Johannisfeuer - Yann Sola - E-Book

Johannisfeuer E-Book

Yann Sola

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Beschreibung

Die finstersten Seiten der Côte Vermeille. Eine geheimnisvolle, stumme Frau, ein toter Priester, spektakuläre Bergbesteigungen, ein neuer, vierbeiniger Gefährte und menschliche Abgründe: Es verspricht ein ereignisreicher Sommer zu werden. Der vierte Fall bringt Perez, den wohl ungewöhnlichsten und beliebtesten Privatermittler und Kleinganoven Südfrankreichs, an seine Grenzen.Der Bewegungsmuffel Perez hat leichtsinnigerweise seiner Stieftochter versprochen, mit ihr den Gipfel des Canigou in der Nähe von Perpignan zu besteigen, wenn dort Ende Juni das Johannisfeuer entzündet und ein rauschendes Fest gefeiert wird. Auf einem Spaziergang, den er zur Vorbereitung in den Bergen unternimmt, findet er den leblosen Körper einer jungen Frau, die seit mehr als sechs Jahren vermisst wird. Sie erwacht im Krankenhaus, spricht aber nicht. Als nahe Montpellier ein weiteres Mädchen gefunden wird, glaubt Perez nicht an einen Zufall. Was verbindet die beiden Frauen? Haben sie etwas mit der ominösen Glaubensgemeinschaft zu tun, die auch im beschaulichen Banyuls-sur-Mer um Jünger wirbt? Bald muss er feststellen: Dieser Fall ist groß, viel zu groß für einen Hobbydetektiv wie ihn. Doch Perez wäre nicht Perez, würde ihn diese Erkenntnis von den Ermittlungen abhalten!

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Seitenzahl: 350

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Yann Sola

Johannisfeuer

Ein Südfrankreich-Krimi

Kurzübersicht

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Inhaltsverzeichnis

Über Yann Sola

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Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

Kapitel 1

Perez parkte seinen Wagen auf dem Col des Gascons, einem Bergsattel oberhalb von Banyuls-sur-Mer. Kaum hatte er die Tür aufgedrückt, schoss sein Hund Hippy auch schon aus dem überhitzten Fahrzeug hinaus. Die Hinterbeine sprungbereit eingeknickt erwartete er sein korpulentes Herrchen auf dem glühend heißen Parkplatz. Perez brauchte etwas länger, um sich aus dem Sitz zu schälen. Der Kangoo ächzte erleichtert auf, als er es endlich geschafft hatte.

Hippy lief voraus, er kannte sich aus, schließlich kamen sie seit nunmehr fünfzehn Tagen hierher, fast immer zur gleichen Stunde, um das zu absolvieren, was Perez »Höhentraining« nannte. Zwar stellte der recht breite und zumeist ohne Steigung verlaufende Weg auch für ungeübte Wanderer kaum eine Herausforderung dar, doch Perez hoffte, sich hier oben, rund dreihundertfünfzig Meter über dem Meer, schon einmal an die Höhenluft gewöhnen zu können.

Er hatte Stéphanie, der Tochter seiner Lebensgefährtin Marianne, ein höchst uneigennütziges Geschenk gemacht: Er hatte versprochen, mit ihr auf den Canigou, den heiligen Berg der Katalanen, zu steigen. Und zwar, wie der Brauch es von einem guten katalanischen Vater verlangte, zur Sommersonnenwende, wenn in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni oben auf dem Gipfel in dreitausend Metern Höhe das Johannisfeuer entfacht wurde. Von dort aus brachten dann die Abgesandten aller katalanischen Gemeinden von Perpignan bis Barcelona eine lodernde Fackel zurück in ihre Dörfer und entzündeten les feux de la Saint-Jean. Anschließend wurde ausufernd gefeiert.

Langsam setzte Perez seine müden Knochen in Bewegung. Zu seiner Rechten stieg der Berg steil an. Würde man dem ausgetretenen Pfad zwischen blühenden Ginsterbüschen folgen, käme man nach zweihundert Höhenmetern zu den Ruinen einer Verteidigungsanlage, von wo aus eine betonierte Straße direkt zum Tour de Madeloc führte. Unmöglich, dachte sich Perez jeden Tag aufs Neue, eine solche Steigung zu meistern. Da ließ er seinen Blick doch lieber talwärts schweifen. Weinstöcke, so weit das Auge reichte, auf kunstvoll terrassierten Parzellen. Die rot-braunen Schiefer- und Tonböden trugen das Gold der Region. Der Anblick der prallvoll hängenden Reben hatte auf Perez eine beruhigende Wirkung. Ganz weit unter ihm erstreckte sich das in der Sonne glitzernde Mittelmeer bis zum Horizont. Perez stöhnte lustvoll.

Vor einem halben Jahr, genauer gesagt, als eine gewisse Dame, die kurz darauf tot aufgefunden worden war, den Beagle Hippy in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in seiner Wohnung abgeladen hatte, war Perez, zuvor ausgewiesener Bewegungsphobiker, zum Fußgänger geworden. Jeden Tag schlenderte er seitdem mit seinem Hund durch die Gassen von Banyuls, deutlich häufiger, als es das sogenannte Geschäft des Tieres verlangt hätte. Aber dass er durch diese häufig durch kurze Plaudereien mit Bekannten und Freunden unterbrochenen Spaziergänge die notwendige Kondition aufbaute, um eine Bergbesteigung nahe der Todeszone durchzustehen, bezweifelte er. Und so hatte er sich entschlossen, dieses Höhentraining zu absolvieren. Auch wenn er es niemals öffentlich zugegeben hätte, tat ihm die Bewegung gut und machte ihm, im Rahmen des Möglichen, sogar Spaß.

Und erst das Zusammensein mit seinem neuen Freund Hippy – wie sehr hatte er sich an ihn gewöhnt, wie sehr war ihm das Tier innerhalb kürzester Zeit ans Herz gewachsen. Ihm, der früher nur beleidigende Worte für Hundebesitzer übrig gehabt hatte. Es war ihm unmöglich, sich ein Leben ohne Hippy vorzustellen, ihn gar wieder abzugeben, wie er es zunächst vorgehabt hatte. Tage, an denen er den Hund bei Stéphanie, Marianne oder seiner leiblichen Tochter Marie-Hélène zurücklassen musste, gehörten nicht zu den glücklichen. Manchmal ließ er ihn auch bei Haziem im Conill amb Cargols, seinem Restaurant unten in Banyuls. Die beiden waren ebenfalls ineinander vernarrt. Was für Perez ein Segen war. Wie viel von Hippys Liebe auf das grandiose Futter zurückzuführen war, das er von dem Koch erhielt, fiel ins Reich der Spekulation.

