Joki und die Wölfe - Grit Poppe - E-Book

Joki und die Wölfe E-Book

Grit Poppe

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Beschreibung

"Träumte Joki? Oder war das Tier vielleicht nur ein ausgebüxter Schäferhund? Aber der Ausdruck in den Augen wirkte wild, ungezähmt, fast hypnotisch." Joki kann es erst nicht fassen, als er auf einem seiner Streifzüge durch den Wald einem Wolf begegnet, Bald schon beobachtet er das ganze Rudel, auch die Wölfe nehmen ihn wahr und ziehen sich vorsichtig zurück. Doch als Joki eines Tages auf einen Wolfswelpen stößt, ist ihm klar, dass das Jungtier zu seinem Rudel muss, denn allein würde es nicht überleben. Wird es Joki gelingen, den kleinen Wolf zu seiner Familie zurückzubringen? Eine abenteuerliche Geschichte über die Rückkehr der Wölfe, abwechselnd erzählt aus der Perspektive von Wolf und Mensch und ergänzt durch Fakten zum Thema Wolf.

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Seitenzahl: 241

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GRIT POPPE

PETER HAMMER VERLAG

INHALT

Rätselhafte Spuren

Wie ein grosses dunkles Tier

Eine geheimnisvolle Begegnung

Das verlassene Haus

Schüsse im Wald

Das gibt Ärger!

Hinter dem Tor

Eine verhängnisvolle Entscheidung

„Die Wölfe sind da!“

Ein Raubtier im Bett

Die Suche beginnt

Eine blutige Fährte

In der Finsternis

Himmel gibt es überall

Bullibob

Verirrt

Die Hütte im Wald

Wolfsseele

In der Falle

Allein

Im Kreis der Wölfe

Drei Tage später

Ein Wildtier kehrt zurück

Fakten zum Thema Wolf

Lautlos lief der Wolf durch die Dämmerung.

Die ersten Strahlen der Sonne fielen zaghaft auf seinen Weg.

Im Zwielicht wirkten die Bäume schwarz, und das Moos hatte die Farbe des verblassenden Mondes. Als würde die vergangene Nacht den Wolf ein Stück begleiten, glitt sein Schatten neben ihm her.

Es war nicht mehr weit bis zur Höhle. In seinem Maul trug er die Beute. Das Tier mit dem weichen Fell zappelte nicht mehr, aber es war noch warm.

Die langen Ohren des toten Hasen schleiften über den Waldboden. Einmal blieb der Wolf mit seinem Fang in einem dornigen Gebüsch hängen, doch sein Kiefer schloss sich nur noch fester um das Tier. Er riss und zerrte, bis der Zweig brach, und setzte dann seinen Weg fort. Nur achtete er jetzt darauf, dass er das Gesträuch mied. Auch um herabhängende Äste machte er einen Bogen. Eine Zeit lang setzte er seine Schritte vorsichtiger, bedachter, und er wurde langsamer.

Schließlich verließ er den Wald, lief auf einem Weg weiter, der nach Zweibeinern roch und ihm nicht geheuer war. Sein Nackenfell sträubte sich, und ein leises Knurren drang aus seiner Kehle, als wollte er sich selbst warnen. Doch hier kam er leichter vorwärts. Er fiel in ein gleichmäßig schnelles Tempo, rannte über den graugelben märkischen Sand – bis er das Rudel witterte: die Wölfin und die Welpen, seine Familie, die auf ihn wartete. Auch ein Hauch des Höhlenduftes flirrte ihm in die Nase, ein Gemisch aus Erde, Wurzeln und Milch. Der ehemalige Dachsbau lag verborgen im schützenden Dickicht und der Eingang hinter wildem Gestrüpp versteckt.

Je näher er der Höhle kam, umso schneller lief er – als würde der Hunger seines Rudels ihn antreiben. Oder war es die Gefahr, von der er nicht wusste, worin sie bestand, die er aber spüren konnte? Zu dicht lag die Höhle am Revier der Zweibeiner.

Wieder tauchte er in den Wald, sprang jetzt leichtfüßig über das Geäst, jagte über Moos und durch Farn. Dann nahm er einen Ton wahr, der noch entfernt klang und ihn zu rufen schien: das Winseln seiner Jungen. Aufmerksam spitzte er die Ohren, lauschte auf den Tonfall – doch es schienen keine Hilferufe zu sein. Schon bald wurde das hungrige Fiepen der Wolfskinder deutlicher, und auch das leise Knurren ihrer Mutter hörte er jetzt.

Er packte die Beute noch fester mit seinem Gebiss und lief erhobenen Hauptes auf die Höhle zu.

