John Sinclair 2216 - Rafael Marques - E-Book

John Sinclair 2216 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Die düstere Gasse endete in einer drei Meter hohen Mauer. Ringsherum ragten hunderte Jahre alte Ziegelsteinbauten in die Höhe. Die Fenster waren meist beschmutzt, die Fassaden mit Graffiti beschmiert.
In seiner unmittelbaren Umgebung stand ein überfüllter Müllcontainer, aus dem unablässig heller Dunst strömte, ebenso wie aus einem nahen Kanaldeckel. Es stank erbärmlich, und irgendwie passte dieser Geruch zu der Umgebung, in der er sich befand. Menschen wie er sollten sich um diese Uhrzeit, mitten in der Nacht, nicht hier aufhalten, denn diese Gegend war bekannt dafür, dass sich in diesem Viertel Gesindel herumtrieb, das kein Gewissen kannte.
Paul Stevenson wusste das alles, andererseits konnte er sich im Notfall auch wehren. Ebenso wie die Frau in der dünnen, offenen Lederjacke, die mit ihrem bauchfreien Top und den löchrigen Jeans fast wie eine Prostituierte wirkte. Doch das war sie nicht, das war ihm bereits bekannt. Sie war eine Vampirin!


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Seitenzahl: 146

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Blutsbande

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Subbotina Anna; Bruno Passigatti / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 9-783-7517-0684-1

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Blutsbande

von Rafael Marques

Die düstere Gasse endete in einer drei Meter hohen Mauer. Ringsherum ragten hunderte Jahre alte Ziegelsteinbauten in die Höhe. Die Fenster waren meist beschmutzt, die Fassaden mit Graffiti beschmiert. In seiner unmittelbaren Umgebung stand ein überfüllter Müllcontainer, aus dem unablässig heller Dunst strömte, ebenso wie aus einem nahen Kanaldeckel. Es stank erbärmlich, und irgendwie passte dieser Geruch zu der Umgebung, in der er sich befand. Menschen wie er sollten sich um diese Uhrzeit, mitten in der Nacht, nicht hier aufhalten, denn diese Gegend war bekannt dafür, dass sich in diesem Viertel Gesindel herumtrieb, das kein Gewissen kannte.

Paul Stevenson wusste das alles, andererseits konnte er sich im Notfall auch wehren. Ebenso wie die Frau in der dünnen, offenen Lederjacke, die mit ihrem bauchfreien Top und den löchrigen Jeans fast wie eine Prostituierte wirkte. Doch das war sie nicht, das war ihm bereits bekannt. Sie war eine Vampirin!

Die Frau bot einen schaurigen Anblick, der in gewisser Weise sogar zu ihrem Auftreten passte. Sie gab sich lasziv und schien mit den Emotionen der Männer zu spielen, denn selbst Paul konnte sich dem Anblick des körperbetont eng anliegenden Oberteils nicht entziehen. Sie hatte einen braunen Teint, der von einer unnatürlichen Blässe in den Hintergrund gedrängt wurde.

Von ihren Mundwinkeln über den Hals bis hinab zu den Brüsten zeichneten sich mehrere Linien ab, die wahrscheinlich von Blutstropfen stammten, die über ihre Haut gerollt waren. Die Vampirin lächelte, denn sie wusste ja, wie sie aussah. So konnte Paul auch ihre weißen Zähne erkennen, auf denen sich ebenfalls dunkle Flecken abzeichneten. Die beiden deutlich aus dem Oberkiefer herausragenden Zähne waren ihm bereits bekannt, und er ging einfach davon aus, dass sie echt waren.

»Du bist noch immer nicht bereit, Paul?«

Die Frage der dunkelhaarigen Frau ließ ihn zusammenzucken. Er hatte ja mit ihr gerechnet, und obwohl seine Entscheidung bereits gefallen war, stellte die Antwort immer noch einen gewaltigen Schritt für ihn dar. Sie würde bedeuten, dass er mit seinem alten Leben endgültig abschließen musste, dass es keine Möglichkeit mehr geben würde, in seinen Job und zu seiner Frau zurückzukehren – jedenfalls nicht so, wie er vorher gewesen war. Andererseits gab es für ihn auch keinen anderen Ausweg. Er war bereit, alles zu riskieren, für sich und für seine Frau.

