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Jasmina war das alte Anwesen sofort ins Auge gefallen. Es stand am Ortsrand eines kleinen Dorfes nahe des Touristenmagneten Neustadt an der Weinstraße und wirkte etwas von der Welt vergessen. Über die vergangenen Jahrzehnte hinweg war das Grundstück komplett verwildert, die Mauern mit Efeu überwachsen und das Gras so weit in die Höhe geschossen, dass ein normal großer Mensch darin verschwinden konnte.
Und doch, obwohl das zweistöckige Ziegelsteingebäude einen baufälligen Eindruck machte, zog es sie geradezu magisch an ...
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Seitenzahl: 159
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Gefangener der Albtraumwelt
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Andrey Burmakin/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9675-1
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Gefangener der Albtraumwelt
von Rafael Marques
»Es ist wie ein Traum, nicht wahr?«
Sven Beckert lachte hart. »Ja, ein Albtraum. Aber wir wollten es ja nicht anders.«
»Genau. Und jetzt ziehen wir es auch durch. Oder hast du etwa Angst?«
»Davor, in dem Haus zu wohnen oder unsere Familie für die nächsten fünf Generationen mit den Renovierungskosten zu ruinieren?«
»Ein bisschen von beidem.«
Sven und Jasmina waren seit vier Monaten verheiratet, und jetzt hatten sie mit dem alten Anwesen von Svens vor Jahrzehnten verstorbenen Großmutter endlich das passende Eigenheim gefunden. Es stand am Ortsrand eines kleinen Dorfes nahe des Touristenmagneten Neustadt an der Weinstraße und wirkte etwas von der Welt vergessen. Über die vergangenen Jahrzehnte hinweg war das Grundstück komplett verwildert.
Und doch, obwohl das zweistöckige Ziegelsteingebäude einen baufälligen Eindruck machte, zog es sie geradezu magisch an – ganz besonders Jasmina …
Svens Frau war eine leidenschaftliche Heimwerkerin, ganz im Gegensatz zu ihm. Genau diese Gegensätze schweißten sie beide zusammen, und so war Jasmina sofort Feuer und Flamme gewesen, als er ihr gegenüber erwähnt hatte, dass das alte Haus seiner Großmutter – die er nur vom Namen her kannte – seit dem Tod seines Vaters ihm gehörte.
Inzwischen sah das Grundstück längst nicht mehr so verwildert aus wie vor zwei Monaten. Der Rasen war gemäht, die zerbrochenen Pflaster des zum Eingang führenden Steinweges durch neue ersetzt und die Efeuranken zurechtgestutzt. In Eigenregie hatten sie Fenster und Türen ersetzt und die Bausubstanz von einem Experten prüfen lassen. Das einzige, was sie nicht selbst in die Hand nehmen konnten, war das Verlegen neuer Stromleitungen. Dafür hatten sie eine polnische Elektrikerfirma beauftragt, auf Empfehlung eines Kollegen von der Bank.
Im Moment standen sie wie so häufig auf dem gepflasterten Weg und betrachteten ihr zukünftiges Zuhause. Das Gebäude wirkte auf ihn längst nicht mehr so unheimlich wie bei seinem ersten Besuch. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er als Kind einmal mit Freunden auf das Grundstück geschlichen und in den verfallenen Bau eingedrungen war. Nie zuvor und nie wieder danach hatte er solche Angst verspürt, denn er war sich damals sicher gewesen, dass es in dem Haus spuken würde.
Davon konnte mittlerweile nun wirklich keine Rede mehr sein. Vor den neuen Fenstern waren Blumenkästen angebracht worden. Die bunten Blüten gaben dem Haus eine zusätzliche, heimelige Atmosphäre.
Im Hintergrund war das Hämmern und Bohren der Handwerker zu hören. Sven wollte nicht mehr länger vor dem Haus herumstehen. Er war von Natur aus misstrauisch, und auch wenn er die Arbeiter als seriös einschätzte, konnte er sie nicht einfach unbeaufsichtigt durch sein Haus ziehen lassen. Deshalb löste er sich von der Seite seiner Frau und ging ins Haus zurück.
