John Sinclair 2245 - Rafael Marques - E-Book

John Sinclair 2245 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Finsternis, nichts als Finsternis umgab sie. Ihre eigenen Atemstöße waren die einzigen Geräusche, die die bedrückende Stille durchbrachen. Minutenlang lag sie einfach nur da, und in diesen so endlos wirkenden Minuten schien die Zeit um sie herum eingefroren zu sein. Zeit, in der sie die Augen schloss und betete, dass sie endlich aus diesem Albtraum erwachte, wenn sie sie wieder aufschlug.
Nichts davon geschah. Es änderte sich nichts an der Realität, dass sie lebendig begraben war. Eingesperrt in einen gläsernen Sarg, der von einem mysteriösen Kuttenträger in die Tiefe gelassen worden war. Sie befand sich nur wenige Meter unter der Erde, und dennoch würde es für sie kein Entkommen mehr geben.
Sie würde sterben!


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Inhalt

Cover

Der Totengräber von Atlantis

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Der Totengräbervon Atlantis

(Teil 2 von 2)

von Rafael Marques

Finsternis, nichts als Finsternis umgab sie. Ihre eigenen Atemstöße waren die einzigen Geräusche, die die bedrückende Stille durchbrachen. Minutenlang lag sie einfach nur da, und in diesen so endlos wirkenden Minuten schien die Zeit um sie herum eingefroren zu sein. Zeit, in der sie die Augen schloss und betete, dass sie endlich aus diesem Albtraum erwachte, wenn sie sie wieder aufschlug.

Nichts davon geschah. Es änderte sich nichts an der Realität, dass sie lebendig begraben war. Eingesperrt in einen gläsernen Sarg, der von einem mysteriösen Kuttenträger in die Tiefe gelassen worden war. Sie befand sich nur wenige Meter unter der Erde, und dennoch würde es für sie kein Entkommen mehr geben.

Sie, Purdy Prentiss, würde sterben!

Es war nicht das erste Mal, dass sich dieser Gedanke vor ihrem geistigen Auge manifestierte. Wer sollte sie jetzt noch retten? Niemand, nicht einmal sie selbst, wusste, wo sie sich befand. Irgendwo in einer fremden Dimension, auf einem von Totenbäumen umgebenen Friedhof, der von einer ganz in schwarz gekleideten Gestalt beherrscht wurde, von deren Körper nur zwei rote Augenlichter zu sehen gewesen waren. Kein John Sinclair, der entweder tot oder in der Vergangenheit verschollen war, oder Suko, der vielleicht auch nicht mehr lebte, niemand konnte sie mehr retten.

Wie im Zeitraffer erlebte sie noch einmal mit, wie sie an diesen schrecklichen Ort gelangt war. Während eines Traums hatte sie zunächst erlebt, wie eine junge Frau namens Tammy Preston in einem solchen Sarg erstickt war. Dann war ihr von ihrem Mörder angekündigt worden, dass sie bald auch für eine ihr unbekannte Tat büßen würde. Am nächsten Tag hatte sie versucht, mehr über ihre Träume herauszufinden und war durch die Namen auf den Grabsteinen auf Tammy Preston, Colin Fielding und Duane B. Winters gestoßen.

Noch am selben Tag hatte sich die Kuttengestalt auch Fielding geholt, während sich Winters ihr bei einem Gespräch als schwarzes Skelett offenbart hatte. Dann war Winters verschwunden und John im Keller seines Hauses in einen magischen Flammenwirbel geraten. Später, nachdem Suko sie nach Hause gebracht hatte, war der mysteriöse Dämon auch bei ihr aufgetaucht und hatte sie in seine Dimension entführt, um sie dort lebendig zu begraben.

