John Sinclair 2293 - Oliver Müller - E-Book

John Sinclair 2293 E-Book

Oliver Müller

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Beschreibung

Die Jungen und Mädchen unterhielten sich angeregt. Das vermeintliche lange Stillsitzen und Ruhigsein in der Schule hatte ihren Bewegungs- und Rededrang unterdrückt, jetzt holten sie alles nach. Sie plapperten durcheinander und lachten, dabei achteten sie kaum auf ihre Umgebung. Den Nachhauseweg von der Schule kannten sie eh auswendig.
Aber auch wenn sie sich umgesehen hätten, wäre ihnen kaum etwas aufgefallen. Wer achtete schon auf einen Schatten? Selbst wenn es eigentlich nichts gab, das ihn warf ...


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Inhalt

Cover

Mourning Doll – Trost aus der Hölle

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Mourning Doll – Trost aus der Hölle

von Oliver Müller

Die Jungen und Mädchen unterhielten sich angeregt. Das vermeintliche lange Stillsitzen und Ruhigsein in der Schule hatte ihren Bewegungs- und Rededrang unterdrückt, jetzt holten sie alles nach. Sie plapperten durcheinander und lachten, dabei achteten sie kaum auf ihre Umgebung. Den Nachhauseweg von der Schule kannten sie eh auswendig.

Aber auch wenn sie sich umgesehen hätten, wäre ihnen kaum etwas aufgefallen. Wer achtete schon auf einen Schatten? Selbst wenn es eigentlich nichts gab, das ihn warf ...

Samuel Manson gab seinem Klassenkameraden Tony einen leichten Stoß. Der schmächtige Junge wurde vom Bordstein auf die Straße gedrängt, was nicht weiter schlimm war, denn es war kein Auto in der Nähe.

»Hey!«, protestierte der ein paar Zentimeter kleinere Junge und nahm Anlauf, um sich zu revanchieren.

Sam wich der spielerischen Attacke aus, rempelte dabei aber mit seinem Rucksack Lilly an.

»Pass doch auf!«, beschwerte die sich.

Das lenkte Sam ab, sodass Tony doch noch zu seiner Rache kam. Er stellte Sam ein Bein. Der kam ins Stolpern, konnte sich aber fangen und an einer Backsteinmauer, die einen Garten einrahmte, festhalten.

»Boah, Jungs! Ihr seid echt dämlich!«, kommentierte Clara die kleine Rauferei ihrer Mitschüler. »Gut, dass ich euch bis morgen nicht mehr sehen muss.«

»Danke, gleichfalls«, gab Sam zurück, während Tony zustimmend nickte.

Die Beleidigung durch ihre Klassenkameradin hatte die sich eben noch ärgernden Dreizehnjährigen sofort wieder zusammengeschweißt.

Clara winkte nur ab und verschwand durch das Gartentor. Als Nächste verabschiedete sich Lilly, sodass nur noch Tony und Sam übrig waren. Die beiden gingen jetzt nebeneinander.

»Hast du das kapiert, was der alte Parker uns da in Mathe gezeigt hat?«, fragte Tony.

Sam schüttelte den Kopf. »Kein bisschen. Ich hab auch keine Ahnung, wie ich die Hausaufgabe lösen soll.«

»Vielleicht schreib ich Clara nachher mal an und frag sie um Hilfe.«

»Meinst du, sie hilft dir? Immerhin hat sie dich gerade dämlich genannt.«

Tony blickte seinen Freund von der Seite her an. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie dich gemeint hat.«

Sam ballte die rechte Hand zur Faust. »Vorsicht! Die riecht nach Friedhof.«

Tony beugte sich vor und schnupperte an den Fingern. »Die stinkt eher ungewaschen!«

Es war gut, dass er zurückzuckte, denn sonst hätte Sam ihn noch getroffen. Tony lachte auf. »Zu langsam.«

»Ich wollte dich gar nicht berühren. Meine Eltern riechen das sonst noch.«

Die Freunde lachten über den albernen Spruch, dann hatten sie auch das Haus erreicht, in dem Tony mit seinen Eltern wohnte. Den Rest des Weges musste Sam allein zurücklegen. Weit war es nicht mehr, aber ein paar Minuten würde er zu Fuß schon noch brauchen, bis er zu Hause war. Das Haus seiner Eltern lag am Ende der Straße und auch fast am Rande von Sutton, einem Stadtteil im Süden Londons. Mit der City ließ er sich nicht vergleichen, hier ging alles etwas ruhiger zu.