Mehrere dicke, graue Kabel waren über den hellbraunen Teppichboden gelegt worden. Sie führten durch den Flur und vorbei an dem Wohnzimmer, in dem noch immer einige alte Möbel seiner Großmutter standen. Er wollte sie nach und nach ausmisten, doch vorerst investierte er all sein Geld in die Wiederinstandsetzung. Schließlich konnten sie nicht dauerhaft neben tragbaren Heizungen und Generatoren leben.
Den Spuren an den Wänden nach zu urteilen hatten sich die Arbeiten inzwischen in den ersten Stock verlagert. Sven schritt langsam die jämmerlich ächzenden Holzdielen empor, die sicher auch bald verstärkt oder erneuert werden mussten. An den Wänden hingen neben handgemalten Bildern seiner Mutter auch noch einige vergilbte Landschaftsporträts. Warum er ausgerechnet jetzt daran denken musste, wie er schon einmal als Kind die Treppe emporgestiegen war und sich bei den Geräuschen, die die Stufen abgaben, fast in die Hose gemacht hatte, wusste er selbst nicht.
Er hörte, wie sich die beiden Männer auf Polnisch unterhielten, während einer der beiden offenbar damit beschäftigt war, ein Loch zu bohren. An einer Wand am Ende des Flurs entdeckte er die Handwerker schließlich, die ihn schnell bemerkten und ihm freundlich zunickten.
»Wie läuft es?«, rief er laut, um das Sirren der Bohrmaschine zu übertönen.
Der ältere der beiden Männer wies auf die Wand. »Wir legen die nächste Steckdose an«, antwortete er in stark akzentuiertem Deutsch. »Laut Plan die fünftletzte. Szimon hat allerdings Probleme, einen geeigneten Platz zu finden.«
»Warum?«
»Die Wand ist nicht aus Ziegelsteinen gefertigt, wie es scheint.«
»Aus was dann?«
Der Mann mit der Bohrmaschine fluchte, als die Spitze seines Geräts so tief in die Wand stieß, dass sie ein faustgroßes Loch aufriss. Plötzlich drang etwas aus der Öffnung hervor. Es war eine Art dichter, hellgrauer Nebel, der an der Tapete entlang in die Höhe kroch und innerhalb weniger Sekunden das Gesicht des völlig überraschten Handwerkers erreichte. Auch über den Boden trieben einige Schwaden hinweg, lösten sich aber schnell wieder auf.
Sven wollte etwas sagen, als der Pole einen erstickten Schrei ausstieß. Er fasste sich mit beiden Händen an die Kehle, bevor er die Augen verdrehte. Seine Beine gaben nach, und schließlich sackte er zu Boden, wo er reglos liegen blieb.
Mit offenem Mund ging Sven vor. Er bemerkte kaum, dass die letzten Nebelschwaden zerfaserten und auch kein weiterer Dunst aus der Öffnung hervordrang. Zitternd ging er neben dem Mann in die Knie, doch für den Handwerker kam jede Hilfe zu spät. Er atmete nicht mehr. Stattdessen starrte er ihn mit starren, weit aufgerissenen Augen an.
☆
Der Leichenbeschauer streifte seine Plastikhandschuhe ab und richtete sich auf, wobei er in zahlreiche fragende Gesichter blickte. Ein Hauptkommissar aus Neustadt erwartete seine Diagnose, ebenso Pawel Locarz, der Vorarbeiter des Toten, sowie Sven und Jasmina, die von dem Beamten hinzugebeten worden waren.
Die gesamte Szenerie kam Sven so unwirklich vor. Was hatten sie alles für Mühen auf sich genommen, um dieses Haus zu ihrem Zuhause werden zu lassen? Von einen Moment zum nächsten war davon nichts mehr übrig geblieben. Nicht nur, dass es zu einem Tatort geworden war, der von mehreren der alarmierten Polizisten in Augenschein genommen wurde, da war auch dieses beklemmende Gefühl, das einfach nicht von seiner Brust weichen wollte. Er fühlte sich zwischen diesen Wänden einfach nicht mehr wohl. Als hätte sich hier etwas Fremdes, Böses eingenistet.