All diese Ereignisse hingen irgendwie mit einem einzigen Mann zusammen: Tim Lennox, der wahrscheinlich mit dem Kuttenmann identisch war. Als Kind hatte er sich vorübergehend in einen Dämon verwandelt und einen anderen Schüler getötet, nachdem er von Colin Fielding in eine ausweglose Situation gebracht worden war, später war er Tammy Preston näher gekommen, hatte sie verfolgt und geschlagen und war dafür verurteilt worden, und schließlich war er an Duane B. Winters geraten, wobei die Verbindung zu ihm noch immer im Dunkeln lag. Ebenso wie die zu Purdy selbst, denn sie verstand immer noch nicht, warum sich Lennox an ihr rächen wollte, immerhin kannte sie den Mann überhaupt nicht.

Lediglich sein Gesicht kam ihr irgendwie bekannt vor, ihr fiel nur nicht ein, woher. Sie zermarterte sich den Kopf, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Selbst jetzt, im Angesicht des Todes, konnte sie an nichts anderes denken.

Wie lange würde es wohl dauern, bis ihr die Luft ausging? Minuten? Eine Stunde? Viel länger würde ihr wohl kaum bleiben, und schon jetzt wusste sie kaum noch, wie lange sie sich schon in dem gläsernen Sarg befand. In der licht- und geräuschlosen Dunkelheit verlor man schnell das Gefühl für Zeit.

Nur nicht in Panik geraten, hämmerte sie sich immer wieder ein. Nur, was brachte ihr das? Nichts würde sich dadurch ändern, dass sie schrie, brüllte oder gegen das Glas hämmerte, und selbst wenn sie dadurch wertvollen Sauerstoff verbrauchte, beschleunigte sie nur das Unausweichliche.

Ihre Finger krampften sich zusammen, während Tränen über ihre Wangen liefen. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich so verflucht hilflos gefühlt. Höchstens einmal, als sie das erste Mal gestorben war – damals, in Atlantis. Sie kannte diese Existenz nur aus ihren Träumen, und selbst die gaben ihr nur ein bruchstückhaftes Bild von dem, wer oder was sie einmal gewesen war. Eine Kriegerin, die sich mit einem Gefährten durch eine lebensfeindliche Umgebung kämpfen musste. Eines Tages hatte sie ihren eigenen Tod vorausgeahnt und war in einem Hagel aus Pfeilen gestorben.

Dadurch war einiges in Gang geraten, was letztendlich zu ihrer Wiedergeburt knapp zehntausend Jahre später geführt hatte. Irgendwann war sie mit einem Mann namens Eric La Salle in Kontakt gekommen, der auch schon in Atlantis ihr Gefährte gewesen war. Das war allerdings ebenfalls schon Vergangenheit, denn Eric lebte nicht mehr.

Vergangenheit ...

Ihre Schuld gegenüber Tim Lennox sollte sich auch irgendwo dort finden. Doch sie kannte ihn nicht, und trotz aller Bemühungen fiel ihr nicht ein, warum gerade sie auf seiner Todesliste gelandet war. Es sei denn ...

Beinahe hätte sie aufgeschrien, denn jetzt erst wurde ihr etwas klar, auf das sie schon längst hätte kommen können. Es konnte nur einen Grund geben, warum sie sich nicht erinnerte, weshalb sich Lennox an ihr rächen wollte: Weil sie es nicht konnte. Tim Lennox musste ebenfalls ein Wiedergeborener aus Atlantis sein und machte sie jetzt für etwas verantwortlich, was sie damals getan hatte. Das erklärte zwar immer noch nicht, wieso er gerade jetzt damit anfing, sich zu rächen, und wieso er Duane B. Winters, seinen letzten Arbeitgeber und ebenfalls ein Atlanter, töten wollte, aber es war zumindest ein Ansatz.

»Ist es das?«, schrie sie, so laut sie konnte. Ob ihr Trommelfell dadurch platzte, war ihr egal. Sie schlug mit der flachen Hand gegen den Deckel, der sich natürlich um keinen Deut bewegte. »Ist es das, Lennox? Sind wir uns schon einmal in Atlantis begegnet?«

Nichts geschah. Sie erhielt keine Antwort, und bald sackte sie wieder in sich zusammen. Sie zog ihre Beine an, legte die Hände über die Knie und schluchzte. »Was habe ich dir damals getan, dass ich das verdient habe?«

»Du hast mich gehen lassen.«

Purdy zuckte zusammen. Woher die Stimme kam, wusste sie nicht. Sie schien von überall her an ihre Ohren zu dringen, und selbst als sie ihren Kopf von einer Seite zur anderen warf, konnte sie kein rot glühendes Augenpaar ausmachen. Trotzdem, der Dämon hatte mit ihr Kontakt aufgenommen, und seine Stimme klang weit weniger monoton als zuvor. Beinahe menschlich ...