»Noch ein Tag, Cassandra, noch ein Tag. Ich möchte mich von meiner Frau verabschieden. Dann bekommst du dein Geld, versprochen.«

»Aber nur, weil du es bist. Weil du ein Stevenson bist ...«

Wieder fuhr Paul zusammen, denn die Worte der Vampirin lösten etwas in ihm aus. Eine Erinnerung, in gewisser Weise auch eine Tatsache, mit der er nur schwer zurechtkam, durch die es andererseits auch erst zu diesem Treffen gekommen war.

»Gleiche Zeit, gleicher Ort?«, fragte er.

»Nein.«

Die Vampirin griff in ihre Jacke und zog einen gefalteten Zettel hervor. Dann trat sie auf ihn zu, lächelte und strich mit einer Hand über sein Gesicht, den Hals und die Brust. Sie genoss die Berührungen, während er angesichts der Kälte, die Cassandras Finger abstrahlten, erschauderte.

»Du bist anders als die anderen, Paul«, hauchte sie ihm zu. »Du widerstehst meiner Nähe, dem Drang, einfach über mich herzufallen. Das gefällt mir. Ich habe dir die Adresse aufgeschrieben. Sei pünktlich.«

»Das werde ich.«

»Da bin ich mir sicher.«

Noch einmal strich die Dunkelhaarige über seine Wangen und warf ihm einen vielsagenden Blick zu, dann schob sie sich dicht an ihm vorbei, bevor sie mit schnellen Schritten die Gasse verließ und um die Ecke verschwand.

Paul blieb noch einige Zeit stehen. Zunächst schloss er die Augen und atmete mehrmals durch. Dann entfaltete er den Zettel und nickte. »Ja, ich werde kommen.«

Seine Frau Linda drückte sich eng an ihn, und obwohl er ihr Gesicht nicht sah, wusste er, dass sie lächelte. »Das war so ein wunderschöner Tag, Paul«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Warum kann nicht jeder Tag so sein wie heute?«

»Das hattest du dir verdient, Linda. Eigentlich hast du es verdient, jeden Tag zu genießen wie diesen. Ich wollte nur, dass du das weißt. Ich liebe dich, auch wenn ich oft nicht die Zeit und die Kraft dafür habe, es dir zu zeigen.«

Seine Frau löste sich aus der Umarmung und lächelte. Für ihn war sie immer noch so schön wie an dem Tag, an dem er sie kennengelernt hatte. Das war an einem nasskalten Oktobertag vor fünfundzwanzig Jahren gewesen. Paul, der gerade kurz davorstand, einen Platz in der Polizeiakademie zu erhalten, hatte sich unter einer alten Linde vor den Regenmassen in Sicherheit zu bringen versucht – genau wie ein blondes, siebzehnjähriges Mädchen, das ihm zunächst gar nicht aufgefallen war. Sich gegenseitig wärmend waren sie sich langsam näher gekommen, hatten sich quasi ihre gesamte Lebensgeschichte erzählt, und als der Regen wieder dem Sonnenschein gewichen war, waren sie einfach bis in die Nacht hinein unter der Linde geblieben.

Es tat Paul in der Seele weh, dass er seiner Frau nicht das Leben bieten konnte, das sie sich damals erträumt hatten. Er war ein guter Polizist, aber kein Karrieremensch. Zwar war er inzwischen Sergeant, doch im Gegensatz zu zahlreichen anderen Kollegen seiner Generation war er nicht in den höheren Dienst aufgestiegen und würde es wohl auch nie. Dazu war er viel zu stark mit der Straße und dem Kontakt mit den Leuten verwurzelt.

Das bedeutete allerdings auch, dass er Tag und Nacht verfügbar sein und nicht selten auch Nachtschichten einlegen musste. Wie oft hatte er Linda schon versprochen, etwas Zeit mit ihr zu verbringen, nur um kurz darauf zum Dienst beordert zu werden?

So waren die Jahre ins Land gezogen, und Paul konnte die Enttäuschung fühlen, die sich langsam in seiner Frau ausbreitete. Sie hatten keine Kinder, denn irgendwie war dafür weder die Zeit noch das Geld da gewesen. Auch Linda ging arbeiten, wenn auch nur halbtags. Immerhin reichte der Bürojob in Chelsea dafür, dass sie stets ihre Rechnungen zahlen konnten. Größere Sprünge blieben dagegen ein Traum.

