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Jonathan Devane blickte zum Himmel und sah den Mond. Der Erdtrabant leuchtete mit immenser Kraft, obwohl er noch nicht zu voller Größe angewachsen war. Das würde sich in den nächsten Tagen ändern, und so hell und nah, wie er sich momentan zeigte, würde das ein besonderes Naturschauspiel bieten.
Jonathan befand sich in einem kleinen, abgeschiedenen Waldgebiet an der Westküste der Atlantikinsel Guernsey. Er liebte seine Insel, ihre Wälder, Seen und Küstenstreifen. So sehr, dass er nie daran gedacht hatte, sie zu verlassen und sein Glück auf dem Festland zu suchen.
Doch Guernsey hatte auch seine Schattenseiten, denn seit einigen Tagen war sein alter Freund Lester Cullum spurlos verschwunden. Und genau hier, in den Bluebell Woods, sollte er zuletzt gesehen worden sein ...
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Im Wald der Nebelwölfe
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Im Wald der Nebelwölfe
von Rafael Marques
Jonathan Devane blickte zum Himmel und sah den Mond. Der Erdtrabant leuchtete mit immenser Kraft, obwohl er noch nicht zu voller Größe angewachsen war. Das würde sich in den nächsten Tagen ändern, und so hell und nah, wie er sich momentan zeigte, würde das ein besonderes Naturschauspiel bieten.
Jonathan befand sich in einem kleinen, malerischen und abgeschiedenen Waldgebiet an der Westküste der Atlantikinsel Guernsey, auf der zwei so unterschiedliche Kulturen – Großbritannien in Form der Normannen und Frankreich durch die Bretonen – aufeinandertrafen. Er liebte seine Insel, ihre Wälder, Seen und Küstenstreifen. So sehr, dass er nie daran gedacht hatte, sie zu verlassen und sein Glück auf dem Festland zu suchen.
Doch Guernsey hatte auch seine Schattenseiten, denn seit einigen Tagen war sein alter Freund Lester Cullum spurlos verschwunden. Und genau hier, in den Bluebell Woods, sollte er zuletzt gesehen worden sein ...
Für Jonathan war es eigentlich unvorstellbar, dass in einem so kleinen Waldstück jemand einfach so verschwinden konnte. Es sei denn, man warf ihn von den nahen Klippen ins Meer, aber daran konnte und wollte er nicht glauben. Beweise hatte er dafür nicht, allein sein Instinkt sagte ihm, dass mehr hinter der Sache steckte. Und genau deshalb war er auch hier – kurz vor Mitternacht, also etwa zur selben Zeit, zu der sich hier die Spur seines Freundes verloren hatte.
Er kannte die Bluebell Woods wie seine Westentasche. Nicht nur, weil er der leitende Revierförster der Insel war und damit im Prinzip alle Wälder Guernseys in- und auswendig kannte. Er liebte es auch, diese stillen, geradezu magischen Orte aufzusuchen und besonders in der Nacht das geheimnisvolle Treiben der Tiere und die intensiven Gerüche der Pflanzen aufzunehmen.
Die Bluebell Woods boten sich für solche Spaziergänge besonders gut an. Dabei handelte es sich bei dem Gebiet um einen relativ kleinen Waldstreifen, der an Sonntagen sogar von Touristen recht gut frequentiert wurde. Die alten Eichenhaine und der umliegende, dichte Niederwald boten insbesondere kurz nach Sonnenaufgang einen kolossalen Anblick, wenn sich ein wahrer Blütenteppich auf dem Waldboden ausbreitete. Zudem lag der Wald auf einem Wanderweg, an dem sich weiter nördlich die Clarence Battery, Überreste von befestigten Geschützpositionen aus dem 18. Jahrhundert, sowie ein Stück weiter südlich die Ozanne Steps, eine historische, zu einem versteckten Strand liegende Treppe, anschlossen.