»Wie meinst du das?«, fragte sie, wobei ihre Stimme selbst für sie kaum noch zu hören war.

»Du hättest mich nicht gehen lassen dürfen.«

»Ich verstehe das nicht. Ich kann mich an mein erstes Leben nicht erinnern.«

»Ich konnte das auch nicht«, hauchte ihr die Stimme ihres Peinigers zu.

Sie klang so nah, dass Purdy glaubte, nach der Kuttengestalt greifen zu können. Stattdessen lag sie weiterhin in dem Sarg und spürte, wie die Luft immer schwerer zu atmen wurde.

»Aber jetzt kannst du es?«, fragte sie.

»Ja. Jemand hat mir die Augen geöffnet, und er hat zugleich dafür gesorgt, dass mich meine Vergangenheit wieder einholt. Dabei habe ich so darum gekämpft, sie für immer zu begraben.« Ein schallendes, irres Lachen hallte durch den Sarg. »Begraben, hast du gehört? Begraben ...«

»Wer bist du?«

Die Frage war ihr mehr oder weniger herausgerutscht. Wenn sie schon sterben würde, wollte sie wenigstens wissen, durch wessen Hand. Das war ihr dieser verfluchte Dämon einfach schuldig. Zumindest hakten sich ihre Gedanken daran fest, wenngleich sie spürte, wie ihr langsam die Sinne schwanden.

»Tim Lennox. Aber ich war einmal jemand anderes, in einer fernen, längst vergangenen Zeit – Daranis.«

»Der Name sagt mir nichts.«

»Dann sollte ich etwas daran ändern. Alle meine Opfer wussten, weshalb ich sie unter die Erde gebracht habe, nur du kannst dich nicht daran erinnern. Das akzeptiere ich, und deshalb werde ich nach deiner Seele greifen und dir die Wahrheit offenbaren. Schließ die Augen, dadurch wirst du sehen, was ich meine.

Purdy atmete stoßweise ein und aus. Noch hielt sie die Augen offen, sah aber nichts als Finsternis. Das änderte sich erst, als sie sie schloss. Dann sah sie, wovon der Dämon sprach ...

Atlantis, vor über 10.000 Jahren

»Wir müssen weiter in diese Richtung. Dort wartet der Tod, und dort werden wir auch deinen Freund finden.«

Der alte Mann war in dicke, zerschlissene Felle gehüllt, und seine Finger fuhren immer wieder über den mit seltsamen Zeichen übersäten Totenschädel hinweg. Er war ein Seher, der über diese Zeichen versuchte, die Zukunft zu deuten und Dinge sichtbar zu machen, die für das menschliche Auge verborgen blieben.

Die Frau ließ ihn gewähren, denn der Hexer war ihre letzte Hoffnung, Daranis wiederzufinden. Es war weder ihr Gefährte noch ihr Freund, sondern ein Krieger aus der Armee des großen Delios, dem legendären Anführer der Menschen, die sich gegen die Herrschaft der mächtigen Dämonen von Atlantis auflehnte. Daranis hatte ihr das Leben gerettet, als sie während eines Bades beinahe von einigen der bösartigen Kreaturen dieses Landes gefressen worden wären.

Es kam ihr so vor, als wäre das alles erst gestern geschehen. Unter einem Wasserfall hatte sie ihre Kleidung abgelegt und geglaubt, allein und geschützt vor den Dämonen zu sein, die eigentlich überall in Atlantis auf Opfer lauerten. Sie war zu leichtsinnig gewesen, denn noch während ihres Bades waren mehrere Drachenvögel erschienen und hatten versucht, sie in Stücke zu reißen. Wie aus dem Nichts war der kräftige Krieger erschienen, und mit einigen gezielten Schlägen gelang es ihm, die drei Drachenvögel zu vernichten.