 

Die ersten Schritte waren immer besonders schwer. Die Gelenke knackten zum Fürchten, die Sehnen und Bänder schmerzten. Allein der gute Wille trieb ihn voran.

Kaum war er um die erste Kehre spaziert, hielt er auch schon wieder inne, stellte den Rucksack ab und wühlte darin herum.

»Verdammte Hitze«, murmelte er und sah sich vorsorglich nach allen Seiten um. Erst als er sicher sein konnte, dass kein anderes menschliches Wesen in der Nähe war, zog er eine Kappe hervor und setzte sie auf. Beleidigend beige war sie, hatte einen überlangen Schirm und auf der Rückseite flatterte eine Art Plane, die Nacken und Ohren bedeckte. Marke: Légion étrangère.

Bis nach Perpignan war er gefahren, um dieses Accessoire des Grauens zu erstehen. In einem Geschäft, in dem er von niemandem erkannt werden konnte.

Nach einer halben Stunde in gemächlichem Tempo hörte Perez Hippy, der bereits hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden war, aufgeregt bellen. Sie befanden sich kurz vor dem Punkt, an dem sie immer umkehrten, noch vor der ersten Steigung, die er sich für die letzten Tage der Vorbereitung aufsparen wollte. Man musste es ja nicht gleich übertreiben. Er war schon voller Vorfreude auf die Rast, die er an dieser Stelle einzulegen pflegte. Für gewöhnlich setzte er sich am Straßenrand ins verdorrte Gras, zog sein klitschnass geschwitztes Hemd aus, legte es ausgebreitet neben sich, damit die Sonne es trocknete, und machte sich über die Vesper her, die, von Haziem liebevoll zubereitet, in seinem Rucksack steckte. An diesem Tag war es eine frische, knusprige Baguette, aufgeschnitten, mit etwas Nussöl beträufelt und mit reichlich Jambon à l’os, feinstem Kochschinken, und etwas Rauke belegt. Alles getoppt von Moutarde à l’ancienne, der mit milder Schärfe das Geschmackserlebnis abrundete. Eine einfache, aber köstliche Brotzeit. Dazu eine Dose Jahrgangssardinen, die ihm Eustache, der alte Grantler aus Collioure, seit letztem Jahr nach elendig langen Verhandlungen endlich ins Conill lieferte. Selbstredend befand sich auch ein Petit Rouge im Rucksack, tatsächlich nur eine halbe Flasche, schließlich war er ja jetzt ein Sportsmann – irgendwie jedenfalls.

Perez lauschte. Hippy bellte so gut wie nie, höchstens knurrte er ein wenig. Tat er es doch, war etwas Ungewöhnliches im Gange oder gar Gefahr im Verzug.

Oder war es gar nicht Hippy gewesen, hatte da ein anderer Vierbeiner gebellt? Wäre dies der Fall, würde er hinter der Kurve ziemlich sicher auch auf Menschen treffen.

Vorsichtshalber riss er sich die Kappe vom Kopf und stopfte sie in die tiefen Taschen seiner Shorts. Schnell fuhr er sich mit den Fingern durch die schwarzen schweißnassen Locken und versuchte sich an einem ungezwungenen Wandererlächeln, obwohl ihm gerade nicht danach war.

Der letzte Abend auf Mariannes Dachterrasse steckte ihm noch in den Knochen. Es war wunderbar mild gewesen, so ganz ohne Wind. Marianne hatte ihn bekocht, was sie ausgesprochen selten tat, und er hatte einen seiner besten Weine geöffnet. Vielleicht war es am Ende doch ein Glas zu viel gewesen.

Er gab sich einen Ruck und umrundete entschiedenen Schrittes die Felsnase. Nun sah er den Grund für das Gebell wenige Meter vor sich im Staub. Ein regloser Körper lag zusammengekrümmt mitten auf dem Weg. Und daneben Hippy, der hilfesuchend sein Herrchen ansah und dabei herzerweichend winselte.

Kapitel 2

Perez näherte sich vorsichtig. Sein Puls raste. Was tat man in so einer Situation? Die Bergwacht rufen? Gab es so etwas überhaupt an der Côte Vermeille? In Banyuls jedenfalls nicht. Einen Hubschrauber anfordern? Die Polizei verständigen?

Er zwang sich zur Ruhe und ging in die Hocke. Vorsichtig stieß er mit dem Finger gegen die Schulter der Person. Er wartete viel zu lange auf eine Reaktion, die nicht kam. Das Gesicht lag im Staub.

»Hallo«, sagte er überflüssigerweise, bevor er sich tiefer hinabbeugte und dabei feststellte, dass es sich um eine Frau handelte. Mit einem ausgemergelten, fast schon knabenhaften Körper und sehr kurz geschnittenem Haar.

Er versuchte herauszufinden, ob noch Leben in ihr steckte, ob sie noch atmete. Er fasste ihr an den Hals, er hatte keine Übung in derlei Dingen, wusste aber, dass man durch das Anlegen von Daumen und Zeigefinger den Puls fühlen konnte. Und tatsächlich war ihm, als schlage dort etwas.

»Sie lebt noch«, rief er Hippy zu, der jede seiner Bewegungen aufgeregt verfolgte. Der Hund winselte. »Ich weiß doch auch nicht …«, sagte Perez, zog sein Handy aus der Tasche und wählte Mariannes Nummer. Sie war praktischer veranlagt als er und würde sofort wissen, was zu tun war.

Nachdem er ihr in raschen Worten die Lage geschildert und erklärt hatte, wo genau er sich befand und wie man dorthin gelangte, befahl sie ihm, nichts zu unternehmen, bis der Notarzt eingetroffen war.

»Notarzt«, sagte er zu Hippy, nachdem er das Gespräch beendet hatte. Wieder bellte der Hund, als wollte er ihm mitteilen, dass er auf diese Idee auch selbst hätte kommen können. »Besserwisser«, knurrte Perez und ließ sich ins Gras sinken. Das Gesicht blass, eine Hand ruhte auf dem Körper der leblosen Frau.

 

So saß er auch noch da, als Marianne eine Viertelstunde später eintraf, noch vor dem Krankenwagen. Perez war keineswegs überrascht, sie war eben eine Frau der Tat.

Doch sie kam nicht allein. Kurz darauf stand nicht nur Perez’ Schwiegersohn Jean-Martin – le grand échalas, die Bohnenstange, wie er hinter vorgehaltener Hand genannt wurde – neben ihnen, es kletterte auch noch Stéphanie aus dem Wagen. Sie starrte betreten auf die Szenerie, Tränen schossen ihr in die Augen.

»Marianne!«, sagte Perez, während er versuchte, auf die Beine zu kommen. »Das ist doch kein Anblick …«

Weiter kam er nicht, weil seine Freundin ihn grußlos beiseiteschob, um sich über die Frau zu beugen.