RÄTSELHAFTE SPUREN

Joki hockte vor dem Haus, das auf eine Art gelb war, als hätte ein riesengroßer Hund daran gepinkelt. Und ein bisschen roch es auch so, was wahrscheinlich an der Promenadenmischung Socke lag, der zur Familie Meier gehörte und der sich einfach nicht benehmen konnte.

Joki fiel der Gestank kaum noch auf, denn er wohnte hier schon zehn Jahre, also sein ganzes Leben lang.

Doch das würde sich bald ändern. Genauer gesagt: schon morgen. Und eigentlich sollte er jetzt in seinem Zimmer sein und Umzugskartons packen.

Stattdessen betrachtete er mit konzentriertem Blick die Ameisen, die vor seinen Füßen geschäftig hin und her rannten, irgendwie konfus und zielstrebig zugleich, als hätten sie etwas vergessen und müssten deshalb noch mal zurück. Manche schleppten etwas mit sich herum, kleine weiße Würmchen, die wie Maden aussahen. Wahrscheinlich war das ihr Nachwuchs: Larven, aus denen bald neue Ameisen schlüpfen würden.

Er hörte ein Räuspern und wusste gleich, von wem es kam. Es gab nur eine, die sich auf diese Art räusperte und ihm damit zeigen wollte, dass sie schon eine ganze Weile neben ihm stand.

„Hallo, Sanja“, sagte er, ohne aufzusehen.

„Hey, Joki“, sagte sie ein bisschen atemlos, als wäre sie irgendwie aufgeregt. „Was machst du so?“

„Ich sehe den Ameisen beim Laufen zu“, antwortete Joki, obwohl er das eigentlich überflüssig fand. Sanja sah doch, womit er gerade beschäftigt war.

„Hm“, machte sie. „Willst du immer noch Insektenforscher werden?“

Joki zuckte mit den Schultern. „Das hab ich gesagt, als ich in der dritten Klasse war.“

„Und ich hab es nicht vergessen“, sagte Sanja stolz.

Er war froh, dass sie nicht nach dem Umzug fragte. Sie wusste ja Bescheid, also gab es nichts darüber zu reden. Joki hörte, dass sie schmatzend Kaugummi kaute, eine Blase machte, die leise platzte und die sie in den Mund einsog.

„Meine Tante hat Ameisen in den Füßen“, erklärte Sanja grinsend.

„Ja, klar“, sagte Joki leicht gereizt. Dann fiel ihm ein, was Sanja meinte. „So ein Kribbeln?“, fragte er und sah sie an. Machte sie sich etwa über ihn lustig? Aber Sanjas wilde Löwenmähne verdeckte ihr Gesicht. Nur die sommersprossige Nase und die langen Wimpern konnte er erkennen. „Hat meine Oma auch manchmal“, murmelte Joki.

Sanja kicherte und ließ sich neben ihn fallen und wirbelte dabei etwas Staub auf.

„Wärst du gern eine Ameise?“

„Glaub nicht“, knurrte Joki.

„Was dann? Ich meine, wenn du ein Tier sein könntest.“

Joki zuckte mit den Schultern. „Ich wäre gern groß, stark und wild. Ein Raubtier mit scharfen spitzen Zähnen, das sich von kleinen Sanjas ernährt.“

„Ich bin nicht klein.“

Das stimmte sogar. Sie war zwar ein Jahr jünger, aber fast so groß wie er. Und sie hatte breite Schultern, als würde sie heimlich Rugby spielen.

„Umso besser“, murmelte er. „Dann werde ich wenigstens satt.“

Sanja boxte ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen. Es tat ein bisschen weh, sogar mehr als ein bisschen, aber Joki ließ sich nichts anmerken. Manchmal war sie eine Nervensäge, aber meistens seine Freundin. Seine einzige Freundin.

Eine Löwin mit Mähne und Sommersprossen. Sie konnte fauchen und Zähne zeigen, wenn es sein musste. Und in ihren Augen blitzte es manchmal.

San-Ja.

Ihr komischer Name kam daher, dass ihre Eltern sich nicht einigen konnten, als sie noch ein Embryo war. Ihre Mutter wollte sie Anja nennen und ihr Vater Sandra. So wurde Sanja daraus.

Joki hieß in Wirklichkeit Johannes Kilian. Doch so nannte ihn niemand. Nicht einmal seine Klassenlehrerin, Frau Nebelschütz.

„Weißt du schon das Neuste?“, fragte Sanja.

Sie tat gern geheimnisvoll, weil sie Geheimnisse liebte.