Nach diesen ebenfalls sehr reizvollen Orten stand ihm allerdings nicht der Sinn. Er wusste selbst nicht so genau, was er hier zu finden glaubte. Immerhin war der Wald zuvor schon von der Polizei durchsucht worden, ohne nennenswerte Ergebnisse. Lester Cullum war und blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Der Wald schlief nicht, obwohl es bereits kurz vor Mitternacht war. Viele Tiere erwachten in den dunklen Stunden des Tages, und manchmal glaubte Jonathan, zwischen den Stämmen der Bäume einen Hasen auszumachen. Hin und wieder erklang auch das laute Rufen einer Eule, und wenn er genau hinsah, konnte er oberhalb der Baumwipfel auch die schnell umherhuschenden, schwarzen Körper der Fledermäuse wahrnehmen.
Was war mit Lester passiert? Er arbeitete seit Jahren als stellvertretender Forstleiter für den Bezirk St. Peter Port und war ihm so direkt unterstellt. Allerdings war er für ihn nicht nur ein verlässlicher Angestellter, sondern eben auch ein enger Freund, und als solcher kannte er ihn auch sehr gut. Lester war ein selbstbewusster Mann, der mit beiden Beinen im Leben stand. Für Josh und Peter, seine Söhne, mussten die vergangenen beiden Tage die Hölle gewesen sein, ebenso wie für seine Frau Jane, mit der er ebenfalls eine Freundschaft pflegte.
Deshalb wusste er, dass Lester niemals von sich aus seine Familie im Stich lassen würde. Selbstmord fiel also weg, und da er offenbar keinen Unfall hatte, musste etwas völlig anderes mit ihm geschehen sein.
Ein Mord. Ein Mord auf Guernsey ...
Ausschließen wollte er nichts, auch wenn es schon hin und wieder mal zu gewaltsamen Todesfällen auf der Insel kam. Die meisten davon lagen allerdings schon Jahre zurück und standen sicher nicht mit Lesters Verschwinden in Verbindung. Aber wer hätte einen Grund gehabt, Lester töten zu wollen? Oder war er Opfer eines Gelegenheitstäters geworden? Und wenn ja, würde er wieder zuschlagen?
Jonathan merkte, dass seine Gedanken in eine völlig falsche Richtung glitten. Schließlich hoffte er noch immer, Lester lebend zu finden. Irgendeine Spur zu ihm musste es doch geben, selbst wenn ihm seine eigene Handlungsweise wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen vorkam.
Zur Not würde er sogar im Bereich der Felsen nach ihm suchen. Er kannte dort an der Küste einige Pfade, die den meisten verborgen blieben. Es konnte schließlich sein, dass auch Lester dorthin einen Abstecher gemacht hatte und dabei gestürzt war. Die Gesteinsformationen in diesem Bereich der Küste waren zwar nicht besonders hoch, dafür aber oft feucht und dementsprechend glitschig.
Und wenn doch irgendwo im Wald ein Mörder auf sein nächstes Opfer lauerte, würde er sich schon zu wehren wissen. Er war ein stämmiger, hochgewachsener Mann, zudem führte er ein Messer mit sich, mit dem er normalerweise Wildbret zerteilte. Sicher war schließlich sicher.
Noch befand er sich nicht in dem Bereich der Bluebell Woods, den er gerne Urwald nannte. Dieser zeichnete sich durch seine hunderte, vielleicht sogar über tausend Jahre alten Eichen aus, und jedes Mal, wenn er ihn betrat, überkam ihn das Gefühl, in eine magische Zone zu geraten. Darüber sprach er jedoch mit niemandem, schließlich wollte er nicht für verrückt gehalten werden. Nicht einmal mit seiner Frau Michelle.
Hin und wieder kam ihm der Gedanke, nach Lester zu rufen, aber dann erschien ihm das fast lächerlich. Wenn er sich wirklich noch in dem Wald befand, dann unter Holz und Erde begraben, sonst hätte ihn die Polizei bestimmt gefunden. Trotzdem wollte er so schnell nicht aufgeben. Was er hier tat, sah er schlichtweg als eine Pflichterfüllung gegenüber einem Freund an.
