Johanna spielt das Leben - Susanne Falk - E-Book

Johanna spielt das Leben E-Book

Susanne Falk

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Beschreibung

Johanna ist neunzehn und gerade dabei, sich am Wiener Burgtheater einen Namen zu machen. Als sie den Juristen Georg kennenlernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt, wähnt sie sich auf der Sonnenseite des Lebens. Die beiden heiraten, erben ein Haus – aber als Johanna schwanger wird, stellt Georg ihre Bühnenpläne infrage. Johanna kämpft mit allen Mitteln um ihre Selbständigkeit und die Fortsetzung ihrer Karriere. Sie schafft es zurück ins Burgtheater-Ensemble, ihre kleine Tochter Lore wird indes von ihrer wunderlichen Tante Mizzi betreut. Johanna jongliert mit Zeit und Aufmerksamkeit, aber am Ende scheint es, als würde Georg recht behalten, denn Mizzi und Lore sind plötzlich verschwunden … Heiter bis wolkig: Mit Leichtigkeit verknüpft Susanne Falk in ihrem neuen Roman eine Liebesgeschichte, Theatergeflüster und Emanzipation.

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Gefördert von der Stadt Wien Kultur.

Copyright © 2021 Picus Verlag Ges.m.b.H., WienAlle Rechte vorbehaltenGrafische Gestaltung: Dorothea Löcker, WienUmschlagabbildung: © Howard Sochurek/The LIFE Picture Collection via Getty ImagesISBN 978-3-7117-2100-6eISBN 978-3-7117-5443-1

Informationen über das aktuelle Programmdes Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

Susanne Falk, geboren 1976 in Kappeln an der Schlei, promovierte 2008 im Fach Germanistik. Sie veröffentlichte mehrere Bücher im Rowohlt Verlag. Im Picus Verlag erschienen ihr Roman »Anatol studiert das Leben« und das Weihnachtsbuch »Fast ein Märchen« (2019). Sie verfasst außerdem Theaterstücke. www.susannefalk.net

SUSANNE FALK

Johannaspielt das Leben

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Inhalt

1961

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1949

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1952–1959

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EPILOG

1961

Johanna Neuendorff saß im Garten vor der Döblinger Villa und schaute ihrem Kind dabei zu, wie es an einem Stück Apfel erstickte, während sie mit dem Burgschauspieler Josef Meinrad Tee trank. Es war Ende Mai. Der Sommer lag schon schwer über dem Wiener Nobelbezirk und die Hitze stand zwischen den Rhododendrenbüschen. Sie zögerte zunächst, nicht lange, aber immerhin, bis sie sich schließlich dazu entschied, den Freund beim Deklamieren eins Nestroy-Textes zu unterbrechen und ihrer Tochter das Stück Apfel aus dem Hals zu holen. Dazu zog sie mit ihrer linken Hand das Kind an den Füßen aus dem Kinderwagen nach oben und schlug ihm mit der rechten kräftig auf den Rücken. Die kleine Lore würgte zuerst, spuckte dann, schrie und ballte schließlich, mit neuer Lebenskraft erfüllt, die kleinen Fäuste gegen ihre Mutter, die, daran bestand kein Zweifel, nicht ganz unschuldig an dem Vorfall war.

Weil das Kind nicht aufhören wollte, mit seinem Babygebrabbel den Vortrag des großen Burgtheatermimen und Freundes zu stören, hatte Johanna Neuendorff entschlossen zum Messer gegriffen und ein Stück von einem Apfel heruntergeschnitten, das sie ihrem Töchterchen in die kleine Hand drückte. Und es hatte nicht lang gedauert, bis die kleine Lore mit ihren zwei Zähnchen ein großes Stück vom Apfelschnitz abgebissen und sich daran verschluckt hatte. In der Folge sollte das dem Kind den Kosenamen »Schneewittchen« einbringen. Dies implizierte nicht zuletzt auch ein sehr besonderes Mutter-Tochter-Verhältnis. Josef Meinrad aber hatte während des Vorgangs mit großer Verwunderung dem Treiben der jungen Mutter zugesehen und war schließlich, nachdem alles vorbei war und das Kind wieder atmete, aufgesprungen und hatte ausgerufen: »Johanna, du Retterin!«

Das hatte Johanna Neuendorff gefallen, blendete es doch vollkommen die Tatsache aus, dass sie es gewesen war, die ihr Kind beinahe mittels eines Apfels umgebracht hatte. Später würde sie ihrer Tochter diese Szene noch oft beschreiben und stets mit den Worten enden: »So schenkte ich dir also an diesem Tag das Leben – zum zweiten Mal!«

Drei Jahre hatte sie ihm versprochen. Drei ganze Jahre sollte sie daheim verbringen und Kind und Villa hüten, als treu sorgende Ehefrau und liebende Mutter. Nun waren gerade etwas mehr als acht Monate vergangen und sie war kurz davor, mit dem Kopf gegen die Wand ihres adrett eingerichteten Ankleidezimmers zu rennen, das, ganz entgegen der aktuellen Mode, rot gestrichen war, weshalb die Blutflecken gar nicht mal so stark aufgefallen wären, selbst wenn sie ihren Schädel mit aller Wucht dagegengerammt hätte. Es war ein klassischer Fall von fehldekorierter Kulisse.

