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New York hatte uns wieder!
Wir befanden uns quasi im Schatten der legendären Manhattan und Brooklyn Bridges, deren Fotomotive um die Welt gegangen waren. Unweit des Pebble Beach, dem so winzig wirkenden, grünenden Strand mit Aussicht auf Manhattan, der Mündung des East River und dem bei Touristen - insbesondere jenen mit Kindern - mindestens ebenso beliebten Karussell, erstreckte sich nördlich des Brooklyn Queens Expressway ein boomendes Ausgeh- und Vergnügungsviertel. Dort, wo sich in bekannten Mafiafilmen noch endlose Ziegelstein-Mietskasernen entlanggezogen hatten, dominierten nun Restaurants, Bars und kleinere Dienstleister das Stadtbild.
Und wieder einmal zeigte sich, dass gerade im Schatten des grellsten Scheins das Böse lauerte. In einem leer stehenden Nachtclub hatte es zugeschlagen und ein Bild des Grauens hinterlassen - drei tote, bestialisch zugerichtete junge Frauen!
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Seitenzahl: 152
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Vampirjagd in Hongkong
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Vampirjagd in Hongkong
von Rafael Marques
New York hatte uns wieder!
Wir befanden uns quasi im Schatten der legendären Manhattan und Brooklyn Bridges, deren Fotomotive um die Welt gegangen waren. Unweit des Pebble Beach, dem so winzig wirkenden, grünenden Strand mit Aussicht auf Manhattan, der Mündung des East River und dem bei Touristen – insbesondere jenen mit Kindern – mindestens ebenso beliebten Karussell, erstreckte sich nördlich des Brooklyn Queens Expressway ein boomendes Ausgeh- und Vergnügungsviertel. Dort, wo sich in bekannten Mafiafilmen noch endlose Ziegelstein-Mietskasernen entlanggezogen hatten, dominierten nun Restaurants, Bars und kleinere Dienstleister das Stadtbild.
Und wieder einmal zeigte sich, dass gerade im Schatten des grellsten Scheins das Böse lauerte. In einem leer stehenden Nachtclub hatte es zugeschlagen und ein Bild des Grauens hinterlassen – drei tote, bestialisch zugerichtete junge Frauen!
Es war ein Anblick, den wir zwar nur noch auf Fotografien ertragen mussten, der uns aber trotzdem schlucken ließ. Für mich war jeder Mord einer zu viel, und wenn die Opfer so jung waren, war meine Verständnislosigkeit besonders groß. Es war nicht einmal gesagt, dass für diese Tat wirklich die Mächte der Finsternis verantwortlich waren. Nicht selten waren Menschen zu noch abscheulicheren Taten fähig als Dämonen, deshalb wollte ich zunächst einmal nichts ausschließen.
»Rache«, hörte ich neben mir eine leise Stimme.
Sie gehörte Shao, der Lebensgefährtin meines Partners Suko, die mit mir über den großen Teich gereist war. Der Grund lag auf der Hand: Drei junge Frauen waren durch tiefe Einschnitte in ihre Kehle getötet worden, und mit ihrem Blut hatte der Täter drei identische Symbole auf den grünen Laminatboden geschmiert. Ihre Bedeutung war uns schon vor dem Abflug bekannt gewesen, dennoch hatte ich nicht ohne Shao abreisen wollen. Wenn es wirklich um einen Mörder mit asiatischem Hintergrund ging, womöglich sogar um chinesische Mythologie, fühlte ich mich um einiges wohler, sie an meiner Seite zu wissen.
Shao war die letzte Person in einer Ahnenreihe, die von der Sonnengöttin Amaterasu ausging. Für einige Jahre hatte sie dieses Erbe übernommen, indem sie nach ihrem vermeintlichen Tod zum maskierten Phantom aus dem Jenseits geworden und als Wanderin zwischen den Welten einen endlosen Kampf gegen finstere Dämonen wie Emma-Hoo, Susanoo und Shimada gezogen war. Mittlerweile führte sie wieder ein normales Leben an Sukos Seite, doch die Kraft der Sonnengöttin steckte immer noch in ihr.
