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Die Stimmung an Bord der “Juana” ist am Boden. Nach dem Tod eines Crewmitglieds herrscht eine gereizte Atmosphäre, trotzdem setzen sie ihre Reise fort. Doch egal, wohin sie reisen, widerfährt ihnen nichts gutes. Selbst an Orten, an denen sie sich in Sicherheit wähnen, sind sie mehr in Gefahr als anfangs gedacht. Wohin können sie fliegen, wenn das Pech dort bereits auf sie wartet? Hardcover Ausgabe mit farbigen Illustrationen
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Seitenzahl: 359
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Title Page
Molly
Almyra und Clair
Weltschmerz
Abschied
Albträume
Owen
Plymouth
Beziehungstipps
Kinder
Geständnis
Korsetts
Schlacht am Meer
Bei dir oder mit dir?
Henjuhomao
Kulturschock
Soldaten und Familie
Kopf gegen Herz
Jahrestag
Hilfe mit Folgen
Die „Juana“
Impressum
Traumschwingen Verlag GbR
Finnegan Lee & Nicole Kojek
Vom Pech verfolgt
Die folgende Geschichte ist ein rein fiktives Werk.
Alle handelnden Personen sind rein fiktiv, Ähnlichkeiten zu lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind als Zufälle zu betrachten und nicht beabsichtigt.
Die Kälte machte nicht nur Almyra und den anderen Frauen zu schaffen. Wenn sie nicht bald weiterfliegen würden, wäre das Schiff schlichtweg nicht mehr in der Lage, abzuheben. Almyra seufzte und setzte ihre Kapuze wieder auf, die der Wind ihr immer wieder von ihrem Kopf wehte. Ihre langen schwarzen Haare waren mittlerweile voller Schnee und ihre Ohren fühlten sich an wie Eiszapfen. Ihre Mütze konnte die Kälte schon seit einigen Minuten nicht mehr abwehren. Ihren Begleiterinnen würde es da sicherlich nicht anders gehen. Lange würden sie die Suche nicht mehr durchhalten. Almyra konnte das Leben der Crew nicht riskieren, nur um im schlimmsten Fall Clairs und Mollys Leichen zu finden. Bei den Schneemassen wäre es auch gut möglich, dass sie nie fündig werden würden. Noch eine halbe Stunde, dann würden sie zum Schiff zurückkehren.
Inzwischen ließ der Schneesturm nach. Die Sicht wurde besser und der Wind pfiff nicht mehr so stark. Trotzdem hatte Almyra das Gefühl, jeden Moment an der Kälte zu ersticken. Nach einer Weile deutete Felicia in Richtung Norden.
»Seht!«
Erst konnte Almyra nichts entdecken, doch dann erkannte sie Umrisse einer sitzenden Person. Almyra lächelte. Es war eine gute Idee gewesen, Felicia mitzunehmen. Die Dunkelhäutige saß nicht ohne Grund im Krähennest – ihren Augen entging so gut wie nichts.
»Clair…«
Die Angesprochene sah erschrocken zu Almyra. Ihre Lippen waren ganz blau und ihre Nase rot durch die Kälte, was in Almyra das Bedürfnis weckte, Clair sofort in sämtliche Decken zu wickeln, die sie auf dem Schiff hatten. Ihre rotgeweinten und geschwollenen Augen blickten Almyra mit einer Mischung aus Schreck, Panik und Sorge an.
»Almyra, du musst Molly helfen! Sie ist ganz kalt!«, ertönte die heisere, aber aufgebrachte Stimme des Käpt’ns. Almyra seufzte schwer. Schon auf den ersten Blick war zu sehen, dass Molly nicht mehr geholfen werden konnte. Ihr Kopf schien unnatürlich verdreht und wahrscheinlich waren mehr Knochen gebrochen als heil. Die Mechanikerin hatte es doch gewusst. Einen Sturz aus so einer Höhe konnte man nicht überleben. Es war ein Wunder, dass Molly noch zu erkennen war. Wahrscheinlich war ihr Körper auch einfach schon festgefroren. Nur wie sollte Almyra das Clair beibringen? Eine Diskussion mit ihr durfte sie sich in so einer Situation nicht erlauben. Es würde sie sonst wertvolle Sekunden kosten.
»Ich sehe sie mir an, sobald wir auf dem Schiff sind, okay? Jetzt komm mit, bevor du dir den Tod holst.«
Becky atmete tief durch und half Clair hoch. Sie gingen zurück zum Schiff. Keiner von ihnen sprach ein Wort und Almyra war dankbar für die Stille. Im Normalfall kletterte die Crew an der Außenwand des Schiffes auf das Deck, doch unter diesen Umständen nahmen sie das große Tor achtern des Schiffes, durch das sie immer die Vorräte einluden. Es war hier immer noch kalt, aber immerhin wind- und schneestill. Doch viel Zeit, um sich aufzuwärmen, hatte Almyra nicht. Sie drehte sich zu der kleinen Gruppe und erhob die Stimme.
»Wir fliegen weiter!«
Amelia nickte schweigend und ging nach draußen, um Estella, die Rudergängerin, an ihren Posten zu holen. Clara setzte sich derweil auf die Bank neben dem Ruder und sah Almyra fragend an.
»Habt ihr sie gefunden?«
Ihre rauchige Stimme klang ungewöhnlich leise.
