Juana - Unter Schwarzer Flagge - Nicole Kojek - E-Book

Juana - Unter Schwarzer Flagge E-Book

Nicole Kojek

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Beschreibung

1935 – Die junge Hope Nightingale will mit einem Luftschiff aus dem durch den Bürgerkrieg gebeutelten Amerika nach England fliehen. Doch es kommt anders als geplant. Sie wird von einer Piratenbande auf deren Schiff „Juana“ verschleppt und soll als Sklavin verkauft werden. Nur durch einen Schicksalsschlag innerhalb der Crew gelingt es Hope, diesem Schicksal zu entfliehen. Sie beweist den Piratinnen, dass sie als Crewmitglied wertvoller ist…

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Traumschwingen Verlag GbR

 

 

 

 

 

Nicole Jastrau, Alina Kojek

 

 

Unter schwarzer Flagge

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage

 

Verlag: Taumschwingen Verlag GbR, Claudia und Sascha Schröder

© Nicole Jastrau, Alina Kojek

 

ISBN: 978-3-946127-01-7

 

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Alina Kojek

 

Lektorat, Korrektorat: Claudia Schröder, Sascha Schröder

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

 

Die folgende Geschichte ist ein rein fiktives Werk.

Alle handelnden Personen sind rein fiktiv, Ähnlichkeiten zu lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind als Zufälle zu betrachten und nicht beabsichtigt.

Köter

Sie war nun schon eine Woche auf dem fliegenden Schmugglerschiff, das sie in ein besseres Land bringen sollte. Voller Hoffnung wartete die junge Frau darauf, endlich von Bord gehen zu können. Zum einen würde sie endlich wieder festen Boden unter ihren Füßen haben, zum anderen war das Leben auf diesem Schiff wahnsinnig unangenehm. Sie schlief in einer kleinen Abstellkammer, in der es, wie auf dem Rest des Schiffes auch, bestialisch nach Schweiß und anderen Körperausscheidungen stank. Da sie sich nicht auf das Oberdeck des Flugschiffes traute, verbrachte sie die ganze Zeit in diesen stickigen Räumen. Sie brauchte dringend mal wieder frische Luft. Doch sie wusste, es war noch ein weiter Weg, bis sie endlich ankommen würde.

Hope Nightingale erhoffte sich viel von England. Die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen und Geld zu verdienen. Unabhängig zu sein. Und vor allem erhoffte sie sich Sicherheit. Die Zustände in ihrem Heimatland wollte sie nicht noch einmal erleben. Seit ihrer Kindheit herrschte in Amerika ein Bürgerkrieg und sie war es mittlerweile leid, ständig um ihr Leben bangen zu müssen. Ihre Eltern hatten ihr früher immer mal von einer Tante erzählt, die in England lebte. Die junge Frau wusste weder, wie ihre Tante hieß noch wo sie wohnte, doch von den Geschichten ihrer Eltern war sie sich sicher, dass das Leben in England sicherer war. Wenn Hope genauer darüber nachdachte, konnte es auch wohl kaum ein Land auf diesem Planeten geben, in dem es schlimmer war als in Amerika.

Hope saß in der Kantine des Schmugglerschiffes und aß eine matschige Kartoffel. Viel gab es hier nicht, aber die paar Kartoffeln waren mehr, als Hope in ihrer Heimat zu essen gehabt hätte. Sie waren total verkocht; man könnte sie bestenfalls als Brei essen. Aber es war besser als zu verhungern. Jeden Bissen hatte sie sich mit Arbeit auf dem Schiff verdient. Wenn sie daran dachte, wie sie am Vortag die toten Ratten von Bord werfen musste, verging ihr der Appetit beinahe schon wieder. Aber der Hunger war dafür zu groß und sie hatte ja keine andere Wahl, als solche Arbeiten zu verrichten. Umsonst gab es hier nichts, und so nett der Kapitän auch war, er nahm keine Rücksicht auf eine ausgehungerte Frau. Mit den anderen Crewmitgliedern hatte sie sich nie wirklich unterhalten. Alle waren mit ihren Pflichten beschäftigt. Außerdem waren die meisten ihr unheimlich. Sie erinnerten Hope an die Männer in Amerika, vor denen sie so oft hatte fliehen müssen. Groß, stark und stets mit einem zweideutigen Grinsen im Gesicht. Solche, die Frauen nur als Objekt ihrer Begierde sahen, egal was die Frau dazu sagte. Diese Sorte Männer nahm sich einfach, was sie wollte.

Hope war beinahe mit dem Essen fertig, als auf einmal eine Sirene ertönte und der Raum von rotem Warnlicht durchflutet wurde. Erschrocken stand die kurzhaarige Frau auf und sah sich um. Die anderen Arbeiter rannten hastig aus dem Raum und Hope tat es ihnen gleich. Sie wollte unbedingt wissen, was los war. Schnellen Schrittes ging sie zum Kapitän auf die Brücke und sah ihn irritiert an.

»Was ist passiert?«

Der alte und großgewachsene Mann blickte zu ihr und deutete aus dem kugelsicheren Fenster, das sich vor den beiden befand. Direkt neben ihnen flog ein anderes Schiff. Es war kleiner als das der Schmuggler. Als Hope genauer hinsah, entdeckte sie bei einem der Verbindungsdrähte zwischen Schiff und Ballon eine Flagge mit Totenkopf und zwei Doppeläxten. Erschrocken blickte sie zum Kapitän.

»Sind das etwa Piraten?«

»Genau! Sie …-«

Er musste mitten im Satz abbrechen, da es im selben Moment einen lauten Schlag gab und das Flugschiff der Schmuggler sich zur Seite neigte. Ein paar Männer hatten nicht damit gerechnet und fielen zu Boden. Auch Hope wurde von dem Angriff überrascht und stürzte. Für einen kurzen Moment blieb sie liegen, stand dann aber mit wackeligen Knien wieder auf. Kaum war sie wieder sicherer auf den Beinen, sah sie auch schon ein paar bewaffnete Frauen, die nicht zu den Schmugglern gehörten. Bei ihrem Anblick wurde Hope ganz mulmig zumute. Waren das die Piraten? Und wie waren sie so schnell auf das Schiff gekommen?

Eine der Frauen, sie hatte feuerrote Haare und Locken, schoss mit einer Waffe an die Decke. Vor Schreck machte Hope einen Satz nach hinten. Mit aufgerissenen Augen musterte sie die rothaarige Frau, die den Blick ruhig durch den Raum schweifen ließ.

»Wenn es euch genehm ist, würden wir dieses Schiff jetzt übernehmen.«

Die Schmuggler brachen in Gelächter aus.

»Eine Bande von Frauen will unser Schiff kapern? Versucht es doch.«

Der Spruch kam von einem Muskelprotz, der direkt neben Hope stand. Es war einer von den Männern, die Hope lieber mied. Er sah nicht nur furchterregend aus mit seinem vernarbten Gesicht, sondern er stank auch noch fürchterlich. Kaum hatte er seinen Satz zu Ende gesprochen, jagte die rothaarige Frau ihm eine Kugel in den Kopf. Hope zuckte zusammen und sah zu, wie der Mann zusammenbrach. Es herrschte einen Moment lang Totenstille, ehe ein Kampf ausbrach. Eigentlich wollte Hope den Schmugglern helfen, aber der Mut verließ sie schnell, als sie mit ansehen musste, wie die Piratinnen einen Mann nach dem anderen abschlachteten. Sie ging also lieber in Deckung und beobachtete den Kampf. Schon früh merkte Hope, dass die Schmuggler die Frauen unterschätzt hatten.

Ihr wurde klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie auch Ziel der Piratinnen wurde. Sie musste sich verteidigen.

Als sie gerade ihren Degen zücken wollte, um auf eine sehr bullige, kurzhaarige Frau loszugehen, wurde sie allerdings von hinten niedergeschlagen und verlor das Bewusstsein.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einem unbequemen Bett. Sie richtete sich auf und hielt sich den Kopf. Um sie herum war das laute Geräusch von stetig arbeitenden Maschinen zu vernehmen, was ihre Kopfschmerzen nur verschlimmerte. Was war geschehen? Hope stand auf und wollte nachsehen, wo sie war, doch vor ihr befanden sich eiserne Gitterstäbe. Sie war eingesperrt! Panisch versuchte sie, einen Weg zu finden, aus der Zelle zu entkommen, aber sie war sehr stabil gebaut. Egal, wie viel Kraft sie aufbrachte, während sie gegen die Gitterstäbe trat, es tat sich nichts. Da ihre hektischen Versuche, die Gitter zu durchbrechen, sich wie Hammerschläge auf ihren ohnehin schon schmerzenden Kopf auswirkten, hielt Hope einen Moment lang inne und beschloss, ihren Blick erst einmal durch die Zelle schweifen zu lassen. Im Raum fand sie nichts, um die Tür aufzubrechen. Mehr als eine Pritsche und ein Klo gab es hier nicht. Vielleicht konnte sie ja dieses Bett auseinandernehmen und mit den Einzelteilen die Tür aufbrechen? Hope zog an den Ketten und sprang auf der Liege herum, doch das Bett war wider Erwarten verdammt stabil gebaut. Durch ihre Ausbruchversuche und das laute Rattern der Maschinen bekam sie nicht mit, dass sich eine Tür öffnete und jemand in den Zellengang schritt.

