John Sinclair 2314 - Rafael Marques - E-Book

John Sinclair 2314 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

"Das Böse erwachte!
Spitze, bleiche Krallen kratzten über die Innenwand der hölzernen Totenkiste, suchten nach einer Öffnung und ließen dabei kleine Späne über das Knochengerüst rieseln. Das Geschöpf spürte die Nähe von Menschen, besonders von ihrem warmen Blut, mit dem es zu gerne seine Gebeine benetzt hätte.
Kein Fleisch hing mehr an seinen Knochen, nicht einmal mehr ein Fetzen. Auch keine Kleidung, nur der alte, rostige Säbel und ein Eichenpfahl waren mit ihm in den Sarg eingeschlossen. Und das schon seit über dreihundert Jahren.
Dreihundert Jahre, in denen es nicht das Blut der Menschen gekostet hatte. Selbst für einen Untoten eine sehr lange Zeit ...


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Seitenzahl: 152

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Der Hexer von Bermuda

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Der Hexer von Bermuda

von Rafael Marques

Das Böse erwachte!

Spitze, bleiche Krallen kratzten über die Innenwand der hölzernen Totenkiste, suchten nach einer Öffnung und ließen dabei kleine Späne über das Knochengerüst rieseln. Das Geschöpf spürte die Nähe von Menschen, besonders von ihrem warmen Blut, mit dem es zu gerne seine Gebeine benetzt hätte.

Kein Fleisch hing mehr an seinen Knochen, nicht einmal mehr ein Fetzen. Auch keine Kleidung, nur der alte, rostige Säbel und ein Eichenpfahl waren mit ihm in den Sarg eingeschlossen. Und das schon seit über dreihundert Jahren.

Dreihundert Jahre, in denen es nicht das Blut der Menschen gekostet hatte. Selbst für einen Untoten eine sehr lange Zeit ...

Der Lichtkegel der Taschenlampe strich über die Decke, an der morsches Holz zwischen Lehm und Ziegeln hindurchschimmerte. Schimmel, Flechten und Pilzsporen bedeckten auch den Boden, der unter ihren Füßen knarrte, als wäre er kurz davor, in sich zusammenzubrechen.

Dass hier vor langer Zeit einmal sehr wohlhabende Menschen gelebt haben mussten, erkannte man noch an dem rostigen, von der Decke baumelnden Kronleuchter. An den Wänden hingen goldene Bilderrahmen, doch von den meisten Gemälden fehlte jede Spur. Die wenigen, die nicht gestohlen worden waren, befanden sich in einem derart desaströsen Zustand, dass man überhaupt nicht mehr erkennen konnte, was sie darstellen sollten.

Die Luft war kaum zu atmen. Muffig, abgestanden, von Moder und seltsam würzigen Aromen erfüllt, die Alissa nicht einzuordnen wusste. Manche Düfte stammten sicher von den durch helle Decken verhüllten Möbeln, die über die Jahrhunderte von Motten zerfressen worden waren. Manchmal entdeckte sie auch die Gebeine von Tieren, meistens Vögel, die sich an diesen Ort verirrt und keinen Ausweg mehr gefunden hatten.

Ihr sollte es nicht so ergehen ...

»Und, was sagst du?«, fragte sie und schwenkte dabei den Lichtkegel, sodass er den sechzehnjährigen Jungen erfasste, den sie dazu überredet hatte, sie zu begleiten.

Joel zuckte erschrocken zurück, als wäre ein Geist durch seinen Körper gefahren. »Du willst wohl, dass ich noch einen Herzinfarkt bekomme.«

»Dafür bist du ein bisschen zu jung.«

Joel atmete tatsächlich ziemlich schwer. Dass er so ein Nervenbündel war, hätte sie nicht gedacht, als sie sich bei einem ihrer zahlreichen Strandspaziergänge nähergekommen waren. Alissa sah es gar nicht ein, den gesamten vierwöchigen Urlaub mit ihren Eltern und ihren beiden kleinen Brüdern am Pool des Hotels zu verbringen. Immer wieder zog es sie raus in die Natur, von der auf den voll auf den Tourismus ausgerichteten Bermuda-Inseln noch einige kleinere Rückzugsgebiete existierten.

