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"Die schwarze Rose."
Es war ein Begriff, der Bruce McCoy einen Schauer über den Rücken rinnen ließ. Bis vor wenigen Stunden war er davon ausgegangen, dieses Kapitel seines Lebens endlich hinter sich gelassen zu haben. Die schrecklichen Morde, die über Wochen die Polizei in Atem gehalten hatten, ebenso wie die Eltern der toten Frauen.
Und jetzt? Ging alles wieder von vorne los?
"Es ist alles wie damals", stellte Dr. Lindstrom, der Leichenbeschauer fest. "Wir müssen davon ausgehen, dass es sich um denselben Täter handelt, Inspektor."
"Nein, das ist unmöglich, Doc. Das kann nicht sein. Ich muss es wissen, denn ich habe den Mörder zur Strecke gebracht. Sergei Dotchev liegt seit zwei Jahren im Koma, weil ich ihn niedergeschossen habe."
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Im Zeichen der schwarzen Rose
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Im Zeichen der schwarzen Rose
von Rafael Marques
»Die schwarze Rose.«
Es war ein Begriff, der Bruce McCoy einen Schauer über den Rücken rinnen ließ. Bis vor wenigen Stunden war er davon ausgegangen, dieses Kapitel seines Lebens endlich hinter sich gelassen zu haben. Die schrecklichen Morde, die über Wochen die Polizei in Atem gehalten hatten, ebenso wie die Eltern der toten Frauen.
Und jetzt? Ging alles wieder von vorne los?
»Es ist alles wie damals«, stellte Dr. Lindstrom, der Leichenbeschauer, fest. »Wir müssen davon ausgehen, dass es sich um denselben Täter handelt, Inspektor.«
»Nein, das ist unmöglich, Doc. Das kann nicht sein. Ich muss es wissen, denn ich habe den Mörder zur Strecke gebracht. Sergei Dotchev liegt seit zwei Jahren im Koma, weil ich ihn niedergeschossen habe.«
Bruce hatte sich dermaßen in Rage geredet, dass seine Finger bereits nach der Zigarettenschachtel nestelten, die vermeintlich in seiner Stoffjacke steckte. Dabei war sie schon vor einigen Monaten im Mülleimer gelandet, in der Hoffnung, dass diese Aktion ihm dabei helfen würde, endlich sein altes Laster loszuwerden. Und bis zum heutigen Tag war ihm das auch gelungen.
»Lassen Sie Dr. Lindstrom seine Arbeit machen«, holte ihn eine ihm wohlbekannte Männerstimme in das Hier und Jetzt zurück.
Sie gehörte Chiefinspektor Tanner, dem Leiter der Mordkommission, die mit diesem Fall betraut war. Er war es auch gewesen, der ihn an diesem Abend aus dem Bett geklingelt und in den Hyde Park gerufen hatte, einfach aus dem Grund, weil Bruce der leitende Ermittler eine Sondereinheit gewesen war, die den Rosenmörder zur Strecke bringen sollte.
»Sie haben recht, Tanner.«
Bruce trat einen Schritt zurück, atmete tief durch und blickte hinauf zum wolkenfreien Himmel. Wie schon als Kind beruhigte ihn der Anblick der funkelnden Sterne, und wie so oft wünschte er sich die unschuldige, lebensbejahende Gedankenwelt seiner frühen Jugend zurück. Inzwischen war seine damals noch überschäumende Fantasie von brutalen Gewaltszenen überlagert worden, die leider harte Realität waren, da er jahrelang tagtäglich mit den blutigen Taten psychotischer Mörder konfrontiert worden war.
Er hätte das alles schon vor Jahren hinter sich lassen sollen, schon vor der Jagd nach dem Rosenmörder. Er hatte es nicht getan, und genau das war sein Fehler gewesen. Jetzt steckte er mitten in einem Sumpf, aus dem es kein Entkommen mehr gab, das zeigte ihm die Leiche der jungen Frau, die nahe eines Springbrunnens gefunden wurde, wenige Schritte vom Piccadilly Circus entfernt. Wenn er sich nur vorstellte, dass die Frau kurz davor gewesen war, die belebte Straßenkreuzung zu erreichen und damit ihrem Mörder zu entkommen ...