»Rot!«, sagte sie leise und schüttelte den Kopf über ihren eigenen Unwillen, sich in ihr pastellfarbenes Schicksal zu ergeben, auch wenn das zweifellos moderner gewesen wäre. Ihr Mann hatte sie ja zu einer rosafarbenen Tapete überreden wollen, aber sie hatte hartnäckig auf Rot bestanden, weil auch Julias Zimmer rot gewesen war und Shakespeares unglücklichster Teenager aller Zeiten ihre erste große Rolle. Das Rot erinnerte sie demnach an ihren ersten großen Triumph auf der Bühne und wenn ihr nicht bald etwas einfiel, wie sie dem Dasein als Ehefrau und Mutter entkommen konnte, würde es vielleicht ihr letzter großer Erfolg bleiben.

Nie hätte sie gedacht, dass man sich als Mutter so entsetzlich langweilen würde. Gut, das Kind war herzig. Mit seinen dicken Wangerln und den blonden Lockerln hätte man es problemlos auf jedem Kirchenaltar platzieren können, als lebenden Putto. Und es war ja nicht so, dass sie das Kind nicht liebte. Das tat sie sehr wohl, mit der aufrichtigen Zuneigung, die man auch einem geliebten Haustier entgegenbrachte. Dennoch zog sie aus dem immer gleichen Ablauf von füttern, wickeln, spazieren gehen und Lieder singen keinerlei Befriedigung. Am ehesten sagte ihr noch der morgendliche Spaziergang zu, wenn sie ihren eleganten blau-weißen Kinderwagen zwischen den schönen großen Villen Döblings hindurchschob und sich vorstellte, wie die Nachbarn sie heimlich hinter ihren Vorhängen verborgen anglotzten. Die schöne Frau Neuendorff, die Burgschauspielerin, fährt wieder ihr Kind spazieren, würden sie flüstern und ihr angesichts ihrer mondänen Ausstrahlung, des modernen Wagens und auch ein klein wenig des hübschen Kindes wegen voller Neid nachschauen. So dachte sie zumindest, bis sie eines frühsommerlichen Tages einem der Nachbarn begegnete und der sie ansprach. So ein süßes Kind, ach nein, wirklich, was für ein herziges Mäderl das doch war! Da haben Sie aber Glück, dass Sie auf so ein nettes Kind aufpassen dürfen.

»Ich bin die Mutter, nicht das Kindermädchen!«

Sie hatte den Wagen grußlos weitergeschoben. Eine Schauspielerin erkannte man daran, dass sie auf der Bühne stand. Und ein Kindermädchen erkannte man daran, dass es in einer reichen Gegend morgens um zehn einen teuren Kinderwagen durch die Straßen schob, während die Mutter einen Friseurtermin wahrnahm oder einkaufte oder, Gott bewahre, in der Kanzlei ihres Mannes mitarbeitete. Was diese Mütter hier eben so taten. Wieso nur hatte sie zugestimmt, sich die ersten drei Jahre selbst um das Kind zu kümmern? Es war ein großer Fehler gewesen nachzugeben. Und nun war sie das Kindermädchen.

»Du bist ihre Mutter!«, hatte er gesagt, ganz so, als müsste man sie daran erinnern.

»Das weiß ich«, presste sie zwischen ihren Lippen hervor. »Aber ich bin auch Schauspielerin.«

»Und meine Ehefrau!«, fügte er hinzu. »Erwartest du etwa, dass ich mich um das Kind kümmere?«

»Das wäre doch mal was!«, rief Johanna Neuendorff aus, wohl wissend, wie unrealistisch die Vorstellung war, ihr Mann könnte sich mehr in die Kindererziehung ihrer Tochter einbringen. Sein Part bestand darin, abends aus dem Büro heimzukommen, das Kind etwa fünf Minuten lang auf den Knien zu schaukeln, dann eine kurze Runde mit ihr auf dem Arm durch den Garten zu drehen, was ebenfalls fünf Minuten in Anspruch nahm, und die kleine Lore zu guter Letzt mit bereits fertig gekochtem und serviertem Brei zu füttern, was, weil das Töchterchen eine gute Esserin war, oft auch schon nach fünf Minuten erledigt war. Alles in allem beschränkte sich seine Vaterzeit demnach auf eine Viertelstunde pro Tag. Der Rest war Johannas Sache.

»Wir hatten eine Abmachung«, erinnerte er sie, »und die hieß: kein Kindermädchen! Drei Jahre lang.«

Da riss ihr der Geduldsfaden. Irgendetwas setzte aus und das Nächste, was sie wahrnahm, war das Zersplittern des Porzellans, als die Mutter-Tochter-Statuette, die er ihr zum letzten Hochzeitstag geschenkt hatte, an der Zimmerwand zerbarst. Und alles, was er dazu zu sagen hatte, war: »Du musst auch aus allem eine Szene machen.« Dann verließ er, die verschreckte und brüllende Lore auf dem Arm, die die Szene von der Gehschule aus beobachtet hatte, wortlos das Zimmer. Johanna aber holte ihn nicht zurück. Stattdessen nahm sie den Besen aus dem Schrank, um die Scherben aufzufegen. Natürlich hätte sie die Haushälterin bitten können, dies zu tun. Aber solange sie fegte, kümmerte er sich um Lore und solange sie sich nicht um Lore kümmern musste, würde sie weiter fegen – und sollte es auch eine Stunde dauern. Oder zwei. Oder die nächsten sechsundzwanzig Monate lang.