Danach waren sie sich einige Tage sehr nahe gekommen, bis er wieder aufbrechen und zu Delios zurückkehren musste. Er war schließlich nicht nur ein wichtiger Vertrauter, sondern auch der Leibwächter seiner jungen Tochter Kara.

Tage und Wochen waren vergangen, in denen sie mal mit ihrem angestammten Gefährten, mal allein durch die so unterschiedlichen Gebiete von Atlantis zog. Eines Tages war sie – mehr zufällig – in Daranis᾽ Heimatstadt eingekehrt, und dort kam ihr zu Ohren, dass ihr einstiger Retter einen Tag zuvor entführt worden war – an einen Ort, den man den Friedhof der Verlorenen nannte. Niemand kannte den exakten Weg dorthin, und erst recht wagte es niemand, nach ihm zu suchen.

Sie, die Frau und Kämpferin, die unter so vielen Namen bekannt war, dass sie ihren eigenen schon längst vergessen hatte, war ausgezogen, um Daranis zu retten. Nicht, weil sie ihn liebte, sondern weil sie der Meinung war, dass sie ihm das schuldete. Zumindest redete sie sich das immer wieder ein. Seine eigenen Kampfgefährten hatten ihn bereits aufgegeben, sie jedoch nicht. Deshalb war sie an den alten Hexer herangetreten, der angeblich nicht weit entfernt von dem Gebiet lebte, nach dem sie suchte. Für einen Klumpen Gold, den sie mühsam in ihren Besitz gebracht hatte, war er bereit gewesen, ihr den Weg zum Friedhof der Verlorenen zu weisen.

»Hüte dich vor dem Totengräber«, waren seine ersten Worte nach dem Abschluss ihres Geschäfts gewesen, und genau diesen Satz wiederholte er jetzt wieder, obwohl es keinen offensichtlichen Grund dafür gab.

»Wer ist der Totengräber?«

Schon einmal hatte sie diese Frage gestellt, ohne eine vernünftige Antwort darauf zu erhalten. Überhaupt kam es ihr so vor, als ob der Hexer ihr einiges verschwieg – über den Friedhof und sich selbst. Sie hoffte nur, dass es kein Fehler war, ihm zu vertrauen und dass er nicht in Wahrheit selbst dieser Totengräber war oder mit ihm paktierte.

»Das weiß niemand«, antwortete er diesmal. »Man erzählt sich, er würde schon seit der Entstehung von Atlantis über seinen Friedhof streifen und jeden, der ihm zu nahe kommt, lebendig begraben. Viele sagen, dass er sich an den leidenden Seelen laben würde, und wiederum andere behaupten, er sei ein Diener Myxins, für den er unliebsame Feinde verschwinden lässt und ihnen einen qualvollen Tod bringt. Aber niemand kennt die Wahrheit, und so blieb der Friedhof immer ein Mysterium, denn keinem seiner Opfer ist es je gelungen, ihn lebendig zu verlassen.«

»Und du bist sicher, dass das der richtige Weg ist? Obwohl du niemals selbst dort warst?«

Der alte Hexer nickte. »Ja, der Schädel hat es mir gesagt. Er gehörte einem Opfer des Totengräbers, dem einzigen, das je den Friedhof wieder verlassen hat.«

»Hast du nicht gerade gesagt, das wäre nie jemandem gelungen?«

Wieder starrte sie der Hexer mit seinem seltsam entrückten Blick an. Etwas sagte ihr, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit sagte, andererseits blieb ihr auch nichts anderes übrig, als auf sein Wort zu vertrauen.

