Jojo-Herz - Hilde Hagerup - E-Book

Jojo-Herz E-Book

Hilde Hagerup

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Beschreibung

Elisa ist 14 Jahre alt und abgehauen nach Bjerkebakk. Hier, einsam und verlassen am Fjord in den Bergen, stand einst ihr Elternhaus. Doch sie kann sich an nichts erinnern. Nicht an ihre Kindheit, nicht an das Leben am Fjord – einfach an nichts, was vor ihrem 4. Lebensjahr geschah. Und niemand möchte es ihr erzählen. Warum ist ihre Mutter seitdem krank? Warum hat der Vater die Familie verlassen? Was geschah damals am Fjord? In Bjerkebakk macht sich Elisa auf die Suche nach ihrer eigenen Vergangenheit und stellt fest, dass es in der Familie ein dunkles, schmerzliches Geheimnis gibt: Ihre kleine Schwester ist einst tödlich verunglückt. Elisa glaubt, dass sie Schuld an dem Tod der Schwester und an dem Auseinanderbrechen der Familie ist und gerät zunehmend in einen Strudel aus Selbstzweifel, Angst und Scham.-

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Hilde Hagerup

Jojo-Herz

Deutsch von Gabriele Haefs

Saga

Liebe Elisa,

fragst du dich manchmal, wo das alles angefangen hat? Willst du wissen, warum wir so sind, wie wir sind? Ich sage dir, was ich glaube. Ich glaube, es hat am 21. Mai 1990 angefangen. Kannst du dich eigentlich noch an irgendetwas davon erinnern? Es ging darum, wer über alles geliebt wurde. Du warst vier Jahre alt. Ich glaube, es war damals. Ich glaube, alles hängt zusammen wie ein Dominospiel. Wenn der erste Stein umgekippt ist, lässt sich nichts mehr machen. Die anderen fallen ganz von selber. Das bedeutet, dass wir keinerlei Kontrolle haben. Nicht über die Zukunft, und das ist traurig. Aber auch nicht über die Vergangenheit, und das ist manchmal auch eine gute Vorstellung.

Ich finde, du solltest das nicht vergessen. Denn es ist möglich umzukehren. Es gibt Orte, die wir besser mit dem Absatz zuerst betreten. Vor allem in den Bergen. Und vor allem in der Nähe von Bjerkebakk. Ich bin sicher, dass Frida das auch so sehen würde. Und deshalb möchte ich, dass wir dorthin zurückkehren. Alle drei. Deine Mutter, du und ich. Erinnerst du dich an das weiße Haus, hinten am Fjord? Als du klein warst, kamen dir die Berge in der Umgebung von Bjerkebakk nicht groß vor. Vom Wohnzimmerfenster aus sind sie nicht größer als mein kleiner Finger, hast du gesagt. Vielleicht bist du deshalb so viel gelaufen. Bis zum Gipfel, ohne Tragsitz, ohne bei jemandem Huckepack zu sitzen. Kann alleine, hast du gesagt. Ist doch nicht hoch, hast du gesagt, mit wütenden Augen und wildem Gestrampel, wenn jemand dir helfen wollte. Und jetzt? Ich wüsste so gern, was du jetzt sagen würdest. Kannst du dich an den Fluss erinnern? Oder zumindest an das Haus? Ich lege ein Bild bei. Ich weiß nicht, ob das hilft. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Aber ich glaube, dass deine Mutter doch Recht hatte. Ich glaube nicht, dass wir beschließen können, dass wir jetzt froh sind. Herzlichen Glückwunsch zum vierzehnten Geburtstag.

Komm und gib deiner Oma einen Kuss.