Tanner klopfte ihm kurz auf die Schulter. Er war ein guter Kollege, kein Freund, aber Freunde hatte Bruce auch keine. Zumindest wusste er bei dem Chiefinspektor, woran er war, und umgekehrt galt das Gleiche.
»Ich wusste, dass Sie das sehen wollten, obwohl ich mir auch denke, dass Sie das noch tiefer in ein Loch reißen wird«, sprach ihn Tanner wieder an. »Sollen meine Vorgesetzten sagen, was sie wollen – Sie sind bei dem Fall dabei.«
»Danke.«
»Sie sollten mir lieber nicht danken. Zumindest nicht dafür, dass ich Ihre alten Dämonen heraufbeschwöre.«
»Das hat der Mörder schon getan. Wissen wir schon, wer das Opfer ist?«
»Nein. Sie trug keinen Ausweis bei sich. Meine Leute überprüfen gerade, ob es Vermisstenfälle gibt, die auf die Beschreibung der jungen Frau passen.«
Bruce nickte stumm und betrachtete die Tote. Sie trug eine dünne Lederjacke, Jeans und weiße Turnschuhe. Das Gras um ihren Kopf herum war von dem Blut, das aus ihrer aufgeschnittenen Kehle gelaufen war, dunkel gefärbt. Sein Blick blieb vor allem an ihrem Nacken haften, an der dort eintätowierten schwarzen Rose mit dem kurzen Dornenstiel.
Er benötigte kein Expertengutachten, um zu erkennen, dass es mit den Tattoos der sechs anderen Toten bis ins kleinste Detail übereinstimmte. Kein Hinweis darauf, dass sie es mit einem Nachahmungstäter zu tun hatten, zumal die Sache mit der Rose nie an die Presse weitergegeben worden war.
»Was ist mit den Überwachungskameras?«, hakte Bruce nach. »Der ganze Park wird seit Jahren rund um die Uhr überwacht. Da muss doch etwas aufgefallen sein.«
»Keine Sorge, da bin ich auch schon dran. Ich mache das nicht erst seit gestern.«
»Natürlich nicht.«
»Es gibt keine natürliche Erklärung für das hier«, sagte Tanner, der eine Zigarre in der Hand hielt, ohne sie sich anzustecken. Stattdessen drehte er sie nur einige Male zwischen den Fingern, bevor er sie wieder in seinem verknitterten Mantel verschwinden ließ. »Ich kenne die Ermittlungsakte ja zur Genüge. Dotchev war ein Einzeltäter, ohne bekannte soziale Kontakte – und vor allem ohne Motiv. Er war ein eiskalter Psychopath, der all seine Geheimnisse mit ins Grab genommen hat, wenngleich sein Körper ja noch weiterlebt.«
»Was wollen Sie damit andeuten, Tanner?«
»Dass es möglicherweise keine natürliche Erklärung für dieses Geschehen gibt.«
Da war sie wieder, die innere Anspannung, die ihn an eine Zigarette denken ließ. Er fuhr herum und starrte Tanner wütend an. »Sie wollen den Fall doch nicht etwa an diesen Sinclair weitergeben.«
»Zumindest will ich ihn hinzuziehen. Das hätten Sie vielleicht schon vor zwei Jahren tun sollen, nach all dem, was damals im Dunkeln geblieben ist. Zum Beispiel wurde nie geklärt, wie es Dotchev gelungen ist, seine Opfer direkt nach der Tat zu tätowieren, noch dazu mit einem solchen Detailreichtum. Ich werde die Tote abholen und ins Gerichtsmedizinische Institut bringen lassen, wo uns Sinclair bereits erwartet. Oder Sie. Ich denke, ich werde noch ein wenig am Tatort bleiben.«
»Tanner, Sie wissen doch, was ich von Sinclair halte.«
»Eben deshalb halte ich es für das Beste, wenn Sie sich persönlich mit ihm auseinandersetzen. Wenn Sie an dem Fall dranbleiben wollen, wird Ihnen wohl keine andere Möglichkeit bleiben.«
Bruce schnaufte. »Sie sind ein verdammter Hund, Tanner.«
Diese Bemerkung entlockte dem Chiefinspektor tatsächlich ein Lächeln. »Wau!«, sagte er nur und hob demonstrativ seinen Hut.