»Na so etwas. Endlich wach und schon beim Versuch, zu entkommen.«

Hope blickte sofort in die Richtung, aus der die Stimme kam, und sah direkt in zwei eisblaue Augen. Vor ihr stand eine etwas kleinere, aber deutlich muskulösere Frau als Hope selbst. Ihre langen, schwarzen Haare waren zu zwei Zöpfen gebunden. Sie trug ein ledernes Korsett, einen hellen Rock und hohe Stiefel. Eigentlich sah sie sehr edel aus, allerdings war sie von oben bis unten mit Öl und Dreck beschmiert.

Hope war einen Augenblick verblüfft von diesem Anblick und fragte sich, warum die Frau vor ihr wohl so verdreckt war, aber schnell wurde sie sich wieder ihres eigentlichen Problems bewusst. Sie war eingesperrt und wusste nicht einmal, wo sie war! Doch eigentlich gab es beim Anblick dieser Frau nur eine Option. Sie musste den Piratinnen in die Hände gefallen sein. Und vor ihr stand eine der Frauen, die wohl etliche der Männer auf dem Schmugglerschiff getötet hatte! Das konnte doch nicht wahr sein!

»Wo bin ich hier? Was habt ihr mit mir vor?«

Die Frau vor ihr lächelte belustigt und trat näher an das Gitter.

»Du bist aber wirklich unhöflich. Da, wo ich herkomme, stellt man sich zuerst einmal vor. Ich bin Dr. Almyra Kileen Kinsela – Dr. Kinsela für dich. Ich heiße dich auf der Juana willkommen. Du solltest mir danken. Ich habe dir gewissermaßen das Leben gerettet. Wäre ich nicht gewesen, wärst du jetzt wahrscheinlich tot.«

Hope musste nicht lange nachdenken, um zu begreifen, was diese Frau, Dr. Kinsela, ihr damit sagen wollte. Sofort überkam sie die Wut.

»Du hast mich also niedergeschlagen?! Warum sollte ich dir dafür danken?! Du hast mich doch erst in diese Zelle gesteckt!«

Kaum hatte Hope ihren Satz fertig gesprochen, schlug Dr. Kinsela mit ihren Handflächen gegen das Gitter. In ihren Augen konnte man statt Belustigung eher etwas wie Zorn erkennen. Plötzlich überkam Hope eine Angst vor ihrem Gegenüber. Es trat eine kurze Stille ein; man hörte nur das verhallende Klirren der Gitter, gegen die die Frau geschlagen hatte. Erst nachdem dieses Geräusch verstummt war, sprach sie weiter. Ihre Stimme war ruhig aber bedrohlich.

»Rede gefälligst nicht so respektlos mit mir. Die Frau, die du angreifen wolltest, ist unser Kapitän und sie hätte für dich den sicheren Tod bedeutet. Also, wie heißt du jetzt?«

Hope antwortete nicht. Wieso sollte sie auch? Wegen diesen verdammten Piraten war ihr Traum von England gerade in unerreichbare Ferne gewichen.

Dr. Kinsela ging wieder ein paar Schritte zurück und zuckte mit den Schultern.

»Wenn du mir deinen Namen nicht nennen willst, nenne ich dich einfach Köter. Das wäre das Erste, was mir bei deinem Anblick in den Sinn kommt.«

Hope schwieg beharrlich und sah ihr Gegenüber nur finster an. Dabei versuchte sie, dem Drang standzuhalten, an sich hinabzusehen. Wahrscheinlich hatte die Piratin recht mit der Bezeichnung als Köter. Hope wusste gar nicht, wann sie sich das letzte Mal wirklich gewaschen hatte. Ihre kurzen Haare mussten ganz zerzaust sein und ihre Kleidung war wohl noch dreckiger als die ihres Gegenübers. An die ganzen Löcher in Hopes Hose und Top wollte die junge Frau nicht einmal denken.

»Also gut. Dann sehen wir uns später, Köter.«

***

Almyra ging die Treppen, die sich im Zellengang befanden, hinauf und ließ den Köter alleine zurück. Ihr Ziel war die Werkstatt zwei Stockwerke über den Zellen und somit auch über dem Maschinenraum, wo sie bis eben gearbeitet hatte. Sie war wütend. Eigentlich gab es dafür keinen Grund. Almyra hatte sogar schon vor ihrem Besuch damit gerechnet, dass ihre Gefangene nicht erfreut darüber wäre, von der Piratin niedergeschlagen und in eine Zelle gesteckt worden zu sein. Dennoch hatte sie etwas mehr Dankbarkeit erwartet. Oder zumindest einen Namen. Dass die Gefangene sich lieber als Köter bezeichnen ließ, als ihren richtigen Namen preiszugeben, verwunderte die Piratin.

Auf dem Weg zur Werkstatt kam ihr Becky entgegen. Sie war eine sehr große Frau, die wohl die meisten Muskeln in der Crew hatte – abgesehen von ihrem Kapitän eventuell. Bis auf ihre Statur ähnelten die beiden sich aber kein bisschen. Clair hatte eher ein kantiges Gesicht und kurze Haare. Becky wirkte durch ihre langen Haare und ihr bildhübsches Gesicht sehr viel femininer. Wie immer trug die Piratin ein Grinsen auf den Lippen, als sie einen Arm um Almyras Schultern legte. So gingen sie ein Stück und die Schwarzhaarige fragte sich, ob es für die deutlich größere Becky nicht ungemütlich sein musste, in der Haltung zu laufen.

»Und? Ist deine kleine Gefangene wohlauf?«

»Ja. Aber sie ist ein richtiger Miesepeter. Nicht einmal ihren Namen wollte sie verraten.«

Becky seufzte leise.

»Hoffentlich legt sich das noch. Wenn sie nicht kooperativ ist, bringt sie uns als Sklavin kein Geld ein und du bekommst Ärger von der Amazone. Vielleicht hast du sie auch einfach nur verschreckt mit dem ganzen Dreck in deinem Gesicht.«

Almyra fand das nicht so lustig, wie Becky, die anfing, laut zu lachen. Die Kleinere grummelte beleidigt und schubste die Kanonierin weg.

»Wenn du mich entschuldigst. Ich gehe irgendetwas bauen. Ich muss mich erst einmal beruhigen.«

Die muskulöse Frau nickte und grinste breit.

»Viel Spaß mit deinem ganzen Spielzeug. Aber geh danach besser mal duschen und zieh dich um.«

Almyra schritt zur Tür der Werkstatt und sah noch einmal mürrisch zu Becky, ehe sie den Raum betrat. Die Werkstatt war, wie immer, das reinste Chaos. Überall lagen Werkzeug oder Waffenteile herum und es roch penetrant nach Schmieröl. Den Geruch würde sie für Wochen nicht wegbekommen. Wäre es nicht so leise, könnte man fast glauben, sie wäre im Maschinenraum. Die Piratin sollte doch irgendwann einmal aufräumen. Aber andererseits beruhigte der Geruch von Schmiere und Öl sie seltsamerweise. Sie fühlte sich wohl, wenn sie den ganzen Tag in der chaotischen Werkstatt verbrachte, um irgendetwas zu reparieren. Vielleicht lag das auch daran, dass niemand sie störte, wenn sie sich mal wieder hier aufhielt.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, kam auch schon Macy auf sie zu. Macy war ein quietschfideles Frettchen, das nichts lieber tat, als Chaos zu verursachen. Und offenbar hatte man sie mal wieder in die Werkstatt gesperrt, nachdem sie Unfug angestellt hatte. Dies trug weder zur Ordnung der Werkstatt noch zur Produktivität von Almyra bei, jedoch war Macy ab und an die beste Gesellschaft, die man auf dem Flugschiff finden konnte. Die Mechanikerin hob das Frettchen hoch und setzte es auf ihre Schulter, um sich danach an die Arbeit zu machen. Sie brauchte eine neue Schusswaffe und der Bau würde sie sicher etwas ablenken.

Sie saß mehrere Stunden in der Werkstatt, bis der Hunger sich bei ihr meldete. Macy war irgendwann von ihr heruntergeklettert und hatte sich in einer Ecke schlafen gelegt. Almyra wollte das Frettchen allerdings nicht alleine in der Werkstatt lassen, also suchte sie die Kleine, hob sie hoch und nahm sie mit, als sie den Arbeitsraum verließ.

Mittlerweile fühlte die Piratin sich doch sehr schmutzig, weswegen sie noch vor dem Essen duschen wollte. Zuerst ging sie aber in ihre Kajüte und nahm sich frische Kleidung aus dem Schrank. Wenn sie so darüber nachdachte, war sie ganz froh, dass sie alleine in der Kajüte war. Eigentlich waren die meisten Zimmer für zwei Personen gedacht, es gab Doppelhochbetten und einen großen Schrank. Da Almyra ein solches Zimmer für sich hatte, konnte sie sich nach Herzenslust ausbreiten. Und wenn Macy sie nachts störte, dann legte sie das Frettchen eben auf dem oberen Bett ab. Almyra fand es aber meistens ganz angenehm, etwas zum Kuscheln zu haben.