Während Sam die Strecke, die er mit seinen Freunden gemeinsam ging, kurz vorkam, zog sich der letzte Abschnitt für ihn immer am meisten. Als wäre er am Ende eines Dauerlaufs schleppte er sich voran. Er hob kaum die Füße hoch, die Sohlen seiner Sneaker ratschten über den Asphalt, was ihm immer wieder Ärger mit seiner Mutter einbrachte, die ihm ständig sagte, er solle die Schuhe gefälligst richtig anheben.

Er hatte ihre Worte förmlich im Ohr, als er das ratschende Geräusch des Gummis auf dem harten Boden hörte. Oder war es etwas anderes, was er wahrnahm?

Sam blieb stehen und blickte sich um. Die Straße war leer, kein Auto in Sicht, nur wenige Fahrzeuge parkten am Rand.

Auch die Gehsteige, die zu beiden Seiten des grauen Bands an den schicken Einfamilienhäusern vorbeiführten, waren leer. Er war der einzige Fußgänger. Komisch, dabei hatte er für einen Moment das Gefühl gehabt, er wäre nicht allein.

Es kribbelte in seinem Nacken. So, wie es sich anfühlte, wenn man beobachtet wurde und es unwillkürlich wahrnahm. Langsam drehte Sam den Kopf nach hinten. Niemand. Er war allein.

Trotzdem blieb dieses seltsame Gefühl. Keine wirkliche Angst, eher ein Unbehagen. Nach einem letzten Rundumblick ging er weiter, etwas schneller als vorher. Am liebsten wäre er gerannt, aber er riss sich zusammen. Außerdem funktionierte das mit der schweren Schultasche sowieso nicht so gut.

Die Abstände zwischen den Häusern wurden größer. Hier herrschte noch Grün vor. Die Straße wurde zur Allee, auch wenn die Bäume erst vor ein paar Jahren gepflanzt worden waren und noch kein zusammenhängendes Blätterdach über der Straße lag. Die Äste aber reckten sich einander schon entgegen wie dürre Arme.

Unten an den Stämmen hatte sich auch Buschwerk seinen Platz erkämpft. Der Wind fuhr in die dichten Zweige und erzeugte ein raschelndes Geräusch. Es klang fast wie ein Flüstern.

Sam schüttelte den Kopf. Was war nur los mit ihm? Er war doch sonst nicht so ängstlich. Und wovor sollte er auch Angst haben? Er war allein, niemand bedrohte oder verfolgte ihn. Oder? Wieder blickte er über die Schulter zurück.

Noch fünf Minuten, versuchte er, sich zu beruhigen. Dann bist du zu Hause.

Die Aussicht, bald bei seiner Mutter zu sein und die Tür hinter sich zuschlagen zu können, motivierte ihn. Entgegen seinem ersten Entschluss lief er los. Der vollgepackte Rucksack schwang bei jedem Schritt abwechselnd nach links und rechts, die harten Bücher schlugen ihn in den Rücken.

Wieder passierte er einen Baum und das darunter liegende Gebüsch.

Plötzlich packte etwas nach ihm.

Sam schrie auf, schlug um sich. Dann erkannte er, dass er zu dicht an den Busch geraten war. Sein Ärmel hatte sich an einem vorstehenden Ast verfangen.

Der Junge lachte auf, aber es klang nicht fröhlich, nicht einmal erleichtert.

Mit einem Ruck befreite er sich. Er warf einen letzten Blick in das dichte Strauchwerk. Es war ganz schön finster dazwischen. Fast schon unnormal düster.

Sams Angst steigerte sich. Er wollte sich herumwerfen, kam aber nicht weit. Wieder hielt ihn etwas zurück. Hing er doch noch fest?

Er blickte auf seine linke Hand. Etwas Dunkles strich darüber. Sicher nur ein Schatten, den ein über ihm hängender Ast warf. Aber warum fühlte es sich so kalt an der Stelle an? Und warum wanderte der Schatten über den Handrücken hinauf zum Handgelenk?

Der Druck verstärkte sich. Sam stieß einen unterdrückten Schrei aus. Mit aller Kraft wehrte er sich. Und es gelang! Mit einem Mal war seine Hand frei.