»Ja«
»Wie geht es ihnen?«
Almyra seufzte und trank erst einen Schluck Tee, bevor sie antwortete. Zum einen wollte sie sich wärmen, zum anderen wurde ihr Hals auf einmal ganz trocken.
»Ich verstehe.«
Amelia und Estella betraten die Brücke und sahen neugierig zu Clara und Almyra. Letztere räusperte sich, stellte ihre Tasse ab und ging in Richtung Tür.
»Ich muss zur Krankenstation. Clara, du übernimmst die Brücke.«
»Du kannst Molly auf die Liege legen. Charlotte wird sich um dich kümmern.«
»Es geht mir gut!«, antwortete Clair stur.
»Du hast Stunden im Schnee verbracht. Lass dich wenigstens untersuchen.«
Almyra konnte nichts anderes tun, als ein Laken über Molly zu legen. Sie hörte, dass jemand das Krankenzimmer betrat. Kurz darauf erklang Rachels leise Stimme.
»Ich will sie sehen.«
»Almyra kümmert sich gerade um sie«, antwortete Clair ihr.
Schlecht. Rachel sollte sich keine unnötigen Hoffnungen machen. Immerhin lag ihre große Schwester tot auf einer Liege und sah furchtbar aus. Almyra zog den Vorhang etwas auf, sah Rachel betrübt an und schüttelte leicht den Kopf. Die Blondine ging zu ihr und sah sie mit Tränen in ihren braunen Augen an.
»Darf ich sie sehen?«
»Es wäre besser, wenn du es auf sich beruhen lässt.«
»Bitte. Sie ist meine Schwester. Ich will mich verabschieden.«
»Ich werde nur ihren Kopf aufdecken.«
Sie hörte, wie Rachels Atem sich beschleunigte. An ihrer Stimme konnte man erkennen, dass sie sich sehr beherrschen musste, um nicht zu weinen.
»In Ordnung.«
Als Almyra das Laken von Mollys Kopf nahm, konnte Rachel aber nicht mehr anders. Sie begann, bitterlich zu weinen, und sank auf den Stuhl neben dem Bett.
»Molly!«, fiepte sie entsetzt. Rachel krallte sich mit einer Hand in das Laken. Mit dem anderen Arm stützte sie ihren Kopf an der Liege ab. Almyra strich Rachel durch das Haar, das, wie immer, in verrückten Zöpfen zusammengebunden war, und schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Rachels große Schwester lag tot vor ihr auf einer Krankenbahre.
»Du sagtest, dass du ihr hilfst!«
Ihre Stimme überschlug sich fast, so laut und energisch schrie Clair. Unbewusst trat Almyra einen Schritt zurück.
»Ich sagte, dass ich sie mir ansehe. Sie ist tot, Clair!«
Die Amazone schüttelte den Kopf.
»Sie hat noch gelebt!«
»Du hast sie sterben lassen!«
»Molly war schon tot, als du sie gefunden hast! Es ist ein Wunder, dass sie noch wie ein Mensch aussieht und du keine Innereien von ihr an dir kleben hast!«
»Das ist eine Krankenstation und keine Bar! Außerdem ist es respektlos Molly und Rachel gegenüber. Raus! Alle beide!«
Clair verließ wütend das Krankenzimmer. Almyra brauchte einen Moment, ehe sie aufstand und noch einmal zu Rachel sah.
»Ich wollte das wirklich nicht so vor dir ausdrücken.«
Almyra trennte den Faden und blickte in den Spiegel. Es sah schlimm aus. Die Wunde war tief und würde wahrscheinlich eine große Narbe hinterlassen. Aber mehr als die Wunde nähen konnte sie nicht tun. Sie verließ die Werkstatt und suchte Sarah in ihrer Kajüte auf. Die schöne Frau schrieb irgendetwas in ein Buch. Wahrscheinlich hielt sie die aktuelle Finanzsituation der Crew fest. Wie sie in dieser Situation dazu in der Lage war, war Almyra ein Rätsel. Wahrscheinlich war das eine Art von Sarah, sich abzulenken. Kaum hatte Almyra die Tür hinter sich geschlossen, blickte Sarah sie an.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Natürlich.«
»Wir werden noch über einen Tag brauchen, bis wir in Spanien ankommen. Ich würde Molly gerne an einen möglichst kühlen Ort bringen lassen.«
»Ich soll sie in die Schatzkammer bringen?«
»Aye.«
Die beiden Frauen verließen Sarahs Kajüte. Almyra sah zu der Zahlmeisterin.
»Clara?«
»Ja?«
Clara grinste.
»Du meinst, sie soll niemanden so zurichten wie dich?«
»Genau. Und halte sie von der Schatzkammer fern.«
»Sehr schlecht. Ihre Schwester hat ihr alles bedeutet.«
»Es ist ein Jammer.«
»Das ist es.«
Clara zog einmal tief an ihrer Zigarette und blies den Rauch aus.
»Denkst du, wir sollten sie in Spanien lassen, um zu trauern?«
»Das werden wir noch sehen.«
Almyra machte sich auf den Weg zur Schatzkammer, legte allerdings noch einen Zwischenstopp in der Werkstatt ein und nahm sich ihren Arztkoffer, ein paar Metallstäbe und andere Ausrüstung mit. Sie hatte viel Arbeit vor sich. Molly würde auch andere Kleidung brauchen. Aber konnte Almyra Rachel wirklich darum bitten, Klamotten für ihre tote Schwester herauszusuchen?
