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Er war blutüberströmt, und dennoch kämpfte er weiter. Nicht zuletzt für seine Tochter. Er musste sie um jeden Preis beschützen. In seiner Schulter klaffte eine gewaltige Wunde. Der Blutverlust raubte ihm langsam die Sinne. Auch seine Finger waren blutverschmiert, sodass er das Eisenrohr kaum festhalten konnte.
Die Bestie brüllte ihn an, schleuderte einen Stuhl zur Seite und kam ein weiteres Mal in die Höhe. Wieder schrie er auf und schlug zu. Das Rohr fuhr durch die Luft und krachte gegen den Kopf des Untiers. Stöhnend taumelte es zur Seite, doch der Mann setzte sofort nach. Wieder ließ er seine Schlagwaffe auf den hässlichen Schädel niederfahren ...
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Wolfsmond über Sydney
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Faba/Bassols
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-6815-4
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Wolfsmond über Sydney
von Rafael Marques
Ault a’chruinn, Schottische Highlands, vor vielen Jahren
Er war blutüberströmt, und dennoch kämpfte er weiter. Nicht nur für ihn, sondern auch für seine Tochter. Er musste sie um jeden Preis beschützen.
In seiner Schulter klaffte eine gewaltige Wunde. Der Blutverlust raubte ihm langsam die Sinne. Auch seine Finger waren blutverschmiert, sodass er das Eisenrohr kaum festhalten konnte.
Die Bestie brüllte ihn an, schleuderte einen Stuhl zur Seite und kam ein weiteres Mal in die Höhe. Wieder schrie er auf und schlug zu. Das Rohr fuhr durch die Luft und krachte gegen den Schädel des Untiers. Stöhnend taumelte es zur Seite, doch der Mann setzte sofort nach. Wieder ließ er seine Schlagwaffe auf den hässlichen Schädel niederfahren. Etwas knackte, dann sackte das Monstrum zu Boden.
Er konnte kaum glauben, was er durch einen Schleier aus Blut hindurch sah. Die Kreatur verwandelte sich in einen Menschen. Die graubraunen Haare rieselten von ihr herab, bis nur noch der nackte Leib einer Frau auf dem Wohnzimmerboden lag.
Als er sah, was er getan hatte, schrie der Mann wie nie zuvor in seinem Leben …
Sydney, Australien, Gegenwart
»Ich glaube, ich habe einen Hörschaden.«
Joe grinste hämisch. »Tja, das kommt davon, wenn man unbedingt in der ersten Reihe stehen will. Ich habe dich ja gewarnt, aber du wolltest nicht hören. Und jetzt hörst du überhaupt nichts mehr.«
Tara Halis sah ihn böse an. Er liebte diesen Ausdruck auf dem Gesicht seiner Frau. Sie konnte einen noch so eiskalten Blick auflegen, er wusste trotzdem immer, dass sie es nicht ernst meinte. Im Gegenteil, sie mochte seine kleinen Scherze, wollte es aber nie so ganz zugeben.
»Sehr witzig«, entgegnete sie. »Wird Zeit, dass ich dir auch mal die Ohren langziehe.«
Tara bekam tatsächlich sein linkes Ohr zu fassen und zog so heftig daran, dass Joe zur Seite taumelte und gegen sie stieß. Die Schmerzen raubten ihm fast den Atem. Wenigstens war seine Frau so gnädig, ihn nach wenigen Sekunden wieder loszulassen.
»Das sollte als Hörschaden reichen«, bemerkte sie grinsend.
»Zu gütig von dir.«
»Tja, so bin ich.«
Wenn Joe ehrlich zu sich selbst war, dann erging es ihm nicht anders als Tara. Auch er hatte unbedingt in der ersten Reihe stehen wollen, um die Jungs von Billy Talent einmal aus der Nähe zu erleben. Das Klingeln in seinen Ohren würde irgendwann auch wieder vergehen. Aber das war es ihm wert gewesen, ebenso wie die horrenden Ticketpreise.
Seit feststand, dass Teile der Concert Hall des Sydney Opera House kommendes Jahr für einige Zeit wegen Sanierungsarbeiten geschlossen werden würden, waren die Eintrittspreise rein zufällig rasant in die Höhe geschnellt.
Andererseits konnte er es sich auch leisten. Er hatte im Aktiengeschäft ein kleines Vermögen erwirtschaftet, weshalb er mit 35 einen Schlussstrich unter seine Karriere gezogen hatte und jetzt einfach das Leben genoss – gemeinsam mit seiner Frau. Regelmäßige Konzertbesuche gehörten da natürlich dazu.
