John Sinclair 2014 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2014 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Etwas war geschehen!

Myxin, der Magier, hatte Kara, den Eisernen Engel und Sedonia zu sich gerufen.

Kara nickte den beiden Vogelmenschen nur kurz zur Begrüßung zu, ehe sie ihre Aufmerksamkeit auf Myxin richtete, der im Schneidersitz vor ihnen saß.

Als der Schatten der Schönen aus dem Totenreich über die Gestalt des hageren, kleinen Magiers fiel, öffnete dieser langsam die Augen und blickte Kara von unten her ins Gesicht.

"Der Angriff steht kurz bevor!"

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Inhalt

Cover

Impressum

Jagd auf Bill Conolly

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Timo Wuerz

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-4348-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Jagd auf Bill Conolly

(1. Teil)

von Ian Rolf Hill

Und es wurde hinausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt: Teufel und Satan, der die ganze Welt verführt, und er wurde auf die Erde geworfen, und seine Engel wurden mit ihm dahingeworfen.

(Die Offenbarungen des Johannes, 12, 9)

Der angemietete Festsaal bebte unter den zahllosen Schritten und Stimmen der Gäste, die tanzten, lachten und sich unterhielten, sofern dies bei der tosenden Musik der Kapelle überhaupt möglich war.

Über fünfhundert Menschen waren zu der Festlichkeit geladen, in deren Mittelpunkt allein ein einziges Paar stand. Eine Frau und ein Mann, die sich am heutigen Tag das Versprechen gegeben hatten, auf ewig zusammenzubleiben. Zueinander zu stehen, in guten wie in schlechten Zeiten – bis dass der Tod sie scheide.

Und er war bereits unter ihnen, der Tod. Ungeladener Ehrengast und ständiger Begleiter des Ehepaares Conolly und ihres Trauzeugen John Sinclair …

Aber an den Tod dachte selbst der Geisterjäger nicht, als er mit der jungen Braut über das Parkett schwebte, die in dem weißen, mit Rüschen besetzten Hochzeitskleid, einfach atemberaubend aussah.

Bill lächelte glücklich und schaute seiner Frau Sheila und seinem besten Freund beim Tanz zu. Er selbst hatte gerade eine Runde mit der Brautjungfer Violet hinter sich gebracht, die zugleich John Sinclairs Tischdame war. Der Geisterjäger war zurzeit solo, und Bill kannte seine jetzige Frau gut genug, um zu wissen, dass sie insgeheim hoffte, John mit einer ihrer besten Freundinnen verkuppeln zu können.

»Es wäre doch herrlich romantisch, wenn John seine zukünftige Frau auf unserer Hochzeit kennenlernen würde«, hatte Sheila noch am vorigen Tag gesagt und Bill mit glänzenden Augen angesehen.

Nun, an Violet sollte es gewiss nicht liegen, dachte der Reporter mit einem Seitenblick auf die Brautjungfer. Das tief ausgeschnittene, mit Pailletten besetzte Chiffonkleid lag wie eine zweite Haut an ihrem Körper, und betonte ihre schlanke, frauliche Figur, die nicht wenige Männerblicke auf sich zog.

Und es schien fast so, als hätte Sheila den richtigen Instinkt gehabt, denn Violet und John waren sich vom ersten Moment an sympathisch gewesen. Bill beobachtete, wie Sheila seinem besten Freund etwas ins Ohr flüsterte und dabei verschwörerisch in Violets Richtung schaute, wobei sie ihrer Freundin zuzwinkerte.

Ja, seine Braut – seine Frau – war nicht nur wunderschön, sondern auch raffiniert und klug. Bills Lächeln vertiefte sich. Er war wahrhaftig der glücklichste Mann auf Erden.

»So in Gedanken, Mister Conolly?«

Bill schrak zusammen und musterte den älteren Herren neben sich, der einen Smoking und eine Hornbrille mit dicken Gläsern trug. In der rechten Hand hielt er entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten ein Glas milden Single Malt Whiskys ohne Eis. Ein Zeichen, dass sich sein Gast wohlfühlte und den besonderen Anlass auch gebührend zu feiern verstand. Distinguiert und würdevoll wie es sich für einen englischen Gentleman geziemte.