Später am Abend, als das Kind schon schlief und sie sich selbst fürs Bett fertig machte, konnte sie seine Stimme aus dem Arbeitszimmer hören. Es klang, als wäre er am Telefon.

»Nein, ich weiß wirklich nicht, was in sie gefahren ist … Ja, ich sage es dir doch: Ein Rums und das Ding war hin! … Könnte schon sein. Du meinst, ich soll Dr. Rudloff kommen lassen? … Nein, das würde sie nie … Andererseits ist sie in letzter Zeit so komisch mit unserer Lore …«

Da hatte sie bereits mehr gehört, als sie wollte. Und auch mehr, als sie verkraften konnte. Kaum hatte er am nächsten Morgen das Haus verlassen, packte sie ein paar Kindersachen zusammen, hängte sich eine Tasche um, schnappte sich Lore und balancierte Kind und Gepäck zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Es würde Zeit kosten, aber es war ja noch früh. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie das Kind sonst lassen sollte, also fuhr sie den ganzen Weg nach Favoriten und klingelte schließlich in der Quellenstraße 112 auf Tür Nummer 8.

Die Mutter war nicht da. Unter der Woche putzte sie oft bei wohlhabenden Leuten in Simmering. Der Vater steckte wer weiß wo. Aber Mitzi war da.

Niemand hatte Johanna erzählt, wann es angefangen hatte, aber sie kannte die Geschichte, in der Tante Mitzi, die ältere Schwester ihrer Mutter, eines Tages nackt auf den Treppen von Maria am Gestade aufgegriffen wurde, als sie mit ihrer Kleidung die Treppen scheuerte. Danach verbrachte sie Monate auf dem Steinhof und wurde entlassen, ohne geheilt zu sein. Man versuchte alles. Sogar der berühmte Doktor in der Berggasse, der in die Seelen der Leute blicken konnte, wurde bemüht. Ein Arzt der Tante hatte sich für eine Konsultation bei Freud starkgemacht und sie schließlich arrangiert. Danach trat zwar zeitweilige Besserung ein, als jedoch der März 1938 kam, ging der Spuk von vorne los und Mitzi, die stets singende, immer fröhliche Irre, geriet in die Fänge der Nazis. Ein Onkel des Vaters, ein illegaler Anhänger der Deutschnationalen, machte sich schließlich für ihre Freilassung stark und so stand sie eines Tages plötzlich wieder da, in der Quellenstraße Nummer 112, sprach kein Wort mehr und hörte über Monate nicht mehr auf zu zittern, es sei denn, die kleine Johanna legte sich zur Tante ins Bett und drückte sie fest an sich.

So blieb es. Das junge Paar, Johannas Eltern, rückte zusammen und die Tante zog in das winzige Kabinett neben dem Wohnzimmer ein, in dem auch Johanna schlief. Als die Bomben auf Wien fielen, war es Mitzi, die Johanna an der Hand in den sicheren Keller führte, und es war Mitzi, die, Gott weiß woher, Essen für das Kind besorgte, als nichts zu bekommen war. Wenn es einen Menschen auf dieser Welt gab, dem Johanna bedingungslos vertraute, dann war es ihre stumme, verrückte Tante.

Sie drückte der lächelnden Mitzi ihre kleine Tochter in den Arm, dazu die Tasche mit den Windeln, die auch eine Dose mit vorgekochtem Milchbrei enthielt, den die Haushälterin am Morgen gemacht hatte.

Johanna nahm Mitzis fahles Gesicht mit den unruhigen Augen zwischen ihre Hände und sagte eindringlich: »Ich muss für ein paar Stunden weg. Aber ich bin bis zum Nachmittag zurück. Pass bitte auf Lore auf! Schaffst du das?«

Mitzi nickte so heftig, dass ihre grauen Locken vor- und zurückschlugen und sie beinahe das schlafende Kind geweckt hätte. Johanna küsste Tante Mitzi kurz auf die Stirn, rannte dann aus der Wohnung, die Treppe hinunter und eilte aus dem Haus.

1961

Sie hatte das grüne Kostüm angezogen, nicht etwa weil es ihr gut stand, sondern weil es teuer war. Sie wollte nicht so aussehen, als hätte sie es nötig, um ein Engagement zu betteln. Aber natürlich war es so. Nur ging es nicht um Geld.

Zu klein durfte die Rolle nicht sein, denn das hätte einen klaren Abstieg bedeutet. Wer einmal Julia und Luise Miller gewesen war, der schlüpfte nicht so einfach in das Kostüm von Dienstmädchen Nummer zwei. Und wer behauptete, es gebe keine kleinen Rollen, der hatte noch nie versucht, seinem Dasein als Mutter zu entfliehen unter dem Hinweis auf die unabdingbare Anwesenheit seiner selbst bei den Proben eines Tschechow-Stücks. Auf das Dienstmädchen Nummer zwei konnte man bei Proben ohne Weiteres verzichten, auf die weibliche Hauptrolle schon viel weniger. Und er würde sie nur gehen lassen, wenn die Rolle wichtig war. Wenn überhaupt.

Die Handschuhe störten sie. Das Kind hatte sie vollgeschmiert mit ihre ewigen Rotznase und nun sahen sie nicht mehr blütenrein aus. Außerdem klebte der Dreck Favoritens an ihnen. Sie hätte das Kind doch bei der Haushälterin lassen sollen. Aber dann wäre es nicht mehr möglich gewesen zu verschweigen, was sie zu tun beabsichtigte, und wenn es ein Misserfolg wurde, dann wäre auch dieser bald herausgekommen und das hätte das Ende aller Ambitionen bedeutet. Er durfte nicht wissen, was sie tat, mit wem sie sich traf, wohin sie wollte und was sie plante. Nicht bevor sie eine Zusage in der Tasche hatte.