»Wohin jetzt noch?«, fragte Tara. Sie war fünf Jahre jünger als er. Ihr fein geschnittenes Gesicht mit den großen Rehaugen strahlte wieder mal eine unbändige Freude aus. So kannte er sie, seit er ihr kurz vor seinem Schulabschluss das erste Mal begegnet war.
»Du hast wohl immer noch nicht genug.«
»Du etwa?«
»Mit Sicherheit nicht.«
»Also, was sollen wir tun?«
»Erst mal legen wir einen kleinen Spaziergang durch den Park ein.«
Tara kannte seine Vorliebe für nächtliche Wanderungen durch die Natur. Gerade bei Vollmond bildete sich zwischen den Bäumen eine ganz besondere Atmosphäre, die ihm jedes Mal einen Schauer über den Rücken rinnen ließ. Wenn dann noch die Oberfläche des durch den Royal Botanic Garden fließenden Bachs im kalten Mondschein zu glitzern begann, war es um ihn geschehen. Der Abend war noch recht warm. Vielleicht würden es Tara und er sich gleich in dem Park gemütlich machen.
»Ich weiß genau, woran du denkst«, erklärte seine Frau.
»Und?«
Sie lächelte. »Du kennst die Antwort.«
»Dann los!«
Der Royal Botanic Garden begann quasi direkt dort, wo das Areal des Opera House endete. Selbst bei Nacht waren die größeren der durch dieses Gebiet führenden Wege hell erleuchtet. Joe hielt sich nicht gerne im Bereich der Straßenlaternen auf, eher zwischen den alten Bäumen mit ihrem weit verzweigten Geäst. Dort war es zu zweit auch um einiges gemütlicher.
Selbst bei Nacht war die Luft von den Düften der exotischen Pflanzen angefüllt. Joe sog sie tief in sich ein. Dabei wanderte sein Blick über die nahe Skyline. Die teils erleuchteten Wolkenkratzer, die direkt hinter der Grenze des Botanischen Gartens in die Höhe wuchsen, gaben der gesamten Umgebung etwas Surreales.
»Träumst du schon, oder was?«, riss ihn Tara in die Realität zurück. Sie war schon vorgelaufen und stand im Schatten einiger eng nebeneinander wachsender Linden. Nicht weit entfernt glitzerte die Oberfläche eines der zahlreichen Teiche im Mondlicht.
»Ja, nur von dir«, rief er ihr hinterher.
»Das hoffe ich doch.«
Tara lachte und verschwand in der Dunkelheit. Joe sah sich noch einmal um. Außer ihnen befand sich zurzeit niemand in diesem Bereich des Parks. Er hoffte, dass das auch so blieb. In einer Großstadt wie Sydney konnte man das nie wissen.
Er wollte schon loslaufen, als ihn etwas erstarren ließ. Es war ein lautes Heulen wie das eines Wolfs. Über mehr als zehn Sekunden schallte es durch den nächtlichen Botanic Garden, bis es unwillkürlich abbrach.
Plötzlich fröstelte er. Das Geheul war ganz in seiner Nähe aufgeklungen, sicher nicht einmal hundert Meter entfernt. Von einem Tier sah er jedoch nichts, weder einen Hund noch einen Wolf. Eigentlich kannte er Letztere nur aus dem Fernsehen, vor allem, da sie in Australien nicht vorkamen. Er schalt sich einen Narren, überhaupt an Wölfe gedacht zu haben. Sicher war hier irgendwo ein streunender Hund unterwegs, aber selbst das war ihm nicht ganz geheuer.
Er wusste erst nicht, warum er unwillkürlich zu dem hell leuchtenden Erdtrabanten hinaufblickte. Bis ihm einfiel, dass alten Legenden nach bei Vollmond sich normale Menschen in Werwölfe verwandeln konnten. Zumindest versuchten zahlreiche Autoren und Filmemacher, einem das glaubhaft zu machen.
»Tara?«, rief er.
Eine Antwort erhielt er nicht. Wahrscheinlich war sie schon zu weit vorgelaufen. Joe sah sich noch einmal um, bevor er ihr zu folgen begann. Von dem Hund war immer noch nichts zu sehen.
Wenn er ehrlich zu sich selbst war, war die heitere Abendstimmung inzwischen verflogen. Dabei ärgerte er sich über sich selbst. Ein Hund heulte, und schon ging ihm die Fantasie durch. Sonst war er doch auch nicht so leicht zu beeinflussen.