Die Maske, ihr Lederoutfit und die Armbrust waren in London zurückgeblieben, stattdessen führte sie ein anderes, wertvolles Artefakt mit sich – das Auge der Amaterasu. In dem grün leuchtenden Kristall steckten Kräfte, die selbst für Shao manchmal noch ein Rätsel waren. In gewissen Fällen wirkte er auch wie ein Indikator für dunkle Magie, ähnlich wie mein Kreuz, und genau darauf hoffte ich jetzt auch.
»Gut, dass ihr da seid«, sprach uns Abe Douglas an, mein alter Freund vom FBI.
Der gebürtige New Yorker hatte inzwischen einen Teil seines Lebensmittelpunkts in den Ort Kill Devil Hills verlegt, war aber natürlich weiterhin beim FBI in New York angestellt und nicht nur im Big Apple, sondern landesweit tätig, wenn es darum ging, ungewöhnliche und potenziell übernatürliche Mordfälle aufzuklären.
»Du hast uns nicht zu viel versprochen«, erwiderte ich, lächelte ihm zu und umarmte Abe.
Obwohl Shao den G-Man längst nicht so gut kannte wie ich, tat sie es mir nach.
Abe trat zurück und verzog die Lippen. »Tja, leider ist es so. Der Club steht erst seit zwei Wochen leer, aber natürlich zieht so ein Ort immer dunkle Gestalten an. Ich kann euch leider noch nichts über die Identität der drei Jugendlichen sagen, außer dass sie wohl asiatischer Herkunft waren und laut Leichenbeschauer nicht älter als achtzehn Jahre sein können.«
Ich trat vor und betrachtete die drei etwa einen Meter breiten, mit ruhiger Hand gezeichneten chinesischen Symbole. Die Leichen, die wir schon in London und auf den uns von Abe gereichten Tatortfotos gesehen hatten, waren natürlich längst abtransportiert worden, und die Arbeit der Spurensicherer war ebenfalls beendet, weshalb wir jetzt völlig unter uns waren.
Wie ich es oft mit meinem Kreuz tat, beugte sich Shao zu den blutigen Symbolen und führte das Auge der Amaterasu an sie heran. Es geschah allerdings nichts, und auch mein Kreuz meldete sich nicht.
Ich war noch immer über die so sinnlose Grausamkeit entsetzt. Der Mörder hatte seine Opfer wie Müll in dem düsteren Tanzsaal abgelegt, der trotz der von Vorhängen und Brettern verdunkelten Fenster noch aussah, als würden jeden Moment Feiernde aus den düsteren Nischen hervorströmen. Die Musikanlage des DJ war von der Bühne abgebaut worden und die Getränke in den Regalen hinter der Bar verschwunden, doch es sah nicht so verlassen und vergessen aus wie in manch anderen leer stehenden Gebäuden.
»Nichts, John«, sagte Shao und zog das Auge der Amaterasu in die Höhe.
Ich merkte ihr an, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Kein Wunder, schließlich befand sich Suko in diesem Moment in Hongkong, um dort nach einem oder mehreren Vampiren zu suchen.
Ob es einen Zusammenhang zwischen dem Dreifachmord in New York und der Vampir-Attacke in Hongkong gab, stand noch in den Sternen, für Shao reichte die Möglichkeit aber auch schon, um sich Sorgen zu machen. Immerhin musste es ein ziemlicher Zufall sein, wenn wir gleichzeitig zu zwei Todesfällen gerufen wurden, die im weitesten Sinne mit China in Verbindung standen.
In der Luft hing noch der Geruch von Blut und damit auch in gewisser Weise des Todes. Die Spuren, so wie ich sie erkannte, deuteten darauf hin, dass der Fundort auch der Tatort war. Am Boden, der Decke und sogar am mehrere Meter entfernten Tresen hatten die Tatortermittler gefundene Blutspuren gekennzeichnet.