Nur mit Mühe gelang es ihm, den Gedanken daran beiseitezuschieben. Seine Frau drückte sich eng an ihn, woraufhin er eine Hand über ihre Schultern legte. Dabei fragte er sich, ob sie nicht besser die kommende Nacht in einem Hotel verbringen oder hierher überhaupt nicht mehr zurückkommen sollten.
»Es sieht alles nach einem Herzinfarkt aus«, erklärte der Mediziner. »Natürlich wird eine Obduktion folgen, aber meiner Meinung nach wird es keine andere Diagnose geben.«
»Mehr nicht?«, fragte Sven überrascht. »Was ist mit diesem Nebel?«
»Ich kann Ihnen nur sagen, was ich sehe. Ich bin Mediziner und kein Biologe.«
Hauptkommissar Spohr atmete tief durch und sah sich um. »Nun, dann bleibt mir nicht mehr viel zu tun, als den Toten abtransportieren zu lassen. Immerhin decken sich Ihre Aussagen alle dahingehend, dass Szimon Hübscher einfach plötzlich zusammengebrochen ist. Was diesen Nebel angeht, sollten Sie das Haus vielleicht einmal auf giftige Substanzen untersuchen. Früher wurde bei solchen Gebäuden beispielsweise oft Asbest verwendet.«
»Asbest tritt doch nicht als Nebel aus Wänden aus«, warf Pawel Locarz ein. »Was soll ich denn jetzt seiner Frau erzählen?«
»Keine Sorge, meine Kollegen und ich werden uns darum kümmern.«
Sven sah dem Handwerker nach, wie er kopfschüttelnd den Raum verließ. Auch er wusste nicht so recht, was er sagen sollte, und Jasmina erging es da wohl ähnlich. In ihrem Haus war ein Mann gestorben, der jetzt von zwei uniformierten Beamten in einen Plastiksarg gelegt und abtransportiert wurde. Hauptkommissar Spohr gab ihnen zum Abschied noch einmal die Hand, bevor er mit seinen Kollegen die Treppe hinabstieg.
Erst als er hörte, wie im Vorgarten die Motoren ansprangen und die Einsatzkräfte endgültig das Grundstück verließen, fand er langsam wieder zu sich selbst. »Ich weiß, was ich gesehen habe«, murmelte er. »Das waren keine giftigen Gase. Da ist irgendein Nebel aus der Wand gedrungen und an dem Handwerker hochgekrochen.«
»Und du bist sicher, dass es keine Staubwolke war?«, fragte Jasmina.
»Ganz sicher.«
»Und was hast du jetzt vor?«
Sven seufzte. »Wir sollten uns zumindest mal überlegen, fürs Erste woanders zu schlafen.«
»Kommt gar nicht infrage. Wir haben so sehr darum gekämpft, dieses Haus zu einem Ort zu machen, an dem wir – und unsere Familie – uns wohlfühlen werden. Es ist furchtbar, dass dieser Mann gestorben ist, aber wir dürfen nicht so einfach aufgeben. Andererseits will ich auch, dass so etwas nie wieder passiert. Ich muss wissen, was hinter dieser Wand ist.«
»Nichts … oder?«
Jasminas Hände fuhren über die Wand. »Hat dieser Pawel Locarz nicht etwas davon gesagt, dass die Wand nicht wie die anderen aus Ziegelsteinen gefertigt ist? Du hast mir doch vorhin davon erzählt. Die Bohrmaschine hat sogar ein großes Loch in sie gerissen. Vielleicht ist hinter ihr ein Hohlraum.«
»Jasmina …«
»Komm schon, ich will wissen, warum das passiert ist. Du doch auch, oder nicht?«
»Schon.«
Wieder trat Jasmina an die Wand und schlug mehrmals mit der Faust gegen die Tapete. Sie erzitterte nicht nur unter den Schlägen, ihr Klang wies auch darauf hin, dass sich hinter ihr tatsächlich ein Hohlraum befand. Womöglich sogar ein geheimes Zimmer, das bei früheren Umbauarbeiten versteckt worden war.