Almyra betrat die Schatzkammer ganz unten im Schiff. Molly lag schon auf einer Liege und daneben stand Sarah, die die weinende Rachel in den Armen hielt. Almyra seufzte.
»Danke. Den Rest schaffe ich alleine. Molly braucht noch Klamotten.«
»Ich finde bestimmt etwas Schönes.«
Sarah nickte zustimmend.
»Okay.«
»Es tut mir so leid«, wisperte sie, ehe sie begann, Molly zu entkleiden.
»Wenigstens musstest du nicht lange leiden, mh? Keine Sorge, ich richte dich wieder her.«
***
Die Amazone schloss die Augen und ließ alles noch einmal an sich vorbeiziehen. Der Moment, als der Schuss ertönte und Molly kurz darauf schreiend in die Tiefe stürzte. Clairs Herz hatte für einen kurzen Moment aufgehört zu schlagen, nur um danach schmerzhaft gegen ihre Brust zu hämmern. Sie hatte nicht mehr klar denken können. Die russische Marine, ihre Crew – alles vergessen. Da war nur noch Molly, die von Bord gestürzt war und gerettet werden musste.
Clair sah auf ihre linke Hand und entdeckte dort ein wenig Blut. Die Erinnerung daran, wie sie Almyra ins Gesicht geschlagen hatte, überkam sie. Was hatte sie nur getan? Ja, Almyra hatte sie vorgeführt, aber Clair wusste, dass sie nichts ohne Grund tat. Ihre Worte hatten einfach so unglaublich wehgetan. Die Amazone hatte dadurch sämtliche Selbstbeherrschung verloren und die Frau geschlagen, die ihr trotz allen Rückschlägen immer zur Seite stand. Natürlich war ihr bewusst, dass Almyra Molly gerettet hätte, wenn es die Möglichkeit gegeben hätte. Aber Clair konnte – wollte nicht glauben, dass Molly schon tot gewesen war, als sie sie gefunden hatte. Dass die Amazone sich das alles nur eingebildet hatte- Oder noch schlimmer, dass Molly noch gelebt hatte und in Clairs Armen gestorben war, während die Amazone nichts für sie hatte tun können.
Clair war so in Gedanken versunken, dass sie nicht mitbekam, wie es an der Tür klopfte und jemand den Raum betrat. Erst als sie Isabellas Stimme hörte, bemerkte sie, dass sie nicht mehr alleine war.
»Du musst nichts essen, aber tu mir den Gefallen und trink wenigstens etwas von dem Tee. Du hast so lange in der Kälte gesessen.«
»Wo ist Almyra?«
»Clair, ich glaube nicht…«, setzte Isabella zum Sprechen an, wurde jedoch von Clair unterbrochen.
»Wo ist sie?!«
»Sie kümmert sich um Molly. Aber ich werde dir nicht sagen, wo sie ist, sonst gehst du nur…«
»Spinnst du?!«, brüllte die Köchin entsetzt.
»Verpiss dich!«
»Clara! Wir müssen reden.«
Die Angesprochene zuckte zusammen und schickte die Küchenhilfe weg. Dann blickte sie missmutig zu Clair und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was ist? Du hast Almyra und Isabella verletzt und ich habe nicht wirklich Lust, die Nächste zu sein.«
Diese Aussage ignorierte Clair einfach.
»Wo ist Almyra?«
»Das geht dich nichts an.«
Doch Clara zuckte nur mit den Schultern.
Die Rothaarige überlegte kurz.
Clair ließ Clara einfach stehen und wollte zur Schatzkammer gehen. Sarah stellte sich allerdings vor sie und blockierte somit die Leiter.
»Aus dem Weg.«
»Das geht dich nichts an.«
»Verdammt, lass mich durch, bevor ich mich vergesse! Ich will zu Molly!«
Sarah bewegte sich kein Stück. Sie schaute zwar eingeschüchtert zu Boden, trat aber nicht zur Seite.
»Wie kannst du das einfach so sagen? Sie ist deine Schwester!«
Der Krach hatte Almyras Aufmerksamkeit erregt. Sie kam die Leiter hochgeklettert.
»Was ist hier los?«
Die Angesprochene hob skeptisch eine Augenbraue.
»Was hast du mit Molly gemacht?!«
Almyra kletterte nach dieser Ansprache wieder zurück in die Schatzkammer. Clair war sprachlos. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Sarah sah die Amazone betrübt an.
»Ich bringe dich in deine Kajüte.«
»Das schaff ich schon alleine!«
Clair tat auch tatsächlich, was ihr gesagt worden war. Almyras Worte hatten sie völlig aus der Bahn geworfen. In ihrer Kajüte angekommen, setzte sie sich an ihren Schreibtisch. Auf dem Tablett mit dem Tee und der Suppe befand sich eine neue Tasse. Clair schenkte sich etwas Tee ein und trank einen Schluck. Warum wollte sie überhaupt so unbedingt zu Almyra und Molly? Jetzt, wo sie darüber nachdachte, verstand sie es selbst nicht mehr.
»Was willst du, Mary?«
»Ich möchte nur reden.«
»Sicher? Hast du keine Angst, dass ich dir eine reinhaue?«
Mary grinste.
Die Rudergängerin setzte sich auf Clairs Bett und deutete neben sich. Die Amazone murrte leise, setzte sich aber neben sie.
»Was soll ich schon großartig erzählen?«
Die ganze Nacht ließ sie sich auf diese Art von Mary trösten. Dennoch verließ ihre Lippen immer nur derselbe Name.