Ich sprach Abe darauf an, und mein alter FBI-Freund quittierte es mit einem Nicken. »Wenn wir etwas mit Sicherheit wissen, dann das. Ich würde sagen, die Mädchen wurden unter einem Vorwand hierhergelockt und von dem Angriff völlig überrascht. Du hast ja die Fotos gesehen – sie trugen knappe Outfits, wie man sie heute trägt, wenn man ausgeht. Die ersten Untersuchungen haben gezeigt, dass sie abgesehen von den Stichwunden keine Verletzungen aufweisen, andererseits wohl bei Bewusstsein waren, als man über sie hergefallen ist.« Abe schüttelte traurig den Kopf. »Früher habe ich kaum darüber nachgedacht, aber jetzt ... denke ich – was, wenn das meine Töchter wären?«
Ich verstand Abe nur zu gut. Seine Frau Stephanie und er waren seit Kurzem Eltern und wussten zugleich, dass sie ihre Tochter in einer gefährlichen Welt aufzogen. Da musste ich nur an eine Gelegenheit während ihrer Schwangerschaft denken, als die Biologin fast von dem Dämon Barantar getötet worden wäre.*
»Da war doch noch etwas«, warf Shao ein. »Das Bild.«
»Genau.«
Die Skizze, die uns Abe ebenfalls schon als Foto gezeigt hatte, war der eigentliche Grund, warum wir überhaupt erst nach Big Apple gereist waren. Der Tod der drei jungen Frauen war zwar schrecklich und der Tatort für einen speziellen Zweck rituell inszeniert worden, aber per se kein Fall für mich.
Bei der mysteriösen Zeichnung, die an der Hintertür des Clubs klebte, sah das schon anders aus. Es handelte sich um die Skizze eines weiblichen Gesichts, dessen Augen sich bewegten, sobald sich ihm eine Person näherte. Ein FBI-Agent hatte versucht, sie anzufassen und dabei schwere Verbrennungen an den Fingern erlitten.
»Wie hieß eigentlich der Club?«, fragte ich, während wir die Tanzfläche verließen und einen noch düstereren Bereich durchquerten, in dem Sessel und Couches in dunklen Nischen standen, die von nun schwarzen Neonlampen erleuchtet worden waren.
»HK«, sagte Abe.
Shao und ich warfen uns einen vielsagenden Blick zu. Abe wusste noch nicht, dass sich Suko zur gleichen Zeit in Hongkong aufhielt, deshalb wurde nur uns der Zusammenhang bewusst. Ob Zufall oder nicht, wir würden Suko so bald wie möglich darüber informieren müssen, dass hinter seinem Vampir-Fall womöglich noch viel mehr steckte, als es den Anschein machte.
Nachdem wir auch die Toiletten passiert hatten, gelangten wir an eine geschlossene Metalltür, an der auch das Bild klebte. Die grobe Skizze zeigte auch aus der Nähe betrachtet deutlich weibliche Züge, wenngleich die Haare der Frau nur bis zu den Ohren reichten. Die Züge waren fein geschnitten, und durch die hervorgehobenen, dunklen Augenränder wirkte das Gesicht besonders mysteriös. Schon als ich mich ihm näherte, bemerkte ich die Bewegung der Pupillen, die zur Seite rollten, um mich weiterhin fixieren zu können. Als ich noch näher herantrat, öffnete sich sogar der Mund, ohne dass etwas geschah.
Allerdings blieb mein Kreuz weiterhin kalt. Wenn es sich bei der Skizze um eine Art Botschaft handelte, war sie definitiv nicht für mich bestimmt. Ich dachte auch daran, dass es sich um eine Art magischen Wächter handelte, durch den uns der Mörder von überallher beobachten konnte. Das war natürlich etwas weit hergeholt, aber ohne Grund hing das helle Pergament bestimmt nicht an der Tür.