Wenn man die schmalen, nicht ausgewiesenen Trampelpfade entlanglief oder sich wie er mitten durch das Gebüsch schlug, konnte man sich kaum vorstellen, dass die Ausläufer der für die Historie der Insel immens wichtigen Stadt Fort George nur kurz hinter den Bäumen in die Höhe wuchsen. Und obwohl dieser Bereich der Insel so dicht bewohnt war, gab es keine Zeugen für das, was mit Lester geschehen war.
Endlich öffnete sich vor ihm das dicht wachsende Unterholz und gab so den Blick auf den Hain der besonders alten Eichen frei. Es waren insgesamt neun Bäume, und wenn er sie so betrachtete, war es sicher kein Zufall, dass sie einen Kreis bildeten, in dessen Mitte sich eine vom Mondlicht beschienene Waldwiese abzeichnete. Zwar wusste er nicht genau, ob die Kelten in vergangenen Zeiten auf Guernsey aktiv gewesen waren, aber auch in anderen Kulturen – sowohl in der bretonischen als auch der normannischen, zumindest vor dem Einzug des Christentums – waren Bäume bedeutende Heiligtümer gewesen. Vielleicht war das auch hier der Fall.
Jonathan nahm sofort die besondere Stimmung wahr, die hier vorherrschte. Das Rufen der Eule war längst verklungen, auch ein Rascheln im Unterholz nahm er nicht mehr wahr, so wie er es auf dem Weg hierher mehrfach erlebt hatte. Es war, als würden die Tiere aus unbestimmten Gründen einen Bogen um diesen Ort machen.
Lester kannte ebenfalls diese spezielle Stelle, zumindest hatte Jonathan sie ihm einmal beschrieben, doch bisher wies nichts darauf hin, dass er in der Nacht seines Verschwindens hier auch vorbeigekommen war. So richtig wusste er nicht einmal selbst, warum er ausgerechnet diesen Weg genommen hatte und hier nach Lester suchte. Vielleicht war es aber auch die magische Anziehungskraft des Baumkreises gewesen, der er sich so schwer entziehen konnte.
In dieser Nacht war etwas anders. Und das, obwohl sich an den Eichen nichts verändert hatte. Erhaben und altehrwürdig wuchsen sie vor, hinter und neben ihm in die Höhe, wo sie sich in hunderten Ästen verteilten und ein so dichtes Blattwerk bildeten, das kaum ein Lichtstrahl einen Weg hindurchfand. Zwei der Bäume waren von Blitzeinschlägen gezeichnet, ein dritter bereits so weit in die Breite gegangen, dass man einen Blick in seinen hohlen Stamm werfen konnte. Dennoch lebten sie und ließen Jahr um Jahr die Blätter aus ihren Ästen sprießen.
Die Veränderung war weniger zu sehen, sondern vielmehr zu spüren. Etwas lag in der Luft, eine ihm fremde Stimmung, die er schon als bedrückend empfand. Bisher war ihm immer ein wohliger Schauer über den Rücken geronnen, wenn er in den Kreis zwischen den Bäumen getreten war. Jetzt aber fühlte er so etwas wie eine nicht fassbare Kälte. Zudem war ihm, als würden sich aus der Dunkelheit unzählige Blicke auf ihn richten.
Obwohl er keine physische Gefahr wahrnahm, zog er jetzt das Messer mit der breiten Klinge. Sollte hier wirklich jemand auf ihn lauern, würde er bald sein blaues Wunder erleben.
Er wollte etwas rufen, doch jedes Wort blieb ihm im Halse stecken. Etwas kam auf ihn zu, für das er keine Worte fand. Zunächst war es nur ein kalter Hauch, der jedoch nicht von einem Windstoß stammen konnte. Schließlich bewegten sich weder das Gras noch die Blätter. Trotzdem fröstelte er, wobei ihn das Gefühl überkam, dass die Kälte bis in sein Herz vordrang – oder in seine Seele.
