Zeit der Lügen - Hilde Hagerup - E-Book

Zeit der Lügen E-Book

Hilde Hagerup

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Beschreibung

Jonas steckt in der Klemme. Seine Mutter sitzt seit sechs Jahren im Gefängnis, weil sie einen Mann umgebracht hat. Jetzt soll sie bald entlassen werden. Der 14-Jährige zählt schon die Tage und kann es kaum erwarten, endlich wieder mit seiner Mutter unter einem Dach zu wohnen. Allerdings hat Jonas seinen Freunden und seinem gesamten Umfeld nie erzählt, dass seine Mutter im Gefängnis sitzt. Vielmehr hat er er die Wirklichkeit verschwiegen und sich eine eigene Realität geschaffen, mit der es sich bislang gut leben ließ. Jetzt aber ist die Zeit gekommen mit den Lügen aufzuräumen. REZENSIONEN "Mal hochgradig befremdlich, mal gerade so, dass sich Gleichaltrige durchaus in seinen Gedanken wiederfinden können. Und genau das ist es, was "Zeit der Lügen" so empfehlenswert für junge Leser macht: der Reiz, nicht alles vorgelegt zu bekommen, sondern sich individuell mit der Geschichte von Jonas Nilsen auseinandersetzen zu müssen." – Jana Koof (2010), www.lesbar.uni-koeln.de AUTORENPORTRÄT Hilde Hagerup (*1976) ist eine erfolgreiche norwegische Schriftstellerin und Tochter des bekannten Jugendbuchautors Klaus Hagerup. Sie studierte Geschichte in London und lebt und arbeitet heute in Oxford. Ihre beiden ersten Bücher "Glanzbildendel" und "Jojo-Herz" wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

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Hilde Hagerup

Zeit der Lügen

Roman

Aus dem Norwegischen vonGabriele Haefs

Saga

Jonas Nilsen zählt die Tage, bis seine Mutter zurückkommt. Sie ist im Gefängnis, seit Jonas acht Jahre alt war. Jetzt ist er vierzehn. Während dieser Zeit hat Jonas ihr die Wahrheit über sich verschwiegen.

Nun hat sie ihre Strafe abgesessen, und Jonas weiß, dass er ihr erzählen muss, dass er ganz und gar nicht beliebt ist, dass er nicht Klassensprecher ist, dass er ein schwacher Schüler ist und dass er keine Freundin hat. Das Leben ist mit Jonas bisher ziemlich rau umgesprungen. Er und sein Vater kommen nicht gut miteinander klar. Es steht für Jonas viel auf dem Spiel, und es ist so wichtig für ihn, dass seine Mutter begreift, wie die Dinge liegen und warum er sie in seinen Briefen und Telefongesprächen einfach belügen musste.

Hilde Hagerup, geboren 1976, ist eine erfolgreiche norwegische Autorin, die schon zwei Mal mit dem Norwegischen Kritikerpreis ausgezeichnet wurde. Sie ist die Tochter des bekannten Jugendbuchautors Klaus Hagerup. Hilde Hagerup studierte Geschichte in London und lebt und arbeitet heute in Oxford. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.

1

Jonas Nilsens Mutter hat einen Fernseher in der Zelle. Und einen kleinen Schreibblock und einen Tisch und ein Bücherregal mit fünf Büchern. Sie hat einen Kleiderschrank mit T-Shirts und Hosen, sie hat einen Kalender an der Wand, mit Bildern von Hundebabys. Puppies 2007 steht darauf. Sie hat einen Spiegel und eine Haarbürste und einen Heizkörper hinter einem Gitter.

Und auf einem Brett über dem Bett hat sie ein Bild von sich und Jonas. Dieses Bild ist vor sechs Jahren aufgenommen worden. Jonas sitzt neben ihr auf der Treppe zu Hause in Krattbo. Ihr Lippenstift ist rosa und ihr Trägerkleid grün. Er hat einen dunklen Struwwelkopf und dunkle Augen. Er sieht skeptisch aus. Genervt. Obwohl er ein Eis in der Hand hält. Obwohl es noch über einen Monat dauern wird, bis seine Mutter einen Mann tötet.

Marita Nilsen geht zu dem Bild und streicht Jonas über die Wange.