Sie sah erneut auf ihre dreckigen Handschuhe, drehte sie hin und her, zog sie schließlich aus und stopfte sie in ihre Handtasche. Noch drei Straßenbahnstationen, dann war sie da. Tief Luft holen, Johanna. Es wird schon alles gut gehen. Es musste einfach gut gehen. Und wieso auch nicht? Das konnte sie doch, andere überzeugen. Das war schließlich ihr Beruf. Vielleicht war sie keine selbstbewusste Theaterdiva, die sich ein neues Engagement erkämpfte, aber sie konnte eine spielen. Brust raus, Luft holen, aussteigen. Sie war da.

Die letzten Monate hatte sich alles nur um das Kind gedreht. Und nun sollte es sich einzig und allein um sie drehen. Es war ihr Augenblick, ihr Auftritt, und den wollte sie genießen. Er würde nicht lange dauern und dann ging es zurück nach Döbling in die Villa, heim zu Mann und Kind und Gummibaum und zu einem Leben, das sie freiwillig gewählt hatte und dennoch nicht wollte.

1949

»Vielleicht sollten wir heiraten«, hatte er gesagt.

Nein, eigentlich war das nicht der Anfang der Geschichte. Es begann viel, viel früher, mit einem weinseligen Abend im Gössinger. Da hatten sie sich alle nach der offiziellen Premierenfeier eingefunden, um noch ein wenig auf den abendlichen Triumph anzustoßen, Kabale und Liebe, und sie, Johanna Jedlicka aus Favoriten, war die gefeierte Luise Miller. Im zarten Alter von knapp neunzehn Jahren war das nach Romeo und Julia bereits ihr zweiter großer Erfolg an der Burg, die nicht die Burg, sondern das Ronacher war, und vor Johanna lag eine rosige Zukunft als junge Naive. Das war in der Tat ein guter Grund, mit den Kollegen anzustoßen, und so floss der Veltliner aus großen Dopplerflaschen und die Stimmung war ausgelassen. Es wurde zugeprostet und gesungen, was das Zeug hielt, und lautstark deklamierte man die besten Stellen des Stückes, um sich daran zu erinnern, dass man gerade der Welt nichts weniger als wahre Kunst geboten hatte.

»Ihr Theatervolk«, raunzte der Wirt, setzte dabei aber ein zufriedenes Lächeln auf und schenkte munter weiter aus, »ihr könnt’s feiern! Aber seid’s net gar so laut. Ich bitt euch!«

In diesem ganzen Durcheinander aus prostenden und rauchenden Herren und wenigen Damen saß also Johanna, still lächelnd, und nippte an ihrem sauren Achterl, als sich zwei junge Männer an den Nebentisch setzten und voller Neugierde zu der Schauspieltruppe hinüberschauten.

»Na, was glotzt ihr so?«, wollte der äußerst gut gelaunte und nicht weniger betrunkene Oskar Werner von den jungen Männern wissen. Einer von ihnen, ein schlaksiger, hoch aufgeschossener Kerl in grauem Anzug und mit Hornbrille, erhob sich und sagte in getragenem Tonfall: »Wir waren grad in der Premiere vom Schiller und ich möchte bitte sagen dürfen: Es hat uns äußerst gut gefallen.«

»Na bravo!«, sagte Oskar Werner lachend und hob sein Glas zum Gruß, begleitet vom Jubel seiner Kollegen. Dann zeigte er mit dem Finger auf den anderen jungen Herrn in schwarzem Anzug, ebenfalls Hornbrille tragend, aber klein und untersetzt. »Und du? Was sagst du? Na, komm, wer war der Beste?«

»Geh, lass ihn doch, das ist ja kein Wettbewerb«, maulten die anderen, die Werner nicht den Triumph gönnen wollten, als Bester aller Schauspieler des Abends zu gelten, obwohl er das zweifellos war.

»Na, ich will eine Antwort!«, nagelte Oskar Werner den jungen Mann fest. »Los, spuck’s aus: Wer war der Beste?«

Jetzt schauten alle auf ihn und für einen kurzen Moment kehrte ungewohnte Ruhe ein. Da erhob sich der junge Herr im dunklen Anzug von seinem Stuhl, machte tatsächlich eine leichte Verbeugung und zeigte dann, ohne zu zögern, mit dem Zeigefinger auf Johanna.

»Das junge Fräulein Jedlicka war ganz superb!«, sagte er mit klarer, durchdringender Stimme, ganz so, als wäre er es gewohnt, gehört zu werden. Und tatsächlich wurde er gehört, denn im Nu brach großer Jubel aus unter den Schauspielern und man trank auf das Wohl von Johanna.

»Recht hat er!«, brüllte Oskar Werner, hob sein Glas, bereits leicht schwankend, nach oben und rief: »Auf unsere Luise! Johanna Jedlicka, sie lebe hoch!«

»HOCH!«, brüllten die anderen.

