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Es war still. Nichts durchbrach die nächtliche Ruhe. Selbst der Wind hatte sich zurückgezogen, nachdem er den ganzen Tag über in dem dichten Waldgebiet gewütet und sogar einige Bäume entwurzelt hatte. Davon war inzwischen nichts mehr zu spüren. Der Himmel war sternenklar. Da sich keine einzige Wolke mehr zeigte, konnte der Vollmond seine kräftigen Strahlen auf die Erde schicken. Trotzdem erreichte das Licht nicht alle Bereiche des Waldes. Manche lagen so abgeschieden und waren derart dicht zusammengewachsen, dass man sich selbst am helllichten Tag kaum orientieren konnte.
Die Gestalt, die zu dieser Zeit allein mitten im Wald stand, befand sich an einem genau solchen Ort. Ihr war das nur recht. Sie wollte nicht gesehen oder gehört werden. Diese wenigen Momente des Abschieds sollten ganz ihr gehören ...
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Rache aus dem Totenreich
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Vuk Kostic/shutterstock
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6629-7
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Rache aus dem Totenreich
von Rafael Marques
Frankreich, vor einigen Jahrhunderten
Es war still. Nichts durchbrach die nächtliche Ruhe. Selbst der Wind hatte sich zurückgezogen, nachdem er den ganzen Tag über in dem dichten Waldgebiet gewütet und sogar einige Bäume entwurzelt hatte. Davon war inzwischen nichts mehr zu spüren.
Der Himmel war sternenklar. Da sich keine einzige Wolke mehr zeigte, konnte der Vollmond seine kräftigen Strahlen auf die Erde schicken. Trotzdem erreichte das Licht nicht alle Bereiche des Waldes. Manche lagen so abgeschieden und waren derart dicht zusammengewachsen, dass man sich selbst am helllichten Tag kaum orientieren konnte.
Die Gestalt, die zu dieser Zeit allein mitten im Wald stand, befand sich an einem genau solchen Ort. Ihr war das nur recht. Sie wollte nicht gesehen oder gehört werden. Diese wenigen Momente des Abschieds sollten ganz ihr gehören …
»Hallo, Aurelie«, flüsterte die Gestalt. Der bärtige Mann war in einen dunklen Umhang gehüllt. Seine ledernen Reiterstiefel waren leicht im Boden eingesunken, doch das war ihm egal. Er hatte nur Augen für das, was vor ihm lag.
Der Mann stand vor einem frischen Grab. Die Erde war noch aufgewühlt. Nur zu gut erinnerte er sich daran, wie er selbst es ausgehoben hatte. Wütend, traurig und einsam – so hatte er sich gefühlt, während er seine Geliebte zur ewigen Ruhe gebettet hatte. Er hätte sie auch auf einem nahe gelegenen Friedhof beerdigen können, aber das wollte er nicht. Aurelie war etwas Besonderes, genau wie ihre Liebe. Deshalb sollte sie auch einen besonderen Ort erhalten.
Das alles lag bereits einige Stunden zurück. In der Zwischenzeit war er lange ziellos durch den Wald gelaufen, bis ihm klar geworden war, dass es so nicht weitergehen konnte. Irgendwann musste er Abschied nehmen, so schwer ihm das auch fiel.
Der Mann beugte sich herab und ging in die Knie. Zwischen seinen Fingern baumelte eine schmale, silberne Kette. Sie war der einzige weltliche Besitz seiner verstorbenen Geliebten gewesen, und trotzdem hatte sie ihm das kleine Schmuckstück geschenkt. Er dachte an ihr zauberhaftes Lächeln, ihre funkelnden, tiefblauen Augen und ihr einnehmendes Wesen. Außer Erinnerungen war ihm nichts von ihr geblieben, bis auf die Kette.
Sie war tot. Grausam ermordet von einem furchtbaren Feind, der eigentlich nur ihn selbst damit hatte treffen wollen. Genau das war ihm auch gelungen, nur anders, als er es erwartet hatte.
»Aurelie?«, flüsterte er, wobei er die Hand mit der Kette auf die frisch aufgeworfene Erde legte. »Kannst du mich hören?«
Natürlich antwortete ihm niemand. Nicht auf eine normale Weise. Er wusste jedoch, dass der Tod nicht das Ende war. Jeder Mensch hatte eine Seele, und die seiner Geliebten war sehr nah – und doch so unendlich fern. Sie hörte ihn, irgendwie. Zumindest hoffte er das.