Sie legte Macy in ihr Bett und ging dann in das Gemeinschaftsbad. Im Kopf malte sie sich aus, wie sie endlich getrennte Duschkabinen anbauen würde, damit sich nicht jeder bei der Körperpflege beobachten konnte. Doch diesen Plan schob sie nun auch schon seit Jahren vor sich her. Sie drehte das Wasser auf und schloss die Augen. Alleine im Bad war das Duschen doch sehr angenehm. Nach der Dusche fühlte sie sich gleich viel wohler, aber auch hungriger.

Sie ging ein Stockwerk tiefer und betrat die Kantine, die zu dieser Uhrzeit nicht mehr so gut gefüllt war. Die meisten der Piratencrew waren wahrscheinlich auf dem Deck und betranken sich. Unter den wenigen Anwesenden war die Köchin, Isabella, mit der sich Almyra gerne unterhalten hätte. Doch die blonde Frau war gerade damit beschäftigt, mit ihren Küchenhilfen zu sprechen – oder eher, sie anzuschreien. Offenbar hatte eine von ihnen Essen anbrennen lassen, und das mochte die Köchin gar nicht. Außerdem hatte sicherlich niemand an die Gefangene gedacht, die auch Essen brauchte. Also nahm sich Almyra zwei Portionen von dem Hühnerfrikassee und ging damit noch eine Etage tiefer zu den Zellen. Sie wollte nun doch endlich mehr von der jungen Frau hinter den Gitterstäben erfahren.

Die Gefangene lag auf der Pritsche und schlief anscheinend. Was hatte so eine Person überhaupt auf einem Schmugglerschiff zu suchen gehabt? Die kurzhaarige Frau war sicherlich nicht schwach, aber Schmuggler nahmen selten Frauen in ihre Crew auf. Entweder waren die Frauen auf dem Schiff Sklavinnen, mit denen gehandelt wurde, oder es waren Muskelprotze wie Becky, die zur Crew gehörten. Die Person in der Zelle passte nicht in das Bild. Sie war groß, aber recht dünn. Ihre Kleidung sprach dafür, dass sie aus irgendeinem Ghetto kam. Wahrscheinlich eine Amerikanerin. Das würde auch zu ihren Manieren passen.

Aber Almyra musste die Gefangene schon fragen, um etwas zu erfahren. Sie trat gegen das Gitter.

»Aufwachen!«

Die Gefangene schreckte hoch und saß kaum einen Augenblick später aufrecht im Bett. Almyra hatte sie ganz offensichtlich unsanft aus dem Schlaf geweckt. Das sagte zumindest der Blick aus, mit dem ihr Gegenüber sie ansah. Wie ein verschreckter Hund. Almyra musste grinsen, als ihr auffiel, wie gut der Vergleich passte.

***

Hope konnte sich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein, und so wie sie sich fühlte, war es wohl auch deutlich zu wenig Schlaf gewesen, den sie bekommen hatte. Mit dem Krach vom Nebenraum konnte man auch nicht gut schlafen. Sie sah zu der Person, die sie geweckt hatte, und war augenblicklich schlecht gelaunt. Warum ausgerechnet schon wieder diese Frau?

»Was ist?«

Der jungen Amerikanerin war wirklich nicht nach Reden zu Mute, doch die Piratin schien das herzlich wenig zu kümmern. Die Schwarzhaarige ging zur Zelle und öffnete eine kleine Klappe, durch die sie Hope eine Schüssel reichte. Der Geruch des Inhaltes ließ ihr zwar das Wasser im Mund zusammenlaufen, das Essen sah aber sehr fraglich aus. Es war irgendetwas Fleischiges mit Gemüse, Reis und irgendeiner hellen Soße. Es wirkte beinahe, als hätte es schon einmal jemand gegessen.

»Ich dachte, du hast vielleicht Hunger.«

Die Piratin hatte Recht - Hope fühlte sich, als würde sie jeden Moment verhungern. Sie wusste nicht, wie lange diese Kartoffeln auf dem Schmugglerschiff zurücklagen. Und das war die einzige Mahlzeit gewesen, die sie an dem Tag gegessen hatte. Aber sie wollte kein Essen von dieser Frau annehmen.

Die Piratin merkte, dass Hope keine Anstalten machte, sich das Essen zu nehmen, also stellte sie es auf den Boden und setzte sich vor die Zelle um ihre eigene Portion zu essen.

»Du solltest es probieren. Es ist wirklich lecker. Unsere Köchin ist der Wahnsinn. Es ist auch nicht vergiftet oder so, keine Sorge.«

Hope gab die Hoffnung auf, dass diese Dr. Kinsela sie in Ruhe lassen würde. Außerdem hatte sie wirklich Hunger. Es würde sie ja nicht umbringen, ein wenig davon zu essen. Sie nahm sich die Schüssel und begann, zu essen. Es schmeckte genauso gut wie es roch. Hope wusste nicht, wann sie das letzte Mal so etwas Gutes gegessen hatte.

»Willst du mir immer noch nicht deinen Namen nennen? Du könntest mir wenigstens erzählen, wie du auf dieses Schmugglerschiff gekommen bist.«

»Wenn du mir sagst, was du mit mir vorhast, dann plaudere ich vielleicht.«

Die Piratin schien kurz nachzudenken, ehe sie Hope ansah und leicht nickte.

»Gut. Wenn du dadurch etwas gesprächiger wirst. Ich habe dich niedergeschlagen und in diese Zelle gebracht. Du bist von dem Schmugglerschiff wahrscheinlich die einzige Überlebende. Vielleicht konnten auch ein paar von ihnen fliehen. Felicia meinte, sie habe ein paar Schmuggler mit Fallschirmen vom Schiff springen sehen. Das Flugschiff haben wir zumindest geplündert und abstürzen lassen. Ich habe der Crew erzählt, dass wir dich als Sklavin verkaufen könnten.«

Augenblicklich kochte die Gefangene wieder vor Wut. Sie nahm die eben geleerte Schüssel und warf sie gegen das Gitter, wo sie in viele Einzelteile zerbrach.

»Ihr wollt mich als Sklavin verkaufen?! Ich habe den ganzen Scheiß nicht mitgemacht, um irgendwo als Sklavin zu enden!«

Die Kurzhaarige war außer sich, doch ihr Gegenüber schien das nicht sonderlich zu interessieren. Im Gegenteil. Sie schien eher belustigt zu sein und das regte Hope nur noch mehr auf.

»Was ist daran so lustig?!«

Die Piratin ging zum Gitter und begann in aller Ruhe, die Scherben zu sammeln.

»Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Wenn du dich nützlich machen kannst und bereit bist, unter der Amazone zu fliegen, dann kannst du bei uns anheuern.«

»Warum sollte ich das tun? Ihr habt mich eingesperrt und wollt mich verkaufen!«

Dr. Kinsela schmunzelte und warf die Scherben in einen Mülleimer, der sich im Zellengang befand.

»Ganz einfach: Du wirst nirgends freier sein, als auf diesem Schiff. Du solltest es dir wirklich überlegen. Gute Nacht.«

Die Piratin verließ den Zellengang über die Treppen wie auch vorher am Tag. Hope blieb alleine mit ihren Gedanken zurück. Sie legte sich wieder hin und überlegte, was sie nun tun sollte. Eigentlich wollte sie doch unbedingt nach England. Und jetzt sollte sie als Sklavin enden? Das war sicherlich noch schlimmer als das Leben in Amerika. Was für Leute kauften denn bitte Sklaven? Es waren sicher alles unheimliche Menschen. In Amerika hatte Hope ein paar Frauen und Kinder getroffen, die als Sklaven gelebt haben. Die Kinder wurden in Minen geschickt, um zu arbeiten, bis sie tot umfielen. Die Sklavinnen, die Hope flüchtig kennengelernt hatte, wurden alle gezwungen, sich für Männer zu prostituieren, die solch ein widerliches Grinsen auf den Lippen trugen, dass Hope schlecht wurde, wenn sie nur daran dachte. Hope spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte. Das war definitiv nicht das Leben, das sie führen wollte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Müdigkeit sie übermannte und der Schlaf sie irgendwann doch einholte.

***

Schmerzen weckten sie. Sie sah sich verwirrt um und brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass sie nicht mehr im Bett, sondern auf dem Boden lag. Das Flugschiff war zur Seite gekippt und von den oberen Etagen konnte sie hören, wie Frauen sich gegenseitig laut Befehle erteilten. Was war passiert? Es gab einen lauten Knall und der Boden unter ihren Füßen wackelte. Sie wurde mit dem Rücken gegen das Gitter geschleudert. Kaum war sie aufgeprallt, flog das Schiff auch schon wieder gerade, was zur Folge hatte, dass Hope unsanft auf dem Boden landete. Mit schmerzverzerrtem Gesicht richtete sie sich auf. Ihre linke Schulter und ihr Rücken taten vom Aufprall weh. Das würde sicher einige blaue Flecken geben. Leise fluchend setzte Hope sich auf die Pritsche. Unruhig dachte sie darüber nach, was gerade passierte und wie sie aus der Zelle entkommen konnte, um sich zu retten. Dr. Kinsela kam die Treppen heruntergerannt und eilte zum Gitter.