»Stell dich so, dass sie im Schatten liegt!«, wies sie ihre Tochter an. »Perez! Du daneben. Jean-Martin, du auch. Steht nicht so rum. Na los, macht schon. Perez, gib mir dein Wasser.«

Sie sprach, ohne den Blick von der Bewusstlosen abzuwenden. Als nichts in ihrer nach hinten ausgestreckten Hand landete, drehte sie sich den drei Schattenspendern zu. Perez hob entschuldigend die Rotweinflasche hoch. Er benutzte Wasser ausschließlich zum Waschen. Den Vorwurf in Mariannes Blick beantwortete er mit einer trotzigen Geste, die so viel besagte wie: »Wasser? Also wirklich nicht.«

Marianne schaute zu Jean-Martin an Perez’ Seite. Das Gesicht des Dürren war weiß wie ein Kreidefelsen.

»JeMa, du hast doch immer eine Wasserflasche in deiner Umhängetasche«, sagte sie. Der Angesprochene nickte. »Also?«

»Wir sind so hektisch aufgebrochen …«

»Verdammt!« Marianne wendete sich wieder der Frau zu. Sie hob ihren Kopf leicht an. Mit einem sauberen Taschentuch wischte sie ihr den Dreck aus dem Gesicht. »Das ist doch … dieses Mädchen«, sagte sie mit Erstaunen in der Stimme – »Wie heißt sie denn noch gleich?«

Perez legte die Stirn in Falten.

»Stimmt«, sagte er leise. »Jetzt wo du es sagst, kommt sie mir auch irgendwie bekannt vor.«

»Es ist das Mädchen, das damals …«, rief Marianne in diesem Augenblick. »Ganz bestimmt ist sie das. Die Tochter von, ach, ich komme nicht auf den Namen. Das gibt’s doch gar nicht.«

Auch Perez erinnerte sich an die ganzseitigen Suchanzeigen, die seinerzeit im L’Indépendant abgedruckt worden waren. Allerdings hatte sich das Mädchen stark verändert.

»Wie lange ist das her?«, fragte er, erhielt aber keine Antwort.

Ihr Verschwinden hatte vor einigen Jahren für viel Aufruhr gesorgt. Vor allem deshalb, weil niemand im Ort je von der Familie des Mädchens gehört hatte. Kein Wunder also, dass ihm der Nachname jetzt nicht einfiel.

»Granado!« Marianne schrie es förmlich. Die umliegenden Berge warfen das Echo zurück.

»Granado«, bestätigte er, nur halb überzeugt.

»Ambre«, flüsterte Marianne, als wollte sie das Echo überlisten.

»Ambre Granado«, setzte Perez beide Informationen zusammen. »Was ist ihr bloß zugestoßen?«

 

In diesem Augenblick hörten sie in der Ferne die Sirenen der Ambulanz. Es dauerte noch eine Ewigkeit, bis der Krankenwagen um die Kurve schaukelte.

Perez lief hinüber zu den Pompiers und überschüttete die beiden Sanitäter und den Notarzt mit Informationen und Fragen.

»Beruhigen Sie sich mal und lassen Sie uns unsere Arbeit machen«, sagte der Arzt, den Perez noch nie zuvor gesehen hatte. Die Sanitäter schoben ihn zur Seite und knieten sich neben den leblosen Frauenkörper. Perez und die anderen standen abseits und verfolgten gebannt jeden ihrer Handgriffe. Irgendwann rief der Mediziner über die Schulter:

»Sie wird wieder. Keine akute Lebensgefahr. Kennt einer von Ihnen die Frau?«

Alle schüttelten den Kopf. Ein Reflex. Eine Obrigkeitsallergie. Hier in der Gegend pflegte man seine Vorurteile noch und gab sie an die nächste Generation weiter.

»Armes Mädchen! Was ist ihr bloß geschehen?«, flüsterte Marianne. Sie hielt ihre Tochter dabei im Arm. »Ich frag mal, ob ich mitfahren darf.«

Die Übrigen sahen sie an.

»Warum?«, ergriff Perez das Wort. »Jetzt geht uns die Sache doch nichts mehr an. Die Flics werden ihre Eltern benachrichtigen und ihnen die glückliche Nachricht überbringen. Ihre Tochter lebt! Sie werden außer sich sein vor Glück.«

»Ganz bestimmt werden sie das. Aber ich will bei dem Mädchen bleiben, bis sie sich sicher in der Obhut ihrer Eltern befindet. Kannst du mich später in Perpignan abholen?«

»Na gut, meine schöne Samariterin. Wenn du dich damit besser fühlst.«

Es war großartig, mit einer Frau zusammen zu sein, der ihre Mitmenschen nicht gleichgültig waren, die sich einmischte und immer bereit war, zu helfen. Auch wenn er es in diesem Fall für unsinnig hielt. Seiner Meinung nach hätte Stéphanie ihre Mutter nach diesem Schock eher gebraucht als diese Ambre. Dann würde er sich eben um die Kleine kümmern. Mutter und Stiefvater konnten sich die elterlichen Pflichten ebenso gut teilen wie Mutter und leiblicher Vater. Hoffentlich sah Stéphanie das auch so.

»Stellt euch vor, sie wacht auf und sieht in lauter fremde Gesichter«, verteidigte Marianne ihren Plan. »Die der Polizisten, womöglich das des Elsässers? Nach allem, was sie vielleicht durchgemacht hat? Das muss man doch verhindern … Was seht ihr mich so an?«

»Fremde Gesichter?«, sagte Stéphanie.

»Wir sind uns nicht fremd. Wir kennen uns. Ist lange her.«

»Ach ja«, sagte Perez. »Jetzt machst du mich aber neugierig. Woher?«

Der Motor des Krankenwagens startete. Marianne blieb die Antwort schuldig. Sie lief zu dem Notarzt, unterhielt sich kurz mit ihm, woraufhin der sie einsteigen ließ.

»Was ist dir geschehen, Ambre Granado?«, rief Perez der entschwindenden Ambulanz hinterher.

»Das werden wir schon herausfinden«, sagte Stéphanie und drückte dabei seinen Arm.

Perez stöhnte auf, und es war nicht die Hitze, die ihm zusetzte.

Kapitel 3

Auf dem Rückweg nach Banyuls fuhr Perez absichtlich einen Umweg. Bevor er sich nicht ganz sicher war, dass Stéphanie mit dem Gesehenen gut umgehen konnte, wollte er sie nicht allein lassen.