Sam rannte los, als wäre der Teufel hinter ihm her. Er holte alles aus sich heraus. Schon brannte seine Lunge, er keuchte und schwitzte.

Etwas schoss an ihm vorbei, noch deutlich schneller als er, dabei absolut lautlos. Nur einen Wimpernschlag später baute sich eine düstere Wand vor ihm auf. Sam konnte nicht mehr stoppen, er prallte dagegen.

Sie war hart, aber nicht wie Stein. Es fühlte sich so an, als würde er ein, zwei Zentimeter in diese Dunkelheit eindringen, dann gab es den Widerstand.

Sam wollte zurück, woanders hinrennen, aber diesmal gab es kein Entrinnen. Das Dunkle hielt ihn gepackt. Wie eine Glocke stülpte es sich über ihn.

Es war, als würden ihn dunkle Arme festhalten und immer tiefer in die Finsternis ziehen. Seine Schreie wurden darin erstickt. Und langsam wich das Schwarze, das ihn festhielt, den Schatten einer Ohnmacht.

Sam verlor das Bewusstsein.

Die erste Empfindung, die zurückkehrte, war der Schmerz. Er war anders als der vor seiner Bewusstlosigkeit, eher dumpf und pochend. Vor allem unter seiner Schädeldecke breitete er sich in Wellen aus, die nur langsam verebbten.

Sam wollte nach seinem Kopf tasten, aber es gelang ihm nicht. Weder die linke noch die rechte Hand gehorchte seinem Befehl. Immerhin schaffte er es, die Augen zu öffnen, doch schnell schloss er sie wieder.

Es war zwar kein grelles Licht, das in seine Pupillen stach, aber auch die dämmrige Beleuchtung reichte aus, um die Schmerzen in seinem Kopf ansteigen zu lassen. Tief atmete er durch und wartete, bis sie sich auf ein erträgliches Maß reduziert hatten. Dann wagte er es erneut.

Vorsichtig öffnete er die Augenlider einen Spaltbreit. Diesmal hielt er es aus. Er drehte den Kopf nach links und rechts, um sich umzusehen. Viel brachte es ihm nicht, denn der größte Teil des Raums, in dem er sich befand, lag im Dunkeln. Er konnte nicht einmal die Wände oder die Decke sehen, denn nur von einer Stelle breitete sich flackerndes Licht aus. Vermutlich von einer Kerze oder Fackel.

Immerhin stellte er fest, dass er auf dem Rücken lag. Und das nicht auf dem Boden. Vorsichtig hob er den Kopf an. Das verstärkte zwar auch wieder den Schmerz, aber es war nicht mehr so schlimm.

Viel mehr sah er so auch nicht, aber wenigstens erkannte er, dass er auf einer Art steinernen Liege lag. Jetzt, wo er das wusste, spürte er neben der Härte des Untergrunds auch die Kälte, die langsam durch seine Kleidung in seinen Körper kroch. Er musste also schon eine Weile hier liegen. Aber wie lange?

Nun bemerkte er auch das leichte Kratzen in seinem Hals. Er versuchte, seine Kehle frei zu räuspern, aber es gelang ihm nicht. Auch sein Mund fühlte sich trocken an. Er hatte Durst. Jetzt, als er sich dessen bewusst wurde, wurde das Gefühl langsam quälend.

Wann hatte er zuletzt was getrunken? Klar, in der Schule, aber wie lange lag das zurück? Er konnte es nicht sagen. Die Bewusstlosigkeit hatte sein Zeitgefühl komplett weggewischt. Und die Stille, in der er lag, machte es nicht besser. Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten.

Sein Magen meldete sich knurrend. Ja, er war bestimmt schon mehr als nur ein paar Minuten hier. Wo auch immer hier genau war. Ob seine Eltern schon nach ihm suchten? Wenn er tatsächlich seit ein paar Stunden hier war, sicher. Sie mussten sich große Sorgen machen.

Unwillkürlich riss er an den Fesseln, die seine Arme an den Körper banden, aber die Stricke hielten. Die wenigen Zentimeter Bewegungsfreiheit, die sie ihm ließen, reichten nur dazu aus, dass er sich die Haut an den Handgelenken aufscheuerte. Die Wunden brannten wie Feuer.

Bald stellte er die Versuche wieder ein. Das Ergebnis war niederschmetternd. Außer, dass ihn die neue Verletzung kurzzeitig von seinem Durst ablenkte, hatte er nichts erreicht.