»Ich habe gesagt, kein Opfer hat den Friedhof lebend verlassen«, erklärte er. »Ich war nie eines seiner Opfer und habe den Friedhof trotzdem betreten. Untote, die sich aus der Erde gruben, griffen mich an, und einem von ihnen habe ich den skelettierten Schädel abgerissen. Die Zombies sind die einstigen Opfer des Täters, und jetzt werde ich seinem Träger zu ein wenig Gerechtigkeit verhelfen.«

Die Frau ließ ihn gewähren und kümmerte sich wieder um die Umgebung. Nachdem sie kilometerlang durch dichten Dschungel gewandert waren, umgab sie jetzt ein Wald aus abgestorbenen Bäumen, die so ausgetrocknet wirkten wie der rissige Boden, über den sie liefen. Normalerweise hätten die hohlen Stämme längst zerfallen sein müssen, doch irgendwie existierten sie weiter. Atlantis kannte eben häufig seine eigenen Gesetze.

Die von giftigen Gasen erfüllte Luft war nur schwer zu atmen, zudem wurden sie von einer seltsamen, widerlichen Kälte umgeben, die die Frau schaudern ließ. Allmählich fragte sie sich, ob die Schuld Daranis gegenüber es wirklich wert war, dass sie hier ihr Leben riskierte oder ob da vielleicht noch mehr zwischen ihnen existierte, dass sie sich selbst gegenüber nicht zugeben wollte. Letztendlich entschied sie sich dafür, es trotz allem durchzuziehen. Es musste einfach sein.

Gerade schob der Hexer wieder einen Busch zur Seite, als sich vor ihr eine Mauer aus Felsbrocken auftat. Sie wirkte auf sie wie eine natürliche Barriere, die den Friedhof der Verlorenen vom Rest von Atlantis trennen sollte. Sie hielt ihr Schwert noch fester umklammert, denn jetzt würden sie vollkommen ungeschütztes Terrain betreten. Sollte sie jetzt jemand oder etwas angreifen, gab es keinen Ort, an dem sie sich verstecken konnten.

Sie blieb dicht hinter dem Hexer, der unbeirrt seinen Weg fortsetzte und vor ihr die Felsen erkletterte. Dabei murmelte er mehrmals seltsame Zauberformeln, wahrscheinlich in der Sprache der ersten Atlanter, die heute nur noch Magier und Dämonen verstanden.

Anders als er bemerkte sie, dass sich im Bereich der Kronen der Totenbäume etwas tat, die auch hinter den Felsen in die Höhe wuchsen. Mehrere geflügelte Kreaturen lösten sich von den knorrigen Ästen, schwangen sich in den von einem hellroten Licht erleuchteten Himmel und flatterten langsam in ihre Richtung.

Die fliegenden Monstren hatten lange, gebogene Schnäbel und ledrige, teils schwarz angelaufene und in Fetzen herunterhängende Haut. Augen hatten sie keine, nur leere Höhlen, dafür verfügten sie über starke Krallen, die sich tief in den Körper eines Menschen wühlen konnten.

Ihre lauten Schreie waren nicht zu überhören, und selbst als sie mitten im Flug die Richtung änderten und sich auf sie herabstürzten, ging der Hexer einfach weiter. Erst als eine der Kreaturen ihn fast erreicht hatte, nahm er den Schädel in beide Hände und schleuderte ihn mit einem Urschrei auf das geflügelte Wesen.

Eine Stichflamme entstand, als der Skelettkopf die Kreatur traf. Innerhalb von Sekundenbruchteilen verbrannte das Wesen, wobei nur eine Staubfahne zurückblieb, die auf den lachenden Hexer niederging.

Noch gab es jedoch einen zweiten Monstervogel, und der griff die blonde Frau an. Mit einem Sprung warf sie sich zur Seite, als die langen Krallen auf sie zu schossen, was bei dem felsigen Untergrund gar nicht so leicht war. Ein kurzer Schmerz fuhr durch ihre rechte Schulter, ohne dass sie sich davon aufhalten ließ.

Der Vogel stieß einen wütenden Schrei aus, drehte sich in der Luft um die eigene Achse und attackierte sie ein zweites Mal. Diesmal war sie vorbereitet, und noch ehe sie die Krallen erreichten, riss sie ihr Schwert hoch und schlug zu.