Cillia

1

Elisa hatte einen Stein im Bauch, als sie erwachte. Sogar im Schlaf wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Sie fuhr aus dem Schlaf hoch, obwohl nichts Unerwartetes geschehen war. Es hatte im Zimmer keine plötzlichen Bewegungen gegeben, keine Katze war auf die Decke gesprungen, niemand hatte sie unter den Zehen gekitzelt. Das Rollo war dicht geschlossen. Die Sonne hatte ihr also nicht ins Gesicht geschienen. Zuerst war sie verwirrt, begriff nicht, was los war, wusste nicht, warum ihr Kissen schweißnass war. Sie begriff nicht, wieso das Laken von der Matratze gerissen worden war, wie das hatte passieren können, registrierte aber, dass es sich zusammen mit dem Schlafanzug am Fußende zusammengeknüllt hatte. Den Schlafanzug hatte sie sich also auch vom Leib gerissen, und dabei war es gar nicht warm im Zimmer, sie schlief nämlich bei offenem Fenster. Das hatte sie immer schon gemacht. Für einen Moment blieb sie mit geschlossenen Augen liegen und spürte, wie der Wind über ihr Gesicht strich. Sie versuchte, mit dem Bauch zu atmen. Versuchte sich zu sagen, es sei ein Traum gewesen. Es kommt doch vor, dass wir aus Träumen erwachen, an die wir uns nicht erinnern können, das war ihr schon häufiger passiert, als Kind hatte sie oft blinde Albträume gehabt. Ab und zu träumte sie, dass sie von Männern mit Gewehren verfolgt wurde. Mehr passierte nicht. Sie lief umher und wurde von Männern mit Gewehren verfolgt, das hatte sie geträumt, als sie noch klein war, bestimmt hatte sie so etwas in den Fernsehnachrichten gesehen. Oft konnte sie sich nicht einmal an so viel erinnern, oft hatte sie nur ein Gefühl; das war immer wieder passiert, vor allem, als sie schon zur Schule ging. Ihre Großmutter kam dann herein und wollte sie trösten. Die Großmutter hatte sie weinen gehört, aber Elisa konnte nicht erklären, was so schlimm war, sie konnte sich doch nicht erinnern, und die Großmutter hatte dann von blinden Albträumen gesprochen. Wahrscheinlich war das jetzt wieder passiert, Elisa hatte einen blinden Albtraum gehabt. So musste es sein. Für einen Moment fühlte sie sich fast entspannt. Sie streckte die Beine aus, spürte die kalte Decke an ihren Waden, fragte sich, ob sie die Augen öffnen und das Rollo hochziehen sollte, fragte sich, was wohl für Wetter war, dachte, bei gutem Wetter könne sie vielleicht eine Runde laufen, versuchte sich zu erinnern, ob Sonntag oder Montag war, versuchte festzustellen, ob sie Hunger hatte und was sie zum Frühstück essen wollte. Doch dann hörte sie eine Stimme.

»Hol dich der Teufel, Martin!«

Elisa setzte sich auf und wusste plötzlich, was das Problem war. Cillia war tot. Sie keuchte. Cillia war tot. Was sich am Fußende zu einem Klumpen aufgerollt hatte, war nicht das Laken. Sondern die große weiße Decke, die Elisa am Vorabend vom Sofa genommen hatte. Sie hatte nicht die Bettdecke an ihrem Körper gespürt, sondern den Schlafsack, und vor dem Fenster befand sich kein Rollo, denn sie hatte nicht in ihrem eigenen Zimmer geschlafen. Elisa war von zu Hause durchgebrannt. Den ganzen langen Weg von der Wohnung in der Stadt über die Berge, am Fjord entlang, zu einem Haus mit einem Namen aus einem Brief, den sie auswendig wusste. Bjerkebakk. Wenn sie dieses Wort nur hörte, krampfte sich in ihrem Brustkasten alles zusammen. Als sei es kein Wort, sondern eine Brotkruste, die sie so schnell verschlungen hatte, dass sie innerlich davon zerkratzt wurde. So weh tat es. Bjerkebakk. Ich bin sicher, dass Frida das auch so sehen würde. Was denn sehen? Das wollte Elisa jetzt herausfinden. Aber schon bestand die Gefahr, entdeckt zu werden.