»Es ist alles okay, Perez, wirklich«, versicherte ihm seine Ziehtochter zum wiederholten Mal. »Brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich habe mich bloß erschrocken, weil sie wie tot dalag. Aber jetzt, wo der Arzt gesagt hat, dass sie nicht in Lebensgefahr schwebt, ist alles gut. Du kannst mich zu Hause absetzen. Außerdem bin ich ja nicht allein, Jerry wartet auf mich.« Sie lachte. »Er hat mir schon zehn Nachrichten geschickt – mindestens.«

Perez knurrte. »Ist das jetzt eigentlich was Ernstes zwischen dir und diesem Jérôme?«

Stéphanie hatte den Jungen auf einer Jugendfreizeit der katholischen Kirche kennengelernt – schon die Ankündigung, dass sie mit einer kirchlichen Organisation zu verreisen beabsichtige, hatte für eine heftige Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter gesorgt. In der sich die Kleine allerdings tapfer durchgesetzt hatte. Aus den aufgeregten Diskussionen im Vorfeld hatte Perez sich herausgehalten – nun war Stéphanie das erste Mal in ihrem Leben verliebt, was sie natürlich abstritt. Der Junge war ganz in Ordnung, soweit der erste Freund der Tochter überhaupt in Ordnung sein konnte. Sie nannte ihn Jerry, weil sie den Namen Jérôme doof fand.

 

Kaum hatte er Stéphanie vor ihrer Wohnung abgesetzt und im Seitenspiegel beobachtet, wie die beiden jungen Leute sich begrüßten – mit den üblichen unverfänglichen Wangenküssen –, erhielt er auch schon einen Anruf von Marianne aus Perpignan. Der Fahrer der Ambulanz musste wie ein Verrückter gefahren sein.

Sie war empört. »Stell dir mal vor«, sagte sie ohne Begrüßung. »Das Krankenhaus hat sofort nach unserem Eintreffen die Polizei verständigt. Vorschrift, hat der Typ gemeint. Was für ein Crétin!«

Perez lachte. »Natürlich haben sie die Polizei verständigt. Was denkst denn du? Eine Frau wurde bewusstlos in den Bergen aufgefunden. Sie werden sie befragen, sobald sie vernehmungsfähig ist und natürlich die Eltern informieren. Normale Polizeiarbeit. Warum regst du dich so auf?«

»Das hätte ich ihr gerne erspart. Wer weiß, wie unsensibel die Polizisten hier wieder auftreten.«

»Wer weiß, ja, aber das kann uns doch eigentlich egal sein. Mein Gott, was hast du denn mit dieser Frau, woher kennst du sie überhaupt? Wir haben doch damit nichts zu schaffen. Ich habe sie gefunden, wir haben getan, was getan werden musste, und nun ist sie in Sicherheit und in medizinischer Betreuung. Alles ist gut, Marianne.«

»Ich bitte dich, du hast doch gesehen, in welchem Zustand sie ist. Wer weiß, was die Arme durchlitten hat. Und gerade dein Freund Boucher ist ja nicht eben berühmt für seine mitfühlende Art und seinen liebevollen Umgang mit Menschen. Sie sollte sich erst einmal bei ihrer Familie erholen können. Danach … nun ja …«

»Ich verstehe, dass dir das nahegeht, schließlich kennst du das Mädchen. Aber genau das werden die Bullen tun, sie werden sie zu ihrer Familie zurückbringen, wenn sie die Umstände ihres Verschwindens geklärt haben.«

»So etwas würde ich für jeden tun, ob ich die Person kenne oder nicht spielt keine Rolle, das ist doch selbstverständlich.«

»Hast ja recht.«

Perez atmete durch. »Mach dir mal keine Sorgen«, schob er beschwichtigend nach. »Bei unserer Polizei dauert sowieso alles länger. Boucher wird nicht persönlich auftauchen. Da kommen die einfachen Beamten, die zuerst mal den Papierkram erledigen. Noch weiß ja niemand, dass sie vermisst wird. Sie hatte doch keinen Ausweis dabei, oder?«

»Nein.«

»Na, siehst du, dann sind sie für eine Weile beschäftigt. Außerdem können die Beamten sie erst befragen, wenn die Ärzte grünes Licht dafür geben. Das wird heute in keinem Fall etwas. Du hast also genügend Zeit, die Dinge so zu regeln, wie du es für richtig hältst.«

»Ich habe den Schwestern in der Aufnahme ihren Namen genannt, das musste ich ja wohl.«

»Weniger gut. Dann sehen die Flics natürlich nach, ob ihr Name in irgendwelchen Akten auftaucht. Aber was soll’s, ist doch gut, sie rufen die Leute an und die kommen ihre Tochter holen.«

»Damals war sie etwas fülliger«, sagte Marianne.

Perez schwieg, er wusste nicht, was seine Freundin damit sagen wollte.

»In jedem Fall trug sie ihr Haar lang, sie war ein strahlend schönes Mädchen. Und nun liegt da eine ausgezehrte Frau mit Kurzhaarfrisur, die wesentlich älter aussieht, als sie ist.«

»Apropos, wie alt wird sie wohl sein?«

»Zweiundzwanzig … dreiundzwanzig, ich erinnere mich nicht mehr, wann genau sie verschwunden ist. Stéphanie muss damals so zehn oder elf gewesen sein. Das hat mir einen derartigen Schock versetzt, dass ich meine Kleine wochenlang nicht aus den Augen gelassen habe. Was sollen wir jetzt machen, Perez? Du kennst dich doch gut aus. Du weißt, wie man Polizeiarbeit behindert.«

Er kratzte sich am Kopf. Was war nur los mit Marianne? Er konnte beim besten Willen nicht verstehen, wo hier das Problem lag.

»Ich behindere niemals, ich helfe!«, sagte er, um irgendetwas zu antworten und beschloss gleichzeitig, im Ungefähren zu bleiben. »Man muss einfach nur ein wenig schneller als die Beamten sein. Und das ist hier unten nicht soooo schwer.« Dann kam ihm die Idee, wie er sich aus der Situation befreien konnte. »Wenn du willst, fahre ich jetzt gleich zu diesen Granados und sorge dafür, dass sie noch vor der Polizei bei ihrer Tochter sind. Dann ist doch alles bestens, oder nicht? Das ist es doch, was du möchtest, wenn ich dich richtig verstehe.«

»Wenn sie dich reinlassen.«

Perez lachte laut. »Die Granados? Warum denn nicht?«

»Sie sind sonderbar.«

»Daran erinnere ich mich dunkel, das erzählte man sich damals. Aber warum sollten sie mich nicht reinlassen?«

»Gegenfrage: Kennst du jemanden, der mit ihnen befreundet ist?«

»Ich weiß mir schon zu helfen. Also?«

»Was?«

»Soll ich nun oder nicht?«

»Was?«

»Na, hinfahren!«

»Du könntest schon weg sein.«

»Okay! Wo finde ich die Familie?« Marianne nannte ihm die Adresse. Perez zuckte zusammen. »Die Fremden?«, stammelte er. »Das sind sie?«