»Dem verletzten Agenten hat es die Finger fast bis zu den Knochen verbrannt«, berichtete uns Abe und seufzte. »Er wird womöglich nie mehr in den aktiven Dienst zurückkehren können.«
»Was sagt denn dein Kreuz?«, fragte mich Shao.
»Nichts.«
»Dann lass mich mal dran.«
Ich ließ der Chinesin gerne den Vortritt und zog mich etwas zurück. Dadurch schienen die mit Bleistift gezeichneten Augen das Interesse an mir zu verlieren, stattdessen konzentrierten sie sich nun voll auf Shao. Sie trug die Kette mit dem Kristall in der linken Hand und schwang ihn wie ein Pendel hin und her. Die gezeichneten Pupillen folgten dieser Bewegung, und für kurze Zeit schien es fast so, als wollte sie das geheimnisvolle Gesicht hypnotisieren.
Als sie näher herantrat, begann sich erneut der Mund zu öffnen. Diesmal zog er sich nicht nur auseinander, er veränderte sich auch, indem die bisher nicht sichtbaren Zähne in den Vordergrund traten. Zwei übergroße Hauer stachen dabei besonders hervor, und jetzt wusste ich endgültig, dass der Mord an den drei jungen Frauen und Sukos Reise nach Hongkong miteinander in Verbindung standen.
Die Vampirfratze zog sich immer weiter in die Breite, je näher Shao den Kristall an das Pergamentpapier brachte. Ich rechnete schon damit, das Auge der Amaterasu würde das Gesicht vernichten, doch stattdessen sorgte es dafür, dass es sich wie im Zeitraffer veränderte. Die Striche, aus denen die Zeichnung bestand, lösten sich voneinander und setzten sich kurz darauf in anderer Form wieder zusammen. Aus dem Frauengesicht bildeten sich ein zweizeiliger, in chinesischen Schriftsymbolen verfasster Text.
Ich war versucht, Shao nach ihrer Bedeutung zu fragen, aber das war gar nicht nötig. Die Chinesin runzelte die Stirn und las den Text leise vor. »Wer diese Botschaft liest, soll wissen, dass Robert Cullen für den Tod der Mädchen verantwortlich ist. Bis er stirbt, werde ich weiter töten.«
»Wer ist Robert Cullen?«, fragte Abe Douglas.
Ich hob die Schultern. »Das wäre auch meine Frage gewesen.«
»Ich ...«, setzte Shao an und brach schnell wieder ab, als sich das Pergament erneut zu verändern begann.
Die Schrift rückte immer stärker in den Hintergrund und verblasste schließlich ganz, als sich ein neues Symbol über sie schob. Es war eine Sonne, ein roter, intensiv leuchtender Glutball, der Shao und mir nur allzu gut bekannt war, denn es war das Symbol einer bösen, gefährlichen Gestalt, die uns in der Vergangenheit schon einige Probleme bereitet hatte.
Susanoo!
Der Meeres- und Sturmgott der japanischen Mythologie war zugleich der dunkle Bruder von Shaos Ahnherrin Amaterasu und für deren Verbannung verantwortlich – und die rote Dämonensonne sein Symbol, wie auch das des Dunklen Reiches, dem er entstammte. Von ihm war der Schritt nicht weit zu zahlreichen finsteren Kreaturen, mit denen er sich umgab, und auch heute noch gab es Menschen, die ihn verehrten und bereit waren, für ihn zu töten.
Er selbst blieb meist im Hintergrund, und die direkten Konfrontationen mit ihm konnte ich an einer Hand ablesen. Für eine Weile hatte ich ihn sogar für vernichtet gehalten, doch mächtige Geschöpfe wie er fanden immer einen Weg, dem Tod zu entgehen.
Natürlich war es im ersten Moment ein Widerspruch, dass der Mörder der drei jungen Frauen chinesische Schriftzeichen verwendete und mit einer japanischen Gottheit in Verbindung stand. Allerdings hatten wir in der Vergangenheit schon oft erlebt, dass die Grenzen zwischen den asiatischen Mythologien fließend waren. Shao war dafür selbst das beste Beispiel, immerhin war sie als Chinesin die letzte Person in der Ahnenreihe Amaterasus. Andererseits war es möglich, dass es dafür in diesem Fall eine andere Erklärung gab.
