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Curtea de Argeș, Rumänien, 1692
"Nico, Simona ..."
Die Geschwister beugten sich noch weiter zu ihrem auf dem Sterbebett liegenden Vater hinab und drückten sich an ihn. Ihre Tränen benetzten sein weißes Hemd, das bereits wieder vom dem Blut der stetig nässenden Wunden verschmutzt war. Iolad Damascu, der sein Leben lang stark hatte sein müssen, um seine Familie zu beschützen, wirkte nun, in seinen letzten Stunden, alt und krank. Dabei hatte er gerade erst das vierzigste Lebensjahr vollendet.
"Papa, du darfst nicht sterben", hauchte ihm seine Tochter zu. Simona, die so wunderschön war wie ihre Mutter, schluchzte und wollte sich gar nicht mehr aus seiner schwachen Umarmung lösen.
"Es geht nicht anders, Simona. Ich ... werde euch verlassen ..."
Nico schüttelte den Kopf. "Gib nicht auf. Lass nicht zu, dass der Teufel sich deine Seele holt."
"Niemals, das wird er ... niemals schaffen. Der Engel ... wird dafür sorgen."
"Und wenn der Fürst eines Tages zurückkehrt?"
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Seitenzahl: 140
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Eishauch des Teufels
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Eishauch des Teufels
von Rafael Marques
Curtea de Argeș, Rumänien, 1692
»Nico, Simona ...«
Die Geschwister beugten sich noch weiter zu ihrem auf dem Sterbebett liegenden Vater hinab und drückten sich an ihn. Ihre Tränen benetzten sein weißes Hemd, das bereits wieder von dem Blut der stetig nässenden Wunden verschmutzt war. Iolad Damascu, der sein Leben lang stark hatte sein müssen, um seine Familie zu beschützen, wirkte nun, in seinen letzten Stunden, alt und krank. Dabei hatte er gerade erst das vierzigste Lebensjahr vollendet.
»Papa, du darfst nicht sterben«, hauchte ihm seine Tochter zu. Simona, die so wunderschön war wie ihre Mutter, schluchzte und wollte sich gar nicht mehr aus seiner schwachen Umarmung lösen.
»Es geht nicht anders, Simona. Ich ... werde euch verlassen ...«
Nico schüttelte den Kopf. »Gib nicht auf. Lass nicht zu, dass der Teufel sich deine Seele holt.«
»Niemals, das wird er ... niemals schaffen. Der Engel ... wird dafür sorgen.«
»Und wenn der Fürst eines Tages zurückkehrt?«
Iolad schob seine gerade einmal fünfzehn Jahre alten Kinder wieder von sich. Er sah ihnen tief in die Augen, und während er das tat, glaubte er, dass ihm sein Schutzpatron noch einmal einen Kraftstrom zukommen ließ, um sich von seinen Kindern zu verabschieden.
»Es ist nun an euch, mein Erbe zu übernehmen«, erklärte er. »Ich habe euch alles beigebracht, was ihr wissen müsst. Nur der Herr weiß, ob es dem Fürsten eines Tages gelingt, zurückzukehren und seine Rache zu vollziehen. Wenn das geschieht, dann Gnade all jenen, die sich ihm in den Weg stellen. Ich hoffe es so sehr, dass ihr es schafft, ihn zu stoppen, denn ich habe dafür mein Leben gegeben. Es sind dunkle Zeiten, meine Kinder, aber irgendwann wird auch die Ära der Woiwoden und der Osmanen ein Ende finden. Denkt immer daran, dass ihr stärker seid als die Mächte der Finsternis. So wie ich es war ...«
Seine Kinder starrten ihn traurig an, als er seine Hand wieder von ihnen zurückzog, im Bett zusammensank und seine Augen schloss. Dann starb er.
Nico und Simona sahen lange Zeit auf ihren toten Vater hinab. Es war schon sehr anstrengend gewesen, ihn selbst zu verarzten und zurück in ihr Haus zu bringen. Nach den schweren Verletzungen, die ihm der Diener der Hölle während des letzten Kampfes zugefügt hatte, glich es einem Wunder, dass er nicht schon viel früher gestorben war.
Wahrscheinlich waren die Kräfte des Engels wirklich dafür verantwortlich, dass ihm noch diese wenigen Minuten mit seinen Kindern geschenkt wurden.
