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Angriff auf die Traumzeit
Als ihn der sanfte Windstoß traf, atmete Richard Freeman tief durch. Sein Blick glitt von der Oberfläche des kleinen Sees zu den Wipfeln der Eukalyptusbäume, die ihn wie eine schützende Mauer umgaben. Eigentlich wirkte alles völlig natürlich, und es war fast paranoid, dass der Luftzug sofort düstere Gedanken in ihm aufkommen ließ.
Seit Monaten ging etwas vonstatten, das von den meisten Menschen in Australien unbemerkt blieb. Vor allem, weil die Welt, die davon betroffen war, für diese Leute nur ein Fantasiegebilde war. Und selbst unter denjenigen, in deren Glaube dieser Ort tief verwurzelt war, gab es nur wenige, die sie jemals betreten hatten. Richard Freeman zählte zu den wenigen Auserwählten. Nur den Clever Men, weisen Männern, die Außenstehende als Schamanen bezeichnet hätten, war es vorbehalten, die geistige Reise in diese Dimension anzutreten ...
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Angriff auf die Traumzeit
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Firstear/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-7957-0
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
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Angriff auf die Traumzeit
von Rafael Marques
Als ihn der sanfte Windstoß traf, atmete Richard Freeman tief durch. Sein Blick glitt von der Oberfläche des kleinen Sees zu den Wipfeln der Eukalyptusbäume, die ihn wie eine schützende Mauer umgaben. Eigentlich wirkte alles völlig natürlich, und es war fast paranoid, dass der Luftzug sofort düstere Gedanken in ihm aufkommen ließ.
Seit Monaten ging etwas vonstatten, das von den meisten Menschen in Australien unbemerkt blieb. Vor allem, weil die Welt, die davon betroffen war, für diese Leute nur ein Fantasiegebilde war. Und selbst unter denjenigen, in deren Glaube dieser Ort tief verwurzelt war, gab es nur wenige, die sie jemals betreten hatten. Richard Freeman zählte zu den wenigen Auserwählten. Nur den Clever Men, weisen Männern, die Außenstehende als Schamanen bezeichnet hätten, war es vorbehalten, die geistige Reise in diese Dimension anzutreten …
Kaum mehr als ein Dutzend Männer wussten von der Zeit des Sturms. Doch sie hatte längst begonnen. Die Traumzeit selbst schwebte in großer Gefahr. Eine dunkle Kraft griff nach ihr. Noch war in der realen Welt kaum etwas davon zu spüren, doch welche Auswirkungen das Resultat dieses Prozesses haben mochte, konnte niemand auch nur prophezeien. Immerhin existierte die Traumzeit seit Anbeginn der Zeiten.
Die reale Welt. Richard konnte über diesen Begriff nur schmunzeln. Gab es die überhaupt? Für ihn gab es zwei Ebenen der Existenz: Die körperliche und die geistige. Die zweite Form des Lebens geriet seit Jahrhunderten immer mehr in Vergessenheit, deshalb empfand er es als umso wichtiger, dass einige wenige noch versuchten, auf ihre mentalen Kräfte zu bauen.
Doch wie es schien, war nicht einmal die Kraft der Traumzeit jener gewachsen, die nach ihr griff. Richard hatte es bei seinen vergangenen geistigen Reisen immer deutlicher gespürt. Etwas Dunkles, Böses, griff mehr und mehr nach seinem Geist. Nach seiner letzten Meditation war es für einige Sekunden sogar so schlimm gewesen, dass blanker Mordtrieb in ihm aufgestiegen war.
Das war auch der Grund, warum sich die fünf anderen Männer und er an diesem Ort zusammengefunden hatten. Etwas musste geschehen. Sie konnten nicht weiter einfach nur tatenlos zusehen, wie etwas die Traumzeit geradezu zersetzte.
»Wir sollten nicht länger warten«, sagte Richard und nickte seinen fünf Begleitern zu. Sie alle waren Stammesführer oder wichtige geistige Leitfiguren der traditionellen Aborigines. So wie er selbst. Zwar war er selbst nicht Anführer seines Stammes, der Noongar, aber immerhin jener, der noch das größte mentale Potenzial dafür hatte, mit der Traumzeit oder den Geistern der Ahnen in Kontakt zu treten.