John hatte zunächst zwar Bedenken geäußert, dass ausgerechnet dieser Herr der Hochzeitsfeier beiwohnen würde, doch Sheila war unerbittlich gewesen. Immerhin hatte er ihren verstorbenen Vater Sir Gerald Hopkins und sogar noch dessen verstorbene Frau recht gut gekannt. Das hatte selbst der Geisterjäger nicht gewusst und nicht schlecht gestaunt. London war eben doch nur ein Dorf.

»Mister Powell«, begrüßte Bill nun Johns Chef und neigte leicht den Kopf. »Nur eine kleine Verschnaufpause zwischen all den Tänzen und gesellschaftlichen Verpflichtungen.«

»He, ich bin ja wohl kaum eine gesellschaftliche Verpflichtung«, schaltete sich Violet ein und knuffte den Reporter mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Äh, gewiss nicht, liebste Violet«, verbesserte sich Bill rasch und spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. »Du … äh … du …«

»Jaaa?«, fragte Violet gedehnt, der es sichtlich Spaß machte, den Reporter in Verlegenheit zu bringen.

»Darf ich dir Mister Powell vorstellen?«, rief Bill, als ihm keine gescheite Antwort einfiel, und wies auf den Superintendenten. »Violet, dies ist Johns Chef. Ihm gehört Scotland Yard«, fügte er augenzwinkernd hinzu, ehe er Powell die Brautjungfer vorstellte.

Der ältere Gentleman reichte der jungen Frau die Hand und raunte ihr leicht nach vorne gebeugt zu: »Seien Sie nicht zu hart mit Mister Conolly. Wenn er keinen schlagfertigen, flotten Spruch über die Lippen bringt, ist er wirklich im Stress.«

Violet lachte herzlich, und Bill starrte den Superintendenten konsterniert an. So locker und menschlich hatte er den alten Pavian noch nie erlebt. Der Reporter wollte etwas sagen, als ein lautes Scheppern die Musik zum Verstummen brachte. Augenblicklich erstarrten die Paare auf der Tanzfläche, und wenige Herzschläge später versiegten auch die zahlreichen Gespräche.

Es wäre totenstill im Raum gewesen, hätte nicht der große Vogel, der urplötzlich hereingeflattert kam, die mehrstöckige Hochzeitstorte vom Buffet gefegt. Mit einem Biss schlang er das kleine Ehepaar aus Marzipan hinunter, und begann im Anschluss daran, die restlichen Platten und Schalen herunterzureißen und durcheinanderzuwerfen.

Es war aber nicht die Anwesenheit des Vogels oder seine schiere Größe, die die Menschen vor Schreck erstarren ließ. Seine Flügelspannweite betrug immerhin mindestens zwei Meter. Nein, es war einzig und allein der Schädel des Tieres, bei dem es sich zweifelsohne um eine Eule handelte. Allerdings um ein besonderes Exemplar, denn normalerweise hatten Eulen keine fleischlosen, beinernen Totenschädel, aus deren oberer Schnabelhälfte zwei spitze, dolchartige Zähne ragten …

***

Bills Magen verkrampfte sich schmerzhaft, als er das grauenhafte Monstrum sah. Auch Sheila und John standen wie angewurzelt auf der Stelle, die Gesichter blass, die Augen weit aufgerissen. Die Hand des Geisterjägers zuckte in Richtung Revers, wollte die Beretta aus der Schulterhalfter reißen. Doch wer nahm schon eine Pistole zu einer harmlosen Hochzeitsfeier mit?

Ja, nicht einmal John Sinclair.

Die Eule mit dem Totenschädel kümmerte sich gar nicht um die Menschen, sondern verwüstete in aller Seelenruhe weiter das üppige Buffet. Dass dies nur ein Ablenkungsmanöver gewesen war, wurde Bill in dem Augenblick bewusst, als die ersten schmerzerfüllten Schreie aus Richtung Eingang laut wurden.

