1,99 €
Die Karpaten - eine unheimliche, gleichzeitig auch faszinierende Bergwelt, voller Schätze, die den Menschen meist verborgen blieben. Man konnte sie mit ihren unendlichen Wäldern, den tief eingeschnittenen Tälern, den schroffen Felsen und malerischen Seen auch die Highlands des Ostens nennen.
Aber auch wegen ihrer Einsamkeit, denn in den weiten Gebirgszügen, die sich bis über den Horizont hinaus zu erstrecken schienen, lagen meist nur kleine Bergdörfer mit wenigen Einwohnern ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 146
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Das schwarze Herz
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Shutterstock/Baimieng; KHIUS; Jacob_09; Volodymyr Goinyk
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7517-0570-7
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Das schwarze Herz
von Rafael Marques
Die Karpaten – eine unheimliche, gleichzeitig auch faszinierende Bergwelt, voller Schätze, die den Menschen meist verborgen blieben. Man konnte sie mit ihren unendlichen Wäldern, den tief eingeschnittenen Tälern, den schroffen Felsen und malerischen Seen auch die Highlands des Ostens nennen.
Aber auch wegen ihrer Einsamkeit, denn in den weiten Gebirgszügen, die sich bis über den Horizont hinaus zu erstrecken schienen, lagen meist nur kleine Bergdörfer mit wenigen Einwohnern …
Wölfe, Bären und Hirsche beherrschten die endlosen Wälder, ebenso viele selten gewordene Arten, die hier einen Rückzugsort fanden. Ein Paradies für Wanderer, Aussteiger und Naturliebhaber, die auf den kleinen Pfaden Abstand von dem Alltag fanden.
Die Karpaten hatten auch noch eine andere Seite, eine, die von den Menschen des 21. Jahrhunderts häufig als Legende abgetan wurde. Als Produkt der Fantasie mehrerer Schriftsteller, die sich von alten Geschichten, der Landschaft und auch den malerischen Burgen, Schlössern und Ruinen inspirieren ließen.
Doch in vielem, was man für Legenden hielt, steckte auch ein Körnchen Wahrheit. Meist bezog sich das auf Vampire, die in alter Zeit in Transsilvanien, einem Landstrich im südöstlichen Teil der Karpaten, geherrscht haben sollten. Vlad Tepes, der Pfähler, war angeblich von einem Autor namens Bram Stoker zu einer Gestalt namens Dracula verklärt worden. Nur wenige wussten, dass der mächtige Blutsauger tatsächlich gelebt und überall seine Zeichen hinterlassen hatte, bis in die heutige Zeit.
Auch andere Gestalten der Finsternis fanden in den Bergwäldern willkommene Verstecke. Nachzehrer, Ghouls, Hexen und sogar Werwölfe nannte man diese Wesen, die die Karpaten in den vergangenen Jahrhunderten durchstreift hatten – und es manchmal immer noch taten.
Transsilvanien lag jedoch weit von dem Gebiet entfernt, durch das der einsame Wanderer gerade streifte. Er ließ seinen Blick über ein schmales Tal schweifen, in dem ein kleiner Bach im Schein des Mondes über blankes Gestein plätscherte, und dachte an die alten Legenden, die man sich über diese Gegend erzählte.
In einer geheimen Höhle, etwa auf halber Höhe Richtung Gipfel, sollte ein immerwährendes Feuer brennen, in dem eine mächtige Hexe wohnte. Unter den ältesten der Dorfbewohner eines Nachbartales erzählte man sich noch ihre Legende.
Sie sollte aus einem fernen Reich jenseits dieser Welt stammen und versucht haben, zahlreiche Männer zu verführen und ihrer Seelen habhaft zu werden. Eines Tages gelang es einem Fürsten, sie zu bannen, um sie auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen. Als man das Feuer ansteckte, verwandelte sich die Hexe selbst zu einem Flammenwesen, verbrannte den Fürsten und verschwand in den Wäldern. Noch immer fürchteten sich die Menschen davor, dass die Hexe die Wälder um ihre Höhle durchstreifte und auf die Suche nach neuen Opfern ging.
Der Mann, der auf dem Weg war, die Hexe zu finden, wusste, dass sich diese Legende wirklich so zugetragen hatte, allerdings nur eine Anekdote in der langen Lebensgeschichte dieser Gestalt darstellte. Nach all den Jahren spürte er eine gewisse Sehnsucht, sie wiederzusehen, denn die Hexe war ihm nur allzu gut bekannt.