»Wie bitte?«

»An der Straße gibt es nur ein einziges Wohnhaus. Es steht mitten in den Weinbergen. Und ich kenne die Umgebung wie meine Westentasche. Es liegt direkt gegenüber von Antonios Erdbunker.«

»Dann kannst du es ja nicht verpassen.«

»Wird sie denn wieder? Ich meine, was soll ich den Leuten sagen – sollten sie mit mir sprechen?«

»Die Ärzte haben sich nichts entlocken lassen. Bisher haben wir nur die Aussage des Notarztes: ›Sie wird schon wieder, es sieht nicht lebensbedrohlich aus‹ und einige Infos von meiner Freundin Babette, du erinnerst dich doch an sie? Mittelgroß, schwarze Haare, aus Elne.« Die Beschreibung trifft auf neunzig Prozent der katalanischen Frauen zu, dachte Perez, sagte aber nichts. »Sie ist hier Krankenschwester und hilft mir, so gut sie kann.«

»Also?«

»Aus Sicherheitsgründen, um auszuschließen, dass Ambre einen Schlaganfall hatte, wird sie in die Röhre geschoben, das hat sie mir anvertraut. Danach werden sie überprüfen, ob sie vielleicht Diabetikerin ist. Jedenfalls, ganz egal, wie das hier weitergeht, wenn das Mädchen aufwacht, soll sie vertraute Gesichter sehen, nicht irgendwelche Bullenfressen.«

»Bullenfressen? Marianne, ich erkenne dich kaum wieder. Es ist schon ein bisschen komisch, dass ausgerechnet du gegen das Einschalten der Polizei bist, das ist dir klar, oder?«

Ein ewiger Streitpunkt zwischen ihnen.

»Ich habe andere Beweggründe als du, mein Bester. Und im Gegensatz zu dir habe ich keine Angst vor der Polizei.«

»Aber eine Freundin der Staatsmacht scheinst du mir auch nicht gerade zu sein.«

»Bin ich auch nicht. Aber deine undifferenzierte Abneigung … Ist ja jetzt auch völlig egal …«

»Ich fahre los, Marianne. Es wird nicht lange dauern, dann werden die Granados bei ihrer Tochter sein. So lange kontrollierst du da drüben das Geschehen. Die armen Ärzte! Sie tun mir jetzt schon leid …«

Kapitel 4

Perez fuhr in Richtung Col de Banyuls, nach seiner schweißtreibenden Sporteinheit hätte er gerne geduscht, doch dazu war keine Zeit. Hippy lag eingerollt und von den aufregenden Ereignissen ermüdet auf dem Beifahrersitz. Den Fußraum lehnte das Tier kategorisch ab.

Kurz hinter dem Musée Maillol bog er in die Straße ein, die hinauf in die Weinberge führte. Am Ende der Can Raphalet stand das Haus der Granados, von einer alten Steinmauer vor neugierigen Blicken geschützt. Aber wer sollte hier oben schon vorbeikommen?

Die Weinberge reichten bis unmittelbar an die Grundstücksgrenze, auf der anderen Seite fiel das Gelände steil ab, es war durch harte Sträucher, Wurzelfallen und scharfkantige Felsstücke nahezu unzugänglich.

Perez stieg aus, öffnete seinem vierbeinigen Freund die Beifahrertür und sah sich um. Ein paar Meter entfernt befanden sich die Überreste eines alten Bunkers, so gut wie unsichtbar, so sehr waren sie von Moos und Gräsern überwuchert. Die Eingangstür war doppelt gesichert, wie er wusste.

Perez kannte das Terrain, es gehörte nicht zum Haus der Granados, auch wenn es direkt gegenüberlag. Der Winzer, ein alter Kauz, hielt dort einige Flaschen versteckt, um die man sich an der Côte Vermeille riss wie um kaum etwas anderes. Die Reben, die die Trauben für diese Köstlichkeit lieferten, wuchsen nicht auf diesen eher kargen Böden, sondern auf einem Stück Land oberhalb des Cap l’Abeille. Der Wein hieß Creus und verhalf Perez zu seinem bescheidenen Reichtum, der Winzer war sein Vater Antonio.

Perez war schon oft mit ihm hier heraufgefahren. Wenn sein eigener Vorrat nicht mehr ausreichte, um die Nachfrage zu befriedigen, und er seinen Vater deshalb bitten musste, ihm mit einigen Flaschen aus dessen Bestand auszuhelfen. Antonios Anteil ging niemals zur Neige, er war zu geizig, den teuren Tropfen selbst zu trinken. Aber sooft Perez auch schon hier oben gewesen war, er hatte noch nie jemanden in dem großen Haus gegenüber gesehen. Laut Antonio wohnten »Fremde« auf dem Anwesen, mehr war nicht aus ihm herauszubekommen. Wahrscheinlich wusste er tatsächlich nicht, wer sie waren, weil er sich nicht für andere Menschen interessierte.

Perez erinnerte sich, dass das verfallene »Mas«, wie man freistehende alte Gutshöfe in Katalonien nannte, ehemals einem Schäfer als Unterschlupf gedient hatte, bevor es vor langer Zeit an einen Lyoner Rechtsanwalt veräußert worden war. Der hatte es mit erheblichem Aufwand restauriert und wieder bewohnbar gemacht. Als seine Frau verstarb, wechselte das Haus erneut den Besitzer. Seit einer halben Stunde wusste Perez nun auch, wer es dem Juristen abgekauft hatte: die Familie Granado.

»Sehen wir mal nach, ob die Fremden zu Hause sind, was, Hippy?«, sagte er und legte den Finger auf die Klingel.

Als sich auch nach mehrfacher Wiederholung nichts rührte, drückte er die Klinke nieder. Die Holztür war verschlossen. Normalerweise ließen die Menschen an der Côte Vermeille, zumindest die Einheimischen, ihre Häuser selbst bei längerer Abwesenheit offen stehen, kleine Hoftore wie dieses allemal. Oftmals steckte sogar der Schlüssel – von außen. Nicht so bei den »Fremden«.

»Hallo«, rief Perez einige Male, ohne Gehör zu finden. Er stieg zurück in den Wagen, wendete und parkte den Kangoo so dicht neben der Mauer, dass er auf die Motorhaube klettern und von dort einen Blick auf das eigentliche Haus werfen konnte.

Mitten im gepflasterten Hof stand eine alte Zisterne, ebenso liebevoll aufgearbeitet wie der Rest des Anwesens. In vernünftigem Abstand zu dem Brunnen wuchsen zwei Zypressen. Zwischen ihnen hing eine bunte Hängematte. Etwas tiefer hangabwärts glitzerte das Wasser eines in den Felsen gesprengten Swimmingpools in der Sonne.