Die rote Sonne glühte weiter, und selbst aus einigen Metern Entfernung nahm ich die abgrundtief böse Ausstrahlung wahr, die von ihr ausging. Ich war kurz davor, den Namen des dämonischen Gottes auszusprechen und so womöglich mit ihm Kontakt aufzunehmen, als Shao eingriff. Sie nahm den grünen Kristall in die Hand und drückte ihn gegen das Pergament.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Susanoos rote Sonne erstrahlte noch intensiver, bevor sie sich schlagartig zurückzog und das Papier in Flammen aufging. Das Feuer hielt nur für einige Sekunden an, dann zerfiel das Pergament zu Asche, die langsam vor unsere Füße rieselte.
»Das kann ich dann wohl von der Liste des Beweismaterials streichen«, sagte Abe.
Ich lächelte schmal. »Das schaffst du schon.«
»Na danke.«
Shao schien von unseren Flachsereien nichts mitzubekommen. Ihre Miene war versteinert und ihr Blick entrückt, was mich angesichts der Erkenntnis, dass ausgerechnet Amaterasus dunkler Bruder Susanoo hinter den Morden steckte, auch nicht überraschte.
Es lag fast auf der Hand, davon auszugehen, dass ein größerer Plan dahintersteckte, uns gleichzeitig auf verschiedene Kontinente fliegen zu lassen. Die Frage war nur, wer dafür verantwortlich war und was derjenige damit bezweckte. Gut, wir hatten Susanoos rote Dämonensonne gesehen und kannten nun den Namen Robert Cullen, aber warum waren die drei jungen Frauen ermordet, und wieso war diese Zeichnung einer Vampirin an dieser Tür angebracht worden?
All diese Fragen gingen sicherlich auch Shao durch den Kopf. Irgendwann drehte sie sich zu mir um und sah mich entschlossen an. »Ich muss zu Suko.«
»Shao, ich ...«
»Mein Entschluss steht fest«, unterbrach sie mich. »Susanoo ist Amaterasus Erzfeind, und alles, was ihn betrifft, nehme ich persönlich. Das hat sich nie geändert, selbst wenn ich nicht mehr allein im Namen der Sonnengöttin lebe und Jagd auf Dämonen mache.«
»Ich hatte auch nicht vor, dir zu widersprechen oder Steine in den Weg zu legen. Suko kann bestimmt deine Unterstützung gebrauchen, aber ich denke, ich sollte noch etwas in New York bleiben und hier nach den Hintergründen recherchieren.«
»John glaubt wohl, ich würde es nicht allein hinbekommen«, warf Abe ein.
Ich grinste. »Erfasst. Außerdem dauert ein Flug nach Hongkong so oder so noch eine ganze Weile, und wer weiß, ob der Mörder sich nicht doch in der Stadt aufhält. Ich rufe Sir James an und kläre alles mit ihm ab.«
Shao trat zu mir heran, umarmte mich und hauchte mir ein leises »Danke« ins Ohr.
»Schon gut.«
Ich blickte noch einmal auf die verbrannten Reste des Pergaments hinab. War diese Botschaft wirklich für uns bestimmt gewesen? Wenn ja, stand uns in diesem Fall wohl noch einiges bevor.
Hongkong war eine pulsierende, hektische und teils stark im Wandel begriffene Metropole. Eine Welt für sich, in der nur noch auf dem Papier das Erbe der alten, britischen Kolonialzeit existierte. Wer sich in den endlosen, manchmal trist und monoton, manchmal lebendig und zukunftsorientiert wirkenden Straßenschluchten bewegte, verstand erst so langsam, wie diese Stadt wirklich tickte.