Ihr Begleiter, Joel Costa, stammte eigentlich aus Portugal, doch seine Eltern waren vor wenigen Wochen mit ihm in die alte Heimat ihrer Vorfahren gezogen. Von ihm hatte sie überhaupt erst erfahren, dass auf Bermuda eine alte, portugiesische Minderheit existierte, die vor über zweihundert Jahren von den Azoren aus eingewandert war.

Bei ihm zeigte sich mal wieder, dass eine sportliche Figur und Selbstvertrauen allein noch keinen starken Mann aus einem Jugendlichen machten. Alissa fand ihn trotzdem süß, deshalb hatte sie ihn ja auch dazu überredet, etwas Zeit mit ihr zu verbringen.

Seit ihrem zwölften Geburtstag flog ihre Familie jedes Jahr auf die Inselgruppe, die zu ihrem kleinen, familiären Paradies geworden war. Besonders großen Wert auf die Nähe ihrer Familie legte sie jedoch nicht, deshalb verbrachte sie die Tage oft außerhalb des Hotels.

In diesem Jahr gewährte ihr ihr Vater besonders viele Freiheiten. Am vergangenen Abend hatte sie erst einige Zeit in einer Strandbar verbracht, bevor sie zu ihren Eltern ins Hotel zurückgekehrt war. Dabei war sie an einen etwas unheimlichen alten Mann geraten, laut eigenen Angaben einen Seefahrer, der sich auch mit der Historie der Inseln beschäftigte.

Er hatte ihr von der verlassenen Villa am südwestlichen Ende von St. George's Island berichtet, über der angeblich ein Fluch liegen sollte und die keiner der Einheimischen zu betreten wagte.

Der Ferry Point Park, der das Gebäude umgab, war an sich schon einen Ausflug wert. Mangroven, Gummibäume und felsige Küstenstreifen prägten das Landschaftsbild, das von einigen hübsch hergerichteten Wanderwegen durchzogen wurde. Manche von ihnen waren auf den Spuren einer ehemaligen Gleisstrecke angelegt worden, andere Trampelpfade führten beispielsweise zum Lovers Lake, einem wirklich romantisch gelegenen See.

Die Villa selbst lag so versteckt, dass sie sie ohne die Beschreibungen des alten Mannes nie gefunden hätte. Wurzeln und Büsche bedeckten den nicht mehr als solchen erkennbaren Weg, während die Stämme mehrerer Bäume die Fassade fast völlig einhüllten. Einige lehnten sich so stark gegen das alte Gemäuer, dass sich mehrere tiefe Risse gebildet hatten. Wahrscheinlich war es auch nur diesen Bäumen zu verdanken, dass der dreistöckige Bau nicht schon längst in sich zusammengebrochen war.

»Wie weit willst du noch gehen?«, fragte Joel, der zum wiederholten Mal nervös am Kragen seines schwarzen Shirts zog.

Alissa lächelte. »So weit, wie es eben geht.«

»Mir ist nicht ganz wohl dabei.«

»Ja, das merke ich.«

»Irgendwas geht von diesem Haus aus, das mich schaudern lässt. Als wollte mir eine unsichtbare Kraft sagen, dass ich mich besser fernhalten sollte.«

»Jetzt geht deine Fantasie endgültig mit dir durch.«

Ihr neuer Freund seufzte. »Das sagt meine Mutter auch immer.«

Alissa ging zu ihm, nahm seine Hand und drückte sie fest an seinen Bauch. Dabei legte sie ihr verführerischstes Lächeln auf, dem niemand widerstehen konnte. Auch Joel nicht, dessen Furcht für einige Sekunden wie weggeblasen war. Er beugte sich sogar vor, um sie zu küssen, doch bevor sich ihre Lippen trafen, zog sie sich wieder zurück.

