John Sinclair 2361 - Rafael Marques - E-Book

John Sinclair 2361 E-Book

Rafael Marques

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das alte, vergessene Herrenhaus übte eine magische Anziehungskraft auf Harry und Helena LaFleur aus. In ihrer Leidenschaft für verlassene Gebäude waren die Zwillinge auf die Fitzroy-Villa gestoßen - ein gruseliges Relikt vergangener Zeiten.
Auf der Suche nach der mysteriösen Bewohnerin Catherine Fitzroy entdeckten sie ein seltsames Insekt, dessen Präsenz ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Und als eine geheimnisvolle Stimme sie zum Bleiben aufforderte, wurde den Geschwistern klar, dass in der Villa mehr vor sich ging, als sie sich je hätten vorstellen können.
Dunkle Mächte schienen das alte Gemäuer heimzusuchen, während das Summen des Insekts sie weiter in seinen Bann zog ...


Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 153

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Das Todes-Insekt

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Das Todes-Insekt

von Rafael Marques

Harry LaFleur lächelte in sich hinein, als sein Blick zum ersten Mal auf die alte, scheinbar von der Welt vergessene Villa am äußersten Rande der Metropole London fiel. Fernab der Hochhäuser, der Hektik und des unablässigen Straßenlärms stellte der steinerne, noch aus viktorianischer Zeit stammende Bau ein faszinierendes wie unheimliches Relikt einer längst vergangenen, jedoch in der Gedankenwelt der Menschen sehr präsenten Epoche dar.

»Als würde gleich Sherlock Holmes durch die Tür kommen«, bestätigte Harrys Zwillingsschwester Helena seine Empfindungen zu dem sich zwischen knorrigen Eichen erhebenden, dreistöckigen Herrenhaus.

»Nicht ganz, würde ich sagen«, warf Harry ein und strich über seine Videokamera. »Eher, als könnte sein Geist uns von dort aus zuwinken. Wenn du mich fragst, spukt es da drin bestimmt.«

Helena stöhnte laut auf, lehnte sich im Sitz zurück und fuhr sich mit verdrehten Augen durch die schwarzen, mit hellblonden Strähnen durchzogenen Locken.

Wie so häufig trug sie ein ausgefranstes schwarzes Shirt mit Rolling-Stones-Schriftzug, eine Jeans und blaue Sneaker. Eigentlich sah Harry sie nur noch in diesem Outfit, seit sie sich von ihrem letzten Freund getrennt hatte und zu ihm gezogen war. Das lag inzwischen vier Monate zurück, und aus einer vorübergehenden Notlösung war ein Dauerzustand geworden, den sie gar nicht mehr missen wollten.

»Und wieder einmal geht deine Fantasie mit dir durch, mein Bester«, erwiderte sie und zwinkerte ihm dabei zu, wie immer, wenn sie ihn nicht ganz ernst nahm. »Wie viele dieser verwunschenen Häuser haben wir in den letzten Monaten besucht, ausgekundschaftet und gefilmt? Zwanzig? Dreißig? So oft du es dir auch schon gewünscht hast, uns ist bedauerlicherweise nicht einmal der Anflug eines Geistes begegnet.«

»Was mich nicht daran gehindert hat, die Fantasie unserer Fans anzuregen.«

»Das stimmt allerdings.«

Tatsächlich verdienten Harry und Helena inzwischen nicht schlecht an ihrem Konzept, kleine Dokumentationsfilme über scheinbar verlassene und heruntergekommene Gebäude zu drehen, in denen nicht nur deren mysteriöse Atmosphäre aufgefangen wurde, sondern auch die Eigentümer und Bewohner zu Wort kamen und sie die wahre Geschichte hinter der Fassade beleuchteten. Harry würzte diese faktenorientierte Berichterstattung gerne mit einigen Geistergeschichten oder Legenden, während seine Schwester mehr Wert auf die Interviews legte.