»Aurelie, es tut mir so unendlich leid. Ich dachte, du wärst in Sicherheit, aber ich habe einen fürchterlichen Fehler gemacht. Aber du, meine Geliebte, warst kein Fehler. Nein, du warst das Beste, was mir je passiert ist. Ich hätte für dich alles aufgegeben. Du erinnerst dich an mein Versprechen, oder? Das waren nicht nur leere Worte, ich habe es ernst gemeint. Ich schwöre dir, dass ich mich bis zu meinem Tod daran halten werde. Aurelie, ich werde dich nie vergessen.«
Der Mann hielt noch einige Momente inne. Dann richtete er sich auf und streifte die feuchte Erde von den Fingern. Die Kette verschwand in der Brusttasche seines Mantels. »Aurelie«, presste er noch einmal hervor, bevor er den Mantel schloss, sich umdrehte und in der Nacht verschwand.
☆
»Meine Herren, das Gebot steht bei 750 Euro. Höre ich mehr? Meine Herren, bitte sehr, dieses Schmuckstück aus dem siebzehnten Jahrhundert ist unter Sammlern sicher das Zehnfache wert. Höre ich 800? 800? Niemand? Nun gut – 750 zum Ersten, zum Zweiten … und verkauft an Monsieur Perlmutter aus der Schweiz.«
Ein hochgewachsener, weißhaariger Mann in einem dunklen Anzug nahm die Rede des Auktionators nickend zur Kenntnis. Er wirkte teilnahmslos, so wie die meisten Besucher der kleinen Versteigerung im Herzen von Paris.
Auch Patrick Boyle ließ sich keinerlei Interesse anmerken. Noch war alles nur ein Vorspiel. Erst später würde das einzige Objekt unter den Hammer kommen, für das er sich interessierte. Diesem Moment galt seine vollste Konzentration. Die Zeit davor diente nur dazu, seine potenzielle Konkurrenz auszuloten.
Da wäre zum einen Simon Perlmutter, ein windiger Bankier aus dem Berner Oberland. Er würde sicher kein Problem darstellen. Ebenso wenig wie Ludovic Jacque, der übergewichtige Glatzkopf nahe des Pults. Jacque bezeichnete sich selbst als Antiquitätenhändler, doch Schmuggler wäre wohl die bessere Bezeichnung gewesen. Es war schon überraschend, dass er tatsächlich eine normale Auktion besuchte.
Ganz anders sah das bei Jules Malaise aus. Der Mittfünfziger mit den grauschwarzen Haaren, dem durchtrainierten Oberkörper und der braun gebrannten Haut galt nicht nur als Frauenschwarm und Lebemann, sondern auch als einer der erfolgreichsten Amateur-Historiker Frankreichs. Seine Bekanntheit war jedoch weniger ein Problem als sein Bankkonto. Als einziger Anwesender war er in der Lage, »Paddy« Boyle zu überbieten.
Aber auch dafür würde sich eine Lösung finden, sollte es denn dazu kommen. Im Moment folgte er wenig interessiert der Versteigerung eines antiken Schriftstücks, das sich in einem Glasrahmen befand. Keiner der gut zwanzig anwesenden Bieter schien sich wirklich für das Objekt zu interessieren, und so ging es schließlich für wenige hundert Euro an eine ihm unbekannte Frau.
Die Versteigerung fand in einem alten Palais statt. Die Einrichtung stammte zum größten Teil noch aus dem vorletzten Jahrhundert, einschließlich der an den Wänden hängenden Schlachtengemälde, der Samtteppiche und der glitzernden Kronleuchter. Der Raum war einst als Tanzsaal genutzt worden, was auch die Existenz der Holzbühne erklärte, von der aus Monsieur Calvert die Auktionen leitete.
Als zwei Mitarbeiter des Auktionshauses damit begannen, ein weit größeres Objekt auf die Bühne zu schieben, rann ein Schauer über Paddy Boyles Rücken. Endlich war es so weit. So viel Zeit hatte er in die Suche nach diesem Objekt investiert, bis er mit viel Glück und einigem Bestechungsgeld auf diese Versteigerung gestoßen war.
Seine Finger fuhren nervös über den Versteigerungsplan, den jeder Teilnehmer in die Hand gedrückt bekommen hatte. Auf seiner Stirn bildeten sich einzelne Schweißperlen, die jedoch schnell wieder trockneten. Er durfte auf keinen Fall die Contenance verlieren.