Mit einer weiteren, sehr dezenten Verbeugung, die einzig und allein der erstaunten Johanna galt, nahm der junge Mann wieder Platz und sah schüchtern zu ihr hinüber. Sie hielt dem Blick stand, erwiderte ihn, senkte nicht die Augen, versteckte sich nicht hinter ihrer Rolle, lächelte aber auch nicht und sprach ihn nicht an. Nur ihr Blick blieb an dem seinen hängen und da hing er dann den Rest des Abends und wollte sich so gar nicht mehr von ihm lösen.

Als nach und nach die anderen gingen, entweder um in ein anderes Lokal weiterzuziehen oder um dann doch beizeiten noch heimzukommen, da blieb sie sitzen und schaute und er tat dasselbe. Irgendwann verabschiedete sich auch sein Freund und es wurde immer stiller um sie herum. Schließlich fasste er den Mut, erhob sich und ging zu ihrem Tisch.

»Darf ich mich setzen, Fräulein Jedlicka?«, bat er.

»Ja, bitte«, antwortete sie artig.

»Sie waren wunderbar heute Abend«, sagte er leise.

»Danke. Ich bin immer wunderbar«, entgegnete sie und lachte plötzlich, lachte alle Selbstzweifel, die sie sonst so quälten, und alle Vorsicht weg und wurde zu einem strahlend schönen Stern.

»Außerdem sind Sie sehr hübsch«, fügte er hinzu, »wenn es erlaubt ist, das zu sagen.«

»Erlaubnis erteilt«, sagte sie. Dann fiel ihr etwas ein. »Jetzt kennen Sie zwar meinen Namen, aber ich nicht den Ihren.«

»Oh«, sagte er verlegen, »wie unhöflich von mir, mich nicht vorzustellen. Bitte verzeihen Sie! Mein Name ist Doktor Georg Neuendorff.«

1961

Das hier war der Bühneneingang. Sie hatte schon unzählige Male durch diese Tür das Burgtheater betreten, aber heute war es anders. Heute kam sie als Bittstellerin und das war kein besonders erfreulicher Umstand eines Wiedersehens mit der Hochkultur.

»Grüß Gott, Frau Neuendorff«, begrüßte sie der Portier. »Was für eine Freude!«

War das jetzt ehrlich gemeint oder tat der Mann nur so?

»Grüß dich, Seppi«, erwiderte sie mit einem Lächeln, während sie ihre Finger in die Handtasche krallte, damit der Mann nicht bemerkte, wie sehr sie vor Lampenfieber zitterte. Dieser Auftritt durfte nicht misslingen.

»Wo ist denn das Zwutschgerl?«, wollte der Portier wissen.

»Daheim«, antwortete sie knapp.

»Jö, dabei hätten wir das doch so gern einmal gesehen. Was war’s noch gleich?«

»Ein Mäderl«, sagte sie leise.

»Und heißt wie?«

»Lore.«

»Jö!«, wiederholte der Mann.

Johanna lächelte noch einmal und schlüpfte dann möglichst schnell an der Portierloge vorbei, wobei der Mann hinter ihr herrief: »Aber das nächste Mal bringen S’ uns die Kleine mit, gell?«

»Jaja«, sagte sie und war schon durch die Tür hindurchgeschlüpft, die Treppe hinauf in den ersten Stock gerannt und stand nun vor der Tür zur Direktion. »Jetzt nicht zögern!«, schalt sie sich. »Mach ja keinen Rückzieher! Wozu sonst das ganze Theater?« Sie holte tief Luft und schloss die Augen, um besser in die Rolle der Johanna Neuendorff, Burgschauschauspielerin, hineinzukommen. Dann, als sie sich halbwegs sicher fühlte in ihrem anderen Ich, griff sie nach der Türklinke und betrat entschlossen das Vorzimmer.

1949

»Meine Wirtin hat Ohren wie ein Luchs!«, warnte er sie, als er ihr die Tür aufhielt. Und fügte flüsternd hinzu: »Achtung, die dritte Diele knarrt!«

Sie war es nicht gewohnt, wie eine Diebin in fremde Räume einzubrechen, aber die Situation hatte durchaus etwas Aufregendes, wenn nicht gar Belebendes an sich, da sie sich sekundenschnell jeder ihrer Bewegungen, jedes Atemzugs und jedes Geräuschs bewusst wurde, was durchaus angemessen war für das, was da folgen sollte.

Sie hatte sich mit ihrer Antwort lange Zeit gelassen, als er sie fragte, ob sie ihn begleiten wollte. Genügend Zeit jedenfalls, um ihn darum fürchten zu lassen, dass sie Nein sagen könnte. Genügend Zeit, um die Oberhand zu behalten. Und die behielt sie auch jetzt.

»Sch!«, mahnte sie ihn, als er seinen Mantel an den Garderobenhaken im Flur hängen wollte. Er verstand und ließ den Mantel an. Dann öffnete er so leise es ging die Tür zu seinem Zimmer und bat sie hinein.

Das Bett war ausgesprochen ordentlich gemacht worden, wie sie feststellte, und sie hatte eine leise Ahnung, dass dies nicht auf die Haushälterin zurückzuführen war.

»In welchem Ministerium arbeiten Sie denn?«, hatte sie ihn im Gössinger über ihre halb leeren Veltlinergläser hinweg gefragt.

»Justiz«, hatte er stolz geantwortet.