»Molly…«
Almyra war, nachdem sie in der Schatzkammer fertig geworden war, zur Brücke gegangen, wo sie mit Clara das weitere Vorgehen bis zur Ankunft in Spanien plante. Dort, genauer gesagt, bei einem Trockendock in Barcelona, lebte John mit seinen drei Kindern. Er war nicht nur Anlaufstelle für die Crew, sondern auch Mollys Mann. Weder er noch die Kinder der beiden wussten, was alles geschehen war, nachdem die Crew sich vor vier Tagen auf den Weg von Spanien nach Russland gemacht hatte. Sie wussten nicht, dass Rachel unter einem starken Fieber gelitten hatte. Und vor allem wussten sie nicht, dass Molly tot war. Wie sollten sie das der Familie nur beibringen?
Seufzend blickte Almyra Clara nach, die gerade die Brücke verließ, um eine Zigarette zu rauchen. Wie sehr Almyra sich gerade wünschte, ihre Lungen würden es verkraften, wenn sie rauchte. So könnte sie wenigstens Stress abbauen, ohne dafür stundenlang etwas basteln zu müssen. Ihre Gedanken wurden jedoch unterbrochen, als sie Stöhnen vernahm, das aus Clairs Kajüte kam. Sie hatte als Einzige eine Kajüte direkt bei der Brücke, was jedoch zur Folge hatte, dass man ab und an hörte, was bei ihr vor sich ging. Als Almyra hörte, welchen Namen ihr Käpt’n stöhne, wurde ihr schlagartig schlecht, und Erinnerungen bahnten sich unaufhaltsam ihren Weg in ihr Bewusstsein.
***
„Molly…“
Geschockt sah Almyra zu Clair und stoppte sofort in ihrem Tun.
„Bitte was?“
Die Amazone sah sie kurz irritiert, dann jedoch schuldbewusst an. Sie sagte nichts.
„Ich habe mich verhört, oder? Du hast nicht wirklich eben Mollys Namen gestöhnt, während ich dabei bin, dich zu vögeln!“, brüllte Almyra außer sich.
„Almyra, es tut mir leid.“
Clairs Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Wütend stieg Almyra aus dem Bett und kramte ihre Sachen zusammen.
„Während wir Sex haben, stellst du dir also vor, ich wäre Molly?!“
Hektisch zog sich Almyra ihr Kleid über; sie wollte keine Sekunde länger mit Clair in einem Raum sein, als nötig war. Immer noch schwieg die Amazone und am liebsten hätte Almyra ihr dafür eine geknallt.
„Abserviert worden, mh? Wenn du deine Haare schneidest, siehst du Molly vielleicht ähnlich genug.“
Doch selbst diese blöde Bemerkung ignorierte Almyra einfach. In ihrer eigenen Kajüte angekommen, sank sie zu Boden und lehnte sich an die eben geschlossene Tür. Tränen rannen ihr über die Wangen. Clair hatte sie verdammt nochmal zum Weinen gebracht!
***
»Was ist passiert?«
Erst war Almyra von der Frage irritiert, doch dann fiel ihr auf, dass Hope es gar nicht hatte mitbekommen können. Die beiden hatten sich den ganzen Tag nicht gesehen. Almyra nahm Hopes Hand in ihre und lächelte.
»Nicht so wichtig.«
Die Mechanikerin drehte sich weg und nahm sich ihre Schlafkleidung vom Bett. Nachdem sie sich umgezogen und in ihr Bett gelegt hatte, schlief sie auch sehr schnell ein.
»Guten Morgen.«
Almyra erwiderte das Lächeln.
»Guten Morgen. Gehen wir frühstücken?«
»Gerne.«
»Ist bei dir alles in Ordnung? Du bist blasser als sonst.«
»Es geht mir besser, wenn wir wieder in Spanien sind«, antwortete Almyra schnaubend.
Eine Weile saß sie schweigend da und dachte einfach nur nach. Was machte sie eigentlich hier oben?
»Gibt es noch etwas Wichtiges?«
Clara schüttelte den Kopf.
»Nein, ich habe alles im Griff.«
Die Mechanikerin stand auf und sah Clara an.
»Ich bin im Maschinenraum. Halte mich auf dem Laufenden.«
»Aye.«
»Weißt du Almyra, jetzt verstehe ich auch, warum du dich immer wieder von Clair hast verarschen lassen. Sie ist wirklich gut im Bett. Aber hat es dich nicht gestört, wenn sie statt deinem Namen Mollys gestöhnt hat? Ich meine, diese Nacht konnte ich es ja nachvollziehen, aber bei dir hat sie das ja auch schon gemacht.«
»Was meint Mary damit?«
Almyra machte einen Schritt von Mary weg und sah Hope schuldbewusst an. Was genau sollte sie jetzt nur darauf antworten? Wie sollte sie das Ganze erklären? Bedauerlicherweise hatte sie nicht viel Zeit zum Nachdenken, da Estella sich nun ebenfalls einmischte.
»Mary, das hättest du nicht tun sollen. Almyra und Clair sind doch so ein schönes Paar.«
Hope sah Almyra aufgebracht an.
»Du hattest was mit Clair?!«
Almyra nickte leicht.
»Ja. Wir hatten eine Beziehung«, murmelte die Mechanikerin und konnte Hope dabei nicht in die Augen sehen. Mary lachte amüsiert.