Eines konnte er inzwischen auf jeden Fall von sich behaupten: Kaum einem Absolventen der Londoner Filmhochschule ging es im ersten Jahr nach dem Abschluss finanziell so gut wie ihm. Wenn sich das Interesse an den Videos weiter so entwickelte, würden die ersten Anfragen von Fernsehproduzenten nicht lange auf sich warten lassen. Und da Helena eine Karriere im Bereich Journalismus anstrebte, war das Projekt für sie beide eine echte Win-Win-Situation. Mal davon abgesehen, dass sie sich ausgezeichnet verstanden und auf diese Weise die alten, längst verloren geglaubten LaFleur-Familienbande wieder aufleben ließen.

Bei einer ihrer zahlreichen Touren durch den Speckgürtel Londons und seine direkte Umgebung waren sie schließlich auf die alte, abseits im Wald gelegene Fitzroy-Villa gestoßen. Dass der verwinkelte Bau mit den spitzen Giebeln, den großen, dennoch undurchsichtigen Fenstern und dem sich wie eine Pustel in der altersschwachen Fassade abzeichnenden Erker in Höhe des ersten Stock diesen Namen trug, hatten sie erst durch ihren Kontakt beim Grundbuchamt in Erfahrung gebracht.

Angesichts des von Dornenhecken bedeckten Gartens, der teils überwucherten Fassade und den sich altersschwach zur Seite neigenden Eichen erschien es ihm schon ein wenig unglaubwürdig, dass hier noch jemand wohnen sollte. Eine Frau namens Catherine Fitzroy, Helenas Recherche nach die letzte Erbin eines uralten Adelsgeschlechts. Beinahe wäre ihm die Erklärung mit den Geistern glaubhafter vorgekommen als die Vorstellung, dass das Haus noch bewohnt war.

»Gehen wir es an?«, holte Helena ihn in das Hier und Jetzt zurück.

»Ja, gut.«

Gemeinsam verließen sie den Wagen, wobei seine Zwillingsschwester noch eine schwarze Lederjacke überzog, wohl, um gegenüber der vermutlich sehr betagten Dame einen besseren Eindruck zu hinterlassen. Harry blieb bei seinem üblichen Outfit, bestehend aus einem dunkelbraunen Wollpullover, Jeans und Turnschuhen. Zudem trug er einen Rucksack mit Equipment bei sich, um sofort loslegen zu können, sollte sich die Fitzroy zu einem Interview bereiterklären.

Das Grundstück war von einer gut eineinhalb Meter hohen Ziegelsteinmauer umgeben, auf deren Krone seltsame, verwitterte Figuren wie Drachen oder Gargoyles ruhten. Obwohl teilweise ganze Gliedmaßen fehlten und die Fratzen manchmal nur mit viel Fantasie zu erkennen waren, schien es so, als könnten diese Geschöpfe jeden Moment zum Leben erwachen. Anscheinend ging mal wieder die Fantasie mit ihm durch, die durch die düstere Umgebung und das leise Grollen des herannahenden Gewitters noch beflügelt wurde.

Eine Tür in der Mauer existierte nicht mehr, lediglich eine Öffnung, an deren Rändern noch einige lose Scharniere vor sich hin rosteten. Angesichts der Tatsache, dass selbst auf dem zum Haus führenden, kaum zu erkennenden Steinplattenpfad das Gras kniehoch wuchs und sich auch keinerlei Fußspuren abzeichneten, kamen Harry immer mehr Zweifel, dass sie an diesem Ort noch auf eine lebende Bewohnerin treffen würden.

Wahrscheinlicher war, dass Catherine Fitzroy schon seit Wochen oder Monaten im Bett oder auf einer alten Couch vor sich hin verweste, ohne dass es jemandem aufgefallen war. Selbst der überfüllte Briefkasten der Villa lag einige hundert Meter entfernt, am Beginn einer hochbetagten Lindenallee.

Wem hätte also der Tod der Frau auffallen sollen?