Perez war so fasziniert von diesem Idyll, dass er für einen Moment vergaß, weshalb er gerade Beulen in seine Motorhaube drückte. Er riss den Blick vom Garten los und ließ ihn prüfend über die Fassade des Hauses gleiten. Die petrolgrünen Fensterläden waren allesamt fest verschlossen.

Erneut rief er laut den Namen der Familie, bevor er, überzeugt, dass sich niemand im Haus befand, zurück auf die Straße sprang.

»Das hättest du sehen sollen, Hippy, wie diese Leute wohnen. Wirklich schön, so was könnten wir uns nicht leisten. Eine ungerechte Welt ist das, mein kleiner Freund. Ich rufe mal Haziem an.«

Ein leises Quieken war alles, was Hippy dazu zu sagen hatte.

Perez bat den Koch, für ihn die Telefonnummer der Granados herauszusuchen.

»Ich schaue gleich mal im Internet nach, wenn ich was finde, schicke ich’s dir aufs Handy«, sagte der Maghrebiner. »Wer sind diese Leute? Hab den Namen noch nie gehört.«

»Fremde!«, antwortete Perez und lächelte. »Ich erkläre dir alles später. Danke, mein Großer. Was gibt’s eigentlich heute zu essen? Ich sterbe vor Hunger.«

 

»Wir befinden uns auf einer Auslandsreise und sind bis auf Weiteres auf diesem Wege nicht erreichbar. Hinterlassen Sie keine Nachricht, der AB wird nicht abgerufen.«

Perez sah sein Telefon an, als wäre das schwarze Ding verantwortlich für die Ansage auf dem Anrufbeantworter der Familie Granado.

»Hast du Töne, Hippy? Was geht in der Birne von Leuten vor, die so was auf Band sprechen? Klingt geradezu wie eine Einladung für Einbrecher und Diebe, findest du nicht? Sehr leichtsinnig!«

Eine Handynummer hatte Haziem ihm nicht geschickt. Er dachte kurz nach, dann wählte er Mariannes Nummer.

»Im Ausland? Merde!«, fluchte sie, nachdem er sie ins Bild gesetzt hatte. »Das kann dauern, bis sie wiederkommen. Soweit ich mich erinnere, fahren die häufiger in der Welt herum. Monsieur Granado ist Musiker und Forscher. Stets auf der Suche nach seltenen Instrumenten oder fremden Gesängen. Nach unbekannter Musik und so. Manchmal im Dschungel von Brasilien, manchmal auf Sumatra oder in entlegenen Dörfern des Himalaya.«

»Bei Gelegenheit, meine Liebste, solltest du mir erzählen, woher du diese ganzen Details über uns völlig fremde Leute kennst. Sag mir erst einmal, was ich jetzt machen soll.«

»Reg dich nicht gleich auf, Perez, ja? Bitte! Ich würde das Mädchen gerne zu mir nehmen, bis die Eltern wieder da sind. Oder zumindest so lange, bis sie zu Kräften gekommen und fähig ist, für sich selbst zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Ich hätte kein gutes Gefühl, wenn sie hier im Krankenhaus bliebe oder in die Obhut der Polizei überstellt würde.«

»Marianne«, hob Perez, um Ruhe bemüht, an. Doch er konnte sich in dem kurzen und heftigen Gespräch, das nun folgte, nicht durchsetzen. Marianne hatte ihre Entscheidung längst getroffen. Und was das bedeutete, wusste er.

»Alors«, sagte er am Ende resignierend. »Was sollen wir nun machen?«

»Haben wir nicht bei Docteur Brossard noch etwas gut? Er könnte uns helfen.«

Perez schüttelte den Kopf, was sie natürlich nicht sehen konnte. Warum betrieb sie so einen Aufwand? Sicher, die Sache mit dieser Ambre war schlimm, aber mussten sie dafür den Gefallen einfordern? Er hätte sich das lieber für etwas wirklich Wichtiges aufgespart. Aber er konnte nichts dagegen sagen – Docteur Brossard stand weitaus tiefer in Mariannes Schuld als in seiner.

Kapitel 5

Perez fuhr zurück nach Banyuls, neben ihm auf dem Beifahrersitz quengelte Hippy, er hatte seit dem frühen Morgen nichts zu fressen bekommen. Perez erinnerte sich an die Lunchbox, die noch im Rucksack steckte. Er hielt an, packte die liebevoll präparierte Baguette aus und teilte sie gerecht mit dem Hund. Mit dem Effekt, dass er danach erst so richtig hungrig war. Ein Blick auf Hippy zeigte, dass es dem Vierbeiner nicht anders erging.

»Das Leben ist nicht immer leicht, mein Bester«, stöhnte Perez. »Wir fahren jetzt zu Docteur Brossard. Aber danach, da lassen wir uns von Haziem was Ordentliches zubereiten, was hältst du davon?«

Ihm war, als nickte der Hund, wenn auch zögerlich. Hippy war Brechtianer: Erst kam das Fressen, dann die Moral. Perez hegte für diese Einstellung eine große Sympathie und er hatte schon allein deshalb nicht vor, sich lange bei Brossard aufzuhalten. Marianne hatte ihn beauftragt, die Möglichkeiten, Ambre Granado aus den Fängen des Krankenhauses zu befreien, gemeinsam mit Brossard auszuloten. Als Mediziner kannte der sich damit hoffentlich aus, schließlich war er selbst lange Jahre im Krankenhaus von Perpignan in leitender Position tätig gewesen, bevor er die Praxis vom Herrn Papa in Banyuls übernommen hatte. Es ging darum, das Mädchen, sobald es stabil war, nach Banyuls zu verlegen.

 

Er parkte den Kangoo mitten auf der Straße direkt vor der Praxis und stieg, nachdem er Hippy befreit hatte, die wenigen Stufen zum Eingangsportal hinauf. Die Sprechstundenhilfe, eine unscheinbare Mittvierzigerin, warf ihm, sobald sie den Hund in seinem Schlepptau bemerkte, einen tadelnden Blick zu. Hunde waren in der Praxis unerwünscht.

Perez scherte sich nicht darum. Er sah auch nicht ein, den Umweg über das brechend volle Wartezimmer zu nehmen. Stattdessen stürmte er unter den heftigen Protestrufen der Frau direkt in das Behandlungszimmer, wo er den Doktor bei einem Gläschen Banyuls überraschte.

»Würde ich auch nicht ablehnen«, rief Perez und ließ sich, ohne eine Aufforderung abzuwarten, in einen der bequemen Besucherstühle plumpsen.

Das Verhalten des Arztes wunderte ihn keinen Moment lang. Schließlich war ein volles Wartezimmer noch lange kein Grund, sich nicht ordentlich zu ernähren. Und ein Glas Wein, noch dazu von dieser Qualität, gehörte seiner Meinung nach ebenso zu den Grundnahrungsmitteln wie ein fangfrischer Fisch, einige hauchzarte Scheiben Jabugo-Jabugo, ein knackiger Salat, fette Schnecken, knusprige Baguette und … Schluss damit! Er musste aufhören, ans Essen zu denken – sofort!