Joki mochte nicht zugeben, dass er keine Ahnung hatte, was sie meinte. Wahrscheinlich versuchte sie sowieso nur, ihn von seiner Traurigkeit abzulenken. Denn eigentlich wollte er gar nicht weg. Hier war er aufgewachsen – und als er klein war, hatte auch sein Vater hier gelebt. Jetzt schrieb er noch ab und zu Briefe aus Guatemala, einem Land, in dem es Brüllaffen gab und Blattschneiderameisen. Joki bekam Bauchschmerzen, wenn er daran dachte, wie lange sich sein Vater schon nicht mehr gemeldet hatte. Also dachte er lieber nicht darüber nach.

„Sie kommen wieder“, sagte sie so leise, dass es fast ein Flüstern war. „Und nicht nur das … Sie sind schon da. Ich habe ihre Spuren gesehen.“

Joki presste die Lippen aufeinander und rührte sich nicht. Sicher würde sie gleich damit herausplatzen – mit einer ihrer Geschichten, die meist seltsam klangen, ausgedacht und märchenhaft. Was sie fast immer auch waren.

„Willst du gar nicht wissen, was ich entdeckt habe?“

Joki schwieg. Er beobachtete eine Ameise, die auf seinen Schuh kletterte. Hatte sie sich verirrt? Was ging wohl in einer Ameise vor? Dachte sie über ihr Leben nach? Vielleicht wollte er doch eine Ameise sein. Wenigstens drei Sekunden lang. Damit er wusste, wie es sich anfühlte.

„Na, wenn es dich nicht interessiert …“ Sanjas Stimme klang jetzt beleidigt.

Beleidigen wollte er seine Freundin wirklich nicht.

„Was denn?“, fragte er schroff.

„Tjaaa … Ich bin auf Spuren gestoßen. Keine gewöhnlichen, musst du wissen. Aber ich hätte nicht gedacht, dass sie so nahe herankommen. So dicht ans Dorf.“

Wovon redete sie? Von Außerirdischen? Erst vor Kurzem hatte sie ihm berichtet, sie hätte einen hell leuchtenden Meteoriten vom Himmel fallen sehen.

Joki warf ihr einen forschenden Blick zu. Ihre Wangen schimmerten rötlich, und in ihren Augen lag ein merkwürdiger Glanz.

„Geht es dir gut? Du hast doch kein Fieber, oder?“ Auf einmal sorgte er sich wirklich um sie. Sanja gehörte zu den Kindern, die von einer Minute zur anderen krank wurden und komische Punkte im Gesicht bekamen oder einen dicken Elefantenhals.

An ihrem Stirnrunzeln sah er schon, dass er völlig falsch- lag.

Sanja holte tief Luft, als wäre ihr das Geheimnis, das sie mit sich herumschleppte, zu schwer.

„Am besten, ich zeig sie dir.“

„Zeigst mir was?“

Sie verdrehte die Augen und schlug sich die Hand an die Stirn. „Na, die Löcher in meinen Strümpfen meine ich nicht, die kennst du ja schon.“

Joki dachte über eine patzige Entgegnung nach, aber zu seinem Ärger fiel ihm auf die Schnelle nichts ein.

„Die Spuren in der Wildnis“, raunte Sanja direkt in sein Ohr hinein, als könnten sie von irgendwem belauscht werden.

„Na schön“, murmelte Joki so gelassen wie möglich und schnipste die Ameise vorsichtig von seinem Schuh.

Vom Dorf in den Wald war es nur ein Katzensprung.

Sanja ging voran, drehte sich alle paar Meter um und zwinkerte ihm zu, als könnte Joki sonst verloren gehen. Er tat so, als würde er es nicht bemerken, und schaute nach oben zu den Wipfeln der Bäume hinauf. Das Sonnenlicht funkelte zwischen den Blättern. Der Wind, der ihm ins Gesicht blies, war noch kühl, aber irgendwann, bald, würde es Sommer werden.

„Der liegt schon in der Luft, kannst du ihn riechen?“, hatte seine Oma gefragt. Und Joki hatte genickt, obwohl die Luft nach nichts roch, so wie immer. Aber seine Oma schien sich furchtbar zu freuen, und das wollte er ihr nicht verderben. Jokis Mutter sagte solche Sätze nie. Sie schnupperte lieber an einem neuen Parfum herum als an einer Blume. Außerdem war sie selten zu Hause, seit sie Knut kannte. Und seit einiger Zeit wurde sie immer dicker. Zuerst hatte Joki blöderweise gedacht, es läge an den Hefeklößen, die es oft gab, groß, weiß und klebrig, mit warmen matschigen Pflaumen, die nach Zimt schmeckten. Es war das Lieblingsessen seiner Mutter, und sie aß immer einen Kloß mehr als Joki oder seine Großmutter. Aber dann hatte sie erzählt, dass er ein Geschwisterchen bekommen würde, und freudestrahlend auf seine Reaktion gewartet.