»Nicht so schnell«, flüsterte sie ihrem ein Jahr älteren Freund zu. »Erst musst du mir noch einen Gefallen tun.«

»Welchen?«

»Begleite mich in den Keller.«

Mit etwas mehr Licht hätte sie wahrscheinlich gut erkennen können, wie jegliches Blut aus Joels Gesicht wich. »In den Keller? Aber ... wieso?«

»Na, weil es spannend ist. Weißt du, was mir der alte Mann noch über dieses Haus erzählt hat? Es soll einem Piraten gehört haben, der vor dreihundert Jahren mit seiner Crew die Karibik unsicher gemacht haben soll. Nur ihm gelang die Flucht vor den Häschern der britischen Krone, und mit seiner Beute hat er diese Villa erbauen lassen. Angeblich wurde er nach seinem Tod im Keller seines eigenen Hauses begraben.«

»Und du willst dieses Grab finden?«

Wieder lächelte sie verschmitzt. »Genau so sieht es aus.«

Joel fuhr sich über die kurzen, schwarzen Haare. »Oh Mann, worauf habe ich mich da nur eingelassen?«, murmelte er. »Hast du nicht auch was von einem Fluch gesagt?«

»Anscheinend haben sich die Inselbewohner vor dem Piraten gefürchtet. Man erzählte sich, er stünde mit dunklen Mächten im Bunde, deshalb hat man ihm sogar einen Eichenpflock in die Brust gerammt und seinen Sarg mit Weihwasser benetzt.«

»Einen Eichenpflock in die Brust? War der Kerl ein Vampir?«

»Keine Ahnung. Außerdem ist das doch nur eine Legende. Andererseits, in manchen dieser Geschichten liegt ja ein wahrer Kern, oder? Zumindest der Sarg sollte noch existieren. Also, wenn du mehr als nur Händchen halten willst, wirst du mich wohl oder übel begleiten müssen.«

»Sieht so aus ...«

Da das schon einmal geklärt war, begann Alissa, weiter das Haus zu erkunden. Selbst vor dem Interieur hatte die Natur keinen Halt gemacht, so wuchsen etwa zahlreiche Wurzeln durch die Fenster und an den Wänden entlang. Einige der Bilder – ebenso eine Landkarte mit einer altertümlichen Darstellung der Kontinente – waren fast vollständig mit Efeu und Moos bedeckt.

Es war helllichter Tag, dennoch waren sie durch den dichten Wald, der das Haus umgab, auf Taschenlampen angewiesen. Ihre Lichter gaben der Umgebung etwas Abenteuerliches, geradezu Mystisches. Ansonsten wies bisher noch nicht viel darauf hin, dass hier einmal ein Pirat gelebt hatte. Gut möglich, dass er nicht der letzte Bewohner der Villa gewesen und sie erst vor einigen Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben worden war.

Als sie in einen langen, dunklen Flur trat, zuckte auch sie überrascht zusammen. Unter tosendem Geschrei huschten unzählige Fledermäuse über Joel und sie hinweg und verschwanden durch die aufgebrochene Tür, über die sie ins Haus gelangt waren.

»Gott ...«, rief Joel und fuhr sich durch sein Gesicht. »Du kostest mir noch die letzten Nerven.«

»Das sagt meine Mutter immer über mich.«

»Warum wundert mich das nicht?«

Alissa antwortete nicht mehr darauf und konzentrierte sich mehr auf den Raum, in den sie als Nächstes gelangte. Angesichts der unzähligen Bücher, die teils noch in den Regalen standen, teils auf dem Boden verteilt lagen, stand sie wohl in einer Bibliothek. An der Decke war eine weitere Weltkarte eingezeichnet worden, wobei alle Kontinente außer Europa inzwischen mit Flechten bedeckt war.