»Martin, das ist einfach eine blödsinnige Idee!«

Die Stimme kam von der anderen Seite der Haustür. Elisa warf sich über das Sofaende und versuchte, sich ihren Schlafanzug zu schnappen, während sie gleichzeitig nach einem Versteck Ausschau hielt. Sie hatte in einem Wohnzimmer geschlafen. Alle Möbel waren mit großen weißen Baumwolltüchern bedeckt und das Einzige, was sie vor Elisas Eintreffen gestört hatte, war der Staub. So geht es in einem Haus, das allein steht. Alles wird ein wenig grau. Bekommt eine neue Farbe. Eine, die dort hineingeht, kann mit einem Finger oder einem Stöckchen ihren Namen auf die Möbel schreiben. Es ist also doch keine Farbe, sondern nur Staub, und niemand weiß, woher er kommt, denn er stellt sich selbst dann ein, wenn die Fenster geschlossen sind. Vielleicht kommt er vom Haus. Vielleicht erneuert sich nicht nur bei Menschen die Haut mit der Zeit, sondern auch bei Häusern.

»Das ist doch nicht gefährlich, Johanne.«

Das war eine andere Stimme. Elisa merkte, dass ihr warm wurde. Sie machte sich an ihrer Schlafanzugjacke zu schaffen und stieg in ihre Jeans. Es gab hier kein Versteck. Sie war gefangen. Sie würde entdeckt werden. Sie würde entdeckt werden, in Jeans und Schlafanzugjacke und mit Schweißperlen auf der Stirn. Obwohl es gar nicht heiß war. Obwohl sie über die Luft im Zimmer höchstens sagen könnte, dass sie trocken war.

Elisa rollte ihren Schlafsack auf und stellte sich die anderen vor. Die Mädchen aus ihrer Klasse. Siri Margrete und die anderen. Sie dachte daran, was sie wohl sagen würden, wie sie Blicke wechseln würden, wenn sie es sagten:

– Ach, Elisa, ich hab gehört, du bist gestern von zu Hause durchgebrannt?

– Hast dich aber schnell wieder eingefunden.

– Und das ist nur gut so.

– Wir haben uns fast schon ein bisschen Sorgen um dich gemacht, verstehst du, Elisa.

– Aber immerhin hast du dich vor dem Sport drücken können.

– Es war also nicht der totale Reinfall.

Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Elisa wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab. Ihr Blick glitt zu dem offenen Fenster hinüber. Wie weit es wohl bis nach unten war? Sie wusste, dass das Wohnzimmer im Erdgeschoss lag, aber darunter gab es noch einen Keller. Sie hatte am Abend zuvor eine Treppe hochgehen müssen, hatte sich aber nicht gemerkt, wie hoch die gewesen war. Sie war im Dunkeln hier eingetroffen. Am späten Abend. Normalerweise hätte sie sich überlegt, wie gefährlich das war. Ob es gefährlich war.

– Hast du Angst, Elisa?

– Hast du Angst, du könntest den Ball ins Gesicht kriegen?

– Hast du Angst, dein Gesicht unter Wasser zu halten?

– Hast du Angst, es könnte brennen?

– Hast du Angst, den Verstand zu verlieren?

Normalerweise hätte sie sich überlegt, was alles passieren könnte, sie könnte sich ein Bein brechen, sie könnte sich am Fensterrahmen verletzen. Aber Cillia war tot und Elisa war von zu Hause durchgebrannt. Nichts war noch so, wie es immer gewesen war. Als jemand auf der anderen Seite der Wohnzimmertür die Klinke anfasste, konnte Elisa nicht einmal mehr überlegen, wer das wohl sein mochte. Sie warf Schlafsack und Proviantbeutel aus dem Fenster und sprang hinterher. Als glaube sie, das sei noch immer ein Traum. Als glaube sie, sich bei einem Sprung im Traum unmöglich verletzen zu können.