„Wenn, dann nur ein halbes“, hatte Joki gebrummt.

Die Antwort trieb seiner Mutter ein trauriges Lächeln ins Gesicht, so dass er sich plötzlich schämte. Sie konnte auf eine Art lächeln, dass es fast wie ein Heulen aussah. „Ich dachte, du freust dich.“

„Mach ich ja auch. Wird es ein Bruder oder eine Schwester?“ Doch da hatte sie sich schon abgewandt und war mit ihrem Murmelbauch, der immer runder wurde, in die Küche gestapft.

Joki wünschte sich einen Bruder, mit dem er am Teich sitzen und nach Fröschen oder Feuersalamandern Ausschau halten konnte. Aber eine Schwester wäre auch okay, wenn sie ungefähr so wurde wie Sanja. Also ein Mädchen, das nur Jeans trug, sich im Wald auskannte, als wäre sie die Försterin höchstpersönlich, die sich aus Puppen und ähnlichem Kram nichts machte und die rülpsen konnte „wie ein Bauarbeiter“. Das hatte jedenfalls Jokis Oma behauptet. Joki konnte sich allerdings nicht vorstellen, dass es jemanden gab, der fähig war, noch lauter und länger zu rülpsen als Sanja.

Jetzt wich sie vom Weg ab und lief auf Zehenspitzen durchs Unterholz, als wollte sie sich an eine Beute anschleichen. Joki folgte ihr und bemühte sich, ebenso vorsichtig zu sein.

Was hatte sie gesehen? Was wollte sie ihm zeigen? Er spürte eine eigenartige Nervosität – ein Kribbeln, als würden Ameisen über seine Haut laufen.

Sanja hatte schon seit einer Weile keinen Ton gesagt und sah sich nicht mehr nach ihm um.

Joki kämpfte sich durch das Gestrüpp voran, und erst, als er fast mit ihr zusammenstieß, bemerkte er, dass sie stehen geblieben war.

„Da vorn auf der Lichtung“, flüsterte sie.

Joki starrte auf die Stelle, auf die sie zeigte, konnte aber nichts Besonderes erkennen.

Vielleicht hatte sie sich ja doch nur ein Märchen ausgedacht?

„Pass auf, wo du hintrittst“, murmelte Sanja. „Sonst verwischen wir sie noch.“

Sie liefen weiter, und Joki blickte auf den sandigen Boden.

Erde, Blätter, Wurzeln, Erde, kleine Steine, Erde …

„Irgendwo hier müssen sie sein.“

Joki hörte ein Rascheln und nahm eine Bewegung neben sich wahr. Aber es war nur ein Vogel, den sie gestört hatten und der jetzt davonflog.

Einen Moment lang blieb Joki stehen und blickte ihm nach. Wie musste es wohl sein, sich in die Lüfte zu schwingen? Es sah so leicht aus, als wäre es die einfachste Sache der Welt.

Da stieß Sanja einen schrillen Laut aus.

Erschrocken rannte Joki zu ihr hin, aber sie stoppte ihn mit einer Armbewegung.

„Siehst du?“, brachte sie atemlos hervor. „Was hab ich dir gesagt.“

Joki blickte auf den schmutzig graugelben Sand hinunter, auf den sie zeigte.

Die Spuren waren kaum zu sehen.

„Na ja, da ist ein Hund langgelaufen“, sagte er enttäuscht.

Sanja schnaubte entrüstet. „Ein Hund? Schau dir die Abdrücke der Krallen an. Das war ein Raubtier!“

„Du hast zu viel Fantasie“, rutschte es Joki heraus. „Nicht, dass das was Schlechtes wäre …“

„Ich hab ein Buch mit Tierspuren zu Hause. Da sind haargenau dieselben drin.“

„Und von welchem Tier sollen sie sein?“ Joki versuchte, ernst zu bleiben. In seinem Bauch kitzelte ein Lachen. Wenn Sanja bockig wurde, sah sie tatsächlich wie eine beleidigte Leberwurst aus. Nur dass sie ziemlich rot wurde.

„Das war ein Wolf“, sagte Sanja.

Joki hockte sich auf die Erde. „Das könnte genauso gut eine Ente gewesen sein.“ Jetzt musste er wirklich lachen. Er konnte nichts dagegen tun. Das Kribbeln im Bauch war einfach stärker als er.

Er sah eine watschelnde Ente vor sich, und dann sah er seine watschelnde Mutter mit ihrem dicken Kugelbauch. Das Kichern schüttelte ihn wie ein Schluckauf, den er nicht abstellen konnte.