Die Zwillinge waren erst fünfzehn Jahre alt, und trotzdem kam es Nico oft so vor, als hätten sie schon hundert Leben gelebt. Ihre Mutter war schon kurz nach ihrer Geburt gestorben, laut ihrem Vater durch die Hand eines abtrünnigen Mönchs, der sich den Mächten der Finsternis verschrieben hatte. Kurz darauf war ihm im Traum ein Engel erschienen, der ihm auftrug, den Mönch zu stellen und in seinem Namen zu vernichten.
Von diesem Tag an waren sie dazu erzogen worden, gemeinsam mit ihrem Vater gegen das Böse zu Felde zu ziehen – und letztlich auch gegen den mächtigen Fürsten und seine Höllenbraut, die von ihrem Schloss aus die gesamte Region in Angst und Schrecken versetzt hatten.
Das war nun vorbei, der Fürst war gebannt, aber der Preis dafür war immens gewesen, denn in seinen letzten Momenten war es dem Günstling der Hölle gelungen, ihren Vater schwer zu verletzen. Und jetzt war er ein letztes Opfer des Fürsten geworden.
»Was sollen wir tun, Nico?«, fragte ihn seine Schwester verzweifelt. Immer wieder fuhr sie sich durch ihre langen, schwarzen Haare, die ihr bis zur Brust reichten. So, wie sie es oft tat, wenn sie aufgewühlt war.
»Der Fürst ist besiegt, aber wir wissen beide, dass er irgendwann zurückkehren könnte. Nicht heute, nicht morgen, vielleicht nicht einmal dann, wenn wir alt und grau sind. Es können hunderte Jahre vergehen, und selbst dann müssen wir bereit sein, noch einmal gegen ihn zu Felde zu ziehen.«
Er gab sich seiner Schwester gegenüber stark, dabei fühlte er sich selbst so allein und hilflos. Sein Vater war nicht nur sein großes Vorbild gewesen, sondern auch ein Freund. Jemand, der immer für ihn da gewesen war, auch in den dunkelsten Stunden. Ohne ihn sah er kaum mehr eine Perspektive. Andererseits wollte er ihn auch nicht enttäuschen, schon allein, weil sie noch immer an seinem Sterbebett standen.
»Dann sollen wir es also durchziehen?«
Nico nickte stumm. Schon kurz nach seiner schweren Verletzung hatten sie mit ihrem Vater besprochen, was geschehen musste, um sicherzustellen, dass der Tag nie kam, an dem der Fürst zurückkehrte und neue Opfer fand. Doch selbst er war von dem Gedanken nicht überzeugt gewesen, dass ihm seine Kinder schon so bald ins Jenseits folgten.
»Wir verstecken das Siegel«, kündigte er seiner Schwester an. »Und dann gehen wir den Blutschwur ein. Väterchen wird dafür sorgen, dass Papa und wir ein würdiges Begräbnis in der Kathedrale erhalten.«
Väterchen war der reichste Kaufmann von Argeș, zudem ein Gönner der Dorfbewohner und der gesamten Region – und entfernt mit ihnen verwandt. Er war es auch gewesen, der ihren Kampf gegen die Mächte der Finsternis all die Jahre finanziert und auch seinen Teil zum Sturz des Fürsten beigetragen hatte. Ohne die von ihm angeheuerten Söldner wäre es ihnen nie gelungen, die Wachtposten des Schlosses zu überwinden.
Simona drängte sich noch näher an ihn und vergrub ihr Gesicht in seiner Jacke. Sie schluchzte, zitterte und klammerte sich angsterfüllt an ihn. »Ich habe Angst vor dem Blutschwur«, presste sie hervor. »Ich habe Angst vor dem Tod. Ich will noch nicht sterben. Aber ich will Papa auch nicht enttäuschen.«
»Ich weiß doch. Mir geht es nicht anders, glaub mir. Denk immer daran, dass wir nicht wirklich sterben. Der Engel wird dafür Sorge tragen, dass unsere Seelen in einem Zwischenreich bleiben, und irgendwann werden uns die anderen Engel mit offenen Armen empfangen.«
»Trotzdem ...«
Nico legte seinen Kopf an den seiner Schwester. »Ich habe auch Angst.«
»Aber wir ziehen es durch«, sagte Simona plötzlich, und das mit einer Bestimmtheit, die ihn schon überraschte. »Das ist unser Schicksal.«
»Dann soll es so sein.«
Gegenwart
»Na, ist das nicht der Wahnsinn?«
Zum gefühlt hundertsten Mal hallten Liz Waterston die Worte ihres Bruders durch den Kopf. Seine Begeisterung hatte wahrlich keine Grenzen gekannt, als sie das erste Mal einen leibhaftigen Blick auf das düstere Schloss in den waldreichen Höhenzügen der Südkarpaten werfen konnten. Die Bilder, die ihnen der Makler geschickt hatte, waren eine Sache gewesen, das alles persönlich zu erleben eine ganz andere.