»Ismelda«, flüsterte er ihren Namen, und seine Stimme schien vom Wind über die schroffen Felshänge getragen zu werden, auf denen sich Tannen mit ihren mächtigen Wurzeln festkrallten. Die Natur fand eben immer einen Weg, ebenso wie die Mächte der Finsternis.
Schließlich löste er sich von dem Anblick des malerischen Bachtals und setzte seinen Weg fort. Seit Jahrhunderten existierte ein Trampelpfad, der der Legende nach zu der Höhle führen sollte. Man erzählte sich, dass sich nach einigen Jahren immer eine Handvoll junge Männer auf den Aufstieg zu der Höhle machten, um zu beweisen, dass die Hexe nur eine Legende war. Noch nie war einer von ihnen zurückgekehrt.
Ob das stimmte oder nicht, wusste der Wanderer nicht. Der Pfad existierte, war aber derart zugewachsen, dass er immer wieder Äste und Büsche zur Seite drücken musste, um voranzukommen.
Nach weiteren fünfzehn Minuten rieselte ein besonderer Hauch über seinen Rücken. Ihn traf so etwas wie eine Botschaft, ein Hinweis darauf, dass er seinem Ziel sehr nahe war. Und dass die Person, die er nun schon so lange suchte, sich an ihn erinnerte. Der Mann lächelte und dachte an alte Zeiten, während er weiterlief.
Der Wald schien noch ein wenig dichter zu werden, und irgendwann musste er sogar über einige quer auf dem Weg liegende Stämme klettern. Gerade als er von der letzten der abgestorbenen Tannen herabsteigen wollte, geriet ein mächtiges Tier in sein Blickfeld. Es war ein Braunbär, der ebenfalls das Tal durchstreifte und von den von ihm verursachten Geräuschen angelockt worden war.
Das Tier stieß ein drohendes Knurren aus und stellte sich auf die Hinterbeine, wodurch es noch mächtiger und gefährlicher wirkte. Die Bären waren die wahren Herrscher der Karpaten, und der Mann respektierte diese faszinierenden Wesen. Deswegen dachte er gar nicht daran, seine Waffe zu ziehen und auf das Tier zu schießen.
Auch der Bär schien zu ahnen, wen er da vor sich hatte. Schon nach wenigen Sekunden ließ er seine Vordertatzen wieder zu Boden sinken, stieß noch ein Grummeln aus und lief an dem Mann vorbei, ohne ihn anzugreifen. Als der Bär sich noch einmal umdrehte, blitzte in seinen Augen ein grüner Lichtschein auf, dann verschwand das Tier in der Dunkelheit des Waldes.
Der Mann musste lächeln. Der Bär war kein normales Tier, sondern eine Art Wächter – was wiederum bedeutete, dass die Höhle sehr nahe war.
Er lief noch einige Meter weiter, bis der Weg von fünf Tannen blockiert wurde, deren Wurzeln und Stämme so eng zusammengewachsen waren, dass man meinen konnte, es würde sich um einen einzigen Baum handeln. Der Wanderer machte keine Anstalten, das Wurzelgeflecht zu umrunden. Er nahm die Präsenz einer besonderen Magie wahr, und die andere Seite spürte auch seine Anwesenheit.
Die so friedlich nebeneinanderstehenden Bäume erwachten zum Leben. Ihre Wurzeln schoben sich auseinander, verformten sich und bildeten einen mannshohen Durchgang, in dessen Inneren der schwache Widerschein eines Feuers leuchtete.
Er hatte sein Ziel also wirklich erreicht. Der Mann zögerte nicht länger, ging vor und trat in die aus Wurzeln gebildete Höhle. Schon bald war er von blankem Gestein umgeben und fand sich kurz darauf an einem unterirdischen See wieder, in dessen Mitte ein meterhohes Feuer brannte.
Die grünen Flammen zuckten hin und her, bis sie sich nach einer Weile zu einer Gestalt verformten. Über dem Wasser des kleinen Sees schwebte eine dunkelhaarige Frau, deren Gesicht man nur als wunderschön und alterslos bezeichnen konnte. Sie trug ein langes, rotes Gewand und eine goldene Kette um den Hals, die noch stärker zu schimmern schien, als der Mann sie länger betrachtete.