Sie spürt nichts unter ihren Fingerspitzen.

Nur kaltes Glas.

Jonas Nilsen ließ sich Zeit im Badezimmer. Er stand vor dem Waschbecken und beugte sich zum Rasierspiegel vor. Der war auch ein Vergrößerungsglas, er war zwei Dinge in einem, im Prinzip konnte man alles sehen. Alle Pickel, Kratzer, alle harten schwarzen Stoppelhaare am Kinn, die geplatzten Äderchen, die die Wangen rot machten, den Rotz in den Nasenlöchern, wenn man den Kopf in den Nacken legte.

Jonas legte den Kopf in den Nacken.

Als er seine Nasenlöcher ausgiebig betrachtet hatte, öffnete er den Badezimmerschrank und nahm eine Packung Zahnseide heraus. Nur Putzen und Spülen reichte ja nicht. Auf diese Weise wurde man die Essensreste nicht los, schon gar nicht die Krümel, die sich zwischen den Backenzähnen versteckten. Wenn man nicht gründlich vorging, konnten die Krümel wochenlang dort sitzen bleiben. Dann riskierte man Löcher in den Zähnen. Jonas spannte den Faden zwischen Daumen und Zeigefinger, wie er das beim Zahnarzt gelernt hatte. Er wollte rein gar nichts riskieren.

Jemand rüttelte an der Türklinke.

Jonas Nilsen ließ sich nichts anmerken. Er öffnete den Mund und legte den Kopf in den Nacken, um richtig hineinlangen zu können, um zu sehen, was für Gemeinheiten dort lauerten, Bakterien, die sich ihren Weg nagten und ihm bald wehtun würden.

»Jonas?«

Vor der Badezimmertür stand der Vater. Jonas wusste, dass er schon eine ganze Weile dort gestanden hatte, ohne etwas zu sagen.

Aber wer die Badezimmertür abschließt, tut das, weil er das Bedürfnis hat, allein zu sein.

»Aufmachen.«

Jonas fischte ein kleines Stückchen Apfel aus seinen Zähnen.

Wenn niemand je das Bedürfnis hätte, allein zu sein, müsste es keine Schlüssel geben.

»Nein.«

»Was machst du?«

Jonas zog die Zahnseide aus dem Mund und stellte fest, dass die sich gerötet hatte. Er warf den blutigen Faden in den Mülleimer und blieb mitten im Raum stehen, während er durch den Türspalt den schweren Atem des Vaters hörte.

»Jonas?«

»Nichts.«

»Genau. Und jetzt machst du verdammt noch mal auf! Ich kann diesen Quatsch nicht mehr ertragen!«

Wieder wurde an der Klinke gerüttelt. Hart.

»Joi«, sagte Jonas.

Die schwarzen Haare fielen ihm in die Augen. Jetzt sah er die Welt nicht mehr. Jetzt sah er im Spiegel sein eigenes bleiches, hässliches Gesicht nicht mehr. Er nahm einen Gelklumpen aus der kleinen roten Dose auf dem Waschbeckenrand und strich sich die Haare nach hinten. Dann hob er noch einmal den Blick, und zum ersten Mal fiel ihm die Decke des Badezimmers auf. Die war tapeziert. Psychedelisch. Braun und Orange. Von diesen Farben wurde ihm schwindlig. Wenn er stehen blieb und sich das Muster ansah, würde er sich bald nicht mehr aufrecht halten können.

Sie kamen eine halbe Stunde zu spät. Das machte nichts, sie mussten trotzdem zehn Minuten im Lehrerzimmer auf die Rektorin warten.

Jonas’ Vater konnte nicht still sitzen. Er schob seine Kaffeetasse hin und her, er kleckerte, er wischte den lauwarmen Kaffee mit dem Daumen vom Tisch, er spielte an den Blättern der Plastikblume herum, schloss seine Jacke und öffnete sie wieder, hob die Hände, drehte sich zur Tür, auch wenn niemand hereinkam.

Am Ende sah er Jonas an.