»Sieht nicht so aus, als kämen wir heute noch zu einem Interview«, mutmaßte Harry leise. »Höchstens mit der Polizei, wenn wir das Skelett der Fitzroy finden.«

Seine Schwester hob die Schultern. »Es gibt ja noch einen Hintereingang. Andererseits sieht das Haus wirklich nicht bewohnt aus.«

Endlich erreichten sie die hölzerne und dementsprechend verwitterte Haustür, die durch ihre verspielten Schnitzereien sprichwörtlich aus dem Rahmen fiel. Kleine Gesichter waren in die Oberfläche eingearbeitet worden, wie Haus- oder Poltergeister, die Fremden sagen wollten, dass sie die wahren Herren der Fitzroy-Villa waren.

Das Klingelschild war ebenso von fast baumdicken Efeuranken überzogen wie die Tür selbst, die von den Pflanzensträngen sogar teilweise aus der Verankerung gedrückt wurde.

Ganz totenstill war es nicht, was Harry erst feststellte, als er neben seiner Schwester zur Ruhe kam. Die Luft war von einem leisen Summen erfüllt, als wäre ein ganzer Bienenschwarm innerhalb des Gebäudes auf der Suche nach dem süßen Nektar der Blüten.

Eigentlich wollte er seine Schwester schon darauf ansprechen, als sich durch eine Lücke zwischen Tür und Rahmen ein großes Insekt schob. Es besaß einen Kopf mit gelblich-rotem Chitinpanzer, lange, filigrane Flügel und ein massives, gepanzertes, gelblich-schwarz gemustertes Hinterteil. Zunächst dachte er an eine Wespe, wenngleich es sich von der Größe her eher um eine Hornisse handeln musste.

Was es auch war, Helena ekelte und fürchtete sich vor derartigen Tieren, weshalb sie erschrocken zurückwich und sich an Harry drängte.

»Komm, lass uns gehen«, ächzte sie erschrocken. »Das bringt doch alles nichts.«

Ein leises, raues Lachen brandete hinter ihnen auf und ließ sie innerlich vereisen.

»Ihr wollt schon gehen?«, fragte ein Mann, der sich anscheinend köstlich amüsierte. »Dabei fängt der Spaß gerade erst an.«

Helena gefror trotz Harrys Arm, der beruhigend auf ihrer Schulter ruhte, zu Eis. Ihrem Bruder erging es da nicht anders, zu überraschend hatte sich der Fremde zu Wort gemeldet. Außerdem schwang da etwas in seiner Stimme mit, das dafür sorgte, dass sich seine Nackenhaare aufstellten. Und das wollte schon etwas heißen.

Mit einem von Sekunde zu Sekunde anschwellenden Kloß im Hals drehte Harry sich um und zog dabei seine zitternde Schwester mit sich. Sie reagierte deutlich sensibler als er auf Veränderungen ihrer Umwelt, und sicherlich spürte sie ebenso wie er, dass mit dem Fremden etwas nicht stimmte.

Der Mann mit dem so unscheinbaren, runden Gesicht, dem eloquenten Lächeln und den akkurat zu einem Scheitel gekämmten Haaren war komplett in einen schwarzen Anzug gehüllt, der sehr gut zu dem seltsamen, irritierenden Schimmer in seinen Augen passte.

»Wir haben nichts Unrechtes getan«, meldete sich Harry zu Wort, dessen Stimme viel leiser klang, als er es eigentlich wollte. »Meine Schwester und ich wollten nur nachsehen, ob Catherine Fitzroy zu Hause ist ...«

»... und haben dabei festgestellt, dass sie ihre Heim- und Gartenpflege sträflich vernachlässigt hat«, beendete der Fremde mit unüberhörbarer Ironie seinen Satz. »Ja, dieser Umstand ist mir auch schon ins Auge gestochen, seit ich mir das Haus zum ersten Mal angesehen habe. Ein wunderbar verwunschenes Kleinod, nicht wahr? Sie sollten einmal sehen, was sich so alles in ihm verbirgt.«

»Was wissen Sie darüber? Wer sind Sie überhaupt?«

Der Fremde breitete entschuldigend die Arme aus. »Nur ein Kenner der Materie, der diese wunderschöne Villa schon länger beobachtet, sie allerdings nicht allein besichtigen wollte.«