Jonathan wollte bei dem Gedanken schon laut loslachen, als etwas mit den Bäumen geschah. Seine Augen weiteten sich, denn plötzlich begannen sich die Stämme zu öffnen. Exakt zur gleichen Zeit bildeten sich an jeder der neun Eichen tiefe, vertikale Risse.
Der unglaubliche Anblick bannte ihn buchstäblich auf der Stelle. Fast rechnete er damit, dass in den Stämmen Augen erschienen und die mächtigen Wurzeln aus der Erde drangen, um ihn zu packen und zu zerreißen.
Das geschah zwar nicht, trotzdem war es noch lange nicht vorbei. Aus dem Inneren der Stämme drang ein dunkelgrauer Nebel hervor, fast so, als würde er von einer anderen Welt ausgespien werden.
Obwohl alles in ihm danach schrie, sofort kehrtzumachen und den Wald so schnell wie möglich zu verlassen, war er weiterhin nicht in der Lage, sich von der Stelle zu bewegen. Irgendwie faszinierte ihn das unglaubliche Schauspiel sogar, denn der Nebel strömte nicht einfach nur aus den Stämmen hervor, er schien auch ein Ziel zu haben – ihn selbst.
Schon nach knapp einer halben Minute war er von den grauen Schwaden komplett eingehüllt. Gleichzeitig nahm auch die Kälte noch weiter zu, und als er über seine Wangen strich, spürte er, dass sich auf der Haut kleine Eiskristalle gebildet hatten.
Bisher war es totenstill gewesen, doch das änderte sich nun schlagartig. Ein lang anhaltendes, schauriges Heulen drang durch den Wald. Von einem Hund stammte es sicher nicht, eher schon von einem Wolf, doch diese Tiere existierten auf Guernsey nicht. Trotzdem hätte es ihn mittlerweile nicht mehr überrascht, plötzlich vor einem echten Wolf zu stehen.
Innerhalb der Nebelschwaden tat sich etwas. Zunächst nahm er nur einige düstere Silhouetten wahr, fast wie die Strichzeichnungen eines Kindes. Sie schwebten einfach so durch die Luft und begannen erst allmählich, sich zu verformen und richtige Strukturen zu bilden. Jonathan wollte schreien, als er die Fratzen mit dem dichten, grauschwarzen Fell, den leuchtenden Augen, den länglichen Schnauzen und den spitzen Zähnen sah, wobei Geifer von den verzogenen Lefzen tropfte.
Jetzt sah er, dass es sich bei den Gestalten wirklich um Wölfe handelte, oder zumindest um deren Fratzen. Wie viele es waren, konnte er kaum zählen, doch Körper schienen sie alle nicht zu haben.
Das änderte sich bald, denn nun formten sich auch die behaarten Brüste, Arme, Beine und krallenbewährte Hände aus der grauen Masse. Und obwohl sich die im Nebel schwebenden Wesen nun vollständig zeigten, schienen sie doch nicht richtig vorhanden zu sein. Sie blieben ebenfalls grau und leicht durchscheinend, ganz so, als würde es sich bei ihnen um Geister handeln.
Dennoch wirkten die Gestalten so echt, und dass sie tatsächlich auch physisch vorhanden waren, erfuhr er bald am eigenen Leibe. Die Wölfe griffen an, und das nicht nur von einer, sondern gleich von mehreren Seiten. Ihre Krallen schossen vor, griffen nach seiner Kleidung und rissen sie auf. Jonathan wollte sich wehren und versuchte sogar, mit seinem Messer zuzuschlagen, doch seine Reaktion erfolgte viel zu langsam.
Zwar war er endlich wieder in der Lage, sich zu bewegen, allerdings sorgte die Kälte dafür, dass er sich dabei wie ein uralter Mann fühlte.
Die bisherigen Angriffe waren jedoch nur ein Vorspiel gewesen. Wieder schossen die Krallen der Wölfe auf ihn zu, und diesmal durchdrangen sie nicht nur seine Kleidung, sondern auch seine Haut. Er schrie auf, als die Schmerzen wie Feuerstrahlen durch seinen Körper schossen. Blut sickerte aus den Wunden, die noch recht oberflächlich waren.