»Hm?«

Das war das Einzige, was er gesagt hatte, seit Jonas aus dem Badezimmer gekommen war. Jonas schüttelte den Kopf. Der Vater holte Luft, hielt sie an, stieß sie durch die Nasenlöcher aus, sodass fast ein Pfiff entstand. Pfiiiiiip. Er versuchte, etwas zu sagen, aber das dauerte, und es dauerte Stunden, einige wenige Sätze herauszupressen, und wenn er damit angefangen hatte, war keine Zeit mehr. Jonas’ Vater schaffte es nie, das zu sagen, was wichtig war. Auch jetzt nicht. Zum Glück.

»Da seid ihr ja.«

Die Rektorin war größer als sie beide, sie war größer als die meisten anderen, deshalb ging sie immer mit gesenktem Kopf und durchgebogenen Knien. Sie gab Jonas die Hand, aber sie machte das ungeschickt. Ihre Hand war kalt und fast glatt. Sie war ebenfalls nervös.

»Wie nett, dich wieder bei uns zu haben, Jonas«, sagte die Rektorin.

Sie nickte beim Reden. Jonas’ Vater fing ebenfalls an zu nicken. So war der Vater von Jonas Nilsen: zu Hause sauer und anderswo peinlich.

»Ja. Ja ... danke.«

Jonas sah, dass sein Vater erleichtert war. Angespannt, aber doch erleichtert. Das wurde deutlich an der kleinen vibrierenden Runzel, die der Vater im Mundwinkel hatte. Ein Versuch eines Lächelns. Ein Anfang.

»Das wird bestimmt sehr gut gehen«, sagte die Rektorin.

Der Vater leckte sich die Oberlippe. Er hatte sich den Schnurrbart abrasiert, die Spucke blieb hängen und glitzerte, während sie trocknete. Sie sah aus wie Schweiß. So, als ob er gerannt wäre. Jonas sah, dass der Vater Atem holte. Anlauf nahm. Dann kam es.

»Das ... da ... da. Bin ich mir nicht so verdammt sicher.«

Die Runzel in seinem Mundwinkel vibrierte und vibrierte. Dann verschwand sie. Jonas Nilsens Vater kam nicht weiter, es wurde wohl zu viel. Er schaffte es nicht, die Rektorin anzulächeln. Stattdessen hob er die Hand, um Jonas durch die Haare zu fahren. Er fuhr Jonas niemals durch die Haare, wenn sie nur zu zweit waren. Das hier machte er sicher nur, um dem Jugendamt zu entgehen. Um nicht als Rabenvater dazustehen.

Aber Jonas wich aus, und die Hand blieb in der Luft hängen; die Rektorin folgte ihr mit den Augen und nickte immer weiter. Nick, nick, nick. Die ganze Zeit starrte sie auf die Hand des Vaters, die keine Haare fand und stattdessen schlaff auf den Oberschenkel fiel: ungeschickt.

»Doch, das glaube ich schon«, sagte die Rektorin, und jetzt blickte sie Jonas an. Jonas sah, dass ihre Augen nicht einfach blau waren, sondern hellblau, fast türkis, und alles an dieser Dame war gut gemeint, aber nichts war gut genug. Nichts reichte.

Sie wollte, dass er etwas sagte.

Reden fiel Jonas leicht. Es fiel ihm leicht, die Leute locker werden zu lassen. Sie zum Lachen zu bringen. Er konnte gut Grimassen schneiden, imitieren, auf alle viere sinken und wie ein Hund bellen. Wie ein Hahn krähen. Jonas Nilsen konnte alles, was gerade nötig war.

Der Vater wollte auch, dass er etwas sagte. Am liebsten etwas Witziges. Das wäre jetzt nötig gewesen. Um die Stimmung aufzulockern. Die war so schwer. Wie übrigens fast alles.

Als Jonas nichts sagte, zog der Vater mit den Daumen seine Trainingshose hoch und schob die Hüften vor, und dabei schnaubte er, räusperte sich. Dann öffnete die Rektorin plötzlich den Mund.

Redet ihr viel über sie?

Jonas’ Vater fing an, sich mit Daumen und Zeigefinger an den Nasenhaaren zu ziehen. Jonas sah die rote Bluse der Rektorin an. Dann pfiff er. Lange und ein wenig schrill. Wie nach einem Hund. Die Rektorin gab auf. Hatte den Wink verstanden. Schlug vor, jetzt die Klasse zu begrüßen.