»Das folgende Objekt«, kündigte Calvert deutlich lauter als bisher an, »bildet gleichzeitig Abschluss und Höhepunkt der heutigen Auktion. Es wurde in einer Grotte in der Nähe des Klosters Saint Michele bei Souancé-au-Perche gefunden. Sowohl der Künstler als auch das Jahr der Entstehung sind unbekannt, man nimmt jedoch an, dass es bereits hunderte Jahre alt ist. Sie sehen hier einen Ritter in einer Rüstung des späten 14. Jahrhunderts, knieend vor seinem Schwert. Die Klinge selbst fand man angeblich in den Fels der Grotte gerammt. Sie sehen also, meine Herren, es handelt sich hierbei um ein Objekt von unschätzbarem Wert. Trotzdem mussten wir ihm einen Betrag zuordnen. Das Startgebot liegt bei 250.000 Euro.«
»300.000«, schallte es durch den Raum. Paddy Boyle hielt den gefalteten Auktionsplan hoch und lächelte.
Dabei hoffte er, gleich zu Beginn der Auktion ein deutliches Zeichen gesetzt zu haben. Vieles würde darauf ankommen, wie Jules Malaise darauf reagierte.
Zunächst mischte sich jedoch jemand anderes in die Auktion ein. »320.000«, meldete sich Simon Perlmutter zu Wort.
Boyles Lächeln verschwand nicht. Er wusste, dass der Bankier kaum über dieses Gebot hinausgehen konnte. Wenn doch, hätte er einen viel höheren Betrag in den Raum geworfen. Wahrscheinlich hoffte er einfach darauf, dass die Statue für niemanden einen besonderen Wert hatte. Wie ahnungslos er doch war.
Er wartete einige Sekunden, ohne dass jemand ein weiteres Gebot abgab. Dann hob er seine Hand und rief: »350.000.«
Ein Raunen lief durch den Saal. Einige ihm unbekannte Besucher drehten sich zu ihm um und starrten ihn überrascht an. Selbst Perlmutter warf ihm einen kurzen Blick zu. Er sprach von Ärger und Enttäuschung. Es war offensichtlich, dass er jetzt wirklich an seinem Limit angelangt war.
Selbst Calvert zuckte leicht zusammen. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »350.000 Euro. Sie haben das Gebot gehört, meine Damen und Herren. Wer ist bereit, noch einen höheren Preis zu nennen? Höre ich 400.000 Euro? Nein? Nun, dann zum Ersten, zum Zweiten und …«
»600.000 Euro.«
Wieder ging ein Raunen durch den Raum. Boyle musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass Jules Malaise im letzten Moment in die Auktion eingegriffen hatte. Sein Budget änderte sich von Mal zu Mal, da er nicht nur sein eigenes Geld in die Waagschale warf, sondern auch das zahlungskräftiger Sponsoren und Mäzene, die die Statue gerne in eins ihrer Museen stellen würden. Wenn das geschah, würde es deutlich schwieriger – wenn nicht gar unmöglich – werden, an sie heranzukommen. Von dem Plan, den er mit dem Objekt verband, ganz zu schweigen.
»700.000«, entgegnete Boyle dem horrenden Gebot trocken.
In seinem Inneren brodelte es jedoch. Malaise war ein Gegner, der genau wusste, was der gebürtige Ire bereit war zu zahlen. In den letzten Monaten und Jahren waren viele Millionen Euro und Pfund in sein kostspieliges Hobby geflossen. Irgendwann würde auch er an eine Grenze angelangen.
»850.000.«
Diesmal war es Paddy Boyle, der ein leichtes Zucken nicht vermeiden konnte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und zerknüllten den Auktionsplan. Schweiß trat auf seine Stirn. Die Auktion steigerte sich langsam bis zu seiner Schmerzgrenze. Aber er musste den Ritter in seinen Besitz bringen, koste es, was es wolle.
Der Millionär nickte sich selbst zu. »900.000 Euro«, sagte er schließlich.
Niemand sagte mehr ein Wort. Jeder der Zuschauer verfolgte gebannt das Duell der beiden so unterschiedlichen Kontrahenten. Wer Boyle ins Gesicht sah, ahnte schon, dass es damit sehr bald schon vorbei sein konnte. Doch sein Pokerface war das Letzte, um was er sich im Moment Gedanken machen musste.
»900.000«, wiederholte Calvert. In seinen Augen blitzte förmlich der Glanz des Geldes auf.