Harry schüttelte verständnislos den Kopf. »Sie wollen dort einbrechen? Mit uns?«

»Einbrechen ist so ein furchtbar hässliches Wort. Sagen wir einfach, ich möchte eine entfernte Verwandte besuchen, deren Existenz in meiner Familie viel zu lange in Vergessenheit geraten ist – mit Ihnen beiden als Ehrengäste. Glauben Sie mir, die Dame des Hauses wird sich wahrscheinlich deutlich mehr über Ihre Aufwartung freuen als über meine.«

Harry wollte etwas sagen, doch der mysteriöse Schimmer in den Augen des Mannes sorgte dafür, dass ihm die Worte in der Kehle stecken blieben. Überhaupt verlor er jegliche Kontrolle über seinen eigenen Körper, selbst das Atmen schien von einer fremden Kraft nach eigenem Ermessen gesteuert zu werden. Nur ein verschwindend kleiner Rest seines freien Bewusstseins blieb zurück, als wollte sich der Fremde höhnisch an seiner Hilflosigkeit laben.

Der Mann musste nur die rechte Hand heben, um dafür zu sorgen, dass das Efeu um die Tür verdorrte und die Pflanzenstränge zu Staub zerfielen. Augenblicklich glitt die Tür nach innen.

Mit seinem so fürchterlich freundlichen Lächeln vollführte der Fremde eine einladende Handbewegung.

»Nach Ihnen, bitte«, sagte er und sorgte so dafür, dass sich Harry und Helena wie zwei Marionetten in Bewegung setzten.

Die lässigen Klänge geradezu hypnotischer House-Musik hallten über die Dächer Londons, ausgehend von einer Penthouse-Wohnung, auf deren großer Terrasse sich nicht nur ein bekannter DJ eingefunden hatte, sondern auch etwa zwanzig Gäste aus der Welt der Mode und des Fotojournalismus. Frauen und Männer tanzten ausgelassen zu den rhythmischen Beats, andere unterhielten sich mit einem Cocktail oder einem Glas Champagner in der Hand und tauschten kleine Päckchen, Telefonnummern oder auch lediglich verlockende, vielsagende Blicke aus.

Sehen und gesehen werden, darum ging es bei dieser Party. Es wurden weder Verhandlungen noch hochtrabende Gespräche geführt, dennoch versuchte jedes Model, sich durch Eleganz, Augenaufschlag oder nackte Haut in Szene zu setzen, um in den nächsten Wochen Zugang zu den bestbezahlten Shootings zu finden oder das Interesse der Boulevardpresse zu wecken.

Besonders die jungen Dinger, die Lara Miller wohlwissend und mit kalter Berechnung eingeladen hatte, ließen ihr gesamtes Repertoire an Verführungskünsten spielen, um so manch bekanntem Modeschöpfer oder Paparazzo völlig den Kopf zu verdrehen. Im Pool waren bereits zahlreiche Hüllen gefallen, und im Wohn- und Schlafzimmer würde es in den nächsten Stunden sicher auch noch hoch hergehen.

Lara betrachtete das entspannte Treiben mit einiger Distanz und nüchterner Zufriedenheit. Sie selbst war mit ihren 43 Jahren längst kein gefragtes Püppchen mehr, das mit Schlafzimmerblick und grazil schwingendem Körper die neuesten Kreationen der wahren Herren der Modewelt über die Laufstege führte. Mit viel Make-up und einigen optischen Effekten gelang es ihr immer noch, hin und wieder auf den Titelseiten mancher Magazine zu landen, ansonsten war ihre Karriere eigentlich vorbei.

Die Alkohol- und Drogenexzesse ihrer Jugend hatten an ihrer Haut unübersehbare Spuren hinterlassen, da halfen auch keine Luxus-Gesundheitskuren oder Operationen mehr. Um nicht ganz in Vergessenheit zu geraten, war sie gezwungen gewesen, andere Wege zu gehen – eben in Form dieser Partys. Und da sich die Location nicht nur im übertragenen Sinne von allen anderen Discos, Bars und Clubs in London abhob, hatte sie mit dem Kauf dieser Penthouse-Wohnung wahrlich einen Glücksgriff gelandet.