»Lass Mary da raus! Du hattest also was mit Clair und hast es mir nicht gesagt?! Das ist vielleicht etwas, was ich hätte wissen sollen!«
»Hope, es tut mir leid.«
Doch die Navigatorin hörte ihr nicht zu.
»Und was ist das jetzt zwischen dir und Clair? Dass sie dir immer Essen in den Maschinenraum bringt und sich von dir rumkommandieren lässt?! Habt ihr noch etwas miteinander?!«
Hektisch schüttelte Almyra den Kopf.
»Nein, natürlich nicht! Das mit Clair und mir ist schon lange vorbei.«
Skeptisch hob Hope eine Augenbraue.
»Und deswegen reagierst du so heftig auf Mary?«
Almyra wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie sah Hope einfach nur entgeistert an und schwieg. Offenbar deutete Hope aus dem Schweigen eine falsche Antwort.
»Also doch.«
Die Mechanikerin schüttelte den Kopf.
»Ich muss hier weg.«
»Hope, bitte…«
»Lass mich in Ruhe!«
»Ist gut. Ich gehe.«
Almyra sah zu Clara und schluckte. Die Rothaarige hatte sich komplett aus dem Gespräch rausgehalten. Das war auch verständlich. Immerhin war Clair die Freundin von Claras großer Schwester gewesen, da wollte man solche Geschichten nicht unbedingt mitbekommen.
»Halte mich auf dem Laufenden.«
Die Mechanikerin sah noch einmal zu Hope.
»Es tut mir wirklich leid.«
***
Hope blieb auf der Brücke zurück und wusste nicht, wohin mit ihren Gefühlen. Sie setzte sich neben Clara.
»Und ihr wusstet es alle?«
Die Anwesenden nickten, blickten Hope dabei aber nicht an. Nur Mary sah sie an und seufzte.
»Ich hatte dich vorgewarnt, oder? Man kann Almyra nicht vertrauen.«
Die Rudergängerin verließ die Brücke und verschwand unter Deck. Hope konnte nicht fassen, was sie gerade erfahren hatte. Sie hatte doch von Anfang an gemerkt, dass da etwas zwischen Clair und Almyra gewesen war. Trotzdem war sie jetzt die Dumme, während alle anderen an Bord wussten, was Sache war und es ihr einfach verschwiegen hatten.
Amelia tippte Hope auf die Schulter und sah sie besorgt an.
»Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Nichts ist in Ordnung! Meine Freundin hatte etwas mit dem Käpt’n und nicht eine Person an Bord, einschließlich ihr selbst, hielt es für nötig, mir das zu erzählen!«
Neugierig blickte Estella in die Runde.
»Du hast eine Freundin? Wen denn?«
So gern Hope Estella hatte, jetzt gerade würde sie die Rudergängerin am liebsten erwürgen. Sie hatte doch alles mitbekommen!
»Ja, ich habe eine Freundin! Almyra!«
»Aber Almyra ist doch mit Clair zusammen«, murmelte Estella sichtlich verwirrt. Clara stand auf und murrte genervt.
Nach dieser Standpauke verließ Clara die Brücke, stellte sich draußen an die Reling und zündete sich eine Zigarette an. Hope blieb vorerst sitzen und versuchte, ihre Wut zu schlucken. Sie hatte doch nun wirklich nichts falsch gemacht! Es war Almyra, die diesen ganzen Stress verursacht hatte. Amelia seufzte.
»Es tut mir leid, Hope. Ich dachte, es wäre Almyras Aufgabe, dir das zu erzählen.«
»Schon okay. Du kommst ohne mich zurecht, oder?«
»Natürlich.«
Hope betrat die Kajüte, ohne zu klopfen, und wurde rot, als sie sah, wie Mary sich gerade anzog.
»Tut mir leid, ich komme später nochmal.«
»Schon gut, aber wenn du hier bist, um mit mir Sex zu haben und dabei einen anderen Namen zu stöhnen als meinen, dann kannst du gleich wieder gehen! Wenn man sich nicht den Namen des Sexpartners merken kann, soll man einfach die Klappe halten!«
Mary schien ziemlich genervt zu sein. Sie zog sie ein bauchfreies Top zu ihrer kurzen Hose an und setzte sich auf ihr Bett. Hope sah sie verwirrt an.
»Ich wollte nicht mit dir schlafen.«
»Nicht?«, fragte Mary verblüfft, »schade, so könntest du Almyra eins auswischen.«
»Ich will es ihr doch gar nicht heimzahlen.«
Hope setzte sich neben Mary.
»Was war denn los?«
Mary verdrehte genervt die Augen.
»Maxine kam auf einmal in meine Kajüte und hat mich angemeckert, weil ich Sex mit Clair hatte. Dann wollte sie aber auf einmal auch mit mir schlafen. Ich habe mir nichts dabei gedacht, aber dann hat sie Clairs Namen gestöhnt – die ganze Zeit. Ich hatte in den letzten 24 Stunden mit zwei Frauen Sex, die beide einen anderen Namen gestöhnt haben. Ich habe keine Lust mehr.«
Maxine hatte also Sex mit Mary? Hope hätte der Blondine nicht zugetraut, einfach so mit Mary zu schlafen. Andererseits war das ja nicht die einzige Überraschung an diesem Tag. Hope ließ sich seufzend in Marys Bett fallen und sah die Rudergängerin an.
»Wieso hast du mir nicht früher schon erzählt, was zwischen Clair und Almyra gelaufen ist?«
Mary sah Hope schwermütig an.