»Tara? Wo steckst du?«
Diesmal erhielt er eine Antwort, wenn auch anders, als er erwartet hatte. Aus dem Schatten des Baumes erklang ein gurgelnder Laut. Fast so, als würde jemand keine Luft mehr bekommen. Schon nach wenigen Sekunden erstarb das Geräusch wieder.
Joe lief es eiskalt den Rücken herunter. Plötzlich hatte er das Gefühl, als würden tonnenschwere Bleigewichte seine Arme und Beine zu Boden ziehen. Er wollte zu Tara laufen, doch er konnte einfach nicht.
»Reiß dich zusammen, verdammt!«, redete er sich selbst zu. Und tatsächlich gelang es ihm, seine Panikattacke zu überwinden.
Er lief einige Schritte vor, bis er abrupt abstoppte. Eine Gestalt wankte ihm aus der Dunkelheit entgegen. Er sah eine Frau mit bauchfreiem, hellblauen Shirt und dunklen Jeans – Tara. Etwas stimmte mit ihr nicht. Sie presste beide Hände gegen den Hals. Zudem torkelte sie mehr, als dass sie lief.
»Tara, was …«, begann er, brach jedoch schnell wieder ab.
Tara senkte ihre Arme. Ihre Kehle hatte sich in eine einzige, grauenvolle Wunde verwandelt, aus der unentwegt Blut sprudelte. Es glich einem Wunder, dass sie sich überhaupt noch auf den Beinen hielt.
Joe wollte etwas sagen, schüttelte aber nur den Kopf. Er fühlte sich so taub, als würde er nicht mehr in seinem Körper stecken. Was er sah, war so schrecklich, dass er glaubte, den Verstand zu verlieren.
Seine Frau hielt sich nur noch wenige Momente auf den Beinen. Dann sackte sie in die Knie und verdrehte die Augen so weit, dass die Pupillen komplett verschwanden. Schließlich brach sie endgültig zusammen und blieb leblos auf dem Rasen liegen. Dabei strömte unentwegt neues Blut aus ihrer Kehle.
»Nein, nein …«, flüsterte er und presste beide Hände gegen das Gesicht. »Oh Gott!«
Direkt hinter Tara erklang ein unheilvolles Knurren. Erneut schälte sich etwas aus der Dunkelheit hervor. Joe entdeckte innerhalb des Zwielichts die Silhouetten zweier Tiere. Hunde waren das auf keinen Fall, dafür waren sie viel zu groß. Auch keine Dingos. Sie sahen aus wie Wölfe, jedoch mehr wie eine mutierte Abart. Aus dem Maul der rechten Kreatur tropften Blut und Fleischfetzen.
Als Joe das sah, wollte er nur noch eines – überleben. Mit einem lauten Schrei wirbelte er im Stand herum und rannte los. Doch die Wölfe ließen ihn nicht entkommen. Er hörte ihr Knurren und Hecheln. Von Sekunde zu Sekunde wurde es lauter, bis etwas mit Wucht gegen seinen Rücken stieß. Joe verlor das Gleichgewicht, stolperte noch über seine eigenen Beine und stürzte zu Boden.
Den ersten Biss spürte er noch, auch den zweiten, der seinen rechten Arm zerfetzte. Als sich die überlangen Reißzähne um seine Kehle legten, verlor er das Bewusstsein.
☆
Australien hatte mich wieder!
Es kam selten genug vor, dass mich, John Sinclair, ein Fall nach Down Under führte. Deshalb versuchte ich zumindest ansatzweise, die klare Luft, den blauen Himmel und den Ausblick auf das nahe Meer zu genießen. Zumindest war mir das im Flugzeug noch möglich gewesen.
Inzwischen befand ich mich in der Ankunftshalle des Kingsford Smith International Airport in Sydney und versuchte, mich in der für mich völlig neuen Umgebung zu orientieren.
Mein letzter Besuch in Australien hatte mich nach Townsville geführt, wo ich einem uralten Aborigine-Fluch und einem Totengeist auf die Spur gekommen war. Es war mir nicht schwergefallen, mich an diesen Fall zu erinnern, immerhin war dabei ein australischer Kollege von mir, der mir sehr sympathisch gewesen war, ums Leben gekommen. Und das bei dem Versuch, die Ermittlungen seines verstorbenen Vaters zu Ende zu bringen. Die Szene, in der er quasi in meinen Armen gestorben war, während ein Speer in seiner Brust gesteckt hatte, war mir immer noch so präsent, als wäre es gestern erst geschehen.1)
Etwa eine halbe Stunde vor der Landung hatte ich noch mit Sergeant Adam Sikorskys Witwe Trish gesprochen. Wir kannten uns von der Beerdigung und waren seitdem in losem Kontakt geblieben. Diesmal war unsere Unterhaltung jedoch anders verlaufen als sonst, weshalb mir das Gespräch noch immer nachhing.