»Was ist los mit dir?«, fragte Linda plötzlich. »Du wirkst so nachdenklich. Auf dem London Eye hatte ich schon das Gefühl, dass du nicht ganz bei der Sache bist. Ist es wegen der Arbeit? Oder ist da noch etwas?«

Paul seufzte. »Ein wenig von allem, Schatz. Ich denke einfach oft darüber nach, was ist und was sein könnte, wenn ...«

Linda legte ihm einen Finger auf die Lippen und lächelte. Es war ein ehrliches Lächeln, doch er war sich sicher, dass in ihm auch ein Hauch Traurigkeit mitschwang. Dazu kannte er seine Frau einfach zu gut. Den ganzen Tag über war davon nichts zu spüren gewesen, weder während ihrer Fahrt auf dem London Eye, während des Spaziergangs an der Themse entlang und durch die Whitehall und Jubilee Gardens oder in dem kleinen Café direkt am Fluss. Jetzt waren sie wieder für sich, die Realität kehrte langsam zurück, und damit die für sie erdrückende Aussicht, dass sich auch in Zukunft nichts an ihrem Leben ändern würde.

»Denk nicht so viel darüber nach, Paul«, riss Linda ihn aus seinen Gedanken. »Wir lieben uns, wir haben uns, und nur das zählt. Ja, manchmal wünsche ich mir auch, dass manches anders verlaufen wäre und wir finanziell auf Rosen gebettet wären, aber was siehst du vor dir? Mich. Wenn ich etwas anderes gewollt hätte, würde ich jetzt nicht vor dir stehen. Egal, was passiert – ich werde immer bei dir sein.«

»Danke.«

Paul hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen, dann zog er an der Lehne des Stuhls und wartete darauf, dass Linda sich an den bereits abgeräumten Tisch setzte. Das Abendessen – Zanderfilet – war ein Traum gewesen, auch, weil sie es gemeinsam zubereitet hatten. Was blieb, war noch der Rotwein aus Italien. Der Preis der Flasche überstieg eigentlich das, was er sich mit seinem normalen Gehalt leisten konnte, aber für diesen besonderen Abend war ihm nichts zu teuer gewesen.

Bevor er sich zu Linda setzte, betrachtete er sich kurz in einem kleinen, an der Wand hängenden Spiegel. In den letzten Monaten waren noch einige Falten in seinem Gesicht hinzugekommen, während seine Augen leicht gerötet waren. Seine Stirn war schon immer recht hoch gewesen, die Koteletten jedoch noch nie so grau. Automatisch fragte er sich, ob seine Frau etwas von dem ahnte, was in ihm vorging. Er hoffte, dass es nicht so war. Aber bald würde sich das so oder so ändern.

»Kommst du?«, rief ihm seine Frau zu.

»Ja. Entschuldige.«

»Schon gut.«

Paul ließ sich Linda gegenüber nieder, zog den bereits gelösten Korken aus der Flasche und schenkte den Wein in die beiden Gläser ein. Er perlte leicht, zudem roch er bereits, dass es sich um einen Wein handelte, der zu seinen Favoriten gehören würde. Zugleich hoben sie die Gläser und stießen an.

»Auf dich«, sagte er und lächelte.

»Nein, auf uns.«

Es fiel ihm schwer, den wunderbaren, leicht süßlichen Geschmack des Weines wirklich zu genießen. Linda bekam davon nichts mit. Im Gegensatz zu ihm gönnte sie sich einen kräftigen Schluck, hielt die Augen geschlossen und stöhnte leise vor sich hin.

»Wunderbar«, sagte sie, öffnete die Augen und nahm gleich noch einen Schluck.

»Das kann man wohl sagen.«

»Verrätst du mir, wie viel die Flasche gekostet hat?«

»Lieber nicht. Genieße sie einfach.«

»Das werde ich.«

Paul nippte nur einige Male an dem Wein und beobachtete, wie Linda langsam ihr Glas leerte. Einerseits freute es ihn, wie sehr sie den guten Tropfen genoss, andererseits war ihm auch klar, dass dieses Wohlgefühl bald ein abruptes Ende nehmen würde.