Es gab Orte, an denen ich mich wirklich nicht gern aufhielt, und die Gerichtsmedizin stand auf dieser Liste ganz weit oben. Der Geruch von Desinfektions- und Reinigungsmitteln juckte mir in der Nase, die wie geleckt wirkende, düstere und damit auch gut zum Tod passende Umgebung ließ mich erschaudern. Nein, ich war wirklich froh, Ermittlungsbeamter zu sein und kein Leichenbeschauer oder Gerichtsmediziner.
Trotzdem war ich hier, immerhin war das mein Job. Normalerweise lag ich um diese Uhrzeit – es war kurz vor Mitternacht – friedlich schlummernd im Bett, nun aber war ich dem Anruf meines alten Freundes Tanner gefolgt, der mich gebeten hatte, mir die Leiche einer jungen Frau genauer anzusehen.
Bei der Erwähnung der schwarzen Rose, die der Toten in den Nacken tätowiert worden war, hatte es in meinem Kopf sofort Klick gemacht. Es gab kaum einen Polizisten in Großbritannien, der sich nicht an den grausamen Serienmörder namens Sergei Dotchev erinnerte, der sechs jungen Frauen scheinbar grundlos die Kehle aufgeschlitzt und ihnen eben eine solche schwarze Rose in den Nacken tätowiert hatte.
Dotchev war ein Einzelgänger gewesen, ein Fernfahrer ohne soziale Bindungen oder familiären Hintergrund. Abgesehen von seinem Namen wusste man im Prinzip überhaupt nichts von ihm, und das würde sich auch nicht ändern, da er bei seiner Festnahme niedergeschossen wurde und seitdem im Koma lag.
Das alles ging mir durch den Kopf, während ich den Sezierraum verließ und auf den schwach beleuchteten Flur trat. Tanner hatte mir telefonisch mitgeteilt, dass nicht er den Leichentransport begleiten würde, sondern Inspektor Bruce McCoy. Natürlich kannte ich auch ihn, wenn auch nicht persönlich. Er galt als Koryphäe im Bereich der Verhaltensanalytik, als perfekte Mischung aus Profiler und Ermittler. Ein Einzelgänger, unnahbar, der – so sagte man sich zumindest – an dem Fall des Rosenmörders zerbrochen war. Zumindest wurde er seitdem nicht mehr mit größeren Fällen betraut, was sich für einen Ermittler bei Scotland Yard wie das sprichwörtliche Abstellgleis anfühlen musste.
Leise Geräusche ließen mich aufhorchen. Sie drangen aus dem Fahrstuhlschacht, weshalb ich annahm, dass die Leiche nun endlich angekommen war und in der Kabine in die Höhe gefahren wurde. Mit verschränkten Armen lehnte ich an der Wand und wartete ab, bis sie mein Stockwerk erreichte und sich die Tür öffnete.
Zwei Männer verließen die Kabine, wobei man einem von ihnen den Arzt schon aus fünfzig Metern Entfernung ansah. Ich kannte Dr. Lindstrom vom Sehen und wusste deshalb von seinem unterkühlten Charakter und seinem Tick, sich ständig an sein Brillengestell zu fassen.
Während er den auf einem Rolltisch liegenden Plastiksarg in meine Richtung schob, hielt sich sein Begleiter etwas im Hintergrund. Er war elegant gekleidet, mit einer dunkelgrauen Stoffjacke, Jeans und schwarzen Lederschuhen. Allein sein Gesicht wollte nicht zu seinem sonstigen Erscheinungsbild passen. Seine Augen wirkten gerötet, sein Bart wuchs sehr wild, und auch seine Haare hätten mal einen neuen Schnitt gebraucht.