Ein älteres Ehepaar, bei dem es sich um einen Manager des Hopkins-Konzerns und seine Gattin handelte, taumelte mit blutüberströmten Gesichtern in den Saal. Das Schrecklichste war aber nicht der rote Lebenssaft, der über die entsetzen Züge der beiden Menschen rann, sondern die Totenkopf-Eulen, die hinter ihnen her flogen und erbarmungslos mit ihren zahnbewehrten Schnäbeln nach ihren Opfern hackten.

Mit einem Mal wusste Bill Conolly auch, um was für Kreaturen es sich bei den Vögeln handelte, nämlich um Bluteulen – Strigen!

Und sie waren nicht allein gekommen. Ein großer, stattlicher Mann betrat den Saal, die bleiche Gestalt in einen altmodischen Anzug gekleidet, dessen schwarzes Cape innen rot gefüttert war. Die dunklen Haare waren glatt nach hinten gekämmt und lagen wie angeklebt an seinem Schädel. Die Lippen zu einem breiten Lächeln verzogen, schritt er zwischen dem Paar hindurch, das immer noch gegen die Strigen um sein Leben kämpfte.

Niemand kam ihnen zu Hilfe, sie alle standen stumm und tatenlos daneben, wirkten wie Schaufensterpuppen in ihrer erbärmlichen Ohnmacht. Der Neuankömmling beachtete sie alle nicht, er hatte nur Augen für Sheila Conolly. Bill stockte der Atem, als sich das Lächeln des Mannes verbreiterte und er zwei spitze Vampirhauer präsentierte.

Kaum gewahrte der Reporter die überlangen Eckzähne, da wusste er auch den Namen des Mannes: Graf D. Kalurac, Draculas Neffe.

Langsam streckte dieser beide Arme aus, zog die stocksteife Sheila in seine Umarmung. Bill wollte nach vorne stürmen, seiner Frau beistehen, doch eine riesige Gestalt erschien neben ihm. Sie legte ihm eine kräftige Hand auf die Schulter und hinderte den Reporter am Fortkommen. Gehetzt wandte Bill den Kopf und schrie vor Grauen auf, als er in die leeren, blutigen Augenhöhlen des Unholds neben sich blickte. Sakuro, der Dämon, hielt Bill davon ab, seiner Frau beizustehen.

Und was tat John Sinclair?

Hilflos nestelte er an einer Kette um seinen Hals, versuchte den Anhänger unter dem Kragen des zugeknöpften Hemdes hervorzuziehen. In der Zwischenzeit beugte Kalurac sich über seine Beute, die schlaff über seinem rechten Arm hing. Sheilas Kopf baumelte kraftlos nach hinten, entblößte die schneeweiße Kehle. Ihr langes weizenblondes Haar floss wie ein Schleier von ihrem Haupt und berührte mit seinen Spitzen beinahe das Parkett des Saals.

Bill drehte den Kopf nach rechts, wollte Violet anschreien, ihm zu helfen, doch diese lächelte nur kalt, während sich zwei kleine, grüne Schlangen aus ihrer Stirn wanden. Hinter ihr erschien die Gestalt von Mister Powell, dessen Gesicht sich nun auch zu verändern begann.

Die Stirn verbreiterte sich, das Kinn wuchs spitz nach unten. Der Mund zog sich zu einem teuflisch grinsenden Maul in die Breite, aus dem stiftförmige Zähne ragten. Lange, spitze Hörner schoben sich aus der gewölbten Stirn. Asmodis, der Höllenfürst, lachte und klatschte in die Hände.

Bill brüllte seine Angst und Panik heraus. Er flehte John Sinclair an, ihm und Sheila zu helfen. Endlich gelang es dem Geisterjäger die Kette, an der ein silbernes Kreuz baumelte, unter dem Hemd hervorzuziehen.