Sie zog einen der Folianten aus dem Regal, klappte ihn auf und erlebte, wie die rissigen Seiten einfach aus dem Einband fielen. Abgesehen davon, dass sie völlig vergilbt waren und teilweise aneinanderklebten, stanken sie auch erbärmlich. Die handgeschriebenen Notizen waren so gut wie unlesbar, dafür stachen ihr einige Zeichnungen ins Auge, die ihr quasi vor die Füße gefallen waren. Sie sah stilisierte Totenschädel, eine Schlange mit dem Kopf eines Drachen und sogar eine Art Comic-Strip, der die Verwandlung eines Menschen in eine Fledermaus zeigte.

»Unheimlich«, murmelte Alissa, klappte das Buch wieder zu und schob es ins Regal zurück.

Die herausgefallenen Seiten hob sie jedoch auf und verstaute sie in ihrem Rucksack. Hoffentlich verklebten sie ihren Proviant nicht oder vielen endgültig auseinander.

»Hey, Alissa!«, rief Joel ihr zu, der unbemerkt von ihr ebenfalls in die alte Bibliothek getreten war.

»Was ist?«

»Ich glaube, ich habe die Kellertreppe gefunden. Bist du sicher, dass wir nicht lieber die oberen Stockwerke erkunden wollen?«

Mit einem mitleidigen Lächeln trat sie an seine Seite. »Ob du es glaubst oder nicht, ich bin nicht lebensmüde«, antwortete sie. »So, wie der Bau aussieht, haben wir Glück, dass er uns noch nicht auf den Kopf gefallen ist. Da oben wird die Konstruktion noch instabiler sein, im Keller dürfte es dagegen weniger gefährlich werden.«

»Klar, wenn man von dem Piraten und dem Fluch absieht.«

Alissa seufzte. »Also, wenn du dir in die Hose machst, dann warte eben hier. Ich ziehe das auch allein durch.«

»Nein, nein, ich schaffe das schon.«

»Wegen der Aussicht auf einen Kuss, hm?«

»Oder um es mir selbst zu beweisen.«

Ja, natürlich, dachte Alissa und ließ ihren Freund erst einmal stehen, um die mit den Resten eines roten Teppichbodens bedeckten Stufen hinabzusteigen. Das Holz knarrte erbärmlich, hielt ihrem Gewicht aber bisher Stand. Auch hier lagen einige skelettierte Tierkadaver, unter anderem auch die einer Katze. Dass es selbst so große Tiere nicht geschafft hatten, einen Weg aus der alten Villa zu finden, war zwar etwas merkwürdig, brachte sie jedoch nicht von ihrem Vorhaben ab.

Nach einer Wendung gelangte sie endlich in das Kellergeschoss, dessen Decke nur knappe zwanzig Zentimeter über ihrem Kopf begann. Joel würde das sicher Probleme bereiten, ihr machte es nichts aus. Die Menschen vor dreihundert Jahren waren etwas kleiner gewesen als die heutigen, da war eine solche Bauweise nicht verwunderlich.

Türen oder Trennwände existierten nicht, nur einige stützende Holzpfosten. Der Keller breitete sich quasi unter dem gesamten Haus aus, war aber fast völlig leer. Ein, zwei Kisten fielen ihr auf, ebenso wie der Umstand, dass sie über rauen Steinboden lief. Möglicherweise handelte es sich auch um nacktes Felsgestein, auf dem die Villa des Piraten letztlich errichtet worden war.

Nicht überall lief sie über Gestein, einige Bereiche waren ebenfalls mit Holzdielen bedeckt. Einen Hinweis darauf, dass hier unten jemand begraben lag, fand sie allerdings nicht.

»Irgendetwas Interessantes?«, hörte sie Joel fragen.

»Bisher nicht.«

»Dann können wir ja wieder gehen.«

»Freu dich nicht zu früh ...«

Ihr war eine Vertiefung im Boden aufgefallen, am hintersten Ende des Kellerraums. Plötzlich war die positive Anspannung wieder da, die sie überhaupt erst an diesen Ort geführt hatte.

Die Vorstellung, tatsächlich vor dem Grab eines Piraten zu stehen und auch den Pfahl zu sehen, den man ihm in die Brust gerammt haben sollte, ließ ihr Herz schneller schlagen. Eine Legende, die wirklich so geschehen war ...