»Hättest du es mir denn geglaubt?«
»Ich weiß nicht. Aber ich hätte Almyra bestimmt darauf angesprochen.«
»Es tut mir leid. Du hast es nie gut vertragen, wenn ich über Almyra geredet habe. Und die anderen glauben ihr eher als mir.«
Hope nickte verstehend und ließ Mary weitersprechen.
»Früher oder später wird Almyra dich für Clair verlassen. Das sage ich nicht, weil ich sie schlecht machen will, sondern weil ich mir Sorgen um dich mache. Beende das mit ihr lieber, bevor sie es tut.«
»Du weinst ja.«
Irritiert fasste Hope sich an die Wange. Ihr waren tatsächlich Tränen gekommen. Sie richtete sich auf und sah Mary traurig an.
Irgendwann musste Hope das Wasser dann aber abdrehen und sich etwas anziehen. Danach beschloss sie, erst einmal etwas zu essen. Die letzten Tage kam sie kaum dazu, in Ruhe zu frühstücken, und so früh würde sie ja wohl nicht auf der Brücke gebraucht werden.
In der Kantine war es, wie sonst überall auch, leer. Die Tische waren noch nicht einmal gedeckt und Isabella saß alleine in einer Ecke und trank aus einer Tasse. Als sie Hope bemerkte, sah sie diese überrascht an.
»Guten Morgen.«
Hope nickte leicht und setzte sich zu der blonden Köchin. Diese stand auf.
»Was möchtest du Essen?«
»Das ist mir eigentlich egal.«
Isabella überlegte kurz.
»Wie wäre es mit Pfannkuchen?«
»Okay.«
Die Köchin verschwand für einige Minuten in der Küche und kam dann mit einem Teller voller Pfannkuchen in der einen und einer Tasse Tee in der anderen Hand wieder. Beides stellte sie vor Hope auf dem Tisch ab.
»Du bist früh. Die Ersten kommen sonst immer erst in ein oder zwei Stunden.«
Meistens verdeckte die Köchin diese Stelle, doch heute nicht. Außerdem hatten sich weitere Verletzungen dazu gesellt. Es waren mehrere dunkelrote Flecken, die Isabellas alten Wunde ähnelten.
»Hast du dich verbrannt?«, fragte Hope besorgt. Isabella nickte und trank einen Schluck Tee.
»Wie ist das denn passiert?«
»Clair hat mit einer Tasse Tee nach mir geworfen.«
Geschockt sah Hope die Köchin an.
»Was?!«
»Sie ist wegen Mollys Tod ziemlich überempfindlich. Sie hat ja auch Almyras Lippe blutig geschlagen.«
»Isabella? Darf ich dich etwas fragen?«
»Kommt auf die Frage an.«
Hope zögerte kurz.
»Wieso hat mir Almyra nie etwas von sich und dem Käpt’n erzählt?«
Die Köchin lehnte sich zurück und seufzte.
»Sie hat es dir nicht erzählt? War ja auch klar.«
»Was meinst du?«
»Almyra erzählt einem nie etwas. Mir würden ein paar Gründe einfallen, warum sie dir nichts gesagt hat, aber ich will mich da wirklich nicht einmischen. Wenn es da etwas zu klären gibt, dann mach das lieber mit ihr persönlich.«
Hope sah Isabella entmutigt an.
»Mary erzählt viel Scheiße. Almyra hing sehr an Clair, aber das ist schon lange vorbei,«, antwortete Isabella genervt stöhnend. Dann stand sie auf und nahm ihr Geschirr vom Tisch.
»Kannst du wieder arbeiten?«
»Ich denke schon.«
Eigentlich war Hope sich dabei nicht ganz sicher. Sie konnte immer noch an nichts anderes denken als den Streit mit Almyra. Doch Befehl war Befehl. Sie sollte zur Brücke kommen und war nun hier. Leise atmete sie durch und ging zu Amelia, welche gerade Kommandos an Mary weitergab. Man brauchte die Navigatorin im Moment eigentlich gar nicht. Sie würden in den nächsten 24 Stunden in Spanien ankommen.
»Was ist die letzten Tage passiert? Wie steht es um das Schiff?«
Clara, die gerade dabei war sich eine Zigarette zu drehen, überlegte kurz, ehe sie antwortete.
Bei der Aussage sah Clair betreten zu Boden und schwieg.
»Eine gute Idee. Wo ist Almyra? Ich bin ihr eine Entschuldigung schuldig.«
Als Clair nach Almyra fragte, spürte Hope, wie die Wut in ihr hochkochte. Sie sah die Amazone gereizt an.
»Es geht dich nichts an, wo sie ist.«
Daraufhin wurde sie sehr verwirrt von Clair angesehen.
»Was meinst du?«
»Ganz einfach, ich bin der Käpt’n und wir sind gute Freunde.«
»Meinetwegen.«
Sie wollte die Brücke verlassen und merkte, dass auch Clair aufstand. Wütend drehte sie sich noch einmal um.
»Ich gehe Almyra alleine suchen!«
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Weißt du, wo Almyra ist?«
Die Angesprochene schüttelte den Kopf.
»Hat sie gesagt, wann sie wieder hier sein wird?«
Erneut schüttelte die Frau mit der Narbe den Kopf. Hope seufzte. Sie war sich nicht sicher, ob es sich lohnen würde, sie zu suchen oder ob sie einfach hier warten sollte.