Sven wusste, dass es nur einen Weg gab, die Wahrheit herauszufinden. Schneller, als er es eigentlich wollte, lief er die Treppe herunter und eilte zu einer Abstellkammer, in der er allerlei handwerkliche Geräte aufbewahrte. Dazu gehörte auch ein eiserner Vorschlaghammer, dem die Wand – sollte sie wirklich so dünn sein – nichts entgegenzusetzen haben würde.
Er griff sich den Hammer und lief zurück in den ersten Stock, wo sich Jasmina nicht von der Stelle gerührt hatte. Sie sah ihn mit einer Mischung aus Anspannung und Furcht an, schien aber auch nicht von ihrem Vorhaben abweichen zu wollen.
Sven war jetzt vollkommen davon überzeugt, das einzig Richtige zu tun. Ohne noch einmal mit seiner Frau zu sprechen, holte er aus und rammte den Kopf des Hammers in die Wand. Die hölzerne Verkleidung hielt der gewaltigen Kraft nicht stand und brach einfach in sich zusammen. Die Wand war tatsächlich nicht aus Steinen errichtet worden, eher aus einer Mischung aus Holz und Styropor, überdeckt mit Farbe und Tapete. Noch einmal rammte er den Hammer nach vorne, sodass auch der Rest der Wand in sich zusammenbrach.
Sein Atem beschleunigte sich, als sich die Staubfahne legte und das Tageslicht durch die Fenster in einen Raum sickerte, der mindestens seit Jahrzehnten von der Außenwelt versiegelt gewesen war. Den Nebel entdeckte er nicht, dafür einen über zwei Meter großen Spiegel, in dessen matter Fläche er sein eigenes Gesicht zu erkennen glaubte. Er trat näher heran, woraufhin etwas geschah, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sein Spiegelbild verzog sich zu einer schwarzen Totenfratze!
☆
Sven zuckte erschrocken zurück, und schon als er blinzelte, sah er wieder in sein normales Spiegelbild. Zwar etwas matt und verwischt, da die Metallfläche von einer dicken Staubschicht bedeckt war, doch von einem Gesicht mit dunkler Haut und leeren Augenhöhlen war nichts mehr zu sehen.
»Wahnsinn!«, stieß Jasmina hervor, während sie sich an ihm vorbeischob. »Der muss hunderte Jahre alt sein. Sieh dir nur mal den Rahmen an.«
Zunächst wollte er Jasmina zurückrufen, allerdings brachte er kaum einen Ton hervor. Stattdessen betrachtete er den verrosteten Metallrahmen, der ein seltsames Muster aufwies. Erst als er seinen Blick länger auf ihn fokussierte, wurde ihm klar, dass das keine wirklichen Muster waren, sondern zahllose aneinandergereihte, verzerrte Gesichter.
Wieder lief ein Schauer über seinen Körper, und allmählich verstand er, warum dieser Spiegel hier eingemauert worden war. Etwas ging von ihm aus, das man fast als Hauch des Bösen beschreiben konnte.
Er war niemals abergläubisch gewesen, noch nicht einmal religiös, doch der Anblick des Spiegels ließ ihn an seinen Ansichten zweifeln. Zumal er sich sicher war, dass dieses hunderte Jahre alte Mobiliar irgendwie für den Tod des Handwerkers verantwortlich sein musste.
»Was ist los mit dir?«, fragte Jasmina.
»Ich …«, begann er, ohne zu wissen, was er eigentlich sagen wollte. »Mir gefällt dieses Ding nicht.«
»Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Vielleicht habe ich das auch.«
»Bitte?«
Sven wollte seiner Frau von der Totenfratze erzählen, kam sich aber plötzlich so lächerlich vor. Wahrscheinlich war einfach seine Fantasie mit ihm durchgegangen, eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. Andererseits war da noch der Nebel, den er sich bestimmt nicht eingebildet hatte. Trotzdem wagte er es nicht, Jasmina von dem veränderten Spiegelbild zu erzählen.