»Du bist Amerikanerin oder?«

»Ja, woher weißt du das? Was ist hier los?«

»Die Marine greift uns an. Es hat unsere Navigatorin erwischt. Wir sind gerade über Amerika. Schaffst du es, uns hier raus zu navigieren?«

Hope brauchte einen Moment, um zu verstehen, was gerade gesagt wurde. Sie wurden angegriffen und dieser Verrückten fiel nichts Besseres ein, als eine Gefangene navigieren zu lassen?

»Wieso ich?«

»Zwei Gründe. Erstens, wir sind hier über deinem Heimatland, da kann ich doch wohl erwarten, dass du dich hier auskennst. Zweitens nehme ich an, du bist schlau genug, dir nicht selbst zu schaden, indem du uns falsch navigierst. Kannst du uns helfen?!«

Lange überlegte Hope nicht. Immerhin bot diese irre Frau ihr einen Weg an, aus dieser Zelle zu kommen.

»Ja, ich denke schon.«

»Gut. Dann ist das deine Chance, dich zu beweisen.«

Dr. Kinsela schloss die Zelle auf und eilte zur Tür.

»Folge mir. Schnell!«

Hope folgte der Piratin mehrere Stockwerke hinauf, bis sie auf dem Oberdeck ankamen. Dort führte die Schwarzhaarige sie zur Brücke, wo Hektik herrschte. Eine sehr magere Frau saß bei einer alten Dame und kümmerte sich um diese, doch es war anscheinend schon zu spät. Die kurzhaarige Frau, auf die Hope bei dem Überfall auf die Schmuggler losgehen wollte, erteilte Befehle und eine große Frau mit braunen Locken stand am Ruder, wo sie die Anweisungen einer leicht bekleideten Asiatin befolgte. Dr. Kinsela ging mit Hope zu der Frau, die offenbar der Kapitän war. Sie war wirklich sehr groß. Von hinten könnte man sie wegen ihrem breiten Kreuz und ihren sehr kurzen Haaren für einen Mann halten, aber wenn man in ihr Gesicht sah, erkannte man eindeutig, dass es sich um eine Frau handelte. Vielleicht war es doch eine dumme Idee gewesen, sie angreifen zu wollen.

»Clair! Die Gefangene kann uns womöglich helfen. Lass sie uns navigieren.«

Doch die muskulöse Frau schien weniger davon begeistert zu sein.

»Fällt dir jetzt wirklich nichts Besseres ein, als mit so einer Scheißidee zu kommen?! Uns verfolgen drei verdammte Marineschiffe und du willst eine Gefangene navigieren lassen?!«

»Sie kann uns helfen. Vertrau mir einfach. Wir haben die Wahl, uns von der Marine schnappen zu lassen oder auf die kleine Chance zu hoffen, die wir haben!«

Der Kapitän schwieg und überlegte, doch das dauerte Dr. Kinsela wohl zu lange. Die Schwarzhaarige verschränkte die Arme und blickte den Kapitän ungeduldig an.

»Wir brauchen eine Entscheidung! Jetzt!«

»Nun gut. Lass sie navigieren – auf deine Verantwortung!«

Hope wollte schon zu der Frau, die steuerte, als die muskulöse Frau sie am Arm packte.

»Wenn du uns hintergehst, wirst du dir wünschen, ich würde dich töten. Verstanden?!«

Die Angesprochene nickte verschreckt und ging zu der Asiatin. Diese sah sie etwas misstrauisch an, sagte aber vorerst nichts.

»Wir müssen nach Norden zum Canyon.«

»Bist du wahnsinnig?!«

»Mach einfach, das ist unsere einzige Chance!«

Kaum hatte Hope ihren Satz zu Ende gesprochen, gab es einen lauten Schlag und das Schiff wurde erneut zur Seite gerissen. Die Marine hatte geschossen. Die Frau am Ruder tat sich etwas schwer, schaffte es aber, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bringen.

Offenbar hatte die Marine ihr Ziel nicht perfekt getroffen und die wichtigen Stellen am Flugschiff verfehlt. Würden sie so weitermachen, könnte der nächste Schuss vielleicht sitzen.

»Wir müssen in den Canyon! Jetzt sofort!«

Die Steuerfrau murrte unzufrieden, gab die Anweisung allerdings weiter. Sie flogen endlich in Richtung des Canyons. Doch die unsinnige Diskussion hatte sie wichtige Sekunden gekostet. Sie mussten die Marine abhängen. Hektisch blickte Hope sich um.

»Kann das Teil nicht etwas schneller fliegen?!«

Dieser Aufruf hat offenbar ein paar Piratinnen animiert, nach unten zu rennen. Hope war etwas verwirrt, dachte aber nicht weiter darüber nach. Dr. Kinsela, die gerade eine monströse Schusswaffe schulterte und wohl plante, damit nach draußen zu gehen, um auf die Marine zu schießen, wendete sich noch einmal kurz zu Hope.

»Die Mädchen laden Holzkohle nach, damit wir wieder beschleunigen können. Ich halte die Marine solange fern.«

Hope sah sie unentschlossen an, nickte dann aber. Dr. Kinsela verschwand draußen und schoss dort wohl auf die Marineschiffe.

Es dauerte nicht lange, bis das Piratenschiff etwas an Geschwindigkeit zulegte. Es war nicht viel, doch es reichte, um die Marine abzuhängen. Hope war erleichtert. Vielleicht würden sie tatsächlich schaffen, zu entkommen.

»Geht doch. Wir müssen jetzt im höchsten Tempo zum Canyon. Die Marine darf uns nicht einholen.«

Die große Frau am Ruder sah kurz zu Hope und lachte.

»Du bist keine fünf Minuten auf der Brücke und spielst dich schon auf wie Henrietta.«

»Halt die Klappe, Estella! Henrietta liegt vielleicht zwei Meter von uns entfernt und wir wissen nicht, ob sie überlebt!«

Hope beschloss, sich aus dem Gespräch raus zu halten. Offenbar ging es um die Navigatorin, die Dr. Kinsela vorher erwähnt hatte. Die junge Frau konzentrierte sich lieber auf den Weg, der vor ihnen lag.

Es dauerte nicht lange, bis sie am Canyon angekommen waren. Die Marine flog dicht hinter ihrem Flugschiff, aber konnte so immerhin keinen größeren Schaden anrichten. Wenn die Verfolgung auf diese Art weiterging, dann wäre die Marine mit Pech allerdings sehr schnell wieder in der Position, um anzugreifen. Zudem kannte sich Hope im Canyon nur auf dem Boden, nicht aber in der Luft, aus.

»Wir müssen runter. So dicht zum Boden, wie es möglich ist.«

Auch dieser Vorschlag schien bei der Steuerfrau nicht auf Begeisterung zu stoßen. Die Frau am Ruder, Estella, wollte schon einlenken, wurde allerdings aufgehalten.

»Das ist Selbstmord! Eine falsche Bewegung und wir stürzen sofort ab!«

Estella steuerte das Flugschiff indes immer weiter abwärts. Sie schien mehr Vertrauen in Hope zu haben als die Asiatin.

»Vertraut mir. Ich kenne mich dort unten bestens aus und wenn sicher und ruhig gesteuert wird, gibt es kein Problem.«

»Mach dir keine Sorgen, Amelia. Im Notfall bring ich uns einfach nach oben zurück.«

Die Angesprochene schnaubte nur beleidigt und verschränkte die Arme. Auf ihre Unterstützung konnte Hope wohl nicht zählen.

Das Flugschiff versank derweil immer tiefer im Canyon. Den ersten Vorteil davon bekamen sie schnell zu spüren. Die Schiffe der Marine waren deutlich zu groß und nicht wendig genug, als dass sie ihnen in den Canyon folgen konnten.

Eines der Schiffe hatte es versucht, war aber in einer Kurve hängen geblieben. Ein Schiff weniger, das sie verfolgte. Sie waren, solange sie unten blieben, also immerhin vor der Marine sicher.

Hope fühlte sich in der Nähe des Bodens gleich viel wohler.

Hier kannte sie sich aus, und zudem befanden sie sich nicht mehr in so einer schwindelerregenden Höhe. Estella lenkte das Schiff sehr sicher und ruhig nach den Kommandos von Hope. Amelia, die Steuerfrau, hielt sich vollkommen aus der Sache raus.

Die Marine war lange Zeit dicht hinter ihnen, ehe sie schließlich die Verfolgung aufgaben. Die Rudergängerin atmete erleichtert auf.

»Geschafft.«

»Nicht ganz. Wir fahren direkt in ein Gewitter.«

Die Asiatin behielt Recht, aber mit Unwettern hatte Hope gerechnet, als sie die Crew in diese Richtung navigierte. Sie war den Weg schon öfter gelaufen und beinahe jedes Mal in ein Gewitter geraten. Der Kapitän ging auf sie zu und knallte sie gegen die nächste Wand.