»Dr. Lindstrom«, begrüßte ich den Arzt und nickte ihm zu. »Und Sie müssen Inspektor McCoy sein. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«
Der Angesprochene verharrte kurz auf der Stelle und atmete tief durch, bevor er weiterging. »Ich auch von Ihnen, Oberinspektor Sinclair«, gab er zurück, wobei mir sein Tonfall nicht gefiel.
»John.«
»Ich bleibe bei Sinclair.«
»Auch gut.«
McCoy gab mir trotz seiner offen zur Schau getragenen Abneigung gegenüber meiner Person die Hand. »Sie sollten wissen, dass es nicht meine Idee war, sich mit Ihnen hier zu treffen«, zischte der Inspektor mir zu. »Oder Sie überhaupt in den Fall einzuschalten.«
»Ich weiß. Das war Tanner.«
»Er meinte, wenn ich nicht mitspiele, wäre ich wieder aus dem Fall raus. Also mache ich gute Miene zum bösen Spiel.«
Ich blieb weiterhin locker. »Wenn Sie wollen, ist es Ihr Spiel.«
»Nein, das ist es nicht. Ich bin offiziell kaltgestellt, verstehen Sie? Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein, aber Tanner vertraut mir immer noch und hat deshalb viel riskiert, damit ich an der Ermittlung teilhaben kann. Deshalb muss ich tun, was er will – und bei dieser Gelegenheit heißt das eben, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
»Würden die Herren dann bitte kommen?«, rief uns Dr. Lindstrom zu. »Ich würde gerne mit der Obduktion beginnen.«
Wir drehten uns um und gingen in den Obduktionsraum. Der Arzt wartete bereits darauf, dass wir ihm dabei halfen, den Plastiksarg zu öffnen und den Sack mit der Leiche auf den Seziertisch zu heben. Ich übernahm diese unschöne Aufgabe und erlebte auch mit, wie Dr. Lindstrom den Reißverschluss des Plastiksacks öffnete.
McCoy und ich traten einige Schritte zurück, um den Arzt seine Arbeit machen zu lassen. Lindstrom zog sich einen weißen Overall über, um keine Spuren zu verwischen, bevor er den Sack komplett entfernte, sodass die Tote nun offen vor uns lag. Die Frau war noch recht jung, etwa Anfang dreißig. Trotz der aufgeschlitzten Kehle und der Blässe in ihrem Gesicht war noch etwas von der Schönheit der Frau mit den dunkelbraunen Haaren zu erkennen.
»Weiß man inzwischen schon, wie sie heißt?«, fragte ich McCoy, der auffallend starr neben mir stand. Erst als ich genauer hinsah, fiel mir auf, dass er seine Hände zu Fäusten geballt hatte.
»Clara Levine«, antwortete er leise. »Tanners Leute haben in einem Gebüsch in der Nähe des Fundorts ihr Portemonnaie entdeckt. Wahrscheinlich hat sie es auf der Flucht verloren. Wussten Sie eigentlich, dass die Tote in der Nähe eines Rosengartens lag?«
»Nein. Davon hat Tanner nichts gesagt. War das bei den früheren Toten auch schon der Fall?«
»Nicht bei einer. Ich glaube, der Täter will uns damit etwas sagen. Oder mir. Er macht sich über mich lustig.«
»Sie dürfen das nicht so persönlich nehmen.«
McCoy krampfte seine Fäuste noch fester zusammen, bevor er die Hände wieder entspannte. »Ich weiß«, murmelte er. »Nur hat mir dieser Fall den Rest gegeben und dafür gesorgt, dass meine Karriere vorbei ist. Ich ...«
»Bitte, meine Herren.«
Wieder unterbrach Dr. Lindstrom unser Zwiegespräch. Inzwischen hatte er die Tote auf den Bauch gedreht, wobei das Gesicht auf ein Wasserkissen gebettet war. So konnte ich die schwarze Rose noch besser erkennen, die auch der Grund war, warum mich Tanner überhaupt in die Gerichtsmedizin gerufen hatte.