»Ismelda«, sprach er den Namen der Hexe aus.
Die dunkelhaarige Frau lächelte. »Ich habe auf dich gewartet, alter Freund«, erwiderte sie. »Die Karten haben mir gesagt, dass du kommen würdest. Ich wusste schon lange, dass du dich auf die Suche nach mir gemacht hast. Wenn ich gewollt hätte, wären wir uns schon längst begegnet, aber ich wollte, dass du dir Mühe gibst, mich zu finden.«
»Und das habe ich.«
»Ja, das hast du. Du weißt, in welche Gefahr ich mich begebe, wenn ich mit dir spreche?«
Der Mann nickte. »Und ich weiß auch, dass unsere Gefühle ebenso wenig erloschen sind wie die Flammen, aus denen sich dein Körper bildet.«
Das Lächeln der Hexe blieb bestehen. Ihre magischen Kräfte sorgten dafür, dass weitere Flammenzungen über die Oberfläche des Sees zuckten und sich dem Mann gefährlich näherten. Bald schon strich das grüne Feuer über seine Jacke, die Hose, die Schuhe und auch seine Haut. Allerdings taten ihm die Flammen nichts. Es war mehr so, als wäre das die Art der Hexe, ihren alten Geliebten nach all den Jahren wieder zu berühren und zu streicheln.
»Du sprichst von Gefühlen, alter Freund?«, hauchte die Hexe ihm zu. »Hast du denn solche?«
»Wäre ich sonst hier?«
»Ich glaube, dass du nach mir gesucht hast, weil du etwas Bestimmtes von mir willst.«
»Nur deine Treue.«
»Nichts weiter?«
Der Mann lächelte wissend. »Du kennst mich eben besser als jeder andere. Da ist noch eine Kleinigkeit, um die ich dich bitten muss. Es handelt sich um einen Gegenstand, der für meine Pläne eine enorme Bedeutung hat, an den ich aber selbst nicht herankommen kann. Du dagegen …«
»Was ist es?«
»Die Schatulle, in der das schwarze Herz ruht.«
Zwischen den beiden so unterschiedlichen Personen herrschte für kurze Zeit Schweigen. Die Hexe schien zu überlegen, wie sie die Worte ihres früheren Geliebten einordnen sollte. Als ob sie fürchtete, dass seine Gefühle tatsächlich nur gespielt waren und er sie nur als Mittel zum Zweck ansah.
»Du weißt, was das bedeutet und was du damit anrichten könntest?«
»Ich habe es mir genau überlegt. Ich brauche die Schatulle.«
»Und das schwarze Herz?«
Der Mann winkte ab. »Mach mit ihm, was du willst. Also, wirst du mir diesen Gefallen tun, um der alten Zeiten willen?«
»Nein.«
Der Ankömmling zuckte leicht zusammen. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet. Wenn die Hexe seine Bitte ablehnte, stand er mit leeren Händen da, und er war nicht in der Lage, sie dazu zu zwingen.
»Mein alter Freund«, begann Ismelda wieder zu sprechen. »Ich habe nicht so viele Jahre auf dich gewartet, damit du mich an die alten Zeiten erinnerst. Ich will, dass es neue Zeiten gibt, an die wir uns in einer fernen Zukunft erinnern können. Leider weiß ich bis heute nicht, ob jemand wie du wirklich in der Lage ist, menschliche Gefühle zu entwickeln. Ich dagegen habe sie, und sie sind bis heute nicht erloschen. Wenn du meine Hilfe willst, dann nur, wenn wir wieder Seite an Seite stehen.«
»Trotz der Konsequenzen, die sich daraus ergeben?«
»Die sind mir egal.«
Jetzt konnte der Mann wieder lächeln. »Dann soll es so sein …«
☆
Wer zu dieser Zeit – es war kurz vor Mitternacht – einen Blick zum Himmel geworfen hätte, wäre von dem Schauspiel, das sich ihm dort darbot, gleichzeitig fasziniert und eingeschüchtert gewesen.
Ein menschengroßer Flammenvogel schwang sich durch die Lüfte, stets begleitet von einer Schar Raben mit grün leuchtenden Augen. Manche hätten sicher an den legendären Phönix gedacht, den Vogel der griechischen Mythologie, der am Ende seiner Lebenszeit verbrannt und aus seiner Asche neu entstanden war. In Wahrheit handelte es sich bei diesem Wesen jedoch um eine Hexe, die dabei war, ihrem Geliebten einen besonderen Gefallen zu tun.