»Du spürst es auch, nicht wahr?«, fragte Daku Bloom. Der Fünfundvierzigjährige aus Melbourne arbeitete normalerweise als Sachbuchautor. Als Stammesoberhaupt der Wurundjeri war er zudem einer der wichtigsten geistigen Führer der Aborigines, nicht nur jener, die noch an den alten Traditionen festhielten. »Es kommt näher …«
»Es war klar, dass unser Vorhaben nicht unbemerkt bleiben würde«, warf David Leeds ein. Er stammte aus dem Northern Territory und hatte von allen sechs Männern die weiteste Anreise gehabt.
Richard nickte den anderen Clever Men zu. »Lasst uns anfangen. Aber mit aller Ruhe. Wenn wir uns nervös machen lassen, begehen wir auch Fehler. Noch sind wir im Vorteil. Nur wenn wir als eine Einheit agieren, können wir gegen die andere Seite etwas ausrichten.«
Er wartete die Reaktion seiner Begleiter gar nicht erst ab. Demonstrativ setzte er sich auf einen der Steine, die das knisternde, hell lodernde Feuer in der Mitte des magischen Kreises umgaben. Wie die anderen Clever Men war er nackt. Sein braun gebrannter, muskulöser Körper war jedoch mit zahlreichen Zeichen und Symbolen übermalt. In seinen Händen hielt er zwei Kristalle, die er unablässig aufeinander mahlte, bis er sie schließlich fallen ließ.
Vor ihm lag eine weiße Maske. Noch wusste er nicht, ob er sie einsetzen sollte. Die Clever Men besaßen zahlreiche Hilfsmittel, die sie dabei unterstützen sollten, die geistige Reise in die Traumzeit anzutreten. Allein schon das kräftig lodernde Feuer hatte eine berauschende Wirkung. Nicht nur die besonderen Kräuter, die sie in die Flammen geworfen hatten. Richard glaubte sogar, dass das gleiche Feuer in seiner Seele brannte.
Er entschied sich, sich allein auf seine mentalen Fähigkeiten zu verlassen. Zwei seiner Begleiter, die nun ebenfalls Platz genommen hatten, sahen das anders und setzten ihre Masken auf.
An diesem Ort fühlte sich Richard seinen Ahnen näher als je zuvor. Die Traumzeit verband Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Art parallelen Welt, in der jedoch all das einfloss, was auf der Erde geschah. In ihr existierten nicht nur die von vielen als Götter bezeichneten Traumzeitwesen, sondern auch die Geister der Verstorbenen.
Richard und die anderen Männer befanden sich auf einer uralten Begräbnisstätte, die nie von den weißen Einwanderern betreten worden war. Hier war die Präsenz des Todes allgegenwärtig. Er fürchtete sich jedoch nicht davor. Für ihn waren Leben und Sterben nur Bruchstücke eines großen Ganzen.
Als seine Begleiter langsam ebenfalls in stille Meditation verfielen, schloss er die Augen. Erst atmete er tief ein und aus, dann immer schwächer, bis er irgendwann den Eindruck hatte, überhaupt nicht mehr Luft zu holen. Alles um ihn herum verschwand. Nur die geradezu magische Ausstrahlung des Feuers, der Duft der Kräuter und das erhebende Gefühl, mit seinen Ahnen zusammen zu sein, waren für ihn noch vorhanden.
Sein Geist öffnete sich. Vielleicht lag es an den gebündelten mentalen Kräften der anderen Aborigines, dass es ihm dieses Mal so leichtfiel. In jedem Fall spürte er, dass er kurz davor war, in die Traumzeit einzutreten.
Was er sah, war kaum zu beschreiben. Zunächst nahm er nur einen hellen Fleck wahr, der sich langsam vergrößerte und aus der allumfassenden Finsternis schälte. Er glaubte, zu lächeln. Kurz darauf drang sein Geist endgültig in die Traumzeit ein. Wie ein Vogel schwebte er über die Wüste, endlose Wiesen und weite Wälder hinweg, sah die Dörfer seiner Ahnen, lebendige Städte und Tiere, die in seiner Welt längst ausgestorben waren.
Sogar Bilder aus seiner eigenen Vergangenheit drängten sich vor sein geistiges Auge. Er blickte in die Gesichter seiner Kinder Jim und Alex und seiner Frau Joan. Alle drei waren vor vielen Jahren bei einem schweren Autounfall gestorben, doch an diesem Ort existierten sie weiter.