Nachdem er das ihm gereichte Glas mit dem größten Genuss geleert und die beiden Männer den neuesten Klatsch ausgetauscht hatten, wobei Perez wie zufällig Brossards drogensüchtigen Sohn erwähnt hatte, den er und Marianne vor mehr als einem Jahr aus einer gewaltigen Bredouille befreit hatten, kam er zu seinem eigentlichen Anliegen.

In knappen Worten erzählte er, was vorgefallen war und weihte den Doktor danach in Mariannes Plan ein. Brossard lauschte, ohne Zwischenfragen zu stellen. Am Ende nahm er den Telefonhörer zur Hand und rief einen Kollegen an, der – so legte es das kurze Gespräch nahe – bei ihm ebenso in der Kreide stand wie er bei Perez und Marianne.

»Und du meinst«, sagte der Arzt gegen Ende des Telefonats, »dass es tatsächlich erforderlich ist, dass ich meinen Freund begleite, nur für diese blöde Unterschrift? … Einer muss die Verantwortung übernehmen, ist doch klar … Natürlich erinnere ich mich. Aber solange die Frau … Die Vorschriften, wem sagst du das? … Na schön, mein Bester, wir machen uns gleich auf die Socken, mein Wartezimmer ist zwar knüppelvoll, aber bei einem Notfall … Hat Zeit bis morgen früh? … Umso besser. Passt acht Uhr für dich?« Brossard sah, wie Perez mit den Armen fuchtelte. »Oh, warte mal … Ich sehe gerade, dass ich um acht Uhr einen kleinen Eingriff vornehmen muss. Den kann ich unmöglich noch mal verschieben … Zehn sagst du? Das passt wunderbar. Um zehn auf Station … Ja, ich weiß, ich erinnere mich an das Zeitfenster der Visite. Danke, bis morgen dann!«

Brossard notierte die Uhrzeit auf einem Zettel und schob ihn Perez zu.

»Noch einen Banyuls?«, fragte er, ohne weiter auf das Gespräch einzugehen.

»Er ist ganz vorzüglich. Siebzehn Jahre im Fass gereift, was für ein herrlicher Tropfen, viel zu schade, um ihn achtlos wegzuschlürfen«, sagte Perez. »Draußen warten die Leute, ich will Ihre kostbare Zeit nicht noch länger in Anspruch nehmen. Hippy! Allez, wir lassen den Docteur seine Arbeit tun. Wir sehen uns morgen gegen halb zehn, ich hole Sie ab.«

»Um Punkt neun stehen Sie vor meiner Tür, sonst können Sie es vergessen.«

Perez knurrte anstelle einer Antwort, Hippy tat es seinem Herrchen gleich.

Kapitel 6

Perez stieg die Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Hippy, der leichtfüßig an ihm vorbeigeschossen war, erwartete ihn winselnd auf dem oberen Treppenabsatz.

»Gibt kein Fresschen, weißt du doch«, brummte er.

Normalerweise verließ Perez das Haus am späten Vormittag, um im Catalan zu frühstücken und kehrte erst irgendwann in der Nacht wieder heim, wenn er nicht bei Marianne schlief. Seiner Überzeugung nach blieb nur zu Hause, wer krank war – und das war er das letzte Mal im Alter von siebzehn Jahren gewesen. Das Gewese, das manche Menschen um die eigenen vier Wände machten, war ihm völlig unverständlich. Er kannte Leute, die darauf bestanden, einen Balkon oder gar einen Garten zu haben. Wozu? Wenn man an der frischen Luft sein wollte, konnte man sich doch auf die Terrasse eines Cafés setzen.

An diesem Spätnachmittag erschien ihm allerdings sein eigener Körpergeruch derart streng – was er auf den Stress des Erlebten zurückführte, denn für gewöhnlich roch er, selbst wenn er transpirierte, völlig neutral –, dass er sich frisch machen wollte.

Nach der schnellen Dusche verspürte er nur noch eins: einen gewaltigen Appetit. Zweimal schon hatte er in der Zwischenzeit mit Haziem telefoniert, nur um sicherzustellen, dass auch ja noch alle Gerichte der Karte verfügbar waren. Wäre eins zur Neige gegangen, hätte er sich vorsorglich die letzte Portion reserviert, schließlich konnte er noch nicht abschätzen, auf was er später Lust haben würde. Genau genommen hätte er die jeweils letzten drei Portionen sperren müssen, denn er hatte sich mit Marianne und Stéphanie verabredet, die ebenfalls noch nicht gegessen hatten. Sie würden sich ausgiebig stärken und dabei sicher eine Menge Gesprächsstoff haben.

 

Als er wenig später mit knurrendem Magen und knurrendem Hund das Conill betrat – Hippy hatte einen Artgenossen vor der Tür getroffen –, traf er auf eine Gästerunde, die er nicht erwartet hatte. An einem Fünfertisch saßen zwei junge Burschen, etwa dreizehn oder vierzehn Jahre alt, daneben eine elegant gekleidete Dame jenseits der sechzig und eine etwa vierzigjährige, ebenso attraktive Frau. Am Kopfende schließlich thronte ein hagerer, aus dem Elsass zugezogener Typ, rothaarig und mit einer von Sommersprossen übersäten Haut.

»Monsieur le Commissaire«, rief Perez und winkte. »Was machen Sie denn hier? Mesdames, bonsoir«, wandte er sich an die Frauen. »Die jungen Herren! Gibt es etwas in der Familie Boucher zu feiern? Sind Sie etwa schon wieder befördert worden?«

»Ah, Perez, da sind Sie ja endlich. Habe die ganze Zeit von Ihnen und Ihrer Neigung zum Lukullischen gesprochen, das kann man doch so sagen? Und über den fabelhaften Creus. Sie wissen ja, dass meine Frau den über alles liebt. Das«, er wies auf die Tischgesellschaft, »ist meine Familie, aber das haben Sie ja schon erraten, bei Ihrem kriminalistischen Gespür. Auch davon habe ich schon viel erzählt.«

Perez war gar nicht glücklich über diese Gäste. Zu Beginn, als Boucher gerade erst nach Banyuls versetzt worden war, hatte er Haziem gebeten, ihn abzuweisen, falls er einen der begehrten Tische zu ergattern suchte. Nach und nach hatte er diese Regel gelockert. Dass die Bouchers hier nun in Mannschaftsstärke hockten, war für sich genommen nicht schlimm. Aber Perez gefiel nicht, dass Boucher, immerhin Vertreter der Staatsmacht, über seinen Delikatessenhandel sprach, den er am Rande der Legalität und komplett an der Steuer vorbei betrieb. Er wollte vor allem nicht, dass er über den Creus sprach, den er ausschließlich unter der Hand verkaufte. Ein Wein, dessen Trauben im Land wuchsen und von seinem Vater ebenfalls in der Gemarkung Banyuls gekeltert wurden, allerdings im Verborgenen, denn offiziell führte Perez die gesamte Ernte nach Spanien aus. Im Nachbarland wusste davon niemand, der Wein verschwand einfach im kleinen Grenzverkehr, ein Taschenspielertrick, der seinem Erfinder Perez über zweihundert Euro die Flasche einbrachte, denn den Mythos des Creus hatte er sorgsam aufgebaut. Weinfanatiker rissen ihm die streng limitierte Menge aus den Händen – zu welchem Preis auch immer.