Ihr Ziel lag einige Dutzend Kilometer weit weg, ebenfalls in den Karpaten. Die Gebirgszüge in diesem Bereich waren besonders einsam und nur von wenigen hundert Menschen bewohnt. Obwohl auch hier die Moderne Einzug hielt, wussten die Dorfbewohner noch von den alten Legenden und davon, dass man manche Dinge einfach als gegeben hinnehmen musste. Denn wenn man versuchte, sich gegen die allgegenwärtigen Mächte der Finsternis aufzulehnen, konnte das tödliche Folgen haben.
Auch das Dorf, dem sich die Hexe näherte, war einmal Ziel solcher Mächte gewesen. Inzwischen standen die Häuser schon seit Jahrhunderten leer, waren verfallen und zu Ruinen verkommen. Ismelda kreiste mit ihrer Rabenschar über dem Tal und entdeckte auch die düsteren Mauern der Kirche, die dem Zahn der Zeit getrotzt hatten. Das einstige Gotteshaus bildete das Zentrum des kleinen Ortes, und genau dort befand sich das Ziel der Hexe.
Der Schein des Vollmonds wies ihr den Weg. Es fühlte sich wie ein Wink des Schicksals an, als sich einer der Strahlen genau in diesem Moment an einer Wolke vorbeidrückte und die Spitze des Kirchturms traf. Das Kreuz, das sich auch nach all der Zeit noch dort hielt, blitzte auf. Wie ein letztes Aufbäumen der weißen, christlichen Magie, die das Gotteshaus einmal beherrscht hatte. Jetzt war davon nicht mehr viel geblieben, und die Hexe ließ sich von einem Kreuz sicher nicht aufhalten.
Während sich Ismelda dem Boden näherte, zog sich ihr Flammenkörper zusammen, um wieder ihre menschliche Gestalt zu bilden. Als sie auf den Pflastersteinen aufsetzte, hatte sie sich längst wieder in eine dunkelhaarige Frau verwandelt, deren Umhang leicht im Wind flatterte. Ihre Raben nahmen auf den Dächern der Häuser und der Kirche Platz und beobachteten still das Geschehen.
Kein Mensch und kein magisches Geschöpf dieser Welt wäre in der Lage gewesen, die hölzerne Pforte zu öffnen, durch die man die Kirche betreten konnte. Selbst ihr alter Geliebter konnte die magische Sperre nicht überwinden, mit der ein anderes, mächtiges Wesen vor Jahrhunderten das Gebäude versiegelt hatte. Sie dagegen war dazu in der Lage, denn sie stammte aus eben jener Welt, deren Magie für die Sperre verwendet worden war – Aibon.
Das Siegel war nicht sichtbar, jedenfalls nicht für normale Menschen. Es existierte auf einer anderen, geistigen Ebene, und Ismelda war längst dabei, es zu schwächen. Leise murmelte sie alte magische Formeln, während sie sich Schritt für Schritt der Pforte näherte. Kleine Blitze zuckten über das alte Holz und ließen es grün aufleuchten. Schließlich erreichte sie die Doppeltür und legte ihre Hände auf die eisernen Griffe.
Plötzlich glühte die gesamte Pforte hellgrün auf, doch das Licht währte nur wenige Sekunden, bis es wieder erlosch. Wie von Geisterhand schwangen die beiden Flügel der Pforte nach innen und schufen genügend Platz, damit die Hexe das Innere der Kirche betreten konnte.
Während die anderen Häuser des Dorfes nur noch Ruinen waren, waren sogar die Fenster des ehemaligen Gotteshauses noch intakt. Trotz der verschmutzten Scheiben war das grelle Mondlicht in der Lage, sich seinen Weg in das Kirchenschiff zu bahnen.
Alles sah so normal aus, als hätten die Dorfbewohner die Kirche in all den Jahren weiter gepflegt. Die Bänke waren allesamt noch intakt, auch die beiden Weihwasserbecken und der Altar.