Ein Schatten legte sich über den Horizont. Ein Wesen, das ihm nur allzu bekannt war, schwebte heran. Es handelte sich um eine übergroße Schlange, deren Haut nur auf den ersten Blick aus braunen Schuppen bestand. In Wahrheit handelte es sich dabei um das Abbild eines bewaldeten Gebirgszugs nahe Perth, dem Darling Scarp. Zumindest kam es ihm so vor. Der alten Legende nach sollte die Wagyl – der wahre Name der Kreatur – sich aus eben jenem Darling Scarp geformt haben und im Auftrag der viel größeren und bekannteren Regenbogenschlange mehrere große Flüsse geschaffen haben.
Richard hatte dieses Wesen schon mehrere Male erlebt, jedoch noch nie so nahe wie in diesen Momenten. Trotzdem gab ihm die Anwesenheit der Wagyl kein gutes Gefühl. Im Gegenteil, die Schlange stieß ihn ab, und genau das machte ihm Angst. Etwas stimmte mit dem Traumzeitwesen nicht.
Er wollte genauer hinsehen, doch genau in diesem Augenblick traf ihn ein eiskalter Hauch, der ihn schlagartig in die Realität zurückriss.
☆
Bin ich wach? Schlafe ich? Oder bin ich noch immer in der Traumzeit?
All diese Fragen huschten durch Richard Freemans Kopf, ohne dass er in der Lage war, sie wirklich zu beantworten. Er hatte die Augen geöffnet, und dennoch sah er die Welt um sich wie durch einen dunklen Filter. Zudem war er kaum in der Lage, etwas zu spüren. Sein Geist war noch immer entrückt, so viel war sicher.
Erst auf den zweiten Blick sah er, dass sich die so mächtigen Eukalyptusbäume unter dem Druck eines immensen Sturms bogen. Normalerweise hätte der Luftzug an Richard viel mehr ziehen müssen. Doch es schien, als wäre er nicht in der Lage, eine bestimmte Barriere zu durchbrechen. Noch nicht.
Wieder traf ihn ein eiskalter Hauch. Er nahm die Anwesenheit des Bösen wahr, nur befand er sich diesmal nicht in der Traumzeit, sondern in der Realität. Es war, als würden sich Eiskristalle auf seiner Haut bilden. Der Orkan wurde stärker und stärker, bis es ihm gelang, die magische Barriere der Clever Men zu durchbrechen.
Wie eine unsichtbare Hand fegte der Orkan heran, ergriff David Leeds und riss ihn einfach mit sich. Der Mann mit dem wehenden Haarschopf wirbelte durch die Luft, bis er mit dem Rücken gegen einen der Stämme prallte und schließlich leblos zu Boden sackte.
Sein Todesschrei sorgte dafür, dass auch Richards restliche Begleiter erwachten. Wie auch er schienen sie sich noch in einer Art Trancezustand zu befinden. Nur Daku Bloom gelang es, sich von seinem Platz zu erheben.
Plötzlich begann der kleine See neben dem Steinkreis zu schäumen und zu brodeln. Das hellblaue, klare Wasser wandelte sich in eine blutrote, zähe Flüssigkeit, die ein wenig an Lava erinnerte. Sie strahlte eine unbändige Hitze aus, die Richard merkwürdigerweise dennoch frösteln ließ. Der seltsame Schauer brachte ihn endgültig dazu, sich aufzurichten.
Etwas schob sich aus der brodelnden Masse hervor. Zunächst konnte er es kaum glauben, als der riesige Kopf der Wagyl aus dem See hervorschoss. Auch der Rest des Körpers wirbelte empor und schoss förmlich auf die übrigen fünf Clever Men zu.
Daku Bloom schrie, doch er konnte nichts tun. Blitzschnell wickelte die Schlange ihren Körper um ihn und drückte zu. Als seine Knochen laut zu knacken begannen, erstarb sein nicht enden wollender Schrei.
Die anderen weisen Männer gerieten in Panik. Einer von ihnen versuchte, wegzulaufen, doch die Schlange war viel schneller und rammte ihre Zähne in seinen ungeschützten Körper. Blut spritzte in alle Richtungen, während die Wagyl den Clever Man förmlich zerfetzte.
Für einige Sekundenbruchteile starrte Richard der heiligen Schlange direkt in die Augen. Jetzt wusste er auch, was ihn schon in der Traumzeit an ihr gestört hatte. Ihre Augen waren nicht mehr normal. Sie glühten in einem dunklen, dämonisch wirkenden Rot.