»Aber dann ... dann kann ich ja gehen. Ellen?«

Er hätte die Rektorin nicht Ellen nennen dürfen. Das hörte Jonas. Und er wusste, dass der Vater das auch selbst gehört hatte, denn sofort streckte der wieder seine Hand nach Jonas’ Haaren aus. Wieder wollte er ihn zausen. Diesmal war Jonas nicht schnell genug. Er spürte, wie der Vater ihm die Kopfhaut rieb, wie er die starren schwarzen Haare nach unten drückte, jetzt hatte der Vater Gel an der Handfläche, jetzt wurde er klebrig, und das war ja auch der Sinn der Sache, das hatte er gewollt, dachte Jonas. Der Vater wollte ein wenig von Jonas’ Haargel entfernen, aber Jonas wollte sein Haargel behalten.

»Nein«, sagte Jonas.

»Hm?«

Die Rektorin war auf dem Weg zur Tür, jetzt blieb sie stehen.

»Was hast du gesagt?«

Der Vater schloss die Augen. Jonas stellte sich vor, dass er hinter den Augenlidern hundert Millionen Sternschnuppen vor dem roten Himmel sah.

»Komm mit«, sagte Jonas.

»In die Klasse?«

Jonas nickte.

Jetzt ging die Rektorin in die Hocke. Jetzt war sie kleiner als Jonas. Jetzt hatte sie keine türkisen Augen mehr. Jetzt war ihr Blick dunkel und besorgt, und Jonas wusste, was sie dachte: So leicht wird das hier doch nicht. Es ist durchaus nicht sicher, ob es gut geht. Jetzt kam der Zweifel. Im Zweifel für den Angeklagten.

»Ich glaube ...«, fing die Rektorin an. »Weißt du, was ich glaube, Jonas?«

Der oberste Knopf der roten Bluse der Rektorin war abgegangen. Jonas blickte genau in den Spalt zwischen den Brüsten. Die wurden zusammengepresst. Sie schienen Atemprobleme zu haben, nach oben zu wollen. Vor allem die rechte. Die rechte Brust war größer als die linke, oder vielleicht lag es daran, dass die Rektorin hockte, vielleicht übten ihre Knie einen ganz besonderen Druck auf ihre rechte Seite aus.

»Ich glaube, es wäre besser, du gingst allein zurück in die Klasse«, sagte die Rektorin jetzt. »Meinst du nicht?«

»Nein.«

Die Brüste schwollen an, als die Rektorin tief Luft holte.

Wenn Jonas sich vorbeugte, würde er ihnen heraushelfen können. Sie würde ihn nicht daran hindern können. Nicht, wenn er es schnell machte. Sie würde es nicht schaffen, das Gleichgewicht zu halten.

Aber dann spürte er einen Arm um die Schultern. Es war sein Vater, der ihn wegzog.

»Na gut. Du hast gewonnen. Der Teufel soll dich holen, Jonas.«

Sein Atem traf Jonas wie ein harscher Wind. Kaffee.

2

Sechs Jahre vorher. Jonas ist acht Jahre alt. Da ist ein Teddy im Spielzimmer. Fernseher. Die Mutter trägt keinen gestreiften Pyjama. Das ist immerhin gut. Er hatte vor allem Angst, sie könnte aussehen wie ein Mitglied der Panzerknacker. Aber sie sieht ganz normal aus. Sie trägt normale Kleidung. Blaues T-Shirt und weiße Jeans. Nicht einmal Handschellen. Jonas ist Mitglied im Micky-Maus-Klub. Das bedeutet, dass er auf der Seite der Guten steht. Das bedeutet, dass er immer auf der Jagd nach Schurken und Dieben und Mördern ist.

»Jonas.«

Jonas will ihr lieber nicht in die Augen schauen. Er nimmt den Teddy. Hält ihn sich vors Gesicht. Der Teddy riecht nicht gut.

»Jonas.«

Sie versucht, ihm den Teddy wegzuziehen. Er hält fest, aber sie ist stärker, deshalb gewinnt sie. Die Mutter setzt sich den Teddy auf den Schoß. So. Da. Jetzt hat er nichts mehr, wohinter er sich verstecken kann. Sie versucht sich zu bücken, damit er sie ansieht, aber er schließt die Augen. Damit hat er gewonnen.

»Willst du nichts sagen, Jonas?«

Nein.