Er überlegte, was er tun konnte. Die Fesseln zu lösen war ihm nicht möglich. Um Hilfe rufen? Wer sollte ihn hören? Höchstens seine Entführer. Die musste es schließlich geben, oder? Andererseits konnte es auch sein, dass man ihn allein zurückgelassen hatte. Um zu sterben?

Ein Schauer lief über seinen gefesselten Körper. Nein, das ergab doch keinen Sinn. Niemand entführte jemanden, um ihm dann einfach sterben zu lassen. Oder?

Seine Gedanken begannen zu rasen. Nur mühsam bekam er sie wieder unter Kontrolle.

Du musst logisch denken, ermahnte er sich. Wenn es wirklich eine Entführung ist, dann wollen sie auch Lösegeld. Und das kriegen sie nur, wenn sie dich im Gegenzug freilassen.

Eine gemeine Stimme in seinem Hinterkopf erinnerte ihn an Fälle, von denen er gehört hatte, in denen die Geiselnehmer das Lösegeld kassiert hatten, obwohl die Entführten bereits tot waren.

Noch lebst du!

Die Angst kehrte zurück. Er zitterte. Die Kälte hatte seinen gesamten Körper erfasst und sich wie ein Panzer aus Eis um ihm gelegt.

Was geschah denn, wenn seine Eltern die geforderte Summe nicht aufbringen konnten? Sicher, sie waren nicht arm, aber eben auch nicht reich. Würde man sie unter Druck setzen? Vielleicht sogar, indem man ihnen zeigte, dass es um ihren Sohn sehr ernst stand, wenn sie sich nicht bemühten?

Sam versuchte, nicht weiter daran zu denken, denn die Vorstellung ängstigte ihn über alle Maßen.

Das Kratzen im Hals wurde immer unangenehmer. Er musste husten, was es nur noch schlimmer machte. Tränen stiegen ihm in die Augen, als er gegen den Hustenanfall ankämpfte. Es dauerte lange, bis er den Hustenreiz unterdrücken konnte. Wasser! Er musste dringend etwas trinken. Nur einen Schluck, mehr wollte er doch gar nicht.

»Hallo? Ich ...« Weiter kam er nicht, denn erneut schüttelte ihn ein Hustenanfall durch, soweit die Fesseln es zuließen.

»Brauchst du Wasser?«

Die plötzlich aufklingende Stimme erschreckte Sam so sehr, dass er tatsächlich aufhörte zu husten. Er lauschte in die jetzt wieder herrschende Stille, hielt dabei den Atem an. Da es still blieb, versuchte er, sich umzusehen. Einen Sprecher sah er nicht. Hatte er sich getäuscht? Setzten vielleicht schon Halluzinationen ein, weil er dehydriert war?

Verdammt! Dabei hätte er für einen Schluck Wasser fast alles getan! Resigniert seufzte er auf und schloss die Augen. Kurz darauf hörte er etwas anderes. Schritte!

Sam riss die Augen auf und wandte den Kopf in die Richtung, aus der er das leise Auftreten der Sohlen hörte. Dass er zur richtigen Seite blickte, wusste er, als sich dort der Lichtschein verstärkte. Jemand hatte eine zweite Fackel entzündet. Er hatte sich also doch nicht getäuscht!

»Du kannst es ruhig sagen, wenn du Durst hast«, hörte er wieder die Stimme. Sie gehörte eindeutig einem Mann.

Im Licht der neu entzündeten Flamme sah er nun auch die Silhouette des Sprechers. Dessen Körper verdeckte die Lichtquelle, sodass Sam nur einen schwarzen Umriss erkannte.

»Ja«, krächzte Sam. »Ich habe Durst.«

»Sir.«

»Was?«

»Ich habe Durst, Sir.«

Der Tonfall verriet Sam, dass er den Satz wiederholen sollte. Alles in ihm sperrte sich dagegen. Er wollte nicht die Befehle dieses Typen befolgen. Aber der quälende Durst und auch die Erkenntnis, dass es besser war, zu tun, was der Mann wollte, ließen ihn die Worte nachsprechen.

Der Mann lachte auf, es klang überheblich. Als hätte er einen ersten kleinen Kampf für sich entschieden. Und so fühlte Sam sich auch gerade – wie ein Verlierer.