Genau dort, auf der Altarplatte, entdeckte sie die Überreste einer mächtigen Gestalt. Es war ein Wesen, das das Grauen bringen konnte, jetzt aber von einer dicken Schicht aus Staub und Spinnweben überdeckt und zudem mit einer grün schimmernden, eisernen Kette an das Gestein gefesselt worden war. Zwei mächtige, löchrige Flügel bedeckten große Teile des Podests und ließen erahnen, um was für ein Wesen es sich bei dieser Gestalt einmal gehandelt hatte.
Wie gefährlich der Geflügelte einmal gewesen war, zeigte sich an der Mühe, die man sich gemacht hatte, ihn für alle Zeiten an diesen Ort zu bannen. Was sie da vor sich sah, war der mumifizierte Körper eines Engels.
Ismelda dachte an die Konsequenzen, die es nach sich ziehen würde, wenn sie die Schatulle öffnete, die nur wenige Meter vom Altar entfernt auf dem Kirchenboden stand. Ihrem Geliebten war es egal, sie hingegen überlegte schon, was geschehen könnte, wenn der Engel und sie aneinandergerieten. Noch lag eine solche Begegnung in weiter Ferne, und sie wollte auch nicht länger darüber nachdenken. Stattdessen legte sie die letzten Schritte auf dem Weg zu der Schatulle zurück und beugte sich zu ihr herab.
Das goldene, von Kristallen verzierte Artefakt war vor langer Zeit von Ismeldas Schwestern aus Aibon, den Banshees, gefertigt worden. In ihm wohnte eine mächtige Magie, die in der Lage war, die Kräfte anderer Magien zu neutralisieren. So wie das schwarze Herz, das sich innerhalb der Schatulle befand.
Auch dieses Kleinod, das Ismelda vorsichtig anhob, war mit einer magischen Sperre gesichert. Diese war längst nicht so stark wie das Siegel an der Pforte, weshalb sie es einfach brach, indem sie ihre linke Hand auf den Deckel legte. Dann drückte sie das feine Scharnier auf und ließ den Deckel in die Höhe gleiten.
Auf einem weißen, samtenen Tuch zeichnete sich ein unförmiges, dunkles, versteinertes Gebilde ab. Dass in ihm nach all der Zeit immer noch Leben steckte, zeigte sich schnell. Das schwarze Herz begann zu zucken, wobei ein sanfter Nebel über seine Oberfläche kroch. Der Dunst sorgte schließlich dafür, dass sich das Herz völlig lautlos auflöste.
Spätestens jetzt wusste Ismelda, dass es Zeit wurde, diesen Ort zu verlassen. Sie hatte, was sie wollte, und was nun geschehen würde, musste das Schicksal zeigen …
☆
Wie so oft konnte Manuel Carescu nicht einschlafen. Seine Gedanken kreisten um die Zukunft, von der er früher stets gepredigt hatte, dass sie den Menschen Gutes bringen würde, wenn sie nur gläubig genug blieben. Inzwischen war das anders geworden, denn der Pfarrer des kleinen Karpatendorfes Catrinari fürchtete sich vor dem, was sich ihm unaufhaltsam näherte.
Die Oberen der Orthodoxen Kirche planten, die Pfarrgemeinde aufzulösen und mit mehreren anderen zusammenzulegen. Es kamen einfach zu wenige Menschen zu seinen Predigten, und auch die Kirche des Ostens musste Geld sparen, um ihre Existenz für die kommenden Jahrhunderte abzusichern. In Zukunft sollte alle zwei Wochen ein Pfarrer aus dem fast dreißig Kilometer entfernt liegenden Vatra Dornei eine Predigt halten, während er in den vorzeitigen Ruhestand geschickt wurde. Noch ein halbes Jahr blieb dem Fünfzigjährigen, seiner Leidenschaft nachzugehen. Und fünfzig Jahre, was war das für ein Alter für den Ruhestand?
So lag er die meisten Nächte wach und dachte darüber nach, was er tun sollte. Gegen die Entscheidung des Bischofs konnte er sich nicht wehren, und wenn er einmal nicht mehr predigen konnte, würde es ihm wahrscheinlich so ergehen wie seinem Vorgänger. Drago Valescu war bis zu seinem achtzigsten Lebensjahr Priester geblieben, und nur wenige Wochen, nachdem man ihn in den Ruhestand geschickt hatte, war er gestorben. Mit seiner Aufgabe war ihm schlichtweg der Lebensmut genommen worden.