Die Klinge hieb in den Körper des Untiers, fuhr durch seinen Hals und trennte den Kopf ab. Führerlos flatterte das Geschöpf noch einige Sekunden weiter, bis es die Felsen hinabstürzte und dort verging.

»Das war knapp«, rief sie dem Hexer zu, der nur den Kopf schüttelte.

»Ich wusste, was geschehen würde. Der Friedhof liegt fast direkt vor uns. Warte es nur ab.«

»Und der Schädel?«

»Er hat seinen Dienst getan und einen seiner Peiniger vernichtet.«

Die Blonde nahm die Worte des Hexers hin und kümmerte sich wieder um ihre Umgebung. Der Geröllhang war nicht besonders hoch, und als sie ebenfalls die Spitze erreichte, blickte sie tatsächlich auf einen Friedhof herab.

Was sie vor sich sah, war keine normale Ruhestätte, um seinen Ahnen zu gedenken. In einem Wald aus weiteren abgestorbenen Bäumen, in denen noch einzelne, vertrocknete Blätter im Wind raschelten, erkannte sie ein ausgedehntes Gräberfeld, wobei manche Löcher noch frisch ausgehoben waren und vor ihnen bereits leere, gläserne Särge auf die nächsten Opfer des Totengräbers warteten. In unregelmäßigen Abständen zuckten dunkelrote Flammen aus der Erde, die diesem Ort eine zusätzliche unheilvolle Aura verliehen.

Auch hier existierte Leben, wobei man in Atlantis entweder von realem oder magischem Leben sprechen musste. Hier war sicher letzteres der Fall, denn die Geschöpfe, die sich auf und über dem Friedhof zeigten, waren Ausgeburten eines dunklen Zaubers. Über den Wipfeln der Bäume kreisten mindestens ein halbes Dutzend der ihr bereits bekannten Monstervögel, während aus einer direkt in den Boden verlaufenden Höhle zwei Zwerge mit verkohlt wirkender Kleidung stiegen und einen weiteren Sarg mit sich führten. Wahrscheinlich stellten die kleinen Kreaturen diese gläsernen Totenkisten für den wahren Herrscher des Friedhofs her, der sich immer noch nicht zeigte.

»Ich habe gesehen, dass ich heute sterben werde«, murmelte der Alte neben ihr. »Geh deinen Weg, ich werde sie ablenken.«

»Was?«

»Du hast nicht verstanden, dass ich dich nicht nur wegen deines Freundes begleite. Und es ist auch kein Zufall, dass mein Zelt unweit dieses Gebiets steht, und das nun schon seit über zehn Jahren.«

»Was willst du mir damit sagen, Hexer?«

»Der Schädel, der uns hergeführt hat – er gehörte meinem einzigen Sohn. Ich habe erfahren, dass er ein Opfer des Totengräbers geworden ist, und ich habe ihn mit meiner Magie schließlich aufgespürt. Da war er leider längst zu einem Untoten geworden, der mich sogar angegriffen hat. Ich habe ihm den Kopf abgerissen, und weil ich solche Angst um meine eigene, jämmerliche Existenz hatte, bin ich geflohen. Ganz konnte ich danach nie von diesem Ort lassen, und so bin ich in der Nähe geblieben – bis gestern.«

»Also hast du auf mich gewartet?«

Der Hexer nickte. »Die Knochen meines Sohnes haben mir gesagt, dass eine mutige Kämpferin am Tag vor meinem Tod bei mir auftauchen und den Weg zu meinem Schicksal weisen würde. Geh, finde deinen Freund und vernichte den Totengräber, das wäre mein letzter Wunsch. Dein Gold wartet in meinem Zelt auf dich, falls du es schaffst, zurückzukehren.«

Die Frau starrte den alten Mann einige Zeit respektvoll an, dann nickte sie, legte ihm eine Hand auf die Schulter und schlich über die Felsbrocken hinweg. Nur mit äußerster Konzentration gelang es ihr, die natürliche Mauer geräuschlos hinter sich zu lassen und in Richtung der ersten Bäume zu laufen.