Er sprang auf Kalurac zu, der ihn mit einer beiläufigen Bewegung des linken Arms von den Beinen fegte. Dann versenkte er seine fingerlangen Fangzähne im weißen Fleisch von Sheilas Hals und trank gierig das herausströmende Blut. Den Kopf nach vorne gebeugt, hob Kalurac den Blick, um dem Reporter in die Augen zu sehen. Schließlich ließ er von Sheilas Hals ab und richtete sich auf, sein Opfer dabei immer noch in den Händen haltend. Blut lief am Kinn des Vampirs herab, mit dem nun ebenfalls eine Verwandlung vonstattenging.

Die Kleidung platzte ihm vom Leib und darunter kam eine schiefergraue, knotige Haut zum Vorschein. Die Gelenke der Beine verdrehten sich knackend und knirschend, bis sie wie die vielgliedrigen Extremitäten eines Insekts aussahen. Die Haare fielen Kalurac vom Schädel, und aus dem Gesicht wuchs ein breiter Schnabel, über dem zwei gelb glühende Augen mit waagerechter Pupille den Reporter taxierten.

Ohne den Blick von Bill abzuwenden, ergriff der Dämon mit beiden Pranken den Kopf von Sheila Conolly. Ihr Körper hing schlaff herunter und mit einer ruckartigen Bewegung drehte das Ungeheuer ihr Haupt um hundertachtzig Grad.

Das knirschende Geräusch der brechenden Halswirbelsäule krachte wie Donner durch den Festsaal.

***

Mit einem Schrei des Entsetzens fuhr Bill Conolly aus dem Bett auf.

Atemlos rang er nach Luft, nur um kurz darauf beinahe zu hyperventilieren. Ein stechender Schmerz hinter dem Brustbein fühlte sich an, als würde jemand einen glühenden Pfahl durch seinen Leib stoßen. Das T-Shirt klebte wie eine zweite Haut auf seinem Körper. Fahrig fuhr er sich mit der rechten Hand durch das tränennasse Gesicht und die verschwitzten Haare.

Es dauerte eine kleine Ewigkeit bis der Reporter begriff, dass er nur geträumt hatte. Nur ein Albtraum – oder?

Natürlich wusste er, dass sich gerade solche Träume mitunter schrecklich real anfühlen konnten. Doch wer glaubte schon an Vampire, Bluteulen und Dämonen? Aber woher kannte er dann all diese Namen? Asmodis, Kalurac, Sakuro und die Strigen. Und dann diese Frau … Sheila. Seine Frau. Ja, er, Bill Conolly, war verheiratet!

War er nicht sogar Vater?

Bill schüttelte den Kopf, ließ den Blick durch das dunkle Zimmer der kleinen Pension schweifen, in der er seit drei Nächten schlief. Der Schein einer Straßenlaterne drang von draußen herein und zeichnete die Umrisse der Möbel scharf nach. Die Gardine hing wie das gigantische Netz einer großen Spinne vor dem Fenster. Der Mond und die Sterne versteckten sich hinter einer dicken Wolkendecke. Es würde bald regnen, wusste Bill, was aber hier oben in den Grampian Mountains keine Seltenheit war.

Hierhin war er mittlerweile auf seiner Suche nach sich selbst gewandert, nachdem er sich von seinem Freund John Sinclair auf Glamis Castle verabschiedet hatte. Um zu sich selbst zu finden, wie er gesagt hatte.1) Er wusste, dass sein Name Bill Conolly war, dass er als Reporter arbeitete und wer seine Freunde waren. Doch damit endete es auch schon. Der Rest war endlose, beängstigende Leere. Seine Vergangenheit war wie ein dichter Nebel, durch den er ziellos irrte. Immer wenn er glaubte, einen wichtigen, immanenten Teil seines Lebens, seines Selbst, gefunden zu haben, verschwand er wieder hinter dem undurchdringlichen Dunst.

Doch er wusste instinktiv, mit hundertprozentiger Gewissheit, dass er nicht an einer Krankheit litt. Er war sich sicher, dass diese Erinnerungslücken eine andere Ursache hatten. Er konnte es nicht klar benennen, doch Geist und Körper hatten sich mit jeder einzelnen Faser dagegen gewehrt, gemeinsam mit John Sinclair nach London zurückzukehren. Nach Hause. Wo war das noch gleich?