Das änderte sich mit der nächsten Angriffswelle. Die Wölfe knurrten, brüllten und heulten, als sie sich wie eine wild gewordene Meute auf ihn stürzten. Ihre Krallen drangen tief in Jonathans Brust, seinen Bauch, die Arme und Beine. Blut spritzte zu allen Seiten weg, wobei die Schmerzen, die er dabei ertragen musste, kaum zu beschreiben waren. Er schrie und stöhnte, und bald schwanden ihm die Sinne, sodass er in eine tiefe, kalte Schwärze eintauchte ...
✰
Irgendwann schlug Jonathan Devane die Augen wieder auf. War er tot? Vielleicht im Himmel, die Hölle oder etwas völlig anderes, das ihn sein ganzes Leben lang erwartet hatte? Nein, das war nur eines seiner Hirngespinste, denn er lag noch immer an derselben Stelle, an der er von den Wölfen angefallen worden war.
Jetzt fehlte von ihnen jede Spur, ebenso wie von den mysteriösen Nebelschwaden. Die Bäume standen noch an derselben Stelle, wobei sie keinerlei Spuren darauf aufwiesen, dass sie vor Kurzem aufgerissen waren. Allgemein war das bedrückende, geradezu bösartige Gefühl verschwunden. Er spürte einfach nichts, vor allem keine Schmerzen.
Während er sich langsam und etwas geistesabwesend aufrichtete, tastete er seinen gesamten Körper ab. Seine Jacke, die Cordhose und die Stiefel waren allesamt noch intakt, ganz so, als wäre all das, was er in den letzten Minuten erlebt hatte, nie geschehen. Und vielleicht war es das auch nicht. Es konnte durchaus sein, dass er, ohne es zu merken, auf den Kopf gestürzt und dabei während der Ohnmacht in einen Traum geraten war. Sein Kopf brummte jedenfalls dementsprechend.
Was er in den folgenden Minuten tat, konnte er im Nachhinein kaum selbst nachvollziehen. Wie ein Schlafwandler kam er wieder auf die Beine, sah sich noch einmal um und begann, sich auf den Rückweg zu begeben. Jonathan wohnte in einem Haus in St. Martin, was etwas mehr als zwei Kilometer von den Bluebell Woods entfernt lag. Irgendwie gelang es ihm tatsächlich, es zu erreichen, und das sogar vollkommen unbeschadet. Schließlich stand er vor der Tür und wusste nicht so richtig, wie das überhaupt geschehen sein konnte.
Für den Hinweg hatte er etwas über eine halbe Stunde benötigt, jetzt aber schien es ihm, als hätte er den Rückweg innerhalb weniger Sekunden bewältigt. Genau konnte er es nicht sagen, denn seine Uhr war seltsamerweise stehen geblieben.
Es fiel ihm schwer, mit der Tatsache fertigzuwerden, dass er sich nicht mehr mitten im Wald befand – und schon gar nicht damit, immer noch am Leben zu sein.
Vorsichtig drückte er den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Haustür. Michelle, seine Frau, war schon ins Bett gegangen, bevor Jonathan zu seinem nächtlichen Ausflug ausgebrochen war, und jetzt wollte er sie auf keinen Fall wecken. Schon allein deswegen nicht, weil er sich davor fürchtete, ihr etwas von seinen Erlebnissen in den Bluebell Woods zu erzählen.
Jonathan hielt es kaum noch in seinen Klamotten aus. Er fühlte sich dreckig, irgendwie auch wie tot, und genau das wollte er ändern. Deshalb führte ihn sein erster Weg ins Bad, wo er die Kleidung abstreifte und die Duschkabine betrat. Die kalten Wasserstrahlen taten ihm unheimlich gut, sodass er nicht einmal daran dachte, auch das Duschgel zu benutzen. Er wollte sich ja nur wieder lebendig fühlen und irgendwie die dunklen Gedanken vertreiben.