»Kannst du mir nicht erzählen, was du in der Schule machst?«

Nein.

»Es ist so schön, Besuch von dir zu haben, Jonas.«

Plötzlich überlegt er, ob er wohl in den Micky-Maus-Klub aufgenommen worden wäre, wenn Micky Maus wüsste, was seine Mutter getan hat. Sein Bauch tut weh. Und seine Beine tun weh. Dann platzt er. Dann kommt das Monstergebrüll.

Verdammtescheissfickfotzenkuh!

Das ist nicht viel. Das ist genug. Der Vater packt ihn am Arm. Trägt ihn aus dem Raum. Im Gefängnis darfst du nicht fluchen. Die Wärter mögen das nicht. Die Häftlinge mögen das nicht. Sie versuchen trotz allem, ein neues Leben anzufangen. Jonas schlägt immer wieder mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett des Pick-ups und denkt, auch egal.

Jonas hatte sich auf den Boden gelegt, als ein Mädchen aus der Parallelklasse vorbeiging. Sie trug einen Rock. Er sah ihre Unterhose. Braun. Also schrieb er auf den Spiegel über dem Waschbecken im Umkleideraum der Turnhalle: Birte Jensen hat ne braune Unterhose. Er dachte, dass andere Jungen das gern wissen wollten. Ehe sie möglicherweise Lust bekämen, mit Birte zu schlafen. Braune Unterhosen sind nicht sexy. Er dachte, dass er hier Aufklärungsarbeit leistete.

Marius, der Klassenlehrer, sagte, er sollte sich zusammenreißen.

»Die Jungs finden das überhaupt nicht witzig«, sagte Marius. »Die finden dich blöd, ist das klar? Und Birte ist schrecklich traurig. Ich finde, du solltest dich bei ihr entschuldigen.«

»Ich finde, Birte sollte sich schöner anziehen«, sagte Jonas.

Dann kam die Rektorin in einem Rock in die Schule. Die Rektorin hatte schöne Knöchel, obwohl sie so groß und so dünn und so alt war. Jonas Nilsen schaffte es gerade noch, davon beeindruckt zu sein. Mehr schaffte er dann nicht. Marius zog ihn am Pullover hoch. Es war ein grüner Lambswoolpullover. Der wurde ruiniert. Zerrissen. Er konnte ihn nur noch wegwerfen. Jonas wollte Marius verklagen. Er schlug das vor, als er und der Vater im Pick-up nach Hause fuhren.

»Wir können ihn verklagen. Wir können Mamas Anwalt nehmen.«

»Halt jetzt mal die Klappe, Jonas«, sagte der Vater.

Mehr sagte er nicht. So war es immer.

Nun gingen Jonas Nilsen und der Vater hinter der Rektorin her zum Klassenzimmer, und an diesem Tag trug die Rektorin eine Hose. Enge Hose und enge rote Bluse. Ihr Hintern zitterte beim Gehen.

»So.« Sie öffnete die Tür zum Klassenzimmer, ohne anzuklopfen, und verschwand, ohne dem Klassenlehrer etwas zu sagen.

»Hallöchen, Jonas. Wir machen gerade Gleichungen mit zwei Unbekannten.«

Marius stand in Surferhemd und knielangen Jeans an der Tafel.

Lehrer dürften keine Schlackerhosen tragen. Das sieht einfach nicht aus. Das flößt anderen keinen Respekt ein. Ein Anzug flößt Respekt ein.

Jonas fuhr sich mit der Hand über den Kragen, er trug den gestreiften Anzug und ein gebügeltes weißes Hemd. Jonas Nilsen war gut angezogen und zufrieden mit sich. Er berührte kurz seinen Adamsapfel, spürte die Blicke der anderen, merkte, dass sie ihn ansahen, ohne dass er sie ansah.

Und dann begriff er, dass etwas geschehen war.

Brauchte sich nicht einmal umzusehen. Wusste es einfach. Spürte es. Etwas war anders. Falsch. Etwas Falsches war geschehen. Und plötzlich ging ihm auf, was das war.