»Willst du uns alle umbringen!?«

Die Amazone wollte gerade zuschlagen, als sie von Dr. Kinsela und einer anderen sehr bulligen Frau von Hope weggezerrt wurde. Leise atmete Hope durch. Der Kapitän konnte wirklich angsteinflößend sein. Hätte sie zugeschlagen, wäre das sicher sehr schmerzhaft gewesen.

»Sie hat uns vor der Marine gerettet. Das mit dem Sturm schaffen wir. Oder, Köter?«

Hope holte tief Luft, sah zu der schwarzhaarigen Frau und nickte.

»Ich habe damit gerechnet, dass es einen Sturm geben könnte. Ich bringe uns da sicher durch.«

Der Kapitän ging wütend weg, gefolgt von Dr. Kinsela, die offenbar versuchte, die große Frau zu beruhigen. Die andere bullige Frau trug eine Schutzmaske, die sie nun abnahm. So ein hübsches Gesicht hätte die Amerikanerin gar nicht hinter dieser Maske erwartet. Die große Frau grinste Hope an.

»Keine Sorge. Eigentlich ist die Amazone ganz nett.«

Am liebsten würde Hope augenblicklich loslachen, doch stattdessen verdrehte sie nur genervt die Augen.

»Natürlich ist sie das…«

Hope ging wieder zur Steuerfrau und gab weitere Anweisungen. Schnell befanden sie sich mitten in einem schweren Sturm. Obwohl der Ballon das das Oberdeck und somit die Brücke gut schützte, konnte man hören, wie der Regen gegen die Glaswände prasselte. Es war so ohrenbetäubend, dass man kaum noch hörte, wenn jemand etwas sagte. Als es anfing zu blitzen und danach einen lauten Donnerschlag gab, verließ die große Frau, die Hope gerade noch vor dem Kapitän beschützt hatte, hastig die Brücke. Der Rudergängerin war anzusehen, wie schwer der starke Wind das Lenken des Schiffes machte. Dass sie sich noch im Canyon befanden, machte die Situation nicht gerade einfacher. Hope war hochkonzentriert. Sie hatte nicht vor, auf diesem Schiff als Gefangene zu sterben. Es war ein langer und schwieriger Weg, doch Hope, die Steuerfrau und Rudergängerin schafften es, sie sicher aus dem Sturm zu fliegen. Als sie das Unwetter überstanden hatten, konnte Hope die Erleichterung der Crew spüren. Sie gab eine Strecke vor, die die Crew nehmen sollte, und atmete erleichtert auf. Die große Frau am Ruder wurde von einer kleineren, aber dennoch sehr stark wirkenden Frau abgelöst und die Steuerfrau setzte sich einen Moment hin, um durchzuatmen. Unweigerlich starrte Hope der neuen Frau am Ruder auf die Brüste. Das Dekolleté von ihr saß auch so tief, dass man praktisch freie Sicht hatte. Als Hope die Rudergängerin lachen hörte, schaute sie ertappt auf, doch kam nicht dazu, sich zu entschuldigen. Von hinten wurde ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Als sie sich umdrehte, sah sie in die eisblauen Augen von Dr. Kinsela.

»Super Arbeit, Köter.«

»Nenn mich einfach Hope.«

Die Angesprochene lächelte und sah zum Käpt’n.

»Ich sagte doch, sie wird uns nützlich sein.«

Die bullige Frau nickte leicht und ging zu Hope, um ihr die Hand zu reichen. Hope überlegte nicht groß, sondern nickte und schlug ein. Dr. Kinsela grinste und blickte zum Käpt’n.

»Ich habe dir gleich gesagt, dass die Gefangene uns nützlich sein kann. Wie wäre es, wenn wir sie in die Crew aufnehmen? Immerhin hat sie uns gerade gerettet.«

Die Angesprochene murrte und schubste die Kleinere zur Seite.

»Glaubst du wirklich, ich mache sie nur deshalb zu einem Teil der Crew?«

»Warum nicht? Du hast Andere auch schon wegen weniger aufgenommen. Komm schon. Sonst bist du nicht so undankbar.«

»Ich sagte nein!«

Dr. Kinsela ging zu Hope und schüttelte ihr die Hand.

»Herzlich willkommen in der Crew.«

Der Kapitän starrte Dr. Kinsela fassungslos an. Auch Hope konnte ihre Verblüffung nicht verbergen. Sie rechnete eigentlich damit, dass der Käpt’n die Schwarzhaarige anschreien würde, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen seufzte sie laut und sah Dr. Kinsela genervt an.

»Was zur Hölle verstehst du eigentlich an ›Nein‹ nicht? Aber na gut, wenn sie dir so wichtig ist, kann sie sich eben in der Crew beweisen. Sorg lieber dafür, dass ich meine Entscheidung nicht bereue.«

Hope wusste nicht so genau, was gerade passiert war, aber es hatte offenbar damit geendet, dass sie Teil der Crew wurde. Das war definitiv besser, als in dieser Zelle zu sitzen oder versklavt zu werden. Vielleicht gab es für sie ja doch noch eine Chance, nach England zu kommen. Dennoch fragte Hope sich, wieso der Käpt’n sich so leicht hat überreden lassen. Dr. Kinsela grinste breit.

»Darauf sollten wir später trinken. Schon auf dem Schmugglerschiff wusste ich, dass wir sie gut in der Crew gebrauchen können.«

Hope sah die Piratin überrascht an.

»Du hast das von Anfang an so geplant?!«

Doch die Frau verließ schon die Brücke und verschwand unten im Schiff. Der Kapitän lächelte leicht und sah Hope an.

»Almyra wollte dich unbedingt mitnehmen. Ich glaube nicht, dass sie jemals vorhatte, dich zu verkaufen. Mein Name ist Clair Kingston und ich bin anscheinend fortan dein Käpt’n, auch wenn Almyra gerne so tut, als hätte sie das Sagen. Geh später zu ihr in den Maschinenraum und lass dir das Schiff und die Crew zeigen. Aber jetzt soll sie erst einmal ihre Arbeit machen. Such eine sichere Strecke nach Spanien für uns und mach dich mit den Mädchen am Ruder bekannt. »

Die Amazone hatte Hope keine Zeit zum Antworten gegeben, sie war einfach weggegangen. Hope nickte nur unsicher und ging wieder zu der Asiatin und der Frau mit dem beunruhigend tiefen Ausschnitt. Genauer betrachtet trug die Asiatin auch nicht viel mehr; es wirkte eher wie Unterwäsche mit einem sehr transparenten Kleid darüber. Nur wirkte es nicht so freizügig – wahrscheinlich, weil sie so klein und zierlich war. Ob es hier normal war, sich so zu kleiden? Die kleine Frau seufzte leise und sah mit einer Mischung aus Missgunst und Trauer zu Boden.

»Okay, machen wir einfach unseren Job. Ich bin gerade nicht in der Stimmung, zu plaudern.«

Die Frau am Ruder schien weniger betrübt zu sein. Sie sah Hope an und lächelte.

»Ich habe dich beim Navigieren beobachtet. Wenn wir dir ein wenig helfen, bekommst du das sicher super hin. Mein Name ist Mary. Gib der Crew am besten ein oder zwei Tage, damit sie um Henrietta trauern können. Sie war unsere Navigatorin bis … naja … bis vor fünf Minuten. Sie hat ihre Verletzungen leider nicht überlebt und die Crew unter Deck weiß es noch gar nicht. »

Verstehend nickte Hope. Das musste die ältere Frau gewesen sein, die am Boden lag. Sie war also tot.

»Kein Problem. Ich bin erst einmal froh, aus der Zelle draußen zu sein.«

Noch bevor Hope hoffen konnte, dass ihr Starren nicht mehr erwähnt werden würde, zeichnete sich auf Marys Lippen ein breites Grinsen ab.

»Und mach dir keine Gedanken wegen eben. Schöne Frauen dürfen mir immer in den Ausschnitt gucken.«

Augenblicklich wurde Hope knallrot und wendete den Blick ab. Wie peinlich!

Sie setzte sich an die Karte und begann, einen sicheren Weg nach Spanien zu planen, wie die Amazone ihr aufgetragen hatte. Das war gar nicht so einfach für sie. Zwar konnte sie mit Karten umgehen, jedoch war Hope sich nicht sicher, ob ihr Wissen für solche Strecken reichte. Sie war so beschäftigt mit dem Planen der Route, dass sie völlig vergaß, dass sie Dr. Kinsela, oder besser Almyra, im Maschinenraum besuchen sollte. Erst später am Abend sollten sie sich wiedersehen, als Hope in eine Kajüte gebracht wurde, in der Almyra im unteren von zwei Betten lag und mit einem Frettchen kuschelte.

»Ist das ein Frettchen?«

Almyra sah zu ihr und lächelte.

»Das ist Macy. Bist du jetzt mit mir in einer Kajüte?«

Hope konnte den Blick nicht von diesem Tier abwenden. In Amerika waren Frettchen vor allem dadurch bekannt, dass sie aggressiv und bissig waren. Hope erinnerte sich noch zu gut daran, wie ihr so ein Vieh mal ins Bein gebissen hatte. Das hatte verdammt wehgetan. Und auf dem Schiff wurde so etwas als Haustier gehalten? Hope würde definitiv Zeit brauchen, um sich daran zu gewöhnen.