Nach etwa zehn Minuten, die ihm wie eine halbe Ewigkeit vorkamen, verließ er die Kabine wieder und fuhr sich mit einem Handtuch über den Körper. Er stöhnte dabei leise, trat vor das Waschbecken und ließ das Handtuch sinken.
Sein erster Blick fiel in den Spiegel, und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Auf seinem Gesicht zeichnete sich das geisterhafte Abbild einer Wolfsfratze ab!
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Er wollte weglaufen, schreien, vielleicht sogar die Spiegelfläche zerschmettern, blieb aber einfach auf der Stelle stehen und schüttelte fassungslos den Kopf. Nahm der Albtraum denn nie ein Ende?
Nicht nur die Wolfsfratze erschreckte ihn, auch die unzähligen, tiefen Kratzspuren auf seiner Haut ließen einen Schauer nach dem anderen über seinen Rücken rinnen. Das Haar an seiner Brust war zudem ungewöhnlich dick, ganz so, als wäre es in den letzten Minuten um mehrere Zentimeter gewachsen.
»Nein! Nein! Nein!«, stieß er hervor, vergrub sein Gesicht in den Händen und versuchte verzweifelt, sich die fremde Fratze von der Haut zu reißen. Doch da war nichts, und als er wieder aufblickte, war das Wolfsgesicht verschwunden. Auch von den unzähligen Verletzungen fehlte jede Spur, ebenso wie von dem wilden Haarwuchs. Alles schien völlig normal, und allmählich fragte er sich, was von all dem wirklich geschehen war. Verlor er einfach langsam den Verstand?
Jonathan zitterte am ganzen Körper, als er das Bad verließ. Er wusste zunächst nicht, was er tun sollte. Sollte er sich neben Michelle ins Bett legen, als wäre nichts geschehen? Und was, wenn die Wolfsfratze zurückkehrte und sogar Besitz von ihm ergriff? Wenn er sich wirklich in eine solche Bestie verwandelte, schwebte seine Frau in höchster Gefahr.
Aber konnte etwas von alldem wirklich geschehen? Oder bildete er sich das alles nur ein? Er wünschte es sich so sehr, und jede Faser seines Körpers schrie danach, dass er endlich die Augen schloss und alles vergaß, was in der Nacht geschehen war. Vielleicht wachte er am nächsten Tag auf, und alles war wie immer.
Ja, so würde es sein, zumindest hoffte er das. Deshalb schlich er auf leisen Sohlen durch die Wohnung, trat ins Schlafzimmer und ließ sich neben seiner friedlich schlafenden Frau auf die Matratze sinken. Dann fielen ihm die Augen zu.
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Der Anflug auf Guernsey gestaltete sich spektakulär. Suko und ich staunten nicht schlecht, als der Hubschrauber eine Runde um das Saint Saviour's Reservoir drehte, dem größten See von Guernsey, der aus der Vogelperspektive wie der Fußabdruck eines gigantischen Dinosauriers wirkte.
Allein wegen des ungewöhnlichen Anblicks hatten wir die Reise auf die Kanalinsel jedoch nicht angetreten, wenngleich der See selbst aus dieser Entfernung als das zu erkennen war, was er für die Menschen der Insel darstellte – ein herrliches, größtenteils naturbelassenes Biotop, das zudem bei Touristen sehr beliebt war.
Am Nordufer des Sees war von dieser natürlichen Ruhe allerdings nichts mehr zu sehen. Dort reihten sich Einsatzwagen aneinander, die das Gelände großräumig absperrten und dabei auch die zahlreichen Schaulustigen und Journalisten von dem Tatort abhielten.
Der Hubschrauber setzte etwas außerhalb der Zone auf, um die Mitarbeiter der Spurensicherung nicht bei ihrer Arbeit zu behindern. Ich klopfte dem Piloten auf die Schulter und bedankte mich, dann stiegen Suko und ich aus.