Zweihundert Jahre zuvor war Hongkong kaum mehr eine Ansammlung von Fischerdörfern gewesen, und nun, über zwanzig Jahre, nachdem die Kolonie von der britischen Krone an China zurückgegeben worden war, fanden sich weder von der einen noch von der anderen Epoche wirkliche Spuren.
Es gab das sich stetig entwickelnde, hochtechnisierte Hongkong, in dem es sich gut leben ließ, wo dank riesiger Konzerne und des allgemeinen Reichtums der Stadt immer neue Wolkenkratzer in die Höhe wuchsen.
Von diesem Bereich war Suko gerade sehr weit entfernt. Hier gab es keine gewaltigen Frachthäfen, keine glitzernden Shoppingmeilen oder bewachte Luxus-Wohntürme, stattdessen erlebte er die Kehrseite der Medaille, sozusagen den Preis, den eine Gesellschaft für eine solche Entwicklung zahlte.
Auch hier ragten Hochhäuser in die Höhe, doch ihre Fassaden waren verdreckt, die Straßenzüge düster und die Menschen Fremden gegenüber mal abweisend, mal angsterfüllt. Bis heute spielten die mächtigen Triaden auch in Hongkong eine große Rolle, obwohl sich ihre Mitglieder meist im Verborgenen aufhielten.
In die südlich von Kowloon City gelegenen Viertel wagte sich nur selten eine Polizeistreife. Meist überließ man die Obdachlosen, die hier zu Hunderten unter dem eisernen Gerüst einer Hochstraße campierten, sich selbst. Wenn Suko in die Gesichter der Männer und Frauen blickte, sah er in ihnen auch keine Hoffnung, dass sich daran irgendetwas ändern würde. Auch er würde daran nichts ändern können, doch deshalb war er auch nicht hier.
Es kam ihm im Nachhinein schon seltsam vor, dass die Nachricht von einem Vampirangriff überhaupt bis zu den Behörden vorgedrungen war und noch mehr, dass sie sie als glaubwürdig eingestuft hatten. Auch Inspektor James »Jimmy« Wang kannte darauf keine genaue Antwort und war nur in der Lage, ihm das mitzuteilen, was er sowieso schon wusste.
»Zwei Menschen sind bei dem Angriff gestorben und drei verletzt worden«, erklärte der knapp dreißig Jahre alte Beamte, der mit seinem braunen Trenchcoat, der schwarzen Cordhose und den gleichfarbigen Lederschuhen zwischen all den in Lumpen gehüllten und zwischen Kartons, Einkaufswagen und brennenden Mülltonnen wie ein Fremdkörper wirkte. »Zwei Tote, wenn man den Vampir mitzählt. Die Leute sagten, er wäre wie aus dem Nichts aufgetaucht und hätte sich auf einige schlafende Männer gestürzt. Einen hat er sogar zum Teil ausgesaugt, einem anderen die Schulter aufgerissen. Es kam wohl zu einer Panik unter den Leuten hier, als sich mehrere von ihnen dem Vampir stellten. Dabei wurde sein Opfer gegen eine brennende Mülltonne gestoßen und der Blutsauger selbst mit einer abgebrochenen Holzlatte gepfählt. Zumindest war das die Version, die am meisten Sinn ergibt, wenn man alle Zeugenaussagen zusammennimmt.«
»Glauben Sie denn, dass es so war?«
Jimmy Wang zuckte mit den Schultern. »An Vampire glaube ich jedenfalls nicht, aber etwas ist hier definitiv passiert, was auch die Gerichtsmediziner vor ein Rätsel stellt. Der angebliche Blutsauger soll schon mindestens zwölf Stunden vor dem Angriff gestorben sein, und seine spitzen, langen Oberkieferzähne lassen sich nicht wegdiskutieren. Nun ja, mein Vorgesetzter hat die Anweisung erhalten, sie hinzuzuziehen, und jetzt sind wir hier.«
Suko dachte daran, dass dies nicht sein erster Fall in Hongkong war, wobei er sich an eine Gelegenheit besonders ungern erinnerte, als es um seinen leiblichen Vater gegangen war.*