Wie ein steinernes Monument aus der Vergangenheit reckte sich das alte Schloss mit seinen zahlreichen Türmen in Richtung Himmel. Inmitten der unendlichen Wälder, die hin und wieder von saftig grünen Wiesen unterbrochen wurden, existierte eine Anhöhe, die durch ihre zahlreichen gezackten Felsen auffiel. Und genau dort war das Schloss errichtet worden.
Einst der Sitz der Fürsten von Argeș, war es zwar erstaunlich gut erhalten, jedoch waren trotzdem Teile der Anlage eingestürzt und zur Ruine verkommen. Mit der Zeit wollte Damian mit seinen Freunden und Geschäftspartnern dafür sorgen, dass das Gemäuer wieder in seinem alten Glanz erstrahlte.
Noch waren nur wenige Räume bewohnbar. Es war schon sehr aufwendig, die Strom- und Wasserversorgung neu einzurichten, ebenso eine Wärmeregulierung und die Beseitigung der offensichtlichen Schäden. Man konnte schon von einem Mammutprojekt reden, aber am Geld würde es bei Damian sicher nicht scheitern.
Ihr Bruder und sie waren mehr als nur Geschwister, sondern echte Freunde, und bisher verschwendete die Achtundzwanzigjährige noch keinen Gedanken daran, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Zwar war sie längst nicht so Feuer und Flamme für das Abenteuer Rumänien gewesen, andererseits freute sie sich auch darauf, eine neue Kultur kennenzulernen. Außerdem ging es ja nur um eine begrenzte Zeit.
Damian wollte die Instandsetzung selbst überwachen, zumindest die ersten zwei Monate. Danach plante er, das Schloss als Urlaubssitz für ihn und ihre Familie zu nutzen oder es in ein Hotel umzuwandeln.
Und es gab noch einen Grund, weshalb ihr Bruder das Schloss nicht aus den Augen lassen wollte: Die Legende um die Schätze, die angeblich tief im Keller verborgen liegen sollten. Man erzählte sich, dass der letzte Fürst, der in dem Schloss residiert hatte, mit all seinen Reichtümern nach seinem Tod eingemauert worden sei. Das war auch der eigentliche Grund, warum er das Schloss unbedingt in seinen Besitz bringen wollte, denn Damian sah sich gern als Abenteurer.
Seiner Meinung nach war er kurz davor, den Schatz zu finden. Deshalb hatte er auch Joel Haden und William ›Billy‹ Abernathy, seine besten Freunde und langjährigen Geschäftspartner, dazu eingeladen, bei dem großen Moment dabei zu sein.
Eigentlich müssten Joel und Billy gerade angekommen sein. Liz kannte und mochte sie, war an den Abenteuerspielchen aber nicht interessiert. Sie würde später wieder zu ihnen stoßen, um zu sehen, ob es Damian tatsächlich gelungen war, den Schatz zu finden.
Sie dagegen machte – nicht zum ersten Mal – einen Ausflug in die historische Altstadt von Argeș, der Stadt, zu der das Schloss gehörte. Bisher wusste dort noch niemand, dass sie und ihr Bruder die Eigentümer waren, und sie dachte auch gar nicht daran, das zu ändern. Sie mochte es, den Menschen hier auf Augenhöhe zu begegnen und sich locker mit ihnen zu unterhalten. Argeș lag zwar weit weg von den großen Zentren Rumäniens, trotzdem sprachen viele der Einwohner, besonders die Jüngeren, verständliches Englisch.
Curtea de Argeș war ein Ort mit großer und langer Geschichte, was man schon anhand der gepflegten, reich verzierten Fachwerkhäuser erkannte, die das Zentrum des Ortes bildeten. Unzählige verwinkelte Gassen mit kleinen Gasthäusern und Geschäften mündeten auf dem großen Marktplatz, auf dessen altehrwürdigem Kopfsteinpflaster jedes Wochenende ein vielbesuchter Markt abgehalten wurde. Und genau dort befand sie sich gerade.