»Was ist los?«, fragte sie überrascht. »Schmeckt er dir nicht?«

»Doch, schon ...«

»Aber?«

Der Beamte der Metropolitan Police seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll, aber ... ich muss heute Abend noch einmal weg.«

Augenblicklich wich jegliches Glücksgefühl aus dem Gesicht seiner Frau. »Was? Du hast doch gesagt, dass ... Ist es wegen der Arbeit?«

Paul schüttelte den Kopf. »Nein, Schatz, es ist wegen uns.«

»Wie meinst du das?«

»Linda, ich liebe dich, und ich hoffe, das wirst du nie vergessen. Wir haben uns damals unter der Linde geschworen, dass wir für alle Ewigkeit zusammenbleiben, und dieses Versprechen will ich halten – um jeden Preis. Alles, was ich an diesem Abend tun werde, tue ich nur für uns. Denk immer daran, und suche nicht nach mir. Wenn die Zeit reif ist, kehre ich zu dir zurück. Versprochen, Linda.«

Seine Frau schüttelte nur verständnislos den Kopf. Ihre Hände begannen zu zittern, und es fiel ihr sehr schwer, das Glas richtig hinzustellen. Schließlich rutschte es ihr aus den Fingern und zerbrach. »Oh Gott, Paul ...«, stieß sie aus und versuchte, sich aufzurichten. »Warum redest du nicht mit mir? Ich ...«

Lindas Beine gaben nach, während sich ihr Blick eintrübte. Paul sprang auf, eilte um den Tisch und sorgte dafür, dass seine Frau in seinen Armen zusammensackte. Das geschmacklose Betäubungsmittel, das er in einem unbeobachteten Moment in die Flasche gespritzt hatte, entfaltete schlagartig seine Wirkung. Er zog Linda wieder hoch, nahm sie in die Arme und trug sie zu der Couch hinüber. Dann deckte er sie zu, strich über ihre Stirn und küsste sie noch ein letztes Mal.

»Es tut mir leid, aber es ging nicht anders«, murmelte er. »Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns – und dann werden wir für immer zusammen sein.«

Als Linda Stevenson die Zentrale der Metropolitan Police betrat, konnte sie die Tränen nur schwer zurückhalten. Ihre Beine wurden wieder weich, und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob sie wirklich in der Lage war, ihr Vorhaben durchzuziehen. Einerseits kam sie sich dabei so lächerlich vor, andererseits wusste sie sich auch nicht mehr anders zu helfen.

Zunächst fiel gar nicht auf, wie sich die Zweiundvierzigjährige am Empfangstresen vorbeischob, durch die Reihen der Schreibtische schritt und sich in Richtung des Aufzugs orientierte. Erst als sie kurz auf die hinabfahrende Kabine warten musste, erregte sie die Aufmerksamkeit eines Uniformierten.

»Hey, was machen Sie hier?«, fragte der Mann, an dessen Rangabzeichen sie erkannte, dass er wie ihr Mann ein Sergeant war. Sie kannte ihn von einigen gemeinsamen Grillabenden, und das schien dem Polizisten jetzt auch bewusst zu werden. »Oh Mann, Linda. Entschuldige, ich bin noch etwas verschlafen und hab dich gar nicht erkannt. Was machst du denn hier? Willst du Paul besuchen? Der ist gerade schon auf Streife, glaube ich.«

»Nein, ist er nicht, Ray.«

Nicht nur die Antwort an sich, sondern auch die brüchige Stimme irritierten Raymond Long. Linda hatte es nicht gewollt, und jetzt musste sie sich etwas einfallen lassen, um von Pauls Kollegen nicht ausgefragt zu werden.

»Ist er nicht? Was meinst du damit? Ist er krank?«

»So etwas ähnliches.«

»Und was machst du jetzt hier? Gott, Linda, du siehst da furchtbar aus. Hast du geweint?«

Sie seufzte. »Bitte, Ray, lass mich einfach gehen. Ich will zu Chiefinspektor Tanner, weil ich dringend mit ihm reden muss. Lass mich einfach zu ihm, okay?«

»Ja, okay, sicher. Aber was willst du denn von dem?«

Vor ihr öffnete sich die Kabine des Aufzugs. »Wir reden später«, erwiderte sie, stieg ein und ließ den Lift wieder anfahren, bevor der Sergeant noch etwas sagen konnte.

Während die Kabine in die Höhe fuhr, schloss Linda die Augen und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Seit sie am vergangenen Morgen aufgewacht war, glaubte sie, einen Albtraum zu durchleben. So als wären all das Glück, all die Freude, die sie am Sonntag gemeinsam mit ihrem Mann erlebt hatte, schlagartig ins Gegenteil gekippt. Und was sie jetzt tat, war so etwas wie der traurige Höhepunkt von all dem. Sie kam sich so lächerlich vor, und würde es nicht um Pauls Leben gehen, hätte sie niemals gewagt, diesen Schritt zu gehen. Sie wusste sich einfach nicht mehr zu helfen.