»Wie lange ist sie denn schon weg?«
Darauf sagte die Frau nichts, sondern wendete sich ab und schrieb irgendetwas.
»Wenn du es mir nicht sagen darfst, dann ist das ja okay. Aber ignoriere mich dann nicht einfach«, grummelte Hope beleidigt und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch darauf gab es keine Antwort. Hope wollte sich schon umdrehen und gehen, doch plötzlich drückte die Frau ihr den Zettel, auf den sie geschrieben hatte, in die Hand.
›Sie ist seit etwa 30 Minuten weg.‹
Verwirrt sah Hope die Frau an. Es dauerte einen Moment, bis ihr ein Verdacht kam.
»Du kannst gar nicht sprechen, oder?«
Die Frau sah betrübt zu Boden.
»Das wusste ich nicht. Ich dachte wirklich, dass du nicht mit mir sprechen willst. Ich… ich gehe dann Almyra suchen. Kannst du ihr ausrichten, dass ich hier war?«
»Danke.«
»Können wir reden? Bitte, ich gehe danach auch sofort wieder, wenn du mich nicht sehen willst.«
Hope nickte zögerlich.
»Seit wann bist du hier?«
»Ich weiß nicht… Vielleicht 20 oder 30 Minuten. Ich wollte dich nicht auf der Brücke stören.«
Die Navigatorin seufzte. Almyra hatte also, während Hope sie gesucht hatte, die ganze Zeit in der Kajüte auf sie gewartet.
»Okay. Dann reden wir.«
Hope nahm sich den Schreibtischstuhl und stellte ihn gegenüber von Almyra hin, bevor sie sich darauf setzte. Sie wollte der Mechanikerin in die Augen sehen können. Almyra wartete schweigend, bis Hope sich gesetzt hatte, und atmete tief durch.
»Es tut mir leid, dass ich dir das mit mir und Clair verschwiegen habe. Die ganze Sache war eine wahnsinnig anstrengende und verletzende Erfahrung und ich versuche, nicht darüber zu sprechen. Dass du ein Recht darauf hast, es zu wissen, habe ich dabei nicht beachtet. Ich habe einfach gehofft, dass es nie zur Sprache kommen wird.«
»Es war doch klar, dass es irgendwann zur Sprache kommt. Sie ist unser Käpt’n.«
»Ich weiß«, murmelte Almyra kaum hörbar.
»Ihr hattet mehrere Beziehungen?«
»Ja.«
»Hast du sie geliebt?«
Auf die Frage kam für einen Moment keine Antwort. Almyra biss sich auf die Unterlippe und schaute Hope schuldbewusst an.
»Ja.«
»Liebst du sie immer noch?«
Almyra erstarrte für einen Moment. Sie sah Hope entsetzt an, schüttelte dann aber den Kopf.
»Nein. Das Kapitel in meinem Leben ist schon lange abgeschlossen.«
»Das hast du dir doch sicher jedes Mal gedacht, oder?«
»Kann sein. Aber jetzt ist es etwas Anderes. Hope, ich liebe dich, was sollte ich von Clair wollen?«
Hope war skeptisch. Das hörte sich doch zu schön an, um wahr zu sein.
»Du wirst mich also nicht verlassen, sobald Clair dich wieder haben will?«
Almyra sah Hope zuversichtlich an.
Wie bitte? Clair war sogar schon wieder bei Almyra gewesen? Jetzt bereute Hope es erst recht, dass sie die Amazone nicht noch mehr zusammengestaucht hatte.
»Und was ist passiert?«
Hope setzte sich neben Almyra und nahm ihre Hand.
Die Mechanikerin schien einen Moment zu überlegen.
Es war Hope eigentlich schon fast klar gewesen, dass Almyra vor Clair schon einmal eine Beziehung hatte. Doch gerade der Name von Almyras alter Freundin machte Hope stutzig.
»Das Tattoo auf deinem Arm. Die Rose…«
»Es gibt noch etwas, das du wissen solltest. Du hast doch die Narben unter meinen Tattoos gesehen. Ich war sehr schwer verletzt und…«
»Almyra, es geht um Rachel!«
»Was ist passiert?«, fragte die Mechanikerin fassungslos.
»Sie hatte mich darum gebeten, ihr etwas zu Essen zu bringen. Ich habe mich auch wirklich beeilt. Sie war vielleicht zehn Minuten alleine. Es tut mir so leid, ich hätte einfach bei ihr bleiben sollen.«
»Jetzt atme einmal tief durch.«
Die Zahlmeisterin tat, was ihr gesagt wurde. Dabei schloss sie die Augen.
»Rachel hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ich habe sie zu Charlotte gebracht. Es tut mir so leid. Ich wollte doch auf sie aufpassen.«
Geschockt sah Almyra die größere Frau an.
»Rachel hat versucht, sich umzubringen?«
»Ja.«
Die Navigatorin stimmte wortlos zu.
»Kein Problem.«
»Sarah, ich will, dass du dich wäschst und dir dann von Isabella einen Tee machen lässt, ja?«
Die Angesprochene blickte weiterhin zu Boden und schwieg.