Der Druck in ihrer Kehle wurde immer stärker, und als sie sah, dass die Vertiefung ungefähr die Form eines Sargs aufwies, war sie endgültig davon überzeugt, vor dem Grab des Piraten zu stehen. Sie sah sogar eine Öffnung, und als sie neben ihr in die Knie ging, wurde ihr klar, dass es sich um den Deckel eines hölzernen Sargs handelte.

Er war zum Teil mit trockener Erde bedeckt, die sich leicht zur Seite schieben ließ. Joels kräftige Arme hätten es ihr sicher leichter gemacht, die schwere Holzplatte zur Seite zu hebeln. Sie wollte es jedoch unbedingt selbst schaffen, und da sie von ihrem Begleiter nichts hörte, zog sie es ebenso durch.

Ein leiser Schrei drang über ihre Lippe, als der Deckel zur Seite kippte und so den Blick in die Totenkiste freigab. Der Pfahl existierte tatsächlich, nur war der Sarg ansonsten leer.

Ihre aufkeimende Enttäuschung wich schnell einem eisigen Schauer, durch den sich auf ihrem gesamten Körper eine Gänsehaut bildete. Auf der Innenseite des Sargdeckels zeichneten sich unzählige Kratzspuren ab ...

Alissa schluckte. Davon, dass der Pirat lebendig begraben worden war, hatte der alte Mann nichts erzählt. Das machte die Sache noch unheimlicher, zumal von der Leiche jede Spur fehlte.

Was war mit ihr geschehen? War der Erbauer der Villa schon vor langer Zeit von den Toten auferstanden oder hatte jemand anderes seine Überreste gestohlen? Sie konnte schließlich nicht davon ausgehen, dass Joel und sie die einzigen Besucher in den vergangenen Jahrzehnten waren. Aber warum hätten die Diebe den Pfahl zurücklassen sollen, der sicher auch ein brisantes Artefakt der Vergangenheit war?

Ohne sich noch einmal nach Joel umzudrehen, sprang sie in den Sarg und hob den Pfahl an. Sie hatte erwartet, dass das Holz über die Jahrhunderte verwittert war, stattdessen war es so glatt und hell, als wäre er erst vor wenigen Tagen geschnitzt worden. So war sie auch in der Lage, die seltsamen Zeichen zu erkennen, die die gesamte Oberfläche bedeckten.

Gut, der Tote war verschwunden, aber den Pfahl jetzt und hier in der Hand zu halten, war ein mindestens ebenso großer Fang. Sie lächelte, streichelte über die Oberfläche und tat so, als würde sie einem Untoten das angespitzte Holzteil in die Brust rammen.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die ganze Zeit über nichts mehr von ihrem Begleiter gehört hatte. »Joel?«, rief sie aus dem Sarg heraus, ohne eine Antwort zu erhalten.

Die Stille gefiel ihr nicht. Sie glaubte nicht, dass Joel sie so einfach hier unten alleinlassen würde. Sein Beschützerinstinkt und die Aussicht, sie zu verführen, waren viel zu stark, das hatte sie die ganze Zeit über gespürt. Und wenn er doch den Schwanz eingezogen hätte, dann sicher nicht, ohne ihr etwas zu sagen.

Sie verstaute den Pfahl in ihrem Rucksack und drückte sich am Rand der in die Erde eingelassenen Totenkiste in die Höhe. Anschließend ließ sie den Lichtkegel der Lampe über den gesamten Keller wandern, ohne eine Spur von Joel zu entdecken. Zwar hätten ihm die beiden Kisten ausreichend Deckung geboten, nur war ihr neuer Freund eindeutig nicht der Typ dafür, sich absichtlich zu verstecken. Noch dazu in einer Umgebung, die ihm Angst machte.

»Joel!«, rief sie noch einmal.