»Ach, vergiss es. Ich finde den Spiegel einfach unheimlich. Ich meine, warum sollte ihn jemand hier einmauern? Bestimmt nicht, weil er so schön ist. Wir sollten ihn nach draußen bringen und vom Sperrmüll abholen lassen.«
»Bist du verrückt? Der Spiegel ist bestimmt ein paar hundert Euro wert, wenn nicht mehr. Außerdem gefällt er mir irgendwie. Wir sollten ihn behalten, zumindest fürs Erste.«
»Das ist doch nicht dein Ernst. Denk nur mal daran, was mit diesem Szimon Hübscher passiert ist.«
Jasmina lachte. »Glaubst du etwa, dass der Spiegel etwas damit zu tun hat? Mach dich nicht lächerlich.«
Sven kam sich plötzlich so klein vor. Wenn er jetzt noch von seinem unheimlichen Erlebnis erzählt hätte, würde sie sicher denken, er hätte sich das aus den Fingern gesogen. Andererseits kam ihm das Verhalten seiner Frau auch etwas seltsam vor. Immerhin war ein Mann nur wenige Meter entfernt gestorben. Sie allerdings schien nur Augen für diesen Spiegel zu haben.
Trotz seiner Furcht trat er noch einmal näher an das auf vier Metallbeinen stehende Fundstück heran. Zwar spiegelte sich weiterhin nur sein Gesicht in dem Metall, doch der Hintergrund blieb trotz des in den fensterlosen Raum sickernden Tageslichts seltsam düster.
Seine Finger zitterten leicht, als er seine linke Hand nach der Oberfläche ausstreckte und vorsichtig über sie hinweg strich. Der Staub fühlte sich leicht schmierig an, und er glaubte für einen Moment, dass die Spiegelfläche eine gewisse Wärme ausstrahlte, die sich jedoch sofort wieder zurückzog.
»Was hast du?«, fragte Jasmina und sah ihn etwas entgeistert an.
»Ach … nichts.«
»Du magst ihn wirklich nicht, oder?«
»Wie gesagt, er ist mir irgendwie unheimlich. Aber wenn du ihn unbedingt behalten willst …«
Jasmina trat an ihn heran und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke«, flüsterte sie. »Das ist unser Traumhaus, und das bleibt auch so.«
»Natürlich.«
Seine Frau ging an ihm vorbei und verließ den Raum. Sven hingegen blieb zurück und ließ sein Blick über die kahlen Wände wandern. Außer dem Spiegel war die geheime Kammer vollkommen leer. Objektiv betrachtet gab es nichts, wovor man sich fürchten musste. Und doch – dieser verfluchte Spiegel machte ihm einfach Angst.
☆
Schlagartig fuhr Jasmina Beckert hoch. Zunächst wusste sie nicht, wo sie sich befand, bis ihr langsam klar wurde, dass sie neben ihrem Mann im Bett hockte. Sven schlief tief und fest, was sie schon fast verwunderte, so unruhig, wie er seit dem Auffinden des Spiegels gewirkt hatte.
Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hätte sie eigentlich genauso empfinden müssen. Immerhin war ein Mann in ihrem Haus gestorben, getötet von einem seltsamen Nebel, den nur Sven gesehen hatte und der aus einem geheimen Raum gedrungen sein musste, in dem dieser mysteriöse Spiegel stand.
Obwohl es verrückt klang, war sie sich sicher, dass von ihm eine nicht zu beschreibende Ausstrahlung ausging. Eine Ausstrahlung, die sie sogar zu manipulieren schien. Anders konnte sie sich die seltsame Euphorie nicht erklären, die sie seit der Entdeckung des Spiegels befallen hatte.