Sanja schwieg. Sie starrte ihn an und sagte kein Wort.

Joki fühlte sich durchbohrt von ihren Blicken und sprang auf. Das Lachen fiel von ihm ab und versickerte im Sand. Er überlegte, wie er sie trösten konnte. „War doch nur ein Spaß!“, rief er.

Sanjas Miene hellte sich kein bisschen auf.

Tut mir leid, dachte er. Aber er brachte es nicht über die Lippen. „Wölfe kommen nie so dicht an Siedlungen der Menschen heran“, erklärte er stattdessen.

„Kommen sie doch! Jedenfalls manchmal.“

„Unsinn. Sie sind zu scheu und zu schlau.“

„Du weißt immer alles besser, du Besserwisser!“, schrie Sanja ihn an. „Hier war ein Wolf, ob es dir nun passt oder nicht!“

„Selber Besserwisser“, entgegnete Joki, der langsam auch wütend wurde. Er mochte es nicht, wenn man ihn anschrie, er mochte es ganz und gar nicht. „Du hast sie doch nicht mehr alle. Du … du Oberbesserwisser!“

Etwas flackerte in Sanjas Augen auf, hell und kurz wie ein Blitz, und dann warf sie sich unvermittelt gegen ihn. Joki plumpste in den Sand, mit einem komisch dumpfen Geräusch, als würde ein Apfel von einem Baum fallen.

„Spinnst du?“, fragte er entgeistert.

Sanja zeigte ihm den Stinkefinger. Er sah, dass sie weinte. Dann rannte sie davon, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen.

Na super. Das hatte er ja toll hingekriegt.

Joki blieb noch eine Weile im Sand hocken und betrachtete die Abdrücke.

Irgendetwas war merkwürdig an diesen Spuren.

Aber er kam nicht darauf, was.

Und wenn Sanja nun doch recht hatte?

Ein Wolf?

Konnte das sein?

Die Wölfin lag direkt im Eingang des Baus. Bei jedem auffälligen Laut hob sie den Kopf und lauschte. Die Welpen in der Höhle winselten hungrig. Immer wieder drängten die Jungtiere nach vorn, immer wieder drängte die Wölfin sie zurück. Sie blieb geduldig und behutsam dabei.

Milch allein reichte den Welpen nicht mehr. Jetzt verlangten sie bereits nach Fleisch.

Nur das Kleinste nicht. Das Kleinste mit dem schwarzen Ohr. Es schien schwächer zu sein als seine Brüder und Schwestern. Es trank nur wenig und fraß nicht. Die Wölfin duldete, dass es sich an sie kuschelte, und gewährte ihm den Schutz, nach dem es suchte.

Der Wind trug ihr zu, dass ihr Gefährte zurückkam und Beute mitbrachte. Sie erhob sich und schnupperte. Es lag ein kaum wahrnehmbarer Geruch von Blut und Fleisch in der Luft. Doch es dauerte noch eine Weile, ehe sie die leisen Tritte des Rückkehrers hörte.

Als sie endlich den Wolf zwischen den Bäumen wahrnahm, empfing sie ihn mit einem freundlichen Gewinsel. Er näherte sich mit stolz erhobener Rute und einem großen Hasen im Maul. Sie lief auf ihn zu, um ihn zu begrüßen, und auch die Welpen umkreisten ihren Vater und sprangen an ihm hoch.

Der Wolf legte die Beute ab und schob sie geduldig in das Innere des Erdlochs hinein. Einen Moment lang spürte er die Schnauze der Wölfin, die ihn streifte. Dann zog er sich zurück und hielt draußen Wache.

Während die Jungtiere aufgeregt jaulten, begann die Wölfin damit, die Beute gierig und schnell zu verschlingen.

Die Welpen leckten an ihrer Schnauze, stupsten ihre Lefzen an. Sie sogen den Duft des frischen Fleisches ein und verlangten beharrlich nach Futter.

Nach einiger Zeit würgte die Wölfin etwas Fleisch hoch, ließ ihren Nachwuchs fressen. Hungrig stürzten sich die Jungen darauf, und es gab wie immer kleine Rangeleien um die Mahlzeit.

Die Wölfin beobachtete Schwarzohr, der etwas abseits saß und lediglich das Köpfchen hob, um zu wittern.

Seine Mutter kam zu ihm und stupste ihn an – erst sanft, dann nachdrücklich und mit Kraft. Beinahe fiel Schwarzohr in das Futter hinein. Er schnupperte lange an der vorverdauten Nahrung herum, und endlich nahm auch er einen Happen.