Leise murrte sie und zuckte mit den Schultern.

»Offensichtlich.«

»Das ist ja mal etwas Neues. Ich hatte die Kajüte sonst immer für mich. Aber du hast einen harten Tag hinter dir. Schlaf am besten etwas. Ich werde dir morgen das Schiff zeigen.«

Hope blickte zum oberen noch freien Bett und zögerte. Sie wollte nicht oben liegen, Hochbetten mochte sie nicht sonderlich. Am Ende würde sie sich in der Nacht einmal drehen und herunterfallen. Alleine bei dem Gedanken wurde ihr schon schlecht. Da oben würde sie sicher nicht so leicht einschlafen können. Scheinbar bemerkte Almyra, dass Hope nicht glücklich mit ihrem neuen Bett war. Sie setzte sich auf.

»Ist alles in Ordnung?«

Die Amerikanerin schwieg. Sie konnte Almyra doch unmöglich bitten, die Betten zu tauschen. Das war einfach nur peinlich. Sie flogen auf einem Schiff durch die Lüfte und Hope wollte wegen ihrer Höhenangst Betten tauschen? Almyra würde sie sicher auslachen.

»Ah, ich versteh schon. Du willst das untere Bett?«

Ertappt blickte Hope zu Boden. War das so offensichtlich?

»Wäre das denn für dich in Ordnung?«

»Ach, mir ist das egal. Dann nehme ich das obere Bett. Sieh es als Willkommensgeschenk – oder Entschuldigung für die Entführung. Such dir eins aus.«

Almyra schmunzelte und kletterte, mit dem Frettchen im Arm, auf das obere Bett. Dann drehte sie sich zur Seite und gab keinen Ton mehr von sich. Hope legte sich also in das untere Bett und dachte darüber nach, was die letzten Tage alles geschehen war. Sie war in einem Schmugglerschiff aus Amerika geflohen, von Piraten gefangen worden und hätte als Sklavin verkauft werden sollen. Und jetzt lag sie in einer Kajüte mit der Frau, die sie in die Zelle gesteckt hatte und mit einem Frettchen. Sie war ein Teil der Crew, die sie als Sklavin hatte verkaufen wollen.

Das alles kam ihr so unwirklich und unlogisch vor. Sie würde sicherlich ein paar Tage brauchen, um zu realisieren, dass das jetzt ihr Leben sein würde.

Das Kohlewerk

Als Hope am nächsten Morgen aufwachte, brauchte sie erst einen Moment, um zu verstehen, wo sie war. Irritiert blickte sie sich um und entdeckte Almyra, die vor einem Kleiderschrank stand und darin herumwühlte. Langsam erinnerte Hope sich wieder. Sie war jetzt Mitglied dieser Piratencrew. Sobald Hope sich regte, drehte sich die Piratin zu ihr um und lächelte verschlafen.

»Guten Morgen.«

Hope nickte nur leicht und richtete sich auf. Sie sah an sich herab und bemerkte, dass sie immer noch dieselbe Kleidung wie am Vortag trug. Ihre Wechselkleidung war auf dem Schmugglerschiff zurückgeblieben. Sie brauchte unbedingt etwas Neues zum Anziehen. Wie auf Kommando wurden ihr von Almyra ein Rüschenrock und eine Bluse zugeworfen.

»Es wird dir wahrscheinlich nicht perfekt passen, ist aber besser als nichts. Wir schauen später bei Rachel vorbei, damit sie dir Kleidung leihen kann. Aber vorher solltest du vielleicht noch duschen gehen. Ich bring dich zum Bad.«

Hope sah die Klamotten, die die Piratin ihr zugeworfen hatte, misstrauisch an, stand allerdings auf und folgte Almyra zum Bad. Missmutig musste sie feststellen, dass es sich um eine Gemeinschaftsdusche ohne abgetrennte Kabinen handelte. Es war einfach ein großer Raum, aus dessen Wänden Duschköpfe ragten. Sie hatte solche Duschen schon in einem Rebellenlager benutzen müssen und hasste es. Meistens waren solche Duschen nicht sonderlich sauber und man war nie alleine. Ständig wurde man von anderen angestarrt. Entsprechend zögerte sie, sich auszuziehen und in den großen Duschraum zu gehen. Das lag aber vor allem an Almyra, die noch neben ihr stand. Denn ansonsten war niemand im Bad.

»Ich dusche eigentlich lieber alleine.«

Darauf schmunzelte Almyra.

»Wer tut das nicht? Aber auf einem Flugschiff ist kein Platz für getrennte Duschen. Keine Sorge, ich werde schon nicht spannen. Ich schminke mich solange.«

Hope war immer noch nicht begeistert. Erst als Almyra sich dem großen Spiegel zuwendete und tatsächlich damit begann, sich zu schminken, zog Hope sich aus und ging duschen. Das Wasser schwankte stark zwischen eiskalt und zu heiß – immerhin wurde sie dadurch wach.

Nach dem Duschen zog sie die Kleidung an, die Almyra ihr gegeben hatte. Almyra selbst trug einen kurzen Rock und ein ledernes Korsett. Als sie Hope in dem Rock und der Bluse sah, fing sie an, breit zu grinsen.

»Wir sollten nach dem Frühstück besser sofort zu Rachel gehen.«

Als Hope sich dann im Spiegel betrachtete, erkannte sie, was Almyra meinte. Die Kleidung sah an ihr einfach schrecklich aus. Hope war viel zu schmal und drahtig gebaut, deshalb hingen die Klamotten an ihr wie Kartoffelsäcke. Missmutig sah sie zu Almyra.

»Okay ... Und wer ist Rachel?«

»Nicht so ungeduldig, du lernst sie später kennen. Jetzt gehen wir erst einmal frühstücken.«

Hope folgte Almyra aus dem Gemeinschaftsbad und sah sich auf ihrem Weg in die Kantine etwas rum. Die Gänge waren deutlich sauberer als die auf dem Handelsschiff. Offenbar kümmerte die Crew sich sehr gut um das Schiff. Es roch auch so, als hätte jemand frisch durchgewischt. Dadurch wirkte das Schiff sehr geräumig, obwohl es schwierig war, neben Almyra zu laufen, ohne gegen die Wand oder eine der Türen zu stoßen. Schlimmer waren die Treppen. Sie waren so schmal, dass zwei Personen unmöglich nebeneinander gehen konnten.

Auch in den anderen Stockwerken schien es ähnlich auszusehen. Es war alles sehr sauber, aber beengt. Hope hatte sich das Schiff größer vorgestellt. Immerhin war das Schiff dadurch wendig. Außerdem würde sie sich hier wahrscheinlich sehr schnell zurechtfinden können.

In der Kantine war wider Erwarten viel Platz. Das lag vielleicht auch daran, dass noch nicht viele Menschen hier saßen. So konnte Hope sich in Ruhe umsehen. Überall standen eckige Tische, an denen vier oder sechs Leute Platz hatten. Jeder dieser Tische war auch schon mit allerlei Sachen gedeckt. Hope lief das Wasser im Mund zusammen, so gut roch das Essen. Eine blonde Frau mit Dreadlocks saß in einer Ecke und winkte die beiden zu sich. Almyra setzte sich mit Hope im Schlepptau zu ihr und lud sich Bacon und Rührei auf einen Teller. Nicht gerade das, was Hope frühstücken würde, doch es gab glücklicherweise genug Auswahl auf der Mitte des Tisches.

»Das ist Isabella, unsere Köchin.«

Hope nickte und musterte die Frau vor sich. Sie wirkte sehr stark und war im Stehen wahrscheinlich sehr groß. Allerdings trug sie ein Kleid mit Rüschen, was nicht ganz in das Bild passte. Sie wirkte eher wie eine Frau, die zerrissene Hosen und Hemden tragen würde, nicht wie ein kleines Mädchen.

»Freut mich. Das ganze Schiff ist schon neugierig auf die junge Frau, die Almyra angeschleppt hat.«

Hope seufzte leise, nahm sich ein Brötchen und machte sich an den Brotbelägen zu schaffen.

»Du meinst die junge Frau, die von Almyra eingesperrt wurde.«

Augenblicklich fing Isabella an zu lachen und wurde offenbar unter dem Tisch von Almyra getreten. Der Tisch ruckelte zumindest und die Köchin sah Almyra vorwurfsvoll an. Sie aßen danach einige Zeit schweigend. Hope döste wieder ein wenig ein, als Isabella auf einmal hektisch aufstand. Hope schreckte hoch und sah Isabella nach, die zu der Amazone ging. Diese saß zwei Tische weiter, hatte die Füße bequem auf die Tischplatte gelegt und trank aus einer Tasse. Hope hatte gar nicht mitbekommen, dass der Kapitän die Kantine betreten hatte. Isabella, zückte ein scharfes Messer, welches sie wohl irgendwo in ihrem Kleid versteckt hatte, und rammte es in den Tisch, an dem die Amazone saß. Dabei verfehlte sie nur um wenige Zentimeter die Beine ihres Käpt’ns.