Sie zuckte leicht zusammen, als die Kabine in dem Stockwerk stoppte, in der die Mordkommission untergebracht war. Diesen Bereich des Gebäudes kannte sie nur vage aus Beschreibungen ihres Mannes. Sie fragte eine junge, dunkelhäutige Frau, wo sie das Büro von Chiefinspektor Tanner finden konnte.

»Da vorne, die zweite Tür rechts«, erklärte die Frau. »Darf ich fragen, um was es geht? Ich bin Doktor Fontaine und arbeite im Team des Chiefinspektors. Unter Umständen kann ich Ihnen ja weiterhelfen.«

»Danke, aber es ist etwas Persönliches. Entschuldigen Sie.«

»Ja, schon gut ...«

Die junge Frau wirkte irritiert, aber das war Linda egal. So schnell sie mit den hochhackigen Schuhen laufen konnte, eilte sie an den Schreibtischen vorbei und auf die Büros zu. Schließlich klopfte sie zweimal, und als ihr lediglich ein lautes Grummeln entgegen schallte, drückte sie die Tür auf.

Chiefinspektor Tanner – mit dem sie sich einmal kurz auf einer Feier unterhalten hatte und von dem Paul sehr viel hielt – hockte hinter seinem Schreibtisch und sah sie wenig begeistert an. Er trug einen Trenchcoat, was angesichts der Schwüle, die in seinem Büro herrschte, schon etwas verwunderlich wirkte. Auf dem Tisch stapelten sich die Akten, die von einem grauen Filzhut gekrönt wurden. Missmutig schob er die Tastatur seines Computers zur Seite und wandte sich ihr zu.

»Was kann ich für Sie tun, Mrs. ... oh, Sie sind doch Linda Stevenson, oder?«

»Ja, genau.«

Der Chiefinspektor richtete sich auf und bot ihr an, sich hinzusetzen.

Linda lächelte nervös, streifte ihre Tasche ab und ließ sich auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs nieder. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen«, sagte sie, wobei sie sich mit zitternden Fingern durch die Haare fuhr. »Ich hätte vorher anrufen sollen. Ich meine, ich wusste ja nicht einmal, ob Sie im Büro sind oder nicht.«

»Schon gut. Was kann ich nun für Sie tun? Geht es um Paul? Wie läuft es bei ihm denn?«

»Wenn ich das wüsste ...«

»Wie meinen Sie das?«

Linda atmete noch einmal tief durch, bevor sie es aussprach: »Er ist verschwunden.«

Die Miene des Chiefinspektors verfinsterte sich. Auch er atmete jetzt tief durch, und es war ihm anzusehen, dass er sich überlegte, was er als Nächstes sagen sollte. Linda war schon einmal froh, dass er sie nicht einfach abgewiesen hatte, doch das konnte immer noch passieren, wenn sie ihm ihren Verdacht offenbarte.

»Was ist genau passiert, Mrs. Stevenson?«

»Ich ... ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll ...«

»Okay, beruhigen Sie sich erst einmal. Ich bin ja da und höre Ihnen zu. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ein Wasser?«

»Nein, danke, wirklich nicht.«

»Gut, dann erzählen Sie mir alles, am besten von Anfang an.«

»Es ist so schwer, Chiefinspektor. Ich meine, ich habe mich noch gefreut, dass Paul mir am Sonntag so einen schönen Tag bereitet hat. Wir sind mit dem Riesenrad gefahren, waren spazieren, in einem Café an der Themse, und am Abend haben wir zusammen gekocht und Wein getrunken. Alles war perfekt, zu perfekt. Mir ist schon den ganzen Tag aufgefallen, dass Paul so komisch war. Dann hat er mir auf einmal eröffnet, dass er noch einmal weg müsste. Ich war enttäuscht, aber dann war da noch die Art, wie er mir das gesagt hat. Ich wollte ihn zur Rede stellen, doch dann bin ich ohnmächtig geworden. Ich glaube, Paul hat das alles so geplant. Er hat mich noch einmal verwöhnt, mich in Sicherheit gewiegt und mir dann ein Betäubungsmittel ins Essen oder in den Wein gemischt, damit ich ihn nicht aufhalten konnte. Paul hat gesagt, er würde das nur für mich tun, damit wir in alle Ewigkeit zusammen sein könnten. Verstehen Sie? In alle Ewigkeit ...«