Sie hatten immer zu zweit an den Tischen gesessen. Außer Jonas Nilsen. Er hatte einen Doppeltisch für sich allein gehabt. Das war besser so. Übersichtlich. Aber jetzt war die eine Seite besetzt. Vorher war sie leer gewesen. Niemand auf dem Stuhl neben Jonas Nilsen. Platz genug für Ranzen und Turnbeutel. Platz genug, um den Vater mitzunehmen, wenn Jonas nach einem zweiwöchigen Schulverweis zurückkam. Ein Doppelpult für sich allein war ein Privileg gewesen. Sie hatten es ihm weggenommen. Die Güter verteilt. Sie eingezogen. So macht man es auch mit Laborratten, damit sie durch den Plastikreifen kriechen: Weg mit dem frischen Wasser. Dann werden wir ja sehen, was passiert.

»Wer ist die da?«

»Tone«, sagte Marius. »Sie ist seit der vorigen Woche bei uns.«

Tone hatte lange mausbraune Haare und ein kleines Kreuz um den Hals. Sie lächelte ihn nicht an, sie schaute in ihr Matheheft, sie war mit Gleichungen mit zwei Unbekannten beschäftigt, und sie sah aus, als ob sie das im Moment wahnsinnig interessant fände.

»Sie kann da nicht sitzen.«

»Sicher doch«, sagte Marius. »Das kann sie.«

»Da soll Vater sitzen.«

»Ich denke doch, dass dein Vater wieder nach Hause geht, Jonas.«

»Und wo soll ich meinen Turnbeutel hinlegen?«

»Auf den Flur«, sagte Marius. »Genau wie alle anderen.«

Jonas merkte, dass Marius wütend wurde. Jonas hatte Kopfschmerzen. Da war dieser Druck an den Schläfen. Er ging zu Tone hinüber. Sie schaute nicht hoch. Sie schrieb nicht in ihr Matheheft. Sie las, und sie hielt sich die Ohren zu. Jetzt sah er das Kreuz um ihren Hals nicht mehr.

»Verschwinde.«

»Verdammt noch mal, Jonas.«

Das war die Stimme des Vaters. Die Stimme des Vaters von weit, weit her. Durch den Nebel. In Watte gewickelt. Durch ein altes Mikrofon, in einer Fernsehshow aus den Achtziger-Jahren, als Jonas Nilsen noch nicht geboren worden war.

»Verschwinde.«

»Das reicht jetzt, Jonas.«

Die Hände des Vaters packten seine Schultern. Er wusste, dass Marius auch da war, dass Marius über Schultaschen und Turnbeutel gesprungen war, um ihn aufzuhalten. Zu spät. Es war nur ein kleiner Tritt nötig. Dann kippte der Tisch mit dem Matheheft auf Tone zu.

»Ichhabverschwindegesagt!«

Tone fiel. Für einen Moment blieb sie ganz still liegen und schaute zur Decke hoch. Erst, als sie aufstand, begriff Jonas, warum sie vornübergebeugt dagesessen hatte, hinter ihren Armen versteckt. Nicht, weil sie gelesen hatte. Sondern wegen ihrer Brüste. Die waren riesig. Absolut in keinem Verhältnis zu ihrem restlichen Körper. Jonas Nilsen wusste allerlei über Brüste. Aber dass sie so groß werden konnten wie Tones, hatte er nicht gewusst.

»Halleluja«, flüsterte er. »Preesdelort.«

Er hatte das als leisen, leisen Ausruf geplant. Privater Jubel. Aber die ganze Klasse hatte ihn gehört. Jetzt prusteten sie los. Er schaute sich für einen Moment um. Wendy lachte. Ingrid lachte. Die in der hintersten Reihe lachten. Die am Waschbecken lachten. Und alle sahen ihn an. Alle sahen Jonas Nilsen im Anzug an. Er sah alle an. Und nun blieb ihm keine Wahl. Langsam sank er in die Knie und hob die Stimme.

»Preesdelort.«

»Zufrieden?«, fragte Wendy.

Wendy und Ingrid saßen am Tisch hinter Jonas. Hinter Jonas Nilsen und Tone. Wendy redete viel. Sie hatte glatte dunkle Haare. Ingrid hatte mausblonde Locken. Sie war nicht so hübsch wie Wendy und wusste das auch, deshalb hielt sie meistens die Klappe. Jetzt kippelte sie mit dem Stuhl und schüttelte sich vor Lachen.

Jonas nickte.