Niemand wusste so genau, wie es Sergei Dotchev gelungen sein sollte, ein derart detailgenaues Tattoo in die Haut seiner Opfer zu zeichnen. Zumal er weder die entsprechenden Kenntnisse zu haben schien noch die Zeit dazu gehabt hätte. Die Toten waren allesamt in der Öffentlichkeit gefunden worden, wobei man davon ausging, dass Fund- und Tatorte identisch gewesen waren. Wie also war es Dotchev gelungen, sie dort zu tätowieren? Oder hatten sie das Tattoo schon vor der Tat gehabt?
Ich sprach McCoy darauf an, während ich näher an die Tote trat.
»Diese Frage habe ich schon hundert Mal gestellt – sowohl Freunden als auch Verwandten. Alle haben mir gesagt, dass sie keine solchen Tattoos gehabt hätten.«
»Na gut.«
Es musste nicht unbedingt so sein, lag jedoch nahe, eine übernatürliche Erklärung in Betracht zu ziehen, wenn es ansonsten keine gab. Bisher hatte sich mein Kreuz nicht gemeldet, trotzdem wollte ich es mit dem Tattoo in Verbindung bringen.
Mir war bewusst, dass mich McCoy bei meiner Aktion argwöhnisch betrachten würde, allerdings war ich solche Blicke gewohnt. Wenn man nie zuvor mit dem Übernatürlichen in Kontakt geraten war, war es natürlich schwer, etwas wie ein magisches Silberkreuz ernst zu nehmen. Das galt für Polizisten noch mehr als für normale Menschen.
Ich zog mir das Kreuz über den Kopf und wiegte es in der Hand. Es war schwer, festzustellen, ob die leichte Wärme auf dem Metall nicht doch eine Reaktion darstellte oder sie davon herrührte, dass mein Talisman immer auf meiner Brust lag.
Nun trat auch Dr. Lindstrom einen Schritt zurück, weshalb dem kleinen Test nichts mehr im Weg stand. Ich hob die Kette an, sodass das Kreuz etwa zwanzig Zentimeter über dem Nacken der Toten pendelte. Noch geschah nichts, weshalb ich meinen Talisman weiter senkte, bis das geweihte Silber nur noch wenige Zentimeter von dem Tattoo entfernt war.
Plötzlich geschah doch etwas, nur nicht mit der Rose. Über mein Kreuz rann ein schwarzer Schatten!
Ich war so überrascht, dass ich sogar leicht zusammenzuckte. Das Phänomen wiederholte sich nicht, dennoch ging ich davon aus, mich nicht getäuscht zu haben. Eine Kraft musste auf die Nähe meines Kreuzes reagiert haben, auf eine Art und Weise, die mich schon nachdenklich werden ließ.
Dunkle Schatten, schwarze Schatten, lebende Schatten – all diese Begriffe waren mir nicht unbekannt, und bei jedem von ihnen musste ich an eine spezielle Gestalt denken, die sich Spuk nannte. Der Herr der Schatten, der sich von den Seelen getöteter Dämonen ernährte, indem er sie in seine Welt aufnahm, war selbst ein gefährliches Geschöpf, zu dem ich ein sehr ambivalentes Verhältnis hatte. Früher waren wir Todfeinde gewesen, später hatten wir eine Art Burgfrieden geschlossen, da ich ihn ja im Prinzip stetig mit Nahrung versorgte, in den letzten Jahren war es dagegen wieder zu einigen Konfrontationen gekommen.
Gingen gerade die Pferde mit mir durch? Natürlich schrillten bei mir sofort alle Alarmglocken, wenn ich einen Hinweis auf den Spuk erhielt. Noch war es nicht mehr als ein Schatten, der auf ihn deutete, zumal ich noch nicht so recht verstand, wie der letzte der Großen Alten mit einem Serienmörder in Verbindung stehen sollte.