So sah also das Bett eines Juristen aus: akkurat, sauber, bis in die kleinste Ecke präzise gemacht. Wie merkwürdig, dass sie ausgerechnet in diesem Bett zum ersten Mal mit einem Mann schlafen würde. In ihrer Vorstellung hatte es stets mehr nach einer Dachkammer à la La Bohème ausgesehen, nur etwas weniger kalt und natürlich ohne Schwindsucht. Und nachdem sie Schnitzlers Reigen zum ersten Mal gelesen hatte, tauchte auch immer wieder das Bild in ihrem Kopf auf, wie sie es gegen einen Baum gelehnt in irgendeinem Park tat, wild, kurz, dreckig und etwas unbequem. Aber mit dem hier hatte sie eigentlich nicht gerechnet: das sauber gemachte Bett eines Mannes mit Hornbrille, der im Justizministerium arbeitete und der jetzt ausgesprochen schüchtern nach ihrer Hand griff, nur um sie zart mit dem Daumen zu streicheln, wobei ihr auffiel, dass die Kuppe seines rechten Zeigefingers fehlte. Später würde er ihr von einer Kohlenkellertür erzählen, an die er als kleiner Bub die Fingerkuppe verloren hatte, und wie ihn dies vor dem Kriegseinsatz rettete. Es rührte sie sehr, als sie ihn sich als kleinen Buben vorstellte, dem plötzlich ein Stück des Fingers abhandengekommen war und der deshalb später niemanden totschießen musste, weil er den Abzug des Gewehrs nicht bedienen konnte. Ein sanfter Mann.

Sie hatte sich jemanden mit Erfahrung gewünscht. Allerdings sollte es dann doch nicht ein Zuviel an Erfahrung sein. Sie wollte nicht eine flüchtige Begegnung in einer langen Reihe von anderen flüchtigen Begegnungen sein. Schließlich war sie etwas Besonderes, so viel wusste Johanna immerhin. Wer aus der Quellenstraße schaffte es denn sonst ans Burgtheater? Also sollte auch der Sex etwas Besonderes sein.

Sie setzten sich beide auf das Bett, er immer noch im Mantel, sie immer noch die Schuhe mit den schmalen Absätzen in der Hand, die sie schon vor der Wohnungstür ausgezogen hatte, um nur ja keinen unnötigen Lärm zu machen. Mit einer sanften, aber entschlossenen Geste griff er nach ihren Schuhen und stellte sie leise auf dem Boden ab. Genauso sanft und entschlossen griff sie mit ihren freien Händen nun nach seiner Brille und zog sie ihm von der Nase, klappte sie zusammen und legte sie auf dem Nachttischchen ab.

Langsam, ganz langsam beugte er sich vor und suchte mit den Lippen ihren Mund. Sein Kuss war warm und zart und angenehm und sie ließ sich ausgesprochen gerne küssen. Offensichtlich wusste er, was er da tat. Folglich küssten sie sich eine ganze Weile, bis sie schließlich fand, es könne jetzt die nächste Stufe erklommen werden und sie ihm zuflüsterte: »Vielleicht sollten Sie Ihren Mantel ausziehen.«

»Ja«, sagte er, »das habe ich mir auch schon gedacht. Ist ja auch etwas heiß hier herinnen.«

Er stand auf, öffnete die Knöpfe seines Mantels und in diesem Moment rutschte das Programm der heutigen Aufführung aus der Manteltasche und fiel zu Boden. Kabale und Liebe, konnte Johanna im Schein der Straßenlaterne, die in das dunkle Zimmer schien, lesen. Darunter standen die Namen der Darsteller, auch der ihre: Johanna Jedlicka als Luise Miller.

Auch er sah auf das Programm auf dem Boden, hob es hastig auf und drehte es dann etwas verlegen in seinen Händen.

»Ich hoffe, Sie denken nicht, dass ich mit Ihnen nur … also, weil Sie doch ein Star sind.«

»Nein«, sagte sie, »das denke ich bestimmt nicht.« Sie hielt sich außerdem nicht für einen Star. Noch nicht.

»Sie sind einfach nur wunderschön«, brach es aus ihm hervor.

Das war der Moment, in dem sie endgültig das Ruder übernahm, aufstand, den einen Schritt zu ihm machte, ihm das Programm aus der Hand nahm, es erneut auf den Boden fallen ließ und ihm, während sie ihn küsste, den Mantel auszog.

1961

»Sie können Ihren Mantel gerne hier hinhängen«, deutete ihr die Sekretärin. »Es wird noch eine Weile dauern, bis ich Sie zum Herrn Direktor vorlassen kann.«

Johanna nickte ergeben. Sie wusste, dass es an dem Fräulein Schmid kein Vorbeikommen gab. Direktor Haeusserman verließ sich voll und ganz auf seine Vorzimmerdame, die wahnsinnige Regisseure genauso von ihm abzuhalten hatte wie nicht minder wahnsinnige Schauspieler, Bühnen- oder Maskenbildner. Ihr streng in Wellen gelegtes Haar konnte quasi dank seiner Sprungkraft unliebsame Besucher hinausbefördern und ihr strenger Blick ließ das Ego exzentrischer Darsteller auf die Größe des Selbstbewusstseins unwichtiger Komparsen schrumpfen. Ganz zu schweigen von dem, was sie mit dem Unterrichtsminister jüngst aufgeführt hatte, der, gefragt, ob er sich nicht setzen wolle, während er auf den Herrn Direktor wartete, dies großspurig abgelehnt hatte und dafür mit einer zusätzlichen Wartezeit von nicht weniger als fünfzehn Minuten bestraft wurde. In diesen fünfzehn Minuten hatte sie ihn so durchdringend und wissend durch ihre konkaven Brillengläser hindurch gemustert, dass er schließlich nach und nach innerlich zusammenbrach, fühlte er doch, dass all sein Selbst, all das mit Lügen und Großspurigkeit zusammengezimmerte Etwas, das seinen Namen, Hut und Mantel trug, vor dem Blick dieser Frau nicht bestehen konnte. Sie wusste alles! Die langen Nächte in den Bars in Begleitung zweifelhafter Gesellschaft, die teure Armbanduhr auf Staatskosten und dass er den Geburtstag seiner Mutter neulich vergessen hatte. Nach einer Viertelstunde des Angestarrtwerdens durch das Fräulein Schmid war der Herr Minister so weichgekocht, dass er Haeusserman eine Etataufstockung bewilligte, die weit über das hinausging, was Haeusserman ursprünglich von ihm fordern hatte wollen.