Es hatte damit angefangen, dass Elisa sich nicht erinnern konnte. Genauer gesagt, es hatte viel früher angefangen, vielleicht sogar vor ihrer Geburt, ehe irgendwer auch nur an sie gedacht hatte. Aber erst, als Elisa entdeckt hatte, dass sie sich an nichts erinnerte, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Alle erinnern sich. Alle haben irgendeine Erinnerung an die Zeit, als sie noch klein waren. Sie erinnern sich an irgendeinen Blödsinn. An Dinge, die eigentlich gar keine Bedeutung haben. An irgendein Missverständnis.

– Ich habe geglaubt, dass in der Abstellkammer Comicfiguren wohnen.

– Ich habe an einen Mann geglaubt, der Lakritzkönig hieß.

– Ich hatte einen roten Ball, der war mein Auto.

Solche Dinge. Kleine Erinnerungsfetzen, die nur dann etwas bedeuten, wenn man keine hat. Elisa hatte keine. Elisas Erinnerung setzte erst ein, als sie mit fünf Jahren zusammen mit ihrer Mutter in Cillias Wohnung in der Stadt gezogen war. Elisas erste Erinnerung war die Bahnfahrt. Hinten im Abteil hatte es ein Gestell mit einem Wasserbehälter gegeben und daneben waren Pappbecher befestigt. Elisa hatte einen herausnehmen und als Hut benutzen wollen. Die Mutter hatte nein gesagt. Die Mutter hatte gesagt, die Becher seien zum Trinken da. Und Elisa müsse brav sitzen bleiben und die Hände auf den Schoß legen. Elisa war brav sitzen geblieben. Lange. Sie wusste noch, dass sie aus dem Fenster geschaut hatte. Das Fenster war schmutzig gewesen. Das Glas war mit kleinen braunen Flecken übersät. So, als habe jemand eine Tasse braune Farbe gegen die Aussicht geschleudert. An allem war der Regen schuld. Der Zug wurde jede Woche gewaschen, aber niemand putzte die Zugfenster von außen. Trotzdem konnte man sich darin spiegeln. Elisa hatte sich im Zugfenster gespiegelt, während es auf der anderen Seite langsam dunkel geworden war, während Häuser und Bäume vorüberjagten. Und Felder. Große flache Felder und Wiesen, deren Gras sich grau färbte, als es dunkel wurde. Elisas Spiegelbild war die ganze Zeit da gewesen, war deutlicher geworden, als es auf der anderen Seite dunkler wurde. Ihre Haare hatte dieselbe Farbe wie draußen das Gras. Ihre Mutter nannte diese Farbe rotblond, aber Elisa wusste, dass es in Wirklichkeit grau war. Sie war hässlich. Elisa hatte ein hässliches Gesicht. Ihre Nase war viel zu spitz. Ihr Kinn zu breit. Und dann hatte sie diese Säcke unter den Augen. Elisa hatte große schwere Tränensäcke unter den Augen. Als habe der Sandmann ihr im Schlaf Würstchen unter die Haut geschoben. Das war einfach so. Die Frauen in Elisas Familie hatten alle solche Tränensäcke. Trotzdem sah Elisa gern zu, wie ihr Gesicht in der Fensterscheibe immer deutlicher wurde, je mehr sich draußen die Dunkelheit vertiefte. Sie hatte das noch nie gesehen. Ein Gesicht, das sich in einem Zugfenster spiegelte.

Und dann hatte sie den Vogel entdeckt. Während der Fensterspiegel sich immer deutlicher vor der Dunkelheit draußen abzeichnete, waren Elisas große schwere Augenbrauen lebendig geworden. Wie ein Vogel. Elisa hatte einen lebendigen Vogel auf der Stirn. Das war ihre erste und früheste Erinnerung. Und dann der Schlag. Die Hand ihrer Mutter in ihrem Gesicht. Wie danach ihre Haut gebrannt hatte. Ein prickelndes Brennen in Elisas Stirn. Als habe jemand sie mit Stecknadeln gestochen. Als liefen ihr hunderttausend Ameisen übers Gesicht.