Trish war mir irgendwie bedrückt vorgekommen. Ich überlegte schon, ob ich nicht nochmal nach Townsville fliegen und nach ihr sehen sollte. Immerhin wusste ich, wie hart sie der Tod ihres Mannes getroffen hatte.
Zunächst aber stand der aktuelle Fall im Vordergrund. Jack Myers, Leiter des australischen Büros des MI6, der mir bereits aus den Ermittlungen in Townsville bekannt war, hatte um meine Unterstützung gebeten. Da es wie erwähnt nicht unser erstes Gespräch gewesen war, wusste ich auch, was von seinen Informationen zu halten war. Zumindest von denen, die er mir gab.
In der Ankunftshalle herrschte reges Treiben. Viele Reisende waren zu den zahlreichen Geschäften unterwegs, andere empfingen Freunde und Verwandte oder versuchten noch, irgendwie an ihr Gepäck zu kommen. Hin und wieder begegneten mir schwer bewaffnete Sicherheitskräfte. Der weltweite Terrorismus hatte dafür gesorgt, dass die Polizei gerade an solchen Orten Präsenz zeigen musste.
Ich zuckte leicht zusammen, als sich mein Smartphone meldete. Die Nummer war unterdrückt. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Anrufer um Jack Myers.
»Ja, Sinclair hier«, nahm ich das Gespräch an.
»Myers. Ich wollte nur nachhören, ob Ihr Flug planmäßig gelandet ist.«
»Ist er.«
»Gut, gut …«
Der Tonfall des australischen MI6-Leiters irritierte mich. Er klang irgendwie nervös, als würde ihn etwas bedrücken. Zudem schien es mir nicht besonders glaubhaft, dass er nur anrief, um zu kontrollieren, ob ich sicher gelandet war.
»Ist noch etwas?«, fragte ich.
Myers zögerte kurz, bevor er antwortete. »Ja. Ich muss Sie sprechen, und zwar persönlich und nicht nur am Telefon. Da ich erst gegen Abend in Sydney eintreffen werde, werde ich mich später noch einmal melden. Es geht um den Fall. Mehr kann ich Ihnen im Moment auch nicht dazu sagen.«
»Aha. Können oder wollen Sie nicht?«
»Ich weiß, Sie mögen mich nicht besonders. Das geht mir bei vielen Kollegen so. Aber wir verfolgen dieselben Ziele. Was Ihnen im ersten Moment sehr simpel erscheinen mag, ist in Wahrheit ein viel komplexeres Geflecht. Aber um Ihnen das zu erklären, muss ich mich mit Ihnen treffen. Warten Sie auf meinen nächsten Anruf. Einen angenehmen Aufenthalt.«
Bevor ich noch etwas sagen konnte, beendete Myers das Gespräch. Ein wenig ratlos ließ ich das Smartphone sinken und steckte es wieder weg. Ich musste die Worte des MI6-Agenten erst einmal sacken lassen. Dass er ein Detail des Falles mit mir nicht am Telefon besprechen konnte oder wollte, ließ bereits tief blicken. Mir schwante, dass noch die eine oder andere böse Überraschung bei dem Fall auf mich lauerte.
Ich wusste, dass mich vor dem Gebäude ein Streifenwagen erwarten würde. Erst einmal musste ich mich aber durch die kreuz und quer laufende Menschenmenge schieben.
Als mir eine asiatische Familie begegnete, glitten meine Gedanken sofort zu Suko. Mein Partner hielt wie so oft bei Fällen im fernen Ausland in London die Stellung. Einerseits war das auch mehr als notwendig, schließlich konnten wir nicht damit rechnen, dass die Mächte der Finsternis immer nur an einem Ort auf der Welt zuschlugen. Andererseits musste es für Suko aber auch frustrierend sein – zumal wir oft auf Magien trafen, gegen die mein Kreuz nichts oder nur wenig ausrichten konnte, ganz im Gegensatz zu seiner Dämonenpeitsche.
Es war Mittag. Obwohl es sicherlich ein modernes Belüftungssystem gab, staute sich die Luft. Selbst ich kam langsam ins Schwitzen. Ich zog die Sommerjacke aus und schwang sie über die dunkle Reisetasche, die ich für alle Fälle mitgenommen hatte.