»Nimm deine Füße gefälligst vom Tisch!«

Die Angesprochene blickte Isabella finster an, setzte sich daraufhin allerdings anständig hin. Damit war die Sache wohl geklärt. Hope war überrascht davon, dass der Käpt’n sich das gefallen ließ. Immerhin war sie gerade von der Köchin angegriffen worden!

»Musst du gleich am Morgen schon so aggressiv sein? Das hält man ja echt nicht aus!«

Diese Anmerkung kam aus der anderen Ecke der Kantine von Mary, der Ruderfrau, die Hope am Vortag schon kennengelernt hatte.

»Halt dich da raus, Mary! Wenn dir nicht gefällt, wie ich die Küche schmeiße, dann verpiss dich.«

Die beiden Frauen verloren sich in einem immer lauter werdenden Wortgefecht. Hope verwunderte es, dass sie wegen so einer Kleinigkeit aufeinander losgingen, doch noch mehr war sie irritiert davon, dass von den Anwesenden niemand auch nur versuchte, dazwischen zu gehen. Stattdessen aßen alle und sahen nur ab und an mal herüber. Verwirrt sah sie zu Almyra, welche ihr nur aufmunternd zulächelte.

»Ignorier sie einfach. Das machen sie öfter.«

»Okay. Aber ehe sie sich die Köpfe einschlagen, solltet ihr die beiden vielleicht beruhigen.«

Almyra grinste.

»Nein, dann verderben wir uns ja den ganzen Spaß daran.«

Sie aßen weiter und Hope versuchte, die Streithennen zu ignorieren, womit sie sich allerdings sehr schwertat. Irgendwann stellte die Amazone ihre Tasse ab und stand auf. Almyra lehnte sich schmunzelnd zu Hope.

»Schau mal, jetzt wird es richtig lustig.«

Sie schien genau zu wissen, was jetzt passieren würde. Die Amazone ging zu den beiden, sah noch kurz zu, ehe sie selbst die Stimme erhob.

»Genug! Mary, du isst fertig und verlässt danach die Kantine und Isabella, von dir will ich bis zum Mittagessen nichts mehr hören. Und ich meine wirklich nichts!«

Hope zuckte erschrocken zusammen. Der Käpt’n schien wirklich genervt zu sein. Zumindest sprach sie sehr laut und kraftvoll. Sofort waren die beiden Frauen still und Isabella ging zurück zu Almyra und Hope. Nachdem der Käpt’n die Kantine verlassen hatte, murrte sie leise. Almyra lachte amüsiert und sah die Blonde an. Diese blickte Almyra beleidigt an.

»Das ist nicht lustig.«

Hope beschloss einfach, sich rauszuhalten, und aß ihr Brötchen auf. Offenbar aß der Rest der Crew morgens kein Brot, daher hatte Hope nicht viel Auswahl bei den Belägen gehabt. Immerhin gab es Käse und Wurst und die Amerikanerin hatte sich für Ersteres entschieden. Doch sie war zufrieden; es schmeckte sehr gut. Es war auch deutlich besser, als morgens gar nichts oder nur trockenes Brot zu essen, wie sie es in Amerika so oft machen musste. Vielleicht würde sie sich ja doch noch an die Crew gewöhnen.

Nach dem Essen halfen sie der Köchin noch, das Geschirr aufzuräumen, und verließen dann die Kantine. Daraufhin gingen sie die Treppen hinauf und trafen dort wieder auf die Amazone.

»Almyra? Wir haben ein Problem. Hast du einen Moment Zeit?«

Almyra sah zu Hope, welche mit den Schultern zuckte, und ging zum Käpt’n. Sie beredeten kurz leise etwas und winkten Hope irgendwann zu sich. Die Amazone sah sie ernst an.

»Weißt du, wo wir Kohle beschaffen können?«

Hope war verwirrt, nickte aber.

»Mein Vater hat in einem Kohlewerk gearbeitet, bis er gestorben ist. Wir haben etwas abseits davon gewohnt. Ich könnte uns dorthin führen.«

»Gut, dann geh zur Brücke und gib Amelia die Koordinaten. Almyra zeigt dir danach weiter das Schiff. Wir sind unten im Maschinenraum. Dort, wo auch die Zellen sind.«

Almyra sah Hope entschuldigend an, ging dann aber mit der Amazone nach unten. Hope fühlte sich etwas verloren. Sie wusste, wo sie langgehen musste, aber eigentlich wahr ihr nicht ganz wohl dabei, alleine auf dem Schiff herumzulaufen. Sie kannte ja praktisch niemanden und die Asiatin auf der Brücke war am Vortag nicht sehr begeistert von ihr gewesen. Hope seufzte schwer. Ihr blieb aber wohl nichts Anderes übrig als auf den Käpt’n zu hören. Sie war ja nun Teil der Crew. Nachdem sie sicher eine Minute nachdenkend im Gang gestanden hatte, machte sie sich also auf den Weg. Die Brücke war glücklicherweise nicht schwer zu finden, Hope musste nur ein Stockwerk nach oben. Wie am Vortag befand Mary sich am Ruder und bekam Anweisungen von Amelia. Mary lächelte sie sofort freudig an.

»Guten Morgen, meine Hübsche.«

Amelia schien weniger glücklich zu sein, die Amerikanerin zu sehen. Sie nickte Hope wortlos zu und deutete auf eine Karte.

»Ich nehme an, dass du hier bist um uns zu einem Kohlespeicher zu leiten. Zeig mir einfach auf der Karte, wo wir hinfliegen müssen und ich mache vorerst den Rest.«

Die Angesprochene sah auf die Karte und brauchte einen Moment, um überhaupt herauszufinden, wo sie sich jetzt gerade befanden und wo ihr Heimatort war. Sie schien selbstgezeichnet zu sein. Die Umrisse der Kontinente und größere Städte waren zwar verzeichnet, kleinere Orte wie Hopes Heimat fehlten jedoch, sodass sie sich die Stelle anhand der größeren Nachbarorte erschließen musste. Die Karte sah ganz anders aus als die, die ihr Bruder ihr früher immer gezeigt hatte. Überall waren irgendwelche Linien eingezeichnet, von denen Hope nicht ganz wusste, was sie zu bedeuten hatten. Bei manchen vermutete sie frühere Kurse, die das Schiff schon einmal geflogen war. Andere waren eindeutig die Längen und Breitengerade, die beim Orientieren helfen sollten. Mit den anderen konnte sie nicht viel anfangen. Sie konnte kaum erkennen, was davon jetzt Meer und was Land war. Die Karte beinhaltete lediglich Linien, keine Farben. Irgendwann hatte sie immerhin herausgefunden, wo in etwa das Haus ihrer Eltern stand, doch sie wusste immer noch nicht, wo die Juana sich gerade befand. Waren sie immer noch in der Nähe des Canyons? Ein kurzer Blick zu der Asiatin verriet Hope, dass es ihr wohl zu lange dauerte. Das machte die Amerikanerin nur noch nervöser und sie fand sich auf der Karte gar nicht mehr zurecht. Ob man sie doch noch verkaufen würde, weil sie keine Hilfe war?

»Jetzt mach schon! Je länger du brauchst, desto größer wird der Umweg!«

»Amelia, sei nicht so gemein zu ihr! Sie braucht eben einen Moment, um sich zu orientieren.«

»Dieser Moment kann uns das Leben kosten! Ich wusste doch, dass wir sie nicht hätten aufnehmen sollen!«

Mary und Amelia fingen an zu diskutieren und ignorierten dabei den Fakt, dass Hope direkt neben ihnen stand. Doch schnell schien Mary der Asiatin klargemacht zu haben, dass es niemanden half, Druck zu machen, und tatsächlich schien Amelia sich belehren zu lassen. Sie zuckte mit den Schultern, ging zu Hope und deutete auf einen Punkt auf der Karte.

»Wir sind gerade hier. Dort ist der Canyon, durch den wir gestern geflogen sind. Hilft dir das weiter?«

Die Asiatin klang immer noch genervt, aber schon deutlich ruhiger. Anscheinend hatte Mary sie ziemlich gut im Griff. Hope blickte kurz dankbar zu der Rudergängerin und ging in Ruhe die Strecken durch, die sie zuvor schon einmal an Land gegangen war. Dann musterte sie die Karte. Die Linien machten jetzt deutlich mehr Sinn. Ziemlich sicher deutete sie auf einen Punkt ganz weit im Westen der Karte.

»Wir müssen dorthin.«

»Sicher?«

»Ja.«

Amelia notierte sich die Koordinaten, setzte sich mit einem Blatt zur Seite und brauchte einen Moment. Nach ein paar Minuten stand sie auf und gab Mary erste Anweisungen, die mit Bedacht durchgeführt wurden.