WIE EIN GROSSES DUNKLES TIER

Am Tag bevor die Sommerferien begannen und Joki von der Zeugnisausgabe nach Hause kam, war die Wohnung schon halb leer geräumt. Ein Umzugswagen stand vor dem Haus, und fremde Männer trugen ächzend und fluchend den riesigen Kleiderschrank seiner Mutter hinaus.

Joki ging wortlos an ihnen vorbei. Sie beachteten ihn nicht, und er wollte auch nicht wahrgenommen werden. Wie ein Einbrecher schlich er durch den Korridor.

Die Tür zum Wohnzimmer stand einen Spalt offen.

Nur die Möbel und die Sachen seiner Großmutter waren noch da.

Von seiner Oma erspähte er die Füße, die in bunten, selbstgehäkelten Hausschuhen steckten. Sie saß in ihrem Lieblingssessel und hörte klassische Musik im Radio. Laut. Sogar ziemlich laut. Trotzdem bemerkte sie ihn, als er sich vorbeischleichen wollte.

„Jokilein, komm rein, komm rein“, sang sie.

„Hallo, Oma“, rief er und trat ins Zimmer. Dann nahm er sie in die Arme und drückte sie. Einen Moment versank er in ihrem Geruch, der ihn immer an Bratäpfel in der Weihnachtszeit erinnerte.

„Na, wie ist’s gelaufen. Zeigst du’s mir?“

„Was denn?“ Joki unterdrückte ein Seufzen.

„So schlimm?“

Joki zog das Zeugnis aus der Schultasche.

Seine Großmutter nahm das Blatt vorsichtig in die Hände, als könnte es sich bei gröberer Behandlung in Luft auflösen. „Prima, prima, klasse, prima … Englisch, na ja … Lernst du schon noch. Ich kann nur ein einziges Wort. Willst du wissen, welches?“

Joki zuckte mit den Schultern.

„Cheese“, sagte sie so, dass sich das Wort anhörte wie langgezogener Käse, und sie grinste ihn so breit an, dass er einen Schreck bekam.

Seit ein paar Tagen hatte sie nämlich ein neues Gebiss, und irgendwie wirkten die Zähne so groß wie die vom Wolf in Rotkäppchen. Joki wunderte sich, dass sie überhaupt in ihren Mund passten.

In seinem Zimmer sah es so aus wie sonst – nur dass leere Umzugskartons auf ihren Einsatz warteten. In den ersten spuckte er hinein, den zweiten kickte er mit dem Fuß gegen die Wand, in den dritten ließ er sich fallen, so dass die Pappe riss.

Das half. Ein bisschen.

„After school I destroy boxes“, murmelte er. Seine Englischlehrerin wäre sicher begeistert.

Joki schluckte seine Traurigkeit hinunter und packte seine paar Besitztümer so langsam wie möglich ein. Bücher, CDs, Spiele, Klamotten, seine Schulsachen. Einen Karton mit Dingen, die er für seine Streifzüge im Wald brauchte: ein Taschenmesser, eine Lupe, eine Landkarte, ein Fernglas, ein Feuerzeug und eine Taschenlampe.

Seine Mutter wünschte sich eine glückliche Familie – vereint unter einem Dach. Das konnte er verstehen. Und vielleicht klappte es ja. Vielleicht wurde wenigstens sie glücklich.

Natürlich dachte er auch an Sanja. Sie musste mitbekommen haben, was hier lief. Sie wohnte ja gleich nebenan.

Aber sie kam nicht herüber zu ihm. Und er ging nicht zu ihr.

Seine Mutter rief ihn schon das zweite Mal. Aber Joki hatte es immer noch nicht eilig. „Warum kommst du eigentlich nicht mit?“, fragte er seine Großmutter.

„Ach, Jungchen … Einen krummen alten Baum setzt man doch nicht in einen neuen Garten“, antwortete sie.

Etwas verlegen standen sie im Flur herum. Joki wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Also sagte er nichts.

„Jokilein, nicht traurig sein. Du hast jetzt einfach zwei Zuhause“, sagte sie und umarmte ihn.

Sie roch nach Kaffee und nach dem Apfelkuchen, den sie am Morgen gebacken hatte. Ein Abschiedsapfelkuchen.

„Ist gut, Oma. Cool, dass jetzt die Ferien anfangen. Da komm ich dich bald mal besuchen, versprochen.“

Aber das alles kam ihm falsch vor, auch seine Worte.

„Da bist du ja endlich“, sagte die Mutter erleichtert, als hätte sie nicht mehr mit seinem Erscheinen gerechnet.

„Auf geht’s!“, rief Knut betont munter und drückte dreimal kurz auf die Hupe.