Cillia erwartete sie auf dem Bahnsteig. Sie stand in der Dunkelheit und trug einen großen rosa Schal um den Hals. Wortlos kam sie auf Elisa zu, zog sie an sich, presste sie an ihre Hüfte, strich ihr über die Haare, viele Male. Mein Mädchen, meine Kleine. Die Mutter stand daneben, mit leerem Blick, ohne zu lächeln, ohne zu weinen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

– Was hast du denn da in der Hand, Prinzessin?, hatte Cillia gefragt.

– Das ist ein Hut, sagte Elisa und setzte sich den Becher auf den Kopf.

– Ich hatte das doch verboten.

Das war die Stimme der Mutter. Hannahs Stimme, die ganz leer war. Sie hatte keinen Tonfall, war nicht heiser. Sie klang gar nicht wie Mutters Stimme, sondern wie die Stimme einer Radiosprecherin.

– Die Becher sind zum Trinken da, sagte die Mutter.

– Sie wollte nicht auf mich hören. Sie hört überhaupt nie auf mich, Cillia.

– Ich wollte doch nur einen Hut, sagte Elisa.

– Sie muss auf mich hören, sagte die Mutter.

Da. Da war nun doch ein Zittern. Da war doch etwas in der Stimme. Cillia hatte keine Antwort gegeben. Sie hatte sich gebückt, hatte sich über Elisa gebeugt, hatte ihr behutsam die Wange und die Stirn gestreichelt, die noch immer gerötet waren.

– Sie soll auf mich hören. Die Mutter ließ nicht locker. Zitter zitter zitter in der Stimme. Als säße der Mutter ein kleiner Motor am Gaumen.

– Aber, aber, sagte Cillia.

Elisa hatte gemerkt, dass sie einen Kloß im Hals bekam. Sie hatte sich doch nur einen Hut gewünscht. Sie hatte einfach einen Hut haben wollen. Und es hatte noch andere Kinder gegeben, im Abteil waren noch andere Kinder gewesen, die sich schon längst Becher geholt hatten. Der Schaffner war vorübergegangen, ohne ein Wort zu sagen.

– Aber, aber, sagte Cillia und streichelte Elisas rote Wange. – Ich finde, das ist ein schöner Hut.

Eine heiße Welle war durch Elisas Bauch geschwappt. Das hier war Cillia. Das hier war Elisas Großmutter, die Mama ihrer Mutter, und der gefiel der Hut. Ein schöner Hut. Ich kann gut verstehen, dass du dir so einen Hut gewünscht hast. Das ist doch ganz normal. Ich kann das sehr gut verstehen. Ich hätte mir sicher auch so einen geholt, wenn ich dabei gewesen wäre, wenn ich mit in der Bahn gesessen hätte. Ich kann dir sagen, dann hätte ich auch so einen Hut haben wollen. Das war der Anfang gewesen. So hatte alles angefangen, in Elisas Erinnerung.

– Zitter, sagte die Mutter.

– Danke, sagte Elisa.

Cillia hatte ihr zugezwinkert. Das Nächste, woran Elisa sich erinnerte, hatte sie sich vielleicht nur ausgedacht. Sie bildete sich ein, dass Cillia ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte:

Jetzt wird alles so schön. Elisa. Bei mir wirst du dich wohlfühlen. Hörst du? Hörst du, was ich sage? Denk daran! Wir werden es uns schön gemütlich machen, Elisa. Und alles tun, was du willst. Und alles essen, was du gern magst. Und nicht mehr an das denken, was passiert ist. Glaubst du, du schaffst es, die ganze Zeit einfach nur froh, froh, froh zu sein? Wenn du dir Mühe gibst? Wenn du dir ganz große Mühe gibst? Wollen wir das so machen?

Danach hatte Cillia sich aufgerichtet, sich zur Mutter umgedreht, vorsichtig die Arme um sie gelegt und sie an sich gedrückt. Ganz lange. Die Mama der Mama. Und die Mutter war in Tränen ausgebrochen.