Je mehr Alkohol floss, desto ausgelassener wurde die Stimmung. In ihrer Wohnung ging sicher schon das eine oder andere weiße Pulver über den Tisch, wovon die Polizei niemals etwas erfahren sollte. Sie selbst fühlte sich in dieser Nacht zu müde, um sich noch länger an der Feier zu beteiligen, weshalb sie sich nach einigen belanglosen Gesprächen in eine dunkle Ecke der Dachplattform zurückzog und sich rücklings mit beiden Armen gegen das Geländer lehnte. Ein leiser Seufzer ging ihr über die Lippen, doch obwohl sie die Nacht eigentlich nicht allein verbringen wollte, schloss sie die Augen und hoffte darauf, dass die nur mäßig kühle Nachtluft sie ein wenig erfrischte.

Die Musik klang so unendlich weit entfernt, während sie sich umdrehte und mit der Brust gegen das Geländer drückte, wobei sie ihren Blick über das nächtliche London schweifen ließ. Die Wolkenkratzer der Innenstadt standen in einem starken Kontrast zu der altehrwürdigen Tower Bridge, dem Big Ben oder dem Buckingham Palace, wobei das geschichtsträchtige Ensemble noch von der im Mondschein schimmernden Themse durchflossen wurde. Selbst jetzt, kurz nach Mitternacht, schallte aus der so unendlich weit entfernt erscheinenden Tiefe der übliche Straßenlärm bis hinauf zu der im 36. Stock gelegenen Wohnung.

Diesmal war etwas anders. Brummende Motoren, Hupen, die quietschenden Reifen all jener, die die gut beleuchteten Prachtstraßen für ein kleines Rennen nutzten – all diese Geräusche kannte sie zur Genüge. Das monotone, langsam anschwellende Summen, mit dem sie in diesen Minuten konfrontiert wurde, war ihr hingegen völlig unbekannt. Es klang, als wäre ein Lautsprecher oder Fernseher defekt oder als würde sie ihren Kopf zu nahe an ein Bienennest halten. Etwas, das sie als Kind tatsächlich einmal getan hatte ...

Der kurze Moment der Erinnerung an ihre Kindheit in Cornwall verflog, als etwas überlaut über sie hinwegrauschte. Einen Moment lang dachte sie an eine Drohne, bis sie einen Blick nach oben warf und ein riesiges, von Mondschein benetztes Geschöpf wahrnahm, das sie kurz an eine monströse Biene oder Wespe denken ließ. Der Eindruck währte nur etwa eine Sekunde, dann war das eigenartige Wesen wieder in der Dunkelheit verschwunden. Und auch das Summen verklang nach und nach, bis es nur noch in ihrer Erinnerung existierte.

Lara wischte sich über die Augen. Nein, für ihre Verhältnisse hatte sie wirklich nicht viel getrunken und auch die Finger von den ganz harten Sachen gelassen. Dass ihr etwas in den Drink gemischt worden war, glaubte sie nicht, andererseits war sie aber auch niemand, der unablässig in Tagträume abrutschte oder an einer übersteigerten Fantasie litt. Was sie gesehen hatte, war real gewesen. Ein etwa zwei Meter großes Insekt mit fast armlangen, vibrierenden Antennen, unheimlichen Facettenaugen und einem gelblich-schwarzen, zudem leicht rötlich schimmernden Hinterleib.

Ihre ausgelassene Stimmung war wie weggeblasen, ebenso die Müdigkeit. Mit wachem Blick starrte sie auf den wolkenfreien Sternenhimmel und wartete darauf, dass das Geschöpf zurückkehrte. Das geschah jedoch nicht, nicht einmal, nachdem sie mehr als eine halbe Stunde auf der Stelle verharrt hatte.

»Hey, Lara, was ist los mit dir?«, hörte sie Hugo Best rufen, einen der Designer, für den sie schon als Mädchen gelaufen war.

Der Name war natürlich nur ein Pseudonym, so wie alles an ihm irgendwie falsch und aufgesetzt wirkte. Trotzdem war er ein netter Kerl, der sich tief in seinem Inneren wünschte, eines Tages eine echte Familie gründen zu können. Nur würde das niemals mit ihr geschehen, selbst wenn sie ihn durchaus als guten Freund ansah.