Inzwischen war es mitten in der Nacht, und im Nachhinein betrachtet kam ihr der vergangene Tag wie ein Traum vor. Ihre Erinnerungen an die letzten Stunden waren so verschwommen, dass sie sich langsam fragte, ob wirklich alles mit ihr stimmte.
Jasminas Puls schlug stärker als normal, zudem begann sie zu schwitzen. Sie war lediglich mit einem dünnen Nachthemd bekleidet, das wie eine zweite Haut an ihrem Körper klebte.
Warum war sie überhaupt wach geworden? Im Haus herrschte eine absolute Stille. Immerhin war es in dieser Nacht warm genug, dass sie den Generator abstellen konnten. Das Fenster war geschlossen, sodass auch von draußen so gut wie kein Geräusch in das Schlafzimmer drang.
Müde legte sie ihre Arme auf die Knie und lauschte in sich hinein. Da war etwas in ihr, was sie sich nicht erklären konnte. Nicht nur eine Unruhe, mehr eine Art nicht hörbare Stimme, die lautlose Schreie ausstieß und sie mit ihnen zu sich zu rufen schien. Jasmina schüttelte über sich selbst den Kopf, konnte ihre Gedanken aber nicht davon lösen.
Wie in Trance hockte sie sich auf die Bettkante und ließ ihre nackten Füße auf die Holzdielen gleiten. Ohne es zu wollen, ließ sie sich von einem Sog treiben, der dafür sorgte, dass sie sich vorsichtig aufrichtete. Sven ließ sie weiterschlafen, und auch als sie die Tür erreichte, sie aufzog und in den Flur schlüpfte, wachte er nicht auf.
Nie zuvor war ihr das alte Haus von Svens Großmutter so unheimlich vorgekommen wie in dieser Nacht. Dabei fiel ihr unwillkürlich ein, dass sie über diese Frau so gut wie nichts wusste, außer, dass sie schon seit Jahrzehnten tot war. Plötzlich kam es ihr seltsam vor, dass Sven nie ihr Grab besuchte, falls es denn überhaupt existierte. Ein Umstand, über den sie sich nie zuvor Gedanken gemacht hatte.
Durch den Flur wehte ein kalter Hauch, der sie frösteln ließ. Jedoch nur für einen Moment, dann kam ihr der Windstoß warm und anziehend vor. Als wollte er sie in Richtung Treppe und hinauf in den ersten Stock locken.
Unwillkürlich strich sie über ihr Nachthemd. Sie lächelte, obwohl sie nicht einmal wusste, warum. Mit fast lautlosen Schritten schlich sie durch das Haus, bis sie tatsächlich die in den ersten Stock führenden Stufen erreichte. Sie kam sich wie in einem Traum vor, so leichtfüßig stieg sie die Treppe empor, bis sie direkt auf das Loch in der Wand am Ende des Flurs blickte.
Wenige Meter weiter war der Handwerker gestorben. Ein Toter in ihrem Haus! Allein der Gedanke daran hätte sie normalerweise dazu bringen müssen, die Nacht in einem Hotel zu verbringen – und möglicherweise nie wieder einen Schritt in dieses Anwesen zu setzen. Doch sie konnte sich dieser seltsamen Faszination einfach nicht erwehren. Dass tatsächlich etwas von ihr Besitz ergriffen hatte, fiel ihr schwer zu glauben. Nur eine leise, innere Stimme sagte ihr, dass sie schon lange nicht mehr Herrin über ihren eigenen Körper war.
Selbst als sie spitze Holzsplitter unter ihren Füßen spürte, zuckte sie nicht zurück. Der Spiegel war jetzt so nah, dass sie bereits ihr Abbild erkennen konnte. Die dicke Staubschicht verhinderte, dass sie alle Konturen ihres runden Gesichts mit den grünen Augen und der kleinen Stupsnase erkennen konnte.
Ihre lockigen, schulterlangen Haare umwehten ihren Kopf – allerdings nur in dem Spiegelbild, denn um sie herum gab es nicht den leichtesten Luftzug. Sie fröstelte erneut, streckte aber trotzdem ihre Hände nach der dunklen Oberfläche aus.