Ganz plötzlich. Einfach so, von nirgendwoher. Vielleicht von einem Motor im Hals aus. Cillia drückte sie lange an sich. Dann nahm sie beide an die Hände. Eine Hand für jede, die Koffer kamen hinterher. Die Koffer hatten Räder und lange Schlaufen, die sie sich um die Handgelenke legen konnten.

– Jetzt gehen wir nach Hause, sagte Cillia.

Hannah weinte auf dem ganzen Weg zum Auto. Auf dem Bahnsteig roch es nach Pipi. Es war spät und dunkel. Elisa dachte daran, dass doch eigentlich nicht die Mutter weinen sollte. Nicht die Mutter war auf den Vogel in ihrem Gesicht geschlagen worden, nur weil sie sich einen Hut wünschte.

2

»Du hast gesagt, hier wär kein Mensch.«

»Hab mich geirrt.«

Elisa drückte sich so dicht an die Wand unter dem Fenster, dass die, die jetzt im Wohnzimmer standen, sie wahrscheinlich auch dann nicht sehen könnten, wenn sie aus dem Fenster schauten. Sie stand ganz still da, mit aufgeschrammten Handrücken und geschlossenen Augen, konzentrierte sich auf die Stimmen aus dem Zimmer dort oben und versuchte, ihr eigenes hämmerndes Herz und ihren keuchenden Atem nicht zu beachten. Da oben redeten ein Junge und ein Mädchen miteinander. Der Junge war in ihrem Alter. Vielleicht ein wenig älter. Aber nicht älter als sechzehn. Das Mädchen war jünger, aber es war schwieriger, ihre Stimme einzuschätzen. Sie konnte zehn sein. Oder vierzehn.

»Du hast gesagt, das steht schon seit Jahren leer.«

Das war die Stimme des Mädchens.

»Hab mich geirrt.«

Das war wieder der Junge.

»Du bildest dir immer ein, du hättest so gute Ideen, Martin.«

Der Junge, der Martin hieß, redete nur in kurzen Sätzen. Als wisse er nicht genug Wörter. Als wisse er nur die Wörter, die er wirklich dringend brauchte.

»Können ja gehen.«

Ja, bitte. Bitte, geht. Elisa sagte das nicht laut. Sie dachte es nur. Bitte, geht. Geht weg. Lasst mich in Ruhe. Aber nein. Johanne hatte offenbar doch nicht so große Angst.

»Jetzt sind wir doch schon hier. Da können wir uns auch ein bisschen umsehen.«

Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Oben blieb es eine Weile still, während sie sich im Zimmer umschauten, und Elisa hätte gern gewusst, was sie sahen. Sie selber hatte nicht alles mitnehmen können. Nur Schlafsack und Proviant. Ob sie den Brief gefunden hatten? Cillias Brief, den Brief ihrer Großmutter. Den Brief, in dem Cillia zum ersten Mal über Bjerkebakk gelesen hatte. Hatten sie den gefunden? Lasen sie über Frida? Was war mit dem Bild des Hauses, so, wie es damals ausgesehen hatte, als Elisa noch hier wohnte? Was war noch dort oben? Fanden sie das kleine Notizbuch, in dem Elisa Dinge aufschrieb, die sie nicht vergessen wollte? Oder schlimmer noch: Brieftasche, Schülerinnenausweis, Buskarte. Hallo, hallo, ich heiße Elisa Bjerkebakk, ich bin eben vierzehn geworden und ich bin von zu Hause durchgebrannt. Ihr habt vielleicht in der Zeitung über mich gelesen? Ihr habt vielleicht in den Nachrichten über mich gehört? Das nicht? Aber das werdet ihr bestimmt bald. Und dann könnt ihr einfach die Polizei anrufen. Bitte sehr. Ich glaube, die Nummer ist 112.

»Hier ist es gar nicht schlecht.«

Das war wieder Johannes Stimme. Was machten sie? Was stellten sie da oben an?

»He, hast du das schon gesehen?«

Dann hörte sie ein Klirren, etwas schien zerbrochen zu sein. Kichern. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt.