Also setzte sich Johanna auf den Stuhl, den der Minister verweigert hatte, und wartete. Sie wartete und wartete und im Kopf rechnete sie die Stunden und Minuten zusammen, die sie brauchen würde, um das Kind wieder abzuholen und heimzubringen und so zu tun, als wäre sie gar nicht wirklich fort gewesen, als hätte sie dieses Gebäude nie betreten und nicht im Vorzimmer vom Haeusserman gesessen und gehofft und gewartet und jedes Mal, wenn die Tür kurz aufging, weil das Fräulein Schmid dem Herrn Direktor Kaffee oder Unterlagen oder die Post bringen musste, sie seine Stimme hören konnte und ängstlich jede Stimmungsnuance aufnahm, um sie zu analysieren. War der Herr Direktor in guter Stimmung? War er ungehalten? Eigentlich war Haeusserman stets ungehalten und dennoch in guter Stimmung, jedenfalls ließ sich sein Unmut selten am Klang seiner Stimme ablesen, so viel wusste Johanna immerhin. Wollte man wissen, wie es dem Direktor ging, musste man sehen, wo er seine Brille trug. Lag sie auf der Nase, war er konzentriert. Hatte er sie ins langsam immer spärlichere Haar geschoben, war er noch konzentrierter, weil er dann nichts zwischen sich und seinen Papieren haben wollte, nicht einmal ein Stückchen Brillenglas. Und lag die Brille gar neben ihm auf dem Schreibtisch und er schloss beim Zuhören die Augen, dann hatte man beinahe schon gewonnen, denn dann hatte der Herr Direktor Zeit und Muße, wirklich zuzuhören.

All das konnte Johanna natürlich nicht sehen und deshalb klammerte sie sich an die sanfte Stimme Haeussermans, die, gleich ob sie einen nun lobte oder in die Hölle hinabstieß, immer denselben liebenswerten Klang aufwies. Es war zum Verrücktwerden!

»Sie können jetzt hineingehen«, sagte das Fräulein und zeigte dabei so wenig Zähne wie nur möglich. Lächelte die eigentlich nie?

Johanna holte tief Luft, stand von ihrem Stuhl auf und schritt durch die schmale, gepolsterte Tür hindurch in Haeussermans Büro. Der begrüßte sie mit einem freundlichen Händedruck, bei dem er sich halb von seinem Stuhl hinterm Schreibtisch erhob und sie bat, Platz zu nehmen. Dann griff er nach seiner Brille, nahm sie vom Kopf und legte sie neben den Telefonapparat. Johanna starrte die Brille an und ihr Herz begann wild zu schlagen.

1949

Die Brille war das, woran sie sich am deutlichsten erinnern konnte. Nicht das Quietschen des alten Bettes, nicht das leichte Schwingen der Gardine im Takt ihrer beider Körper, nicht die Nachttischlampe mit dem angeschlagenen grünen Lampenschirm – es war die Brille auf dem Nachtkästchen, an die sie sich erinnern würde, wenn sie später an ihr erstes Mal zurückdachte.

Da lag es, dieses Ungetüm, und schaute sie beide mit blinden Augen an, wie sie sich nach und nach entkleideten und er dann nackt auf ihr zu liegen kam. Sie hätte sich sehr gewünscht, jemand hätte das ganze von Außen choreografiert, wie ein Regisseur, denn weder er noch sie schienen genau zu wissen, wo welcher Arm oder welches Bein genau hingehörten. Alles wirkte so ungelenk und hilflos, bis er endlich die richtige Position zwischen ihren Beinen gefunden hatte, und selbst dann zögerte er noch, als er auf Widerstand stieß, von dem sie erwartete, dass er ihn schnellstmöglich überwinden möge. Aber auch das dauerte eine ganze Weile und war zudem recht schmerzhaft, was er mit vielen Küssen und leise dahingeflüsterten Worten wiedergutzumachen versuchte. Doch irgendwann hörten auch die Küsse und die Worte auf und Johanna vernahm nur noch ihrer beider Keuchen und das Knirschen des Bettes, als er sich rhythmisch in ihr bewegte.