Als sie losfuhren, wandte Joki sich noch einmal um. Er sah Promenadenmischung Socke hinter einer Fensterscheibe hecheln. Es schien beinahe so, als würde er sich über irgendwas kaputtlachen.

Joki streckte ihm die Zunge heraus.

Knuts Bauernhof lag vielleicht vier oder fünf Kilometer entfernt vom Dorf. Die Fahrt würde zum Glück nur ein paar Minuten dauern.

Jokis Mutter summte einen Song im Radio mit, und Knut pfiff dazu oder versuchte es jedenfalls.

„Because I’m happy“, sang seine Mutter den Refrain und klatschte auch noch dazu. Es klang etwa so wie eine eingerostete Tür, die in unterschiedlichen Tonlagen quietschte.

Joki sehnte sich jetzt schon nach dem gelben Haus zurück.

„Freust du dich denn gar nicht?“

„Worauf denn?“

Seine Mutter lächelte versonnen. „Auf die Zukunft?“

Joki zuckte mit den Achseln. Wie konnte man sich auf etwas freuen, was man gar nicht kannte?

„Solltest du aber“, mischte Knut sich ein und grinste ihn im Rückspiegel an.

Sie fuhren an Feldern vorbei und an einer Weide mit schwarz-weiß gefleckten Kühen. Gleich dahinter begann der Wald. Die Bäume wirkten hier dunkler und höher und irgendwie auch ein bisschen bedrohlicher – als gäbe es in ihrem Schatten ein Geheimnis. Joki begann sich nun doch zu freuen: auf das Unbekannte, auf ein neues Revier, das er erkunden konnte.

Beim Aussteigen empfing sie ein atemberaubender Güllegeruch. Joki hielt einen Moment die Luft an. Dann wedelte er mit der Hand vor seiner Nase herum. Als ob das etwas nützen würde.

Seine Mutter kam mit ihrem Wassermelonenbauch nur schwer aus dem Auto.

Knut rannte schnell um den Wagen herum und half ihr. Auch die Handtasche, die wahrscheinlich nicht viel mehr wog als eine Tüte Kekse, nahm er ihr ab.

Lachend sagte sie etwas von frischer Landluft, und Joki musste grinsen, als er sah, wie seine Mutter versuchte, sich nicht die Nase zuzuhalten. Wie eine zufriedene Ente watschelte sie an Knuts Seite auf ihr neues Heim zu.

Vielleicht war es doch richtig, hierherzuziehen. Bald würde das Baby auf die Welt kommen. Und vielleicht würden sie ja dann eine vollständige Familie werden, wo einer für den anderen da war, wenn es drauf ankam. So wie bei den Simpsons.

Joki hievte die beiden schweren Koffer aus dem Wagen und zog sie hinter sich her. Zum Glück hatten sie Rollen, und er musste sich nicht groß anstrengen. Es rumpelte auf dem Kopfsteinpflaster, als würde jemand zur Begrüßung trommeln.

Aus der Krone eines Baumes stieg ein Raubvogel und flog erschrocken davon. Joki folgte ihm mit den Blicken. Der Bussard, oder was immer es war, flüchtete Richtung Wald.

Ich komm nach, dachte Joki. Bald.

Sein neues Zimmer war viel größer als sein altes. Joki staunte nicht schlecht. Die Wände waren frisch gestrichen und rochen noch nach Farbe. Auf einem kleinen Schrank stand sogar ein Fernseher. Kein Flachbild, aber immerhin. Einen eigenen Fernseher hatte Joki noch nie besessen.

„Na? Wie findest du es?“, fragte Knut. „Nicht übel, oder? Hab den Dachboden mit ein paar Kumpels ausgebaut – extra für dich. Hier hast du dein Reich für dich.“

„Wow!“, brachte Joki heraus und wandte sich mit ungläubigem Staunen zu Knut um. Sollte er ihn etwa umarmen? Schließlich war er jetzt so was wie sein neuer Papa, oder? Doch es kam ihm vor, als wäre ein unsichtbarer Zaun zwischen ihnen. „Danke! Das ist wirklich … wirklich super“, stammelte er. Joki spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg und er rot anlief.

Aber Knut schien das nicht zu bemerken. Er nickte nur zufrieden.

„Das Bett ist Handarbeit, der Schreibtisch auch. Ich denke, du wirst dich hier wohlfühlen.“ Knut strubbelte ihm kurz durchs Haar. Das hatte er bisher noch nie getan.

„Und schau mal in die Schreibtischschublade.“ Er blinzelte ihm zu.

„Jetzt gleich?“

„Ja, klar.“

Verlegen lächelte Joki und zögerte einen Moment. Wieso bekam er so viele Geschenke? Er hatte doch gar nicht Geburtstag.

