
Sein Büro war leer.
»Ist noch jemand verletzt?«, rief Stern mir vom Notausgang aus zu.
Bevor ich jedoch antworten konnte, verwandelte sich das Feuer in einen wahren Flammensturm. Mein Aufschrei blieb mir im Hals stecken, und ich hustete so heftig, dass ich mich vornüberbeugen musste.