Mein Blick schweifte über die Umgebung. Dabei stutzte ich kurz. Am anderen Ende der Halle befand sich eine breite, mit Marmorplatten belegte Säule. In ihrem Schatten stand eine Gestalt, die wirkte, als gehörte sie hier nicht hin. Sie trug einen dunkelblauen, fast schwarzen Anzug sowie einen dunklen Fedora mit breiter Krempe und hellbrauner Schleife. Von dem Gesicht war nichts zu sehen.
Der Fremde wirkte fast wie ein Privatdetektiv aus einem Noir-Film der 40er Jahre. Jedenfalls musste er unter seinem Aufzug ungeheuer schwitzen. Mein Blick ruhte etwa eine halbe Minute auf der Gestalt, bis ich beinahe gegen eine ältere Dame lief. Ich entschuldigte mich und trat zur Seite. Als ich wieder zu der Säule hinübersah, war der Fremde verschwunden.
Eigentlich hätte ich nicht weiter über die Gestalt nachdenken müssen. In meinem Job musste ich jedoch damit rechnen, zu jeder Zeit und an jedem Ort unter Beobachtung zu stehen. Es konnte Zufall gewesen sein, dass der Hutträger genau dann verschwunden war, als ich ihn bemerkt hatte. Oder eben auch nicht.
Ich kümmerte mich wieder um die Suche nach dem Ausgang. Nachdem ich eine Rolltreppe hinter mir gelassen hatte, gelangte ich endlich nach draußen. Vor dem Flughafen standen Dutzende Taxis und warteten auf Gäste. Normalerweise durften andere Fahrzeuge hier nicht parken, deshalb fiel mir der von einem blau-weißen Muster überzogenen Streifenwagen sofort auf. Ein Beamter stand neben der Fahrerseite und rauchte eine Zigarette.
»John Sinclair von Scotland Yard«, rief ich zu ihm hinüber.
Der Uniformierte fuhr herum, hob lächelnd seine Hand zur Begrüßung und warf die Zigarette weg. »Willkommen in Australien«, begrüßte er mich. »Ich hoffe, sie hatten eine angenehme Reise.«
»Es geht.«
»Ich bin übrigens Officer Nick Sterling. Ich habe die Ehre, Sie zum Royal Botanic Garden zu fahren. Aber richten Sie sich nicht zu lange in dieser feinen Kutsche ein, die Fahrt dauert nicht lange.«
Ich lächelte. »Nichts gegen Ihre Kutsche, aber das ist mir ganz recht.«
»Das dachte ich mir schon. Steigen Sie ein.«
Ich öffnete die Tür, warf Reisetasche und Jacke auf den Rücksitz und ließ mich neben dem Officer nieder. Während er den Wagen startete, sah ich mich noch einmal um. Von dem Fedora-Träger war weiterhin nichts zu sehen. Ich beschloss, erst einmal nicht mehr an ihn zu denken.
»Können Sie mir etwas zu dem Fall sagen?«, fragte ich, während Sterling den Wagen vom Gelände des Flughafens weglenkte.
»Nicht so richtig. Ich bin eigentlich nicht in die Ermittlungen involviert. Mein Bezug zu dem Fall erschöpft sich darin, für Sie den Taxifahrer zu spielen. Aber eines kann ich Ihnen trotzdem sagen: Mit dem Leiter der Ermittlungen, Detective Sergeant Neal Jorgensen, haben Sie kein großes Los gezogen. Mit diesem Kerl ist nicht gut Kirschen essen. Niemand arbeitet gerne mit ihm zusammen, was aber nicht heißt, dass er kein guter Ermittler ist. Sie sollten eben nur damit rechnen, dass er keine Freundschaft mit Ihnen schließen möchte.«
»Das werde ich wohl verschmerzen können.«
»Das hoffe ich für Sie.«
Der Streifenwagen löste sich aus der Schlange der wartenden Taxis. Ich ärgerte mich fast selbst darüber, dass ich erneut nach der Gestalt mit dem Hut Ausschau hielt. Irgendwie ging mir der Fremde nicht mehr aus dem Kopf. Warum, wusste ich auch nicht. Selbst mein Kreuz hatte nicht auf ihn reagiert.
Gerade als Sterling auf eine Straße einbog, die an einem breiten Kanal entlangführte, fiel mir ein schwarzer Ford mit abgedunkelten Scheiben auf. Für einige Minuten hielt er sich immer zwei, drei Wagen hinter uns auf, bis er plötzlich aus meinem Sichtfeld verschwand und nicht mehr auftauchte.
»Ist was?«, fragte der Officer, der meine Blicke offenbar bemerkt hatte.
»Ich dachte kurz, wir würden verfolgt werden.«
Sterling sah in den Rückspiegel. »Meinen Sie den Eiswagen?«