»Du, Martin. Und wenn die jetzt zurückkommen?«

Elisa öffnete die Augen. Riss sie weit auf. Starrte vor sich hin. Wusste plötzlich, was sie zu tun hatte. Tat es dann aber doch nicht. Nicht sofort. Weil sie etwas sah. Etwas, was sie nicht gesehen hatte, als sie gekommen war, in der Nacht, als es so dunkel gewesen war, dass sie den Weg von der Bushaltestelle bis hierher mit der Taschenlampe hatte suchen müssen. Jetzt sah Elisa die Berge. Als du klein warst, kamen dir die Berge in der Umgebung nicht groß vor. Vom Wohnzimmerfenster aus sind sie nicht größer als mein Kleiner Finger, hast du gesagt. Und vielleicht bist du deshalb so viel gelaufen. Bis zum Gipfel, ohne Tragsitz, ohne bei irgendjemandem Huckepack zu sitzen. Kann alleine, hast du gesagt. Ist doch nicht hoch, hast du gesagt. Mit wütenden Augen und wildem Gestrampel, wenn irgendjemand dir helfen wollte. Menschen, die am Meer aufgewachsen sind, behaupten, nicht leben zu können, ohne ab und zu blaugrüne See zu sehen. Sie sagen, dass sie sonst Kopfschmerzen bekämen. Auf dem platten Land leiden sie an Klaustrophobie. So geht es auch mit Menschen, die in den Bergen aufgewachsen sind. Bjerkebakk war früher einmal eine Art Alm. Ein Sommerhaus für die schönsten Höfe der Gemeinde. Es lag ganz hinten in einem Tal, auf allen Seiten von Bergen umgeben, und zum Fjord hin, zum Dorf hin, steht ein Wald und das Dorf ist nicht größer als ein Legodorf, irgendwer scheint alles aus roten und weißen Klötzen gebaut zu haben. Und zum Fjord hin strömt der Fluss. Er ist lang und schmal und an manchen Stellen nur ein Bach, einmal aber wird er zu einem großen tosenden Wasserfall. Und er strömte ohne Pause dahin, jeden Frühling, jeden Sommer. Den ganzen Weg, vom Eis her, das wir oben am höchsten Berg gerade noch ahnen konnten. Vom Eis, das grau und weiß und grün und blau war und an manchen Stellen alle Farben des ganzen Universums aufwies. Elisa erkannte keine Berge. Sie erkannte Gesichter. Sie erkannte sie in dem Moment, in dem sie die großen offenen Stellen sah, wo keine Bäume mehr wuchsen, wo es nur noch Steine und grüne Flecken gab. Von der Sekunde an, in der Elisa die Augen öffnete und die klaren scharfen Farben sah, die es nur dort gibt, wo die Sonne sich im Stein spiegeln kann, spürte sie zum ersten Mal, wie sich ihr Mund leicht verzog, wie das immer den Menschen passiert, die ganz und gar dazupassen, die genau wissen, wie sie sich zu verhalten haben, die genau wissen, was sie zu sagen haben, die zu Hause sind, zu Hause, zu Hause. Elisa atmete ganz schnell durch. Spürte, dass ihre Finger leise zitterten. Nicht wie Finger eigentlich, sondern eher wie Löwenzahnflaum. Als sei sie kein Mädchen, sondern ein dünner grüner Stängel. In Gedanken zählte sie schnell bis dreißig, dann tat sie, was sie tun musste, das Einzige, was hier zu tun war. Um in diesem Haus ihre Ruhe zu haben, um nicht nach Hause geschickt zu werden, um herauszufinden, was sie hier herausfinden wollte. Sie hustete. Laut. Nicht zu laut. Gerade laut genug, um von den anderen gehört zu werden.