In diesem Moment wurde ihm endgültig bewusst, dass er an diesem Ort nichts mehr ausrichten konnte. Während die Schlange den nächsten Clever Man mit einem einzigen Biss verschlang, rannte Richard einfach los.
Sein Wagen stand etwa zweihundert Meter weit entfernt. Er wusste nicht, ob er in seinem entrückten Zustand überhaupt in der Lage war, ihn zu fahren. Doch wenn er überleben wollte, blieb ihm keine andere Möglichkeit.
Hinter ihm erstarben auch die letzten Schreie. Ein schauerliches Brüllen hallte durch den Wald. Der Boden erzitterte, als sich etwas Großes hinter ihm her zu wälzen begann.
Er rannte so schnell er konnte. Wie ein Lichtschein am Ende eines langen Tunnels tauchte der Jeep in seinem Sichtfeld auf. Er parkte auf einer leichten Anhöhe, direkt neben den Wagen seiner Freunde. Freunde, die jetzt alle tot waren.
Das Zischen der Schlange kam immer näher. Als er nur noch etwa zwanzig Meter von dem Jeep entfernt war, wirbelte er herum. Der Kopf der Wagyl schwebte fast direkt über ihm, das Maul zum entscheidenden Biss weit aufgerissen.
Richard schloss bereits mit seinem Leben ab, als plötzlich eine wahre Flut aus kleinen Blitzen auf die Schlange niederging. Die Wagyl schrie auf, wurde zurückgestoßen und brach krachend zusammen. Doch die Blitze waren nur für kurze Zeit in der Lage, sie außer Gefecht zu setzen.
Diese Chance ließ er sich nicht entgegen. Wieder fuhr er herum und stürmte erneut auf den Jeep zu. Es kam ihm wie ein kleines Wunder vor, dass er ihn überhaupt erreichte. Er schwang sich hinter das Steuer, startete den Motor und fuhr los. Noch immer kam er sich dabei wie in Trance vor, aber es gelang ihm trotzdem, den Wagen in der Spur zu halten.
Nach wenigen Metern sah er zum ersten Mal in den Rückspiegel. Von der Riesenschlange war nichts mehr zu sehen, ebenso wenig wie von den Blitzen. Auch die Bäume bogen sich nicht mehr im Wind.
War das alles gerade gar nicht wirklich geschehen? Befand er sich noch immer in der Traumzeit? Seine gesamte Umgebung wirkte seltsam entrückt, und dennoch spürte er die blanke Todesangst, die seinen gesamten Körper ergriffen hatte. Wie es auch war, er lebte. Etwas sagte ihm jedoch, dass die Kräfte des Bösen ihn nicht so einfach ziehen lassen würden.
☆
Der Weißhaarige stöhnte. Von Fieber und Krämpfen geplagt warf er seinen Körper von einer Seite zur anderen. Die Schmerzen, die sich durch sein Innerstes wühlten, waren kaum zu ertragen. Dass andere an seiner Stelle längst vergangen wären, interessierte ihn dabei wenig. Geweihtes Silber war für Werwölfe tödlich, nicht jedoch für ihn. Aber das konnte sich immer noch ändern.
Die gewaltige Macht, die dafür gesorgt hatte, dass er trotz seiner schweren Verletzungen einer Vernichtung durch diesen blonden Yard-Ermittler entgangen war, hatte ihn längst wieder verlassen. Oder zumindest so weit, dass er leiden musste. War das die Strafe seines Meisters dafür, dass er den Kampf gegen Darren McBride verloren hatte? Hätte die Macht ihn völlig verlassen, wäre er längst gestorben. Es war offensichtlich, dass man ihn auf diese Art quälen wollte.
Oder sorgten die magischen Zeichen der Aborigines dafür, dass er noch lebte? Die Felsen um ihn herum waren übersät von ihnen. Sie waren uralt, bis zu zehntausend Jahre. In ihnen waren all die Kräfte der Ureinwohner Australiens gespeichert, die sie über die Jahrhunderte über die diesseitigen und jenseitigen Welten angesammelt hatten. Kräfte, von denen inzwischen nur noch die wenigsten wussten. Ein Großteil der Aborigines hatte das traditionelle Leben längst aufgegeben. Ihr reiches Wissen um Magie, Geister und die Traumzeit ging langsam verloren.