Sie lächelte geschmeichelt, als ein junger Verkäufer ihr noch ein paar Äpfel extra einpackte und ihr daraufhin die Tüte reichte.
»Danke.«
»Gerne.«
»Sie waren jetzt schon öfter hier«, bemerkte der etwa sechzehn Jahre alte Jugendliche.
»Stimmt. Ich mache hier so etwas wie verlängerten Urlaub. Mein Bruder und ich haben uns in der Nähe ein Haus gekauft.«
»Und das ausgerechnet bei uns? Hier gibt es doch nichts, selbst wenn man den Ort die Perle der Walachei nennt. Wenn ich achtzehn bin, studiere ich in Bukarest.«
Liz lächelte. »Das freut mich für dich. Ich komme aus London, bin da auch geboren, aber mich zieht es immer nur aufs Land und in die Natur.«
»Davon haben wir hier mehr als genug.«
»So kann man es auch sehen. Also, bis bald.«
»Wiedersehen.«
Liz winkte dem Jungen zum Abschied zu, dann stürzte sie sich wieder ins Gewühl. Dabei dachte sie daran, später noch einen Abstecher zum Curtea Domneasca, einer historischen Ausgrabungsstätte, oder der von einem riesigen Park umschlossenen Kathedrale zu unternehmen. Zunächst wollte sie einige Dinge einkaufen, insbesondere frischen Fisch und etwas Gemüse für das Abendessen. Damian und seine Freunde freuten sich schon darauf, dass sie am Abend den Kochlöffel schwang.
Gedankenverloren streifte sie an den Ständen vorbei, lächelte, wenn sie ein weiteres Mal erkannt wurde oder sie die alten Frauen beobachtete, wie sie mit Vehemenz ihre Waren an den Mann bringen wollten. Hin und wieder schnappte sie Gespräche auf, verstand aber nur wenig, da sie gerade erst dabei war, Rumänisch zu lernen.
Gerade als sie eine Gruppe grauhaariger Männer passierte, schnappte sie nebenbei den Begriff ›Castelul Cravo‹ auf – den ursprünglichen Namen des Schlosses. Bisher hatte sie noch kein einziges Mal in einem ihrer Gespräche mit den Verkäufern erlebt, dass das Schloss erwähnt wurde. Selbst dann nicht, als sie nach den lokalen Sehenswürdigkeiten gefragt hatte.
Die Männer schwiegen sich betreten an, so als hätte einer von ihnen etwas besonders Schlimmes gesagt. Als sie auch noch bemerkten, dass Liz auf sie aufmerksam geworden war, drehten sie sich hastig weg.
»Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?«, sprach sie sie trotzdem an.
Der Mann, der das Schloss erwähnt hatte, zuckte leicht zusammen und blieb stehen. »Natürlich, Miss«, sagte er in etwas gebrochenem Englisch. »Wir wollten nicht unhöflich sein, aber wir wollten jetzt frühstücken gehen.«
»Keine Sorge, es dauert nicht lange. Ich habe nur zufällig gehört, dass Sie von dem Castelul Cravo gesprochen haben. Ich bin kürzlich hierher gezogen und habe bei einer Wanderung in den Bergen aus der Entfernung ein altes, halb verfallenes Schloss gesehen. Ist es das, was Sie meinten? Ich wüsste zu gerne, was es damit auf sich hat. Bisher hat mir noch niemand davon erzählt, obwohl ich viele nach den örtlichen Sehenswürdigkeiten gefragt habe.«
Der alte Mann mit dem schlohweißen Vollbart trat näher an sie heran und drehte sich dabei verstohlen nach seinen Begleitern um. »Vergessen Sie das Schloss lieber schnell wieder.«
Liz blinzelte überrascht. »Warum das denn?«
»Haben Sie die Kälte nicht gespürt?«
»Welche Kälte?«
Der Mann verzog die Lippen. Es war offensichtlich, dass er nicht gerne über das Thema sprach, überwand sich aber schließlich doch: »Die Kälte der Hölle. Miss, ich kann Ihnen nur den guten Rat geben, einen großen Bogen um das Castelul Cravo zu machen. Es trägt nicht umsonst bis heute den Namen des letzten Fürsten, der von dort geherrscht hat. Sie mögen es vielleicht als Ammenmärchen abtun, aber im Keller des Schlosses befindet sich ein Tor zur Hölle. Vor dreihundert Jahren wurde es geschlossen, nur kann niemand mit Bestimmtheit sagen, dass das Böse nicht eines Tages zurückkehren wird. Wir haben gehört, dass das Schloss nach über hundert Jahren kürzlich einen neuen Besitzer gefunden hat. Darüber haben meine Freunde und ich gesprochen. Wir sind zusammen zum Schloss gegangen und haben den Mann davor gewarnt, was in den dunklen Kellerräumen auf ihn lauern könnte, aber das schien ihn nicht interessiert zu haben. Jetzt fürchten wir, dass der Fürst bald zurückkehren könnte.«
»Welchen Fürst meinen Sie?«
Der Alte schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe schon zu viel gesagt. Passen Sie einfach auf sich auf.«
Bevor sie den Mann aufhalten konnte, fuhr er herum und verschwand mit seinen Begleitern in der sich drängenden Menge. Liz dagegen stand zunächst einfach nur da und fragte sich, wie sie das gerade Gehörte einordnen sollte.