Nein, solange ich keine anderen Beweise für meine Theorie hatte, musste ich mich zunächst einmal auf das Wesentliche konzentrieren. In diesem Fall bedeutete das, endlich Kontakt zwischen dem Kreuz und der Rose herzustellen.
Ich ließ meinen Talisman noch weiter sinken, bis sein unteres Ende, an dem das U für den Erzengel Uriel eingraviert war, auf das Tattoo traf. Die Reaktion erfolgte praktisch ansatzlos. Das geweihte Silber sorgte dafür, dass die Haut zu zischen und zu brodeln begann, wobei sogar kleine Blasen entstanden, die sofort wieder zerplatzten. Mein Kreuz vernichtete das komplette Tattoo, bis von ihm nur noch eine schwarze, verkohlte und leicht dampfende Fläche zurückgeblieben war.
»Das gibt es doch nicht«, murmelte Bruce McCoy, der stumm mitverfolgt hatte, was mit dem Tattoo geschehen war.
»Es ist wahr. Ich kann nicht sagen, ob es bei den Morden schon vor zwei Jahren einen magischen Hintergrund gab, aber jetzt existiert einer.«
Der Inspektor nickte. »Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte ...«
»Ich weiß«, versuchte ich beruhigend auf meinen Kollegen einzuwirken. »Wahrscheinlich wollte Tanner genau deshalb, dass Sie sich mit mir treffen.«
»So wird es sein. Wissen Sie auch, was das bedeutet?«
»Nein. Was?«
McCoy sah mich mit blassem Gesicht an. »Dass Sergei Dotchev vielleicht gar nicht wirklich im Koma liegt.«
McCoy und ich fuhren durch das nächtliche London, das irgendwie nie zur Ruhe kam. Zwar schleppten sich um diese Uhrzeit keine Fahrzeugkolonnen mehr über die Hauptverkehrsstraßen, doch Autos begegneten uns zur Genüge, von den ganzen Nachtschwärmern auf den Bürgersteigen ganz zu schweigen.
Pubs, Clubs und Discos machten gerade jetzt ihr größtes Geschäft, nur nahmen die ausgelassen feiernden Gäste nicht davon Notiz, dass wir auf der Suche nach einem potenziell zurückgekehrten Serienmörder waren.
Unser Ziel lag nicht in der Metropole London selbst, sondern quasi in den letzten Ausläufern ihres Speckgürtels, dort, wo das ländliche England auf die Großstadt traf. Der Epping Forest galt bei vielen Londonern als Rückzugsort für Naturverbundene, für jene, die nicht weit reisen wollten, um eine Pause vom Alltagsstress der Großstadt einzulegen.
Wer in Loughton wohnte, hatte diese Natur quasi direkt vor der Haustür. Dennoch gab es auch hier noch die so typischen Reihenhäuser und Gewerbegebiete, jedoch längst nicht mehr in solcher Ausprägung wie beispielsweise in Fulham oder Soho.
Dort, direkt am Waldrand, stand Brabham Manor, ein privates Krankenhaus für Langzeitpatienten. Zumindest für solche, die es sich leisten konnten. Oder im Falle von Sergei Dotchev für Personen, die vor dem öffentlichen Interesse an ihrer Person geschützt werden sollten. Denn auch wenn Dotchev ein brutaler Serienmörder war, hatte er ein Recht auf Privatsphäre und darauf, dass niemand kam und die Wut über seine Untaten an ihm persönlich ausließ.
Während der Fahrt telefonierte McCoy kurz, dem Gesprächsinhalt nach mit einer Frau. Ich saß am Steuer und konzentrierte mich darauf, den Anweisungen des Navigationssystems zu folgen. Denn auch wenn ich schon einige Male im Epping Forest ermittelt hatte, kannte ich mich in dieser Gegend nicht besonders gut aus. Gerade das Brabham Manor war mir bisher völlig unbekannt gewesen.
»Schlaf gut, Schatz«, sagte der Inspektor und beendete das Gespräch.