»1.100.000.«
Malaises Gebot hallte wie ein Donnerschlag durch den Raum. Zumindest kam es Boyle so vor. Sein Herz setzte einen Schlag aus, während seine Zähne aufeinander mahlten. Er war kaum in der Lage, seine Wut zu unterdrücken. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte Malaise die Selbstzufriedenheit aus dem Gesicht geprügelt.
Aber so hätte er nichts gewonnen. Er musste besonnen bleiben, auch wenn ihm das sehr schwerfiel. Die letzten Worte des Auktionators drangen wie aus weiter Ferne an seine Ohren. Er nahm sie kaum wahr. Allein anhand der Lippenbewegungen und dem Glanz in seinen Augen wusste er schon, dass er Jules Malaise gerade die Statue zusprach.
In diesem Augenblick stand Paddy Boyle auf. Dadurch sah er, dass sich der selbsternannte Amateurhistoriker ebenfalls erhoben hatte. Der Mann mit den grauschwarzen Haaren nickte ihm zur Begrüßung zu und lächelte schmal.
»Es war diesmal kein faires Duell, Mister Boyle«, erklärte er und hob entschuldigend die Hände. »Ein milliardenschwerer Mäzen möchte die Statue unbedingt im Louvre der Öffentlichkeit zeigen. Ich denke, das ist für uns alle auch das Beste, nicht wahr?«
Boyle trat näher an seinen Kontrahenten heran. »Mal sehen«, hauchte er ihm so leise zu, dass nur Malaise ihn verstehen konnte, »wie fair unser nächstes Duell wird.«
Die Augen des Historikers verengten sich. Paddy Boyle ließ ihm keine Zeit für eine Antwort. Er unterdrückte das Bedürfnis, ihn zur Seite zu rempeln und ging einfach an ihm vorbei. Noch während er auf die zweiflügelige Tür zutrat, zog er sein Handy aus der Innentasche der Jacke. Die Auktion mochte er verloren haben, aber die Statue hatte er noch längst nicht aufgegeben …
☆
Dünne Nebelschwaden krochen über den vor Feuchtigkeit glänzenden Boden. Kaltes Mondlicht schimmerte in den Pfützen, die die Regengüsse der vergangenen Stunden auf dem Asphalt hinterlassen hatten. In der Nähe einer mit Graffiti beschmierten Hausfassade tummelten sich einige Ratten.
Die Nager ließen sich von den vier Männern, die gerade dabei waren, eine schwere Kiste in einen Lieferwagen zu verladen, nicht bei ihrer Nahrungssuche stören. Auch den braun gebrannten Mann in dem edlen Stoffmantel registrierten sie kaum.
Paddy Boyle senkte das Fernglas und atmete tief durch. Er stand etwa fünfzig Meter weit entfernt im Schatten eines der zahlreichen Hinterhöfe. Der stinkende Moloch, in dem er sich aufhielt, war die düstere Seite der Villenviertel in der Nähe der Ile de la Cité und der Kathedrale Notre-Dame. Selbst in der Dunkelheit war das weltbekannte Bauwerk von mehreren Scheinwerfern erleuchtet. Im Hintergrund hörte er das Leuten ihrer Glocken.
Neben ihm bauten sich drei weitere Gestalten auf. Jake Corbin, Neil Prescott und Yves Claude waren seine drei Leibwächter, die er nach Paris mitgenommen hatte. Sie alle waren nicht nur erfahrene Personenschützer, sondern auch gedungene Killer. Schon oft hatten sie ihm unliebsame Konkurrenten oder andere Gegenspieler aus dem Weg geschafft.
Diesmal war alles anders. Jeder in dem Auktionssaal hatte gesehen, wie Boyle Jules Malaise etwas zugeraunt hatte, bevor er wutentbrannt aus dem Raum gestürmt war. Da lag der Gedanke nicht fern, dass man schnell seine Spur aufnehmen würde, nachdem er die Statue in seinen Besitz gebracht hatte. Trotzdem musste er es riskieren. Wenn sein Plan aufging, brauchte er sich um irgendwelche irdischen Gesetze keine Gedanken mehr zu machen.
»Eine Minute«, flüsterte er seinen Helfern zu.
Die drei Männer nickten. Stumm zogen sie ihre Masken über, schraubten die Schalldämpfer auf ihre Pistolen und entsicherten die Waffen.