„Na? Bist du denn nicht neugierig?“ Mit einer ungeduldigen Bewegung riss Knut das Schubfach auf. „Es ist ein Gebrauchtes. Ich hab mir ein Neues gekauft, aber dies hier funktioniert noch gut. Du hattest dir doch eins zu Weihnachten gewünscht, oder? Die wichtigsten Nummern habe ich dir schon eingespeichert.“

Joki nickte sprachlos.

Ein Handy! „Für so etwas fehlt uns im Moment leider das nötige Kleingeld“, hörte er seine Mutter noch einmal sagen. Sie musste Knut von seinem Wunsch erzählt haben.

„Na, dann richte dich ein, wie es dir gefällt. Die paar Kisten wirst du ja im Handumdrehen ausgepackt haben. Heute hast du ansonsten frei. Morgen zeige ich dir den Hof und erkläre dir deine Aufgaben.“

Welche Aufgaben?, dachte Joki. Aber eigentlich achtete er nicht groß auf das, was Knut sagte.

„… werd mich mal um deine Mutter kümmern … Ist ganz schön anstrengend für sie …“, hörte er ihn noch mit besorgter Miene murmeln, bevor er das Zimmer verließ.

Joki warf einen kurzen Blick auf Knuts Handy, das jetzt ihm gehören sollte, und schob die Schublade schnell wieder zu.

Immer noch erstaunt sah er sich in seinem neuen Reich um. Auf einmal breitete er die Arme aus und drehte sich im Kreis. Wahnsinn!

Sein neues Zimmer sah fast aus wie eine richtige Wohnung!

Das musste er unbedingt Sanja zeigen!

Dann fiel ihm ein, dass sie sich gestritten hatten. Er war ganz allein in dem riesigen Raum. Und er musste auch an seine Großmutter denken, die jetzt vielleicht in ihrem Sessel saß und Mozart oder Beethoven hörte, damit es nicht so still war in der leeren Wohnung.

Wie ging es ihr wohl gerade?

Sein Blick streifte einen Umzugskarton, der bis zum Rand gefüllt war. Aber er hatte nicht die geringste Lust, ihn auszupacken.

Joki trat ans Fenster, riss es auf und starrte hinaus.

Wie ein großes dunkles Tier lag der Wald vor seinen Augen, keine hundert Meter entfernt von ihm. Die Wipfel der Bäume bewegten sich im Wind sacht hin und her. Joki kam es vor, als würden sie ihm zuwinken.

Komm schon, worauf wartest du?

Worauf wartete er?

Ein kleiner Erkundungsgang vor dem Abendessen konnte doch nicht schaden, oder?

Eine ganze Weile verharrte der Wolf vor der Höhle, hörte seiner Familie beim Fressen zu und nahm Witterung auf. Irgendetwas beunruhigte ihn, ein fremder Geruch, der in der Luft lag. Geduldig schnupperte er am Gras, an der Erde, an Wurzeln und Zweigen. Doch das Gras roch nach Gras, die Erde nach Erde, die Wurzeln und Zweige nach Holz. Der Duft des Waldes mischte sich mit dem Geruch von Milch und frischem Blut.

Dann ließ er seine Ohren spielen und lauschte auf Geräusche. Doch es blieb still. Nur das leise Schmatzen der kleinen Wölfe war zu hören.

Schließlich wandte er sich ab und trabte ein paar Schritte, um am nahegelegenen Bach seinen Durst zu stillen.

Als der Wolf das Plätschern des Wasserlaufs schon hörte, blieb er zögernd stehen. Ganz in seiner Nähe befand sich ein anderes Wesen – der Wind trug ihm diese Nachricht zu. Der Durst brannte ihm in der Kehle, aber sein Instinkt hielt ihn davon ab, an den Bach zu laufen und zu trinken.

Der fremde Geruch lag jetzt deutlicher in der Luft, der Wolf witterte ihn prüfend und lief fast lautlos ein paar Schritte zurück in Richtung Höhle. Kehrte dann aber um – der Durst quälte ihn, war stärker als die Furcht. Geduckt schlich er durchs Unterholz, der Bach war nur noch einen Wolfssprung von ihm entfernt. So vorsichtig er konnte, näherte er sich der Wasserstelle. Nicht weit weg von ihm flog eine Amsel auf. Womöglich verrieten der nervöse Flügelschlag und das aufgeregte Gezwitscher Gefahr. Doch der Bach lockte zu sehr. Seit der letzten Jagd hatte er nichts mehr getrunken.

Der Wolf schob sich in ein Gebüsch direkt am Ufer, das ihm einigermaßen Sichtschutz bot.