Das alles kam ihr vor wie ein Film, ein Kinofilm auf besonders kleiner Leinwand, denn sie konnte sie beide die ganze Zeit über beobachten, wie sich ihre Nacktheit und ihre Bewegungen und sein Zittern beim Höhepunkt in den Brillengläsern auf dem Nachttisch spiegelten. Johanna hatte noch nie einen Erotikfilm gesehen, so war also auch das eine Premiere für sie und sie fand das Bild ihrer Brüste und seiner Hände darauf um ein Vielfaches aufregender und lustvoller als das, was sie tatsächlich miteinander taten. So blieb das Bild in ihr lebendig, während sich ihre Körper schon längst wieder voneinander gelöst hatten und nun nebeneinanderlagen. Georg fischte nach einer kleinen Flasche Cognac, die er im Nachtkästchen versteckt hatte.

»Magst du einen Schluck?«, fragte er sie.

Offensichtlich, so ging es Johanna durch den Kopf, hatten sie mit ihren Kleidern auch alle Sprachbarrieren abgelegt und duzten einander nun.

»Ja«, sagte sie, nahm die Flasche und trank einen Schluck daraus. Das heiße Brennen in Hals und Speiseröhre tat ihr wohl, anders als das Brennen zwischen ihren Beinen. Dann reichte sie die Flasche an ihn zurück.

»Ich hätte nicht gedacht …«, begann er und brach dann seinen Satz einfach ab. Verlegen drehte er die Cognacflasche in seinen Händen.

»Was hättest du nicht gedacht?«

»Dass das dein erstes Mal ist.«

»Wieso?«, fragte sie verwundert.

»Weil du gleich mit mir mitgekommen bist«, gab er unumwunden zu.

Sie richtete sich auf ihrem Ellbogen auf. »Du hast mich für eine Schlampe gehalten?«

»Nein!«, gab er entrüstet zurück.

»Doch«, stellte sie fest. »Du hast geglaubt, ich mache so etwas regelmäßig und dass ich mit jedem mitgegangen wäre. Richtig?«

Er schwieg und kletzelte das Etikett des Cognacs herunter. Da richtete sie sich vollends im Bett auf, wobei die Bettdecke von ihren Brüsten rutschte und den Blick auf zwei dunkelrosa Höfe freigab.

»Ich will dir mal was sagen, Georg Neuendorff aus dem Justizministerium: Hör auf, schlecht von dir selbst zu denken. Wer das macht, hat keine Zukunft vor sich. Der kann gleich da bleiben, wo er ist. Ich bin nicht mit dir mitgegangen, weil ich so etwas öfters mache, ich bin mit dir mitgegangen, weil du mir gefallen hast.«

Beschämt hielten seine Finger beim Herunterlösen des Etiketts inne.

»Aber an mir ist ja nichts Besonderes«, sagte er leise.

Da nahm sie seinen Kopf zwischen ihre langen, schlanken Finger und sah ihm direkt in die Augen. »Da, wo ich herkomme, da gibt es keinen, der so ist wie du. Und ich würde ja schließlich nicht mit jedem x-beliebigen Hanswurst ins Bett gehen. Also red nicht schlecht von dir selbst. Das macht mich zornig.«

Zorn, so fand er, stand ihr enorm gut. Also nahm er einen kräftigen Schluck vom Cognac und reichte ihn an Johanna weiter. Die setzte die Flasche an die Lippen und trank sie in einem Zug leer. Im Nu war sie vollkommen betrunken. Mit einem langen Blick besah sie sich das Schlachtfeld, in dem sie lagen, die leichten Blutspuren an ihren Oberschenkeln, die Flecken auf dem Laken. Das hatte so gar nichts Glamouröses oder gar Überwältigendes an sich, eher schon etwas Animalisches. Und es war so gar nicht das, was sie für ihr erstes Mal geplant hatte. Dieses alte Bett, dieses kleinbürgerliche Zimmer und diese alberne Brille auf dem spießbürgerlichen Nachtkastl – das roch zu sehr nach der Welt, aus der sie gerade aufgebrochen war, nach etwas Vertrautem, fast Heimeligem.

Wenn man sich die Einrichtung so ansieht, dachte sie, dann hätte ich es auch mit dem Kurti Mischkulnig von nebenan treiben können. Doch dann verdrängte sie den Gedanken an den Nachbarsjungen ihrer Favoritener Kindheit, der ihr immer unter den Rock hatte greifen wollen, schnell wieder. Sie war kein kleines Mädchen mehr und Georg war nicht der Kurti, aus dem nichts Gescheites geworden war und sicher auch nichts mehr werden würde. Man sollte sich von der Umgebung nicht blenden lassen. Dieser hier, da war sie sich ziemlich sicher, war anders. Und auch sie war anders. Wenn die Freundinnen aus der Schulzeit sie jetzt so sehen könnten! Da lag sie im Bett mit einem Herrn vom Ministerium. Hätte schlimmer kommen können! Zumal er jung und nett und rücksichtsvoll war und seine Sache ja gar nicht mal so schlecht gemacht hatte.

Sie deutete auf das beschmierte Bettlaken. »Was wird wohl deine Wirtin dazu sagen?«

Da fing er an zu lachen, leise und mit für sein Alter ausgesprochen vielen kleinen Lachfältchen um die Augen. »Rausschmeißen wird sie mich«, sagte er, »aber hochkant!«

Sein Lachen war ansteckend. Jetzt, dachte Johanna und betrachtete seine schmale Brust und die freundlichen Maulwurfsaugen, sah er richtig süß aus, ihr Georg vom Ministerium. Sie ließ ihre Hand über seinen Bauch gleiten.

»Komm«, schlug sie vor, »machen wir es noch einmal.«

»Wirklich?«, fragte er ungläubig, aber dennoch hoffnungsvoll.