»Martin, hast du das gehört?«

»Nein.«

»Ich glaube, da kommt jemand.«

»Ach.«

»Na komm schon, Martin. Komm, wir müssen los. Mama!«

Elisa blieb stehen und starrte vor sich hin, während sie die anderen weglaufen hörte. Sie blieb ganz still stehen, bis sie keine Räder mehr über Kies rollen hörte, bis diese Fremden, wer immer sie gewesen sein mochten, durch die Birkenallee geradelt waren, über den Waldweg, zurück zum Legodorf, aus dem sie gekommen waren.

Elisa und die Mutter hatten nicht auf Dauer bei Cillia wohnen wollen. Hannah hatte immer gesagt, das sei nur eine vorübergehende Lösung. Aber dann war sie auf dem Sofa liegen geblieben. Es hatte viele Tage gegeben, an denen die Mutter es nicht über sich brachte aufzustehen, an denen sie die Füße einfach nicht auf den Boden setzen mochte. So müde war sie. So müde kann ein Mensch sein. Und eines Tages war Elisa in die Schule gekommen. Danach war von Umzug nie mehr die Rede gewesen. Elisa besuchte eine Schule, die gar nicht weit von Cillias Wohnung entfernt lag. Und dabei blieb es dann. Vielleicht hörte es deshalb auf. Vielleicht wegen der Mutter, die den ganzen Tag auf dem Sofa lag und den Fernseher laufen hatte, aber auch wegen Cillia, die in der Küche saß und die Dominosteine hintereinander auf der Plastikdecke aufstellte. Sie stellte sie nicht nur in Reih und Glied auf. Sie stellte ihnen auch Hindernisse in den Weg. Cillia baute kleine Brücken aus Eierkartonresten, die die Dominosteine überqueren mussten. Wenn sie glaubte, dass niemand sie sah. Wenn sie sich nicht darauf konzentrierte, zu lächeln und zu lachen. Auch für Cillia hörte alles auf und das war vielleicht kein so großes Wunder, doch woran keine gedacht hatte, war, dass es auch für Elisa aufhörte. Sie wussten es nicht. Dass Dinge sich verändern und trotzdem stillstehen können. Dass keine mit einer befreundet sein will, deren Mama den ganzen Tag vor dem Fernseher auf dem Sofa liegt. Bei Elisa, da ist alles so komisch. Nicht so, wie es sein sollte. Hast du davon gehört? Hast du von ihrer Mutter gehört? Weißt du, warum immer ihre Oma zum Elternsprechtag kommt?

In der Schule entdeckte Elisa, dass sie sich nicht erinnern konnte. Das passierte an einem Wintertag in der ersten Klasse. Sie sollten über das Wachsen sprechen. Darüber, wie alle größer wurden. Dass sie früher allesamt einmal Babys gewesen waren. Frau Evensen schlug vor, etwas von früher zu erzählen. Eine erzählte von einer Katze, der sie Puppenkleider angezogen hatte. Ein Junge erzählte von einem Teddy, dem er die Ohren abgeschnitten hatte. Siri Margrete, die hinter Elisa saß, erzählte, dass sie sich selber Simma genannt hatte. Siri Margrete war das hübscheste Mädchen in der Klasse. Sie hatte rosa Kleidchen mit Herzen und Blumen und echte Korkenzieherlocken mit Sonnenblumenspangen. Immer waren Siri Margretes Kleidchen mit Herzen und Blumen bedruckt. Alle fanden es witzig, dass Siri Margrete sich selber Simma genannt hatte. Alle hatten gelacht. Und dann war Elisa an der Reihe gewesen.

– Und jetzt du, Elisa. Woran kannst du dich von früher her am besten erinnern?

Frau Evensen war lieb. Frau Evensen umarmte die Kinder, ehe sie nach Hause gingen. Von April bis Juni würden jeden Tag Blumen für sie auf dem Pult liegen. Und jetzt du, Elisa. Woran kannst du dich von früher her am besten erinnern? An nichts. Elisa hatte die Zähne zusammengebissen, die Augen geschlossen und die Stirn gerunzelt, um nachdenklich auszusehen. Woran kannst du dich am besten erinnern, Elisa?

– Mmmmm.