Genau das hatte Ronald Belgin sich zunutze gemacht. Unter großem finanziellem und körperlichem Aufwand war es ihm gelungen, eine im Untergrund agierende Geheimorganisation aufzubauen, die in ganz Australien vernetzt war. Wichtige Geschäftsmänner, Politiker und Richter schlossen sich ihm an, manche wegen des Kicks, andere, um ihren eigenen Einfluss auszuweiten oder gar, um das ewige Leben zu erreichen. Der Weißhaarige konnte darüber nur lachen. Sie waren alle zu seinen Marionetten geworden, zu Schachfiguren, die er beliebig be- und ausnutzen konnte.
Doch es gab noch eine andere Seite. Die uralten Rituale, mit denen einst die Clever Men in die Traumzeit eindrangen, zu den Geistern ihrer Ahnen sprachen oder einfach nur mentale Kräfte schöpften, waren ihm irgendwann nicht mehr genug gewesen. Er wollte mehr, vor allem Macht, Unverwundbarkeit und ewiges Leben. Nach einigen Monaten hatte er gespürt, dass sich noch etwas anderes in der Traumzeit aufhielt. Eine nicht fassbare Kraft, die aber trotzdem in der Lage war, in diese fremde Welt einzudringen.
Schließlich war es Ronald Belgin gelungen, mit dieser Kraft Kontakt aufzunehmen. Kurze Zeit später hatte er seinen Plan vollendet, Darren McBride, den Mörder seiner Tochter, in eine Falle zu locken und ihn dazu zu bringen, ihn zu einem Werwolf zu machen.1) Seine Augen trübten sich jedes Mal, wenn er an seine Ellen dachte. Mit sechzehn Jahren war sie verschwunden, nicht ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, in dem sie ihm erklärte, dass sie ihn bis aufs Blut hasste und ihn nie wieder sehen wollte. Es hatte Jahrzehnte gebraucht, um sie in einem kleinen Dorf in den schottischen Highlands aufzuspüren. Zu diesem Zeitpunkt war sie jedoch längst tot und ihre neue Familie spurlos verschwunden. In einem geheimen Grab im Keller hatte er letztendlich Ellens skelettierten Überreste gefunden.
Erst in den Tagen danach hatte sich für ihn ein Bild ihres Lebens geformt. Seinen Männern, allen voran seinem langjährigen Leibwächter Simon Corfax, war es gelungen, den Onkel des Mannes ausfindig zu machen, den Ellen geheiratet und dem sie ein Kind geschenkt hatte.
Nach mehreren Stunden Folter hatte er ihnen eine haarsträubende Geschichte aufgetischt, die ihm sein Neffe einmal im Vertrauen erzählt hatte: Ellen sollte von einer unbekannten Bestie in einen Werwolf verwandelt worden sein, wobei sie später ihre Familie angegriffen hatte und von ihrem Ehemann getötet worden war. Seit diesem Tag trug Darren McBride ebenfalls den Keim des Wolfes in sich, der in den Vollmondnächten dafür sorgte, dass er sich in einen Werwolf verwandelte. Entsprechende Spuren fanden sich auch im Keller ihres Hauses.
Dass McBrides Onkel kurze Zeit später bei einem vermeintlichen schweren Unfall in seinem Auto verbrannt war, war für Belgin nur eine kleine Randnotiz. Nach diesen Erkenntnissen waren wiederum viele Jahre vergangen, bis er Darren McBride und seine Tochter in Sydney ausmachen konnte.
Bis dahin hatte sich das Leben des Weißhaarigen komplett geändert. Da er sich voll und ganz seiner Organisation und der Magie der Traumzeit verschrieben hatte, waren seine Gedanken in eine völlig andere Richtung geflossen als zuvor. Rache konnte er immer noch nehmen, aber die Vorstellung, in einen Werwolf verwandelt zu werden, hatte ihn förmlich elektrisiert. Und obwohl Corfax und weitere seiner Männer dabei ihr Leben verloren hatten und die ganze Aktion ein schwerer Schlag für die Loyalität seiner Anhänger gewesen war, war er zumindest diesbezüglich erfolgreich gewesen.
Belgins Erinnerungen brachen ab. Seine Schmerzen verstärkten sich noch einmal, als er sich unvermittelt in der Gegenwart wiederfand. Durch den Felsendom hallte das leise Plätschern eines unterirdischen Baches, der das Areal etwa in der Mitte durchfloss. Die an den Wänden angebrachten Fackeln spendeten zwar weiter ihr Licht, doch sie waren nicht in der Lage, die Decke dieses uralten Heiligtums zu erreichen.