Okay, es gab also noch eine düstere Legende, die sich um das Schloss rankte. Daran konnte man nun glauben oder nicht, sie jedenfalls war niemand, der Geschichten von Geistern, Dämonen und die Hölle für bare Münze nahm. Was sie beunruhigte, war die Art, mit der sich der Mann ihr geöffnet hatte. Curtea de Argeș mochte zwar eine Kleinstadt sein, aber hier lebten die Leute nicht mehr im vorletzten Jahrhundert und trieben ihren Toten bestimmt keine Pflöcke ins Herz, damit sie ihre Gräber nicht verließen. Die Moderne war in gewisser Weise auch hier angekommen. Deshalb tat sie die Worte des Mannes nicht einfach so ab.
Und warum hatte Damian ihr nichts von seiner Begegnung mit den Einheimischen berichtet? Zwischen ihnen gab es normalerweise keine Geheimnisse, sie vertrauten einander vollkommen, besonders nach dem frühen Tod ihrer Eltern. Es war absolut nicht seine Art, so etwas vor ihr zu verheimlichen.
Die positiven Gefühle, mit denen sie über den Marktplatz spaziert war, waren verschwunden. In ihrem Hals steckte ein Kloß, der einfach nicht mehr verschwinden wollte. Sie wünschte sich, Damian wäre jetzt hier, würde sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass sie die Aussagen des Alten nicht für voll nehmen sollte. Stattdessen schrie alles in ihr, so schnell wie möglich zum Schloss zurückzukehren.
Der Whisky stand bereit, der Wein war gekühlt, es fehlte nur noch Liz, die ihnen ein fantastisches Abendessen bereitete. Wahrscheinlich war sie gerade dabei, die Zutaten einzukaufen, wenn sie nicht gerade wieder traumwandlerisch durch die Altstadt von Argeș streifte oder den grünenden Park der großen Kathedrale bewunderte. So wie Damian Waterston seine Schwester kannte, war eher letzteres der Fall.
Für ihn war das nichts. Er suchte lieber nach dem sagenumwobenen Schatz, der in den weitläufigen Kellerräumen des Castelul Cravo verborgen liegen sollte. Nicht dass er das Geld nötig gehabt hätte, ganz im Gegenteil, aber die Vorstellung, etwas in den Händen zu halten, was andere für eine Legende hielten, war für ihn ein gewaltiger Ansporn. So sehr, dass er manchmal vergaß, dass es noch ein Leben außerhalb des Kellers gab.
Inzwischen war auch seine Unterstützung in Form seiner besten Freunde Joel Haden und William Abernathy eingetroffen. Joel, Billy und er waren seit der Grundschule unzertrennlich, hatten gemeinsam Karriere gemacht und versuchten immer noch, so viel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen. Für Joel war das schon etwas schwieriger, da er als einziges Mitglied der Clique bereits eine Familie gegründet hatte.
Obwohl sie schon alles wussten, ließen sie Damian reden. Wenn er einmal vom Jagdfieber gepackt wurde, ließ er sich kaum bändigen. »Laut den Beschreibungen müssen wir ganz in der Nähe der geheimen Kammer sein«, erklärte er, während er mit der dicken Taschenlampe in der Hand an den kahlen und teilweise mit Moosen und Flechten überwachsenen Wänden entlangschritt.
Dabei dachte er an die Millionen, die dieses Schloss noch verschlingen würde, bevor es wirklich wieder vollständig bewohnbar war. Hundert und mehr Jahre Leerstand hinterließen eben ihre Spuren.