Wieder erhielt sie keine Antwort. So langsam beschlich sie ein unwohles Gefühl. Der morbide Charme der verlassenen Villa wollte ihr überhaupt nicht mehr gefallen, stattdessen kam ihr alles kalt und düster vor. Nicht, dass sie sich ohne eine starke Schulter an ihrer Seite fürchtete, aber wenn Joel etwas zugestoßen war, war sie sicher die Nächste.

Ihre Gedanken brachen ab, als ein Geräusch direkt über ihr aufklang. Ganz so, als würde etwas Hartes über die Dielen kratzen. Die Klauen eines Untoten zum Beispiel ...

Alissa ärgerte sich über sich selbst. Jetzt fing sie schon an, wie Joel zu denken und vor sich hin zu fantasieren. Genauso gut konnten die Geräusche auch von einem Tier stammen, von einer Katze oder einer Ratte. Am Ende hatte Joel auch etwas Derartiges gehört und war deshalb aus dem Haus gelaufen.

Dennoch wurde der Kloß in ihrem Hals immer dicker, als sie wieder in Richtung der Treppe lief und die ersten Stufen in die Höhe stieg. Sie versuchte dabei so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen, aber selbst dadurch war sie nicht in der Lage, das Knarren der alten Balken zu verhindern.

Vor Schreck erstarrte sie auf der Stelle, wobei sie mehr zufällig die Wände neben ihr ableuchtete. Die unzähligen roten Spritzer waren ihr vorher nicht aufgefallen, ebenso wenig wie der blutige Handabdruck. Ihre Finger zitterten leicht, als sie sie nach den Spuren ausstreckte.

Blut! Es ist wirklich Blut! Frisches Blut!

Die Gedanken hämmerten durch ihren Kopf und sorgten dafür, dass sie es kaum mehr schaffte, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

»Joel?«, fragte sie noch einmal, so leise, dass sie sich selbst kaum verstand.

Diesmal erhielt sie jedoch eine Antwort, wenn auch auf eine Weise, mit der sie nicht gerechnet hätte. Ein rhythmisches Flüstern hallte durch die alte Piraten-Villa, in einer Sprache, die Alissa nicht verstand. Sie klang afrikanisch, und ein wenig erinnerte sie der melodische Klang der Stimme an den Gesang haitianischer Voodoo-Priester, den sie einmal als Kind während einer Urlaubsreise vernommen hatte.

Seltsamerweise machte ihr das Flüstern keine Angst. Im Gegenteil, es stärkte ihr Selbstvertrauen und versetzte sie in die Lage, ihren Weg zurück ins Erdgeschoss fortzusetzen. Beinahe fühlte sie sich durch den Sprechgesang hypnotisiert, wie eines der Kinder, die in den Bann des legendären Rattenfängers von Hameln geraten waren. Auch so eine unheimliche Geschichte, die aus ihrer Kindheit haften geblieben war.

Immer mehr Blutspritzer fielen ihr ins Auge, bis sie am Beginn der Treppe einen leblosen Körper entdeckte, dessen Kopf über der obersten Stufe hing.

»Joel«, flüsterte sie entsetzt, als sie direkt in seine starren, weit aufgerissenen Augen blickte.

Ohne den Gesang wäre sie vor Schreck zurückgewichen oder hätte angefangen zu weinen, doch in ihm schien wirklich eine Magie zu stecken, die sie dazu trieb, ihren Weg fortzusetzen. Langsam trat sie näher an Joel heran, dessen Hemd völlig zerfetzt war. Über seine muskulöse Brust zogen sich mehrere tiefe, blutige Kratzspuren, während sein Hals nur noch eine einzige Wunde war und förmlich in Blut schwamm.

Sie war nicht in der Lage, ihren Blick von dem toten Joel abwenden. Auch nicht, als sie den aus zwei überkreuzten Knochen bestehenden Griff eines Dolchs entdeckte, der etwa dort in der Brust ihres neuen Freundes steckte, wo sich das Herz befinden musste. Jemand hatte ihn nicht nur getötet, sondern auf diese Weise auch gezeichnet.