»Na also, war doch gar nicht so schwer.«

Der Mann kam näher. Noch während er ging, hörte Sam, wie er eine Flasche aufdrehte. Das leise Zischen war eindeutig.

»Heb den Kopf an«, wurde Sam befohlen.

Der Junge überlegte, ob er die Stimme schon mal gehört hatte. Sie klang befehlsgewohnt und erinnerte ihn irgendwie an seinen alten Sportlehrer. Aber die Statur des Mannes passte nicht dazu. Mr. Wright war klein und drahtig gewesen. Auch aus seiner liegenden Position heraus erkannte er, dass er nicht sein Entführer war. Warum sollte er auch so etwas tun?

»Den Kopf hoch. Sonst drehe ich die Flasche wieder zu.«

»Nein, bitte nicht«, krächzte Sam. Jede Silbe tat ihm weh, also befolgte er die Anweisung.

Die Flasche wurde ihm an die Lippen gesetzt und gekippt. Sam schloss die Augen, als ihm das Wasser in den Mund lief. Gierig schluckte er. Das Wasser war kühl und tat gut, doch er schaffte es nicht, alles zu schlucken. Einiges lief ihm aus den Mundwinkeln, es war ihm egal. Auch, als er sich verschluckte, störte es ihn kaum. Im Vergleich zu dem kratzenden Husten, den er vorher aushalten musste, war es nicht so schlimm.

»Das reicht«, sagte der Mann und nahm die Flasche weg.

Sam hätte am liebsten weiter getrunken, sagte aber nichts. Stattdessen versuchte er, den Mann genauer anzusehen, jetzt wo er direkt an seiner Seite stand. Nein, er hatte ihn noch nie gesehen. Er schätzte ihn auf etwa sechzig Jahre. Auch bei den schlechten Lichtverhältnissen fiel Sam der harte Gesichtsausdruck auf. Der Blick war stechend und bohrte sich in seinen.

Der Mann trug einen dunklen Anzug, darunter ein Hemd ohne Krawatte. Mehr konnte er nicht erkennen.

»Wer sind Sie?«, fragte Sam.

Anstelle einer Antwort stellte man ihm eine Gegenfrage. »Willst du dich nicht für das Wasser bedanken, Junge?«

Jetzt, wo ihn der Durst nicht mehr quälte, musste Sam sich noch mehr überwinden, den Fremden nicht anzufahren. Aber er wusste, dass er die schlechteren Karten hatte. Der Mann musste ihm ja nicht mal etwas antun. Es reichte, wenn er einfach wartete. In ein paar Stunden würde der Durst schließlich zurückkehren.

»Danke«, presste er daher hervor.

Der Mann beugte sich so schnell vor, dass Sam vor Schreck die Augen aufriss. Nur wenige Zentimeter Platz blieb zwischen ihren Gesichtern. »Danke, Sir!«, brüllte er ihm ins Gesicht. Schlechter Atem fuhr ihm in die Nase. Am liebsten hätte er den Kopf zur Seite gedreht, aber er traute sich nicht. Das war vermutlich auch besser so.

»Danke ... Sir«, stammelte er.

Der Mann stieß ein Geräusch aus, das sich wie das Knurren eines Raubtiers anhörte, dann zog er den Kopf zurück und stellte sich wieder gerade hin. »Du wirst noch Manieren lernen.«

Ein harmloser Satz, aber für Sam klang er wie eine Drohung. Er konnte ein leichtes Zittern nicht unterdrücken.

»Haben Sie mich entführt? Sir«, schob er schnell nach.

Die Antwort überraschte ihn. »Nein.«

Sam stutzte. Damit hatte er nicht gerechnet. Wer war der Mann dann? Noch während er grübelte, sprach dieser weiter. »Ich habe dich entführen lassen.«

»Aber warum? Wollen Sie Lösegeld von meinen Eltern? Sie sind nicht reich, aber ...«

»Sei ruhig!«, wurde er angefahren. »Du stellst sinnlose Fragen.« Wieder lachte der Mann auf, diesmal klang es aber nicht so überheblich. »Wie solltest du es auch verstehen?« Sein Entführer machte eine wegwerfende Handbewegung. »Unwichtig. Vielleicht verstehst du es bald, aber dann ist es auch egal.«

Der Mann drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort.

»Wo gehen Sie hin?«

Die Schritte wurden leiser und verstummten schließlich.

»Hallo? Sind sie noch da?«