Wieder dachte er an das liebliche Gesicht der blonden Frau namens Sheila … Hopkins.

War da nicht ein Bungalow am Rande von Belgravia?

Ein kleiner Junge mit dunkelblonden Haaren und eine Wölfin, die nicht von seiner Seite wich.

Bill schluchzte auf. Nicht etwa, weil die Erinnerung ihn übermannte, sondern die Ungewissheit an ihm nagte wie eine hungrige Ratte. Langsam und quälend. Da war doch was … er wusste es genau, aber er konnte es nicht greifen. Wie ein schlüpfriger Aal rutschte ihm die Vergangenheit immer wieder durch die Finger, entglitt seinem Griff und verschwand im Nebel.

Bill schlug die klamme Bettdecke zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett. Schwer atmend und mit immer noch klopfendem Herzen blieb er auf der Bettkante sitzen, die Ellbogen auf den Knien, den Kopf in die Hände gestützt. Er hatte Angst! Angst vor der Wahrheit, die er im Umkehrschluss so schrecklich herbeisehnte, wohl wissend, dass sie einen entsetzlichen Schmerz beinhaltete.

Sheila Hopkins!

Tränen rannen aus Bills Augen, ohne dass er wusste, warum. Nein, für diesen Namen war er nicht bereit, aber da waren schließlich ja noch andere, mit denen er sich befassen konnte. Asmodis, Sakuro, Kalurac. Obwohl er wusste, dass die Erinnerungen, die mit diesen Namen verknüpft waren, alles andere als positiv waren, fiel es ihm leichter, sich mit ihnen zu befassen.

Doch auch sie waren nicht mehr als Momentaufnahmen, Flashbacks und Reminiszenzen eines vergangenen Lebens. Gesichter, die mehr den Fratzen aus einem Horrorfilm glichen, erschienen vor seinem geistigen Auge, ohne dass er zu einem Ergebnis kam. Denn hinter ihnen stand wie eine alles überschattende Drohung der Name jener Frau, die ihn lockte und zugleich abstieß.

Sheila Hopkins … nein, Conolly. Hatte er sie nicht geheiratet?

Bill richtete sich auf der Bettkante sitzend auf, angelte mit zitternder Hand, nach der Wasserflasche, die neben ihm auf dem Nachttisch stand. Hastig schraubte er den Verschluss ab, setzte sich die Öffnung an die Lippen und trank in langen, gierigen Schlucken. Irgendwann war die Flasche leer. Bill stellte sie zur Seite und erhob sich von dem Bett mit dem zerwühlten Laken und der durchgeschwitzten Decke. Zum Glück gehörte ein kleines WC mit Dusche zur Ausstattung des gemütlich eingerichteten Pensions-Zimmers.

Auf wackeligen Beinen wankte der Reporter wie ein junges Reh in das enge Bad. Erst hier machte er Licht, das grell in seinen Augen schmerzte, sodass er sie geblendet zusammenkniff. Blinzelnd öffnete er sie und sah direkt in den blankpolierten Spiegel über dem Waschbecken. Für einen winzigen Augenblick sah er das bleiche Gesicht von Sheila Hopkins … Conolly … hinter sich im dunklen Rechteck der Tür zum Schlafraum stehen.

Hastig wandte Bill sich um, aber dort stand niemand. Natürlich nicht. Bill schüttelte über sich selbst den Kopf, zog sich das feuchte T-Shirt über den Kopf und ließ es achtlos auf den Boden fallen. Die Boxershorts folgten, und wenig später stand der Reporter nackt unter den Strahlen der Dusche, die heiß auf seinen zitternden Körper prasselten.

Dampfschwaden erfüllten das kleine Bad, dessen Spiegel längst beschlagen war. Dennoch fror Bill, durch dessen Kopf immer wieder dieselben Gesichter und Namen schwirrten.