»Ich habe mir das Navigieren ein wenig von Henrietta abgeguckt. Wenn du willst, setzen wir uns mal zusammen und üben das Kartenlesen. Außerdem kann Almyra dir sicher ein oder zwei Bücher raussuchen, die dir helfen. Du kannst jetzt erst einmal wieder gehen.«

»In Ordnung und danke für das Angebot.«

Hope verließ die Brücke und stieg die Treppen hinab. Sie war unglaublich froh darüber, dass Amelia sich zum Schluss beruhigt hatte und wohl doch ein umgänglicher Mensch war. Ohne Hilfe würde sie sicher viel Zeit brauchen, bis sie das mit dem Navigieren hinbekam. Nun ging sie aber zuerst in den Maschinenraum, damit Almyra ihr endlich diese Rachel vorstellen konnte, von der Hope neue Kleidung bekommen sollte. Wann immer sie an sich hinab sah, fühlte sie sich unwohl.

Im Maschinenraum angekommen, blieb Hope für einen kurzen Moment die Luft weg. Es war unfassbar heiß und die Luft schien im Raum zu stehen. Hinzu kam der ohrenbetäubende Lärm, der offenbar von den Maschinen ausging. In den Zellen raubten die Geräusche einem schon den Schlaf, aber hier war es unfassbar laut. Hope ging ein paar Schritte weiter und stellte fest, dass der Raum größer als erwartet war. Sie hörte von einer Ecke Stimmen und bewegte sich auf diese zu. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass man die Maschinen nicht mehr in so einem schlimmen Ausmaß hörte, wenn man nicht direkt danebenstand. Dafür konnte Hope die Stimmen nun deutlich besser hören und folgte ihnen. Nach kurzer Zeit sah sie den Käpt’n und Almyra, die beide sehr konzentriert einen Bauplan ansahen und darüber redeten. Beide standen an einem kleinen Tisch, der weit weg von dem großen Motor stand. Der Tisch sah, wie das kleine Regal daneben, etwas fehl am Platz aus. Sonst gab es hier nur Metallrohre und technische Geräte, doch die Möbel waren aus Holz und wirkten so, als hätten sie ihre besten Tage schon hinter sich gehabt. Zumindest waren sie voller Flecken, die man wohl nie wieder würde entfernen können. Der ganze Raum stand in einem Kontrast zu dem Rest des Schiffes. Er war dunkel, schlecht belüftet und man putzte hier auch offenbar seltener als in den anderen Räumen. Das verrieten die alten Ölflecke auf dem Boden. Hope räusperte sich und ging zu Almyra und dem Käpt’n.

»Amelia hat gemeint, dass ich auf der Brücke nicht mehr gebraucht werde. Wir fliegen zu dem Haus meiner Eltern und dürften ein paar Stunden unterwegs sein. Von da aus ist es nicht weit zum Kohlewerk.«

Die Amazone nickte und ging zur Tür.

»Almyra, ich will dich in spätestens einer Stunde im Maschinenraum arbeiten sehen.«

»Aye Käpt’n.«

Die Amazone verließ den Raum und ließ Hope und Almyra alleine zurück. Almyra rollte den Bauplan zusammen und verstaute ihn in einem Regal.

»Also wie du sicher bemerkt hast, sind wir hier im Maschinenraum. Dass die meisten Maschinen gerade nicht viel machen, liegt daran, dass wir wegen Kohlemangel nur die Wichtigsten laufen lassen. In wenigen Stunden könnte es kritisch werden. Deshalb soll ich, sobald es geht, wieder hier sein und aufpassen, damit wir in der Luft bleiben. Ich bin gewissermaßen für die Technik verantwortlich. Aber jetzt zeige ich dir erst mal das Schiff und bringe dich zu Rachel.«

Wenn Hope darüber nachdachte, wie laut es schon war, wenn nicht alle Maschinen arbeiteten, wollte sie erst gar nicht wissen, wie der Geräuschpegel ansteigen würde, sobald alles wieder funktionierte. Sie verließen den Raum und sahen sich auf dem Stockwerk neben den Zellen, die Hope ja schon gut kannte, den ziemlich leeren Kohlespeicher und einen volleren Lebensmittelspeicher an. Im Gegensatz zu Hopes Erwartungen, lagen nicht sämtliche Lebensmittel wirr in irgendwelchen Schränken, sondern es war alles fein säuberlich sortiert und der Boden wirkte, als würde man davon essen können. Im Gegensatz zum Maschinenraum war es hier sehr kalt und Hope fröstelte es etwas. Zettel an jedem Regal und jeder Truhe verrieten, dass die Köchin ganz genau dokumentierte, welche Lebensmittel vorhanden waren und wann man sie spätestens zubereiten sollte.

Was sich eine Etage tiefer befand, wollte Almyra allerdings nicht erzählen. Die Piratin ging mit Hope ein Stockwerk höher und zeigte ihr zwei große Quartiere, in denen es Betten für bis zu acht Personen gab. Die Betten waren schmaler als das von Hope und die Frauen, die hier schliefen, mussten sich einen großen Schrank teilen. Als Almyra ihr erzählte, dass im Normalfall alle Neulinge in solchen Unterkünften einquartiert wurden, war die Amerikanerin ganz froh, dass man bei ihr wohl eine Ausnahme gemacht hatte. Sie war engen Lebensraum ja gewohnt, aber mit sieben fremden Personen in einem Zimmer zu übernachten, konnte nicht angenehm sein. Auch das große Bad hatte Platz für mehr Personen als die Gemeinschaftsduschen auf dem oberen Stockwerk. Hope schauderte es. Noch mehr Personen, die sich gegenseitig anstarren konnten. Wie die Frauen in der Waschküche ihre eigenen Klamotten wiederfanden, war ihr auch ein Rätsel. Alles hing durcheinander. Auch Almyra regte sich darüber auf, dass manche sich immer mal ungefragt Kleidung von ihr mitnahmen und anzogen. Dabei erwähnte sie besonders oft die Rudergängerin Mary. Gegenüber von der Waschküche befand sie eine Waffenkammer. Verwirrt musste Hope daran denken, dass die Crewmitglieder die Waffen eigentlich immer bei sich trugen. Almyra lächelte, als sie anfing, zu erklären.

»Wir haben hier vor allem Munition oder Ersatzteile. Außerdem kann immer eine Waffe verloren gehen.«

Verstehend nickte Hope. Deswegen also. Sie gingen den Gang entlang Richtung Bug. Dort befanden sich mehrere Kanonen, an denen gerade eine rauchende Frau herumspielte. Almyra beschleunigte ihren Schritt auf einmal und ging auf die rauchende Frau zu.

»Becky, wie oft muss man dir noch sagen, dass man an den Kanonen nicht raucht?«

Die Angesprochene sah erschrocken zu den beiden Frauen und grinste unschuldig.

»Sag’s bitte nicht Charlotte.«

Hope hatte diese Frau auch schon am Vortag gesehen. Sie und Almyra hatten den Käpt’n davon abgehalten, Hope zu schlagen.

Danach hatte sie noch einen Satz gesagt, war allerdings sehr schnell wieder verschwunden. Sie war in Wirklichkeit vielleicht ein Stück kleiner, als sie Hope am vergangenen Tag vorgekommen war, aber sie war trotzdem sehr groß und muskulös. Das stand im Kontrast zu ihrem femininen Gesicht. Sie hatte braune Haare, die zu einem Zopf gebunden waren und trug sehr maskuline Kleidung.

Ihre Stiefel wirkten klumpig und sowohl Hose als auch Jacke wirkten etwas zu groß. Unter der Jacke trug die Frau ein bauchfreies Shirt. Ganz schlau wurde Hope aus den Klamotten nicht. Die Maske, die sie am Tag zuvor getragen hatte, hing nun an ihrem Hals. In ihrem Gesicht war ein breites Grinsen zu sehen.

»Mein Name ist Rebecka, aber alle nennen mich Becky. Ich nehme an, dass du nicht ›Köter‹ heißt, wie Almyra gestern Abend behauptet hat?«

Die Angesprochene sah kurz wütend zu ihrer Begleitung, die nun ebenfalls grinste.

»Mein Name ist Hope. Ich wollte ihr nur nicht meinen Namen nennen, weil sie mich genervt hat.«

Becky fing an, laut loszulachen, während Almyra Hope vorwurfsvoll ansah.

»Du warst auch nicht gerade umgänglich. Wie dem auch sei, wir sollten weitergehen. Die Geschützmannschaft lernst du sicher noch früh genug kennen.«

»Du willst dir doch nur nicht die Blöße geben, dass du nicht die geringste Ahnung hast, wie die Mädchen heißen. Hope, kannst du bitte aufpassen, dass Almyra Charlotte nichts von meiner Raucherei erzählt? Das ist die süße Ärztin auf der Krankenstation.«

Almyra nahm Hope am Handgelenk und zog sie den Gang entlang zurück. Offensichtlich hatte sie keine Lust auf weitere Gespräche mit Becky. Schade, Hope fand sie sehr nett.

Sie gingen noch eine Etage höher und wollten gerade zum Heck, um die Krankenstation zu betreten, als Estella, die Gefechtsrudergängerin, ihnen entgegenkam und sehr verloren aussah.

»Was ist los, Estella?«

»Ich suche meinen Säbel. Irgendwo habe ich ihn hingelegt und jetzt ist er weg.«

Almyra stutzte einen Moment, seufzte dann aber leise und setzte zum Sprechen an.

»Estella, du hast gar keinen Säbel.«