Lara kam sich vor, als wäre sie aus einem tiefen Traum erwacht, so sehr hatte sie sich in den letzten Minuten auf eine mögliche Rückkehr des Wesens und ihre Erinnerung an die kurze Begegnung vertieft.

»Ach, nichts«, sagte sie und fuhr sich wie ein kleines Mädchen verlegen durch die Haare. »Irgendwie fühle ich mich heute Nacht einfach nicht so wohl.«

Hugo, der sicher etwa zwanzig Jahre älter war als sie, nickte mit einer Spur von Resignation. »Ich weiß, was du meinst«, gab er zu. »Ich habe auch genug. Wird Zeit, dass wir gehen.«

Insgeheim wusste Lara, dass ihr Freund und Förderer, mit dem sie auch schon die eine oder andere Nacht verbracht hatte, nicht unbedingt die Party selbst meinte, sondern die gesamte Szene, derer er sich langsam aber sicher überdrüssig fühlte. Sie wollte ihm jedoch keine Hoffnungen machen, dass sie tatsächlich einmal diesen Schritt mit ihm ging, weshalb sie dankend ablehnte.

»Noch will ich ein wenig Spaß haben, nur nicht mehr diese Nacht«, erklärte sie, wobei sie die Enttäuschung vom Gesicht des Designers ablas.

»Wenn du meinst ...«

Sie dachte keinen Moment daran, ihm von der seltsamen Begegnung zu erzählen. »Es ist besser so«, sagte sie nur und lächelte schmal.

Es dauerte noch fast zwei Stunden, bis auch die letzten Gäste der Party mehr oder weniger nüchtern durch die Tür verschwunden waren. Manch einer würde wohl auch den Rest der Nacht in einer anderen Wohnung oder einem Hotelzimmer verbringen, wo die Party dann in kleinerem, privatem Rahmen weiterging. Lara hingegen wollte in dieser Nacht nichts mehr hören und nur noch alle Rollläden schließen, sich in ihrem Bett verkriechen und hoffen, dass der Anblick des riesigen Insekts doch nichts weiter als eine Halluzination oder ein Albtraum gewesen war.

Aufräumen würde sie am nächsten Tag. Um die Hinterlassenschaften ihrer Gäste zu entsorgen, fehlte ihr die Kraft, und als sich endlich die Eingangstür zum letzten Mal schloss, sank sie mit dem Rücken an der Wand entlang zu Boden und vergrub das Gesicht in ihren Händen. »Lass es nur ein Traum gewesen sein«, flüsterte sie, bevor sie sich zusammenriss und sich langsam wieder in die Höhe drückte.

Beinahe hätte sie sich wieder in ihren Händen verkrochen, als ihr Blick auf die Glastür glitt, durch die man hinaus auf die Dachplattform gelangte. An der Scheibe lehnte eine splitternackte, dunkelhaarige, braun gebrannte Frau und starrte sie mit großen Augen an.

Lara wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor. Sie kannte all ihre Gäste, und diese Frau war mit Sicherheit nicht auf der Party gewesen, zumal sie vor wenigen Minuten das gesamte Areal noch einmal nach Schnapsleichen oder im Drogenrausch zusammengebrochenen Besuchern abgesucht hatte. Wer immer diese Fremde auch war, ihr war es gelungen, unbemerkt in ihre Wohnung zu gelangen.

Die Dunkelhaarige umgab trotz der Distanz und der trennenden Scheibe eine geradezu betörende Aura. Sie hatte nicht unbedingt den Körper eines Models, doch die Rundungen an gewissen Stellen machten sie eher noch attraktiver. Ihr von Selbstbewusstsein und Sehnsucht geprägter Blick verhieß, dass sie sich ihrer Schönheit durchaus bewusst war.

Das Lächeln der Fremden sollte Lara wohl aufmuntern, stattdessen blieb ihre Angst bestehen. Nicht, dass sie sich allein vor einer fremden Frau fürchtete, es waren eher die Umstände und die Ausstrahlung der Dunkelhaarigen, die sie erschaudern ließen.