Und je länger er den Reigen der Fratzen beobachtete, desto sicherer wurde er sich, dass dies keine Erinnerungsfetzen irgendwelcher Gruselfilme waren, die er früher einmal gesehen hatte. Die Gesichter von Asmodis, Sakuro und Kalurac waren ebenso Wirklichkeit wie die Strigen. Und wie dieser grauenhafte Schnabeldämon, der Sheila Hopkins das Genick gebrochen hatte. Nein, er hatte nicht Sheila Hopkins getötet, sondern Sheila Conolly!

Einem unbeteiligten Beobachter wäre ein Schauer über den Rücken gelaufen, hätte er das Wimmern gehört, das aus dem kleinen Bad drang und immer lauter wurde, bis es in einem schmerzerfüllten Heulen mündete.

Der nackte, zitternde Leib Bill Conollys sackte in der Dusche zusammen. Weinend kauerte der Reporter unter den Strahlen der Dusche und schlug den Kopf immer wieder gegen die harten, weißen Kacheln der kleinen Kabine. Ein ebenso verzweifelter wie nutzloser Versuch, die entsetzlichen seelischen Schmerzen durch körperliche zu ersetzen.

Sie wären so viel leichter zu ertragen gewesen.

***

Er wusste nicht, wann er aus der Dusche herausgekrochen war. Frierend, am gesamten Körper zitternd, war er irgendwann aufgestanden und aus dem kleinen Bad getorkelt. Er fühlte sich wie gerädert, als hätte er drei Nächte lang durchgezecht. Die Dunkelheit vor dem Fenster war einem freundlichen, hellen Licht gewichen, das die Strahlen der aufgehenden Sonne über die Hänge der nahen Berge sandte.

Wie in Trance zog sich Bill Conolly an und packte die wenigen Habseligkeiten, die in einem Rucksack Platz fanden, den er sich unterwegs gekauft hatte. Danach wankte er die schmale Stiege hinunter, an deren unterem Ende die stämmige Pensionswirtin Sarah O’Donnell schon die ganze Zeit auf ihn gewartet zu haben schien. Er wusste ja, dass er zurzeit der einzige Gast war. Insgesamt gab es im oberen Stock des kleinen Hauses vier Fremdenzimmer, zwei davon mit eigener Nasszelle, die die Witwe irischer Herkunft an Wanderer und Touristen vermietete.

Bill mochte die freundliche, ältere Frau, und er wusste, dass es ihr im Umkehrschluss ebenso ging. Doch heute Morgen war ihm nicht nach zwangloser Plauderei zumute. Am liebsten hätte er wortlos die Rechnung beglichen und wäre einfach fortgegangen. Aber er wusste, dass es ihm Sarah O’Donnell nicht so einfach machen würden.

An ihrem Gesicht erkannte der Reporter, dass die ältere Frau ahnte, was in ihm vorging. Beinahe hätte Bill bei dem Gedanken zynisch gelacht. Nein, mit Sicherheit ahnte sie nicht einmal ansatzweise, wie es in ihm aussah. Das konnte sie nicht einmal wissen und er machte ihr deshalb keinen Vorwurf. Im Gegenteil, er beneidete sie um ihre Unwissenheit und das friedliche Dasein, das ihr vergönnt war. Ihr Ehemann war im Alter von einundsiebzig Jahren an Lungenkrebs verstorben. Traurig, fürwahr, und mittlerweile galt einundsiebzig Jahre nicht unbedingt als hohes Alter. Aber, Herrgott, einundsiebzig!

Diese Zahl musste man sich zunächst einmal vor Augen halten. Viele Menschen erreichten dieses Alter nicht einmal ansatzweise. Sarah O’Donnells Sohn arbeitete als Sternekoch in Glasgow und hatte seiner Mutter bereits zwei Enkelkinder geschenkt, die Jahr für Jahr zu Ostern, Weihnachten und in den Sommerferien zu Besuch kamen.

Nein, die Pensionswirtin hatte gewiss keinen Grund zur Klage, sie ahnte nicht einmal was für Gefahren auf die Menschheit lauerten. Obwohl … wieder erschienen in den Nebelschwaden, die Bills Verstand durchzogen, Gestalten und Gesichter. Begriffe zuckten auf, doch wieder gelang es dem Reporter nicht, sie zu greifen, geschweige denn festzuhalten.