Paddy Boyle würde das Schauspiel aus sicherer Entfernung miterleben. Er war niemand, der sich gerne selbst die Hände schmutzig machte. Dafür zahlte er seinen Leibwächtern eine Menge Geld. Lange würde das nicht mehr gut gehen. Seine finanziellen Mittel schwanden dahin. Deshalb riskierte er auch so viel, um an die Statue zu gelangen.
Der aus Irland stammende Geschäftsmann hob den linken Daumen an. Seine Männer wussten, was sie zu tun hatten. Ohne ihren Chef noch einmal anzusprechen, traten sie an ihm vorbei. Jules Malaise und die vier Möbelpacker ahnten nichts davon, dass sich ihnen das Verderben näherte. Der Amateurhistoriker tippte etwas in sein Smartphone, während die anderen Männer alle Hände voll zu tun hatten, die schwere Kiste auf der Ladefläche des Kleinlasters zu positionieren.
Als einer von ihnen doch auf die Maskierten aufmerksam wurde, war es für ihn bereits zu spät. Der etwas übergewichtige Mann stieß nicht einmal einen Schrei aus, als sich zwei Kugeln in seine linke Brustseite gruben. Seine Kollegen wirbelten erschrocken herum. Noch ehe sie reagieren konnten, fielen erneut mehrere gedämpft klingende Schüsse. Boyle sah, wie Blut über die Holzkiste spritzte. Einer der Möbelpacker klammerte sich an ihr fest, als wäre sie sein letzter Rettungsanker. Schließlich rutschte er an ihr zu Boden und blieb reglos liegen.
Jules Malaise ereilte dasselbe Schicksal. Eine Kugel traf ihn direkt zwischen die Augen und löschte sein Leben aus. Noch bevor sein lebloser Körper zu Boden stürzen konnte, packte einer der Maskierten zu und zog ihn auf die Ladefläche des Lasters. Auch die anderen Toten hatten inzwischen dort ihren Platz gefunden.
Während einer seiner Leute die Kiste zu sichern begann, stieg ein zweiter in die Kabine des Fahrers. Als die Ladung festgezurrt war, ließ der dritte Maskierte die Hebebühne einfahren. Das war der Moment, in dem Patrick Boyle sein Versteck verließ. Alles war so geschehen, wie er es geplant hatte. Schon zuvor hatte er seine weiteren Schritte organisiert. Kurz hinter Paris würde ein zweiter Laster auf sie warten, in den sie ihre wertvolle Fracht umladen würden. Danach sollten seine Leute die Kiste auf einen Frachter bringen, der sie schließlich in Cardiff ablieferte. Denn dort, in Wales, wohnte Boyle.
Der Millionär selbst blieb einfach stehen, als der Laster davonfuhr. Nachdem er hinter der nächsten Kreuzung verschwunden war, drehte er sich um und ging zu seinem Wagen zurück. Bisher hatte alles perfekt funktioniert. Doch der wichtigste Teil seines Plans stand noch bevor.
☆
Das einsame Schloss erhob sich wie ein düsteres Fanal über der anrollenden Brandung. Es stand auf einem steil aufragenden Felsen und war nur über einen schmalen Weg zu erreichen.
Aus der Entfernung wirkte der jahrhundertealte Bau mit seinen alten Mauern, den leicht schiefen Türmen und dem breiten Holztor wie eines der zahlreichen leer stehenden, gespenstischen Relikte vergangener Zeiten. Die Bewohner der umliegenden Fischerdörfer, allen voran Fishguard und Llanwnda, glaubten sogar, das düstere Gebäude wäre verflucht, und mieden es dementsprechend.
Paddy Boyle war das nur recht. Er wollte seine Ruhe haben, gerade vor Leuten, die seine Angelegenheiten absolut nichts angingen. Natürlich mussten dem einen oder anderen die zahlreichen Lieferwagen aufgefallen sein, die in den vergangenen Jahren an dem Schloss ein- und ausgefahren waren. Unter großem finanziellen Aufwand war es ihm gelungen, aus dem alten, nur noch als bessere Ruine vorhandenen Pelbroke Castle ein mondänes Schloss zu machen. Zu einem Rückzugsort, an dem er in aller Stille seine Pläne durchziehen konnte.
Die Hallen von Pelbroke Castle waren vollgestopft mit Gemälden, Waffen und Antiquitäten. Darunter befanden sich afrikanische Totenmasken, Mumien aus altägyptischen Grabstätten, Äxte und Schwerter, die einst mächtigen Wikingerfürsten gehört haben sollen und sogar Statuen, die antiken Gottheiten zugeschrieben wurden.