Natürlich wusste Boucher von alldem nichts, trotzdem hatte es Perez einen Schauer über den Rücken gejagt, als er den Elsässer über den Creus reden gehört hatte.

Und es gab noch ein weiteres Problem mit Bouchers Anwesenheit. Die übrigen Gäste des von Haziem geleiteten Conill amb Cargols waren zum großen Teil Winzer und Winzerinnen, in jedem Fall Banyulencs, und die mieden aus grundsätzlichen Erwägungen den Kontakt mit der Polizei. Die einzige Ausnahme bildeten die beiden Dorfpolizisten Moskowicz und Leblanc, die im Zweifelsfall immer zu ihren Landsleuten hielten.

Also würde Perez Haziem bitten, künftig doch wieder zur restriktiven Tischvergabepolitik zurückzukehren, schließlich durfte er weder sein Geschäft noch seinen guten Ruf aufs Spiel setzen.

 

All das schoss ihm durch den Kopf, während Boucher keckerte wie eine Möwe. Perez hatte gelernt, dieses verhasste Geräusch als Lachen zu verstehen.

»Der Geburtstag meiner Schwiegermutter«, sagte der Kommissar, als er sich wieder eingekriegt hatte. Dabei zeigte er auf die Ältere der beiden Frauen.

Charme kann man nicht lernen, dachte Perez und flötete: »Das glaube ich nicht!« Er strahlte die Dame an. »Wenn das stimmen würde, dann wäre Madame Boucher Ihre Tochter. Unmöglich, Boucher, Sie veralbern mich. Die Damen sind Schwestern, vermute ich …«

Das Gesülze stoppte erst, als Perez einen Arm auf der Schulter spürte. Marianne war unbemerkt hinter ihn getreten. Da er sie nicht hatte abholen können, hatte sie in Perpignan den Zug nehmen müssen und war nun direkt vom kleinen Bahnhof oben in den Weinbergen gekommen. Entsprechend abgekämpft sah sie aus.

Perez stellte sie der Familie Boucher vor. Der Kommissar nickte heftig. Wahrscheinlich hatte er auch schon über Marianne Finken gesprochen. So langsam kam Perez sich wie ein Tier im Zoo vor. Er kürzte die Sache ab.

»Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit und einen schönen Abend«, sagte er und zog Marianne hinter sich her zu seinem reservierten Tisch direkt beim Tresen, hinter dem Haziem arbeitete.

Es war ein kleines Lokal. Nun mussten sie die ganze Zeit darauf achten, dass der Elsässer nichts von dem aufschnappte, was sie besprachen.

 

Nachdem Marianne aufgewühlt von den im Krankenhaus verbrachten Stunden erzählt und Perez seine Eindrücke vom Anwesen der Granados und seine Meinung zum Text auf deren Anrufbeantworter zum Besten gegeben hatte, aßen sie, was Haziem ihnen auftrug.

Der Küchenchef hatte seinem Chef und Freund nur in die Augen zu schauen brauchen, um zu wissen, wie es um ihn stand.

»Setz dich, geht gleich los«, hatte er ihn angewiesen und daraufhin Teller um Teller in die Mitte des Tisches gestellt.

Der Maghrebiner wusste, dass die Familie nichts mehr liebte, als von jedem Gang zu naschen. Private Teller waren im Hause Finken-Perez als spießig verpönt. Einzig Hippy hatte seinen eigenen Napf und seine eigene Menüfolge, die ihm direkt zu ihren Füßen serviert wurde. Hunde, die nur einen Gang aßen, bemitleidete Perez. Zu Beginn ihres gemeinsamen Lebens hatte der Hund durchaus Schwierigkeiten mit den kleinen Portionen gehabt, hatte dann aber, als eine nach der anderen vor ihm abgestellt worden war, das Prinzip verstanden. Inzwischen hatte er sich nicht nur daran gewöhnt, sondern regelrecht damit angefreundet. Mit ihm war eine neue Generation Vierbeiner auf die Bühne des domestizierten Haustiers getreten: der Gastrohund.

Seine zweibeinige Familie machte sich über eine Platte Jabugo-Jabugo her, das war der feinste Schinken, der in der Salamanca produziert wurde. Sie aßen verschiedene Croquetas, mit Blutwurst, Manchego oder Stockfisch gefüllt. Eine kalte, exzellente Gazpacho wurde aufgetragen, gefolgt von einigen Tellern Muscheln, Coques im eigenen Sud, mit altem Jerez-Sherry abgeschmeckt, Schwertmuscheln in Kräuterbutter, dazu mit Aioli und mie de pain gratinierte Miesmuscheln. Schließlich brachte Haziem noch ein ausgezeichnetes Taboulé sowie eine sanft unter der Salzkruste gegarte Dorade Royale.

Danach war Perez einigermaßen wiederhergestellt. Dabei war ihm nicht einmal aufgefallen, dass die beiden Frauen am Tisch seinem unstillbaren Heißhunger schon eine Weile nur mehr staunend zugesehen hatten. Stéphanie hatte nach der Gazpacho die Segel gestrichen, während Marianne nach den Muscheln das Besteck demonstrativ von sich weggeschoben hatte. Perez hingegen dachte noch intensiv über eine Käseplatte nach, schließlich hatten er und Hippy, das wurde gerne vergessen, intensiv Sport getrieben.

Während des Essens hatte Perez Marianne mit einem Gedanken überrascht, den sie im Flüsterton besprochen und am Ende für sehr gut befunden hatten.

Also stand Perez noch vor der Käseplatte auf und trat erneut an Bouchers Tisch.

»Wie wäre es mit einer Zigarette, Kommissar Boucher?«

Boucher, der als Ausdauersportler nur wenig Verständnis für die Nikotinsucht übrig hatte, folgte Perez dennoch in die warme Luft der südfranzösischen Sommernacht. Haziem brachte ihnen zwei Gläser Wein, sie stießen an und Perez rauchte seine Zigarette.