»Es ist nicht deine Schuld. Du musst dir deswegen keine Vorwürfe machen. Wirklich nicht. Jetzt ruh dich etwas aus.«
»Arme Rachel. Sie muss ihre Schwester wirklich sehr vermissen.«
»Sie hat ziemlich viel Blut verloren, oder?«
»Ja, sie braucht eine Bluttransfusion. Blutgruppe AB negativ. Wir brauchen das Blut direkt von einem Crewmitglied. Es gibt im Moment keine Reserven. Ich habe aber leider keine passende Blutgruppe.«
Es wäre Almyra ohnehin nicht recht gewesen, wenn Charlotte spenden würde. Die Ärztin war so dürr, wahrscheinlich würde sie dabei ohnmächtig werden.
»Welche Blutgruppe hat Becky?«
»Becky hat Blutgruppe B negativ. Das würde gehen.«
»Dann hol sie schnell her.«
»Sofort.«
»Was ist passiert?«
Es war eine gute Idee gewesen, nach Becky zu fragen. Sie hatte sicher mit einem Schäferstündchen mit der Ärztin gerechnet und sich deshalb extra beeilt. Manchmal hatte ihre Beziehung mit Charlotte auch etwas Gutes. Almyra sah sie an.
»Natürlich! Aber was ist denn passiert?«
»Kannst du dir doch sicher denken.«
»Ach, Rachel, was machst du nur für Sachen?«
Charlotte hatte in der Zeit, in der Almyra zurückdenken musste, alles zusammengesucht, was sie brauchte.
»Becky, ich fange dann an«, sagte die Ärztin ruhig.
»In Ordnung.«
Almyra sah zu Rachel.
»Tut mir den Gefallen und sagt niemandem etwas davon. Ich werde es denjenigen, die es wissen müssen, schon selbst berichten.«
Es würde die Situation für Rachel sonst noch schwerer machen, als sie ohnehin schon war. Einen missglückten Selbstmordversuch zu überstehen war so schon schlimm genug. Die Blicke derjenigen, die davon wussten, zu ertragen, würde es nicht leichter machen.
Becky und Charlotte stimmten beide zu. Almyra stand auf und ging zur Tür.
»Ja.«
»Gut.«
Wenigstens musste sie nicht lange nach Clara und Clair suchen. Die beiden standen am Oberdeck an der Reling. Man merkte, dass sie Spanien näherkamen; es war schon deutlich wärmer als am Vortag. Almyra wurde sofort von den beiden entdeckt. Clair wendete den Blick ab, doch Clara sah sie fragend an.
»Was gibt’s, Käpt’n?«
»Wir sollten das nicht hier besprechen. Clair, wir gehen in deine Kajüte.«
»Was ist passiert?«
Almyra seufzte.
»Rachel liegt auf der Krankenstation. Sie hat versucht, sich umzubringen.«
Clara sah sie ernst an.
»Du meinst eher, wir sollen sie gar nicht alleine lassen?«, hakte die Rothaarige nach. Aber Almyra musste ihr da widersprechen.
»Wenn ich es mir so überlege, schaffe ich das auch sicher alleine. Du kannst gehen, wenn du willst.«
»Nein, ist schon okay.«
Clair deutete auf Mollys Bett – es war das untere des Stockbettes. Das Laken war blutgetränkt.
»Rachel hat sich in Mollys Bett die Pulsadern aufgeschnitten?«
Almyra setzte sich auf das Bett und nahm das kleine Messer an sich, das darauf lag.
»Sieht ganz so aus. Sie wird noch mehr Messer irgendwo versteckt haben. Machen wir uns an die Arbeit. Wir müssen nur ihre Sachen durchsuchen. Ich denke nicht, dass sie etwas unter Mollys Klamotten versteckt hat.«
»In Ordnung.«
»Warum hat sie das alles hier versteckt?«, fragte sie entsetzt und starrte auf das Messer.
»Du meinst, Rachel macht das schon länger?«
»Du warst so oft mit ihr und Molly unterwegs. Hast wohl nur auf Molly geachtet, mh?«
Hatte sie das gerade laut gesagt? Almyra blickte zu Clair, die sie fassungslos anstarrte. Ja, sie hatte es laut gesagt. Vielleicht sollte Almyra irgendwann doch mal anfangen, zu denken, bevor sie sprach.
»Schon okay.«
»Ich denke, das war’s. Mollys Bett sollte aber auf jeden Fall neu bezogen werden.«
»Es tut mir so leid. Du wolltest nur helfen und ich danke es dir, indem ich dich schlage.«
Verwirrt sah Almyra die Größere an. Doch dann lächelte sie und drehte das Gesicht weg.
»Schon okay. Wahrscheinlich habe ich es mal verdient, für meine große Klappe eine reingehauen zu bekommen.«
Clair nahm die Hand runter und lächelte ebenfalls leicht.
»Vielleicht.«
»Wenn wir uns da einig sind, können wir ja jetzt endlich gehen.«
»Eine Sache noch.«
»Die wäre?«, fragte Almyra skeptisch.
Peinlich berührt sah Almyra Clair an.
»Sie hat herausgefunden, was mal zwischen uns war.«
Mehr musste sie auch gar nicht sagen, damit Clair verstand.
»Du kannst dich wieder zurückziehen, wenn du willst. Molly hat dir viel bedeutet – du hast ein Recht darauf, zu trauern.«
»Aye Käpt’n.«
»Rachel ist wach.«
»Seit wann ist Rachel wach?«, erkundigte sie sich flüsternd. Rachel musste sie nicht unbedingt hören.
»Vor zehn Minuten ist sie zu sich gekommen.«
»Ist in der Zeit irgendetwas Auffälliges passiert?«
Charlotte schüttelte den Kopf.
»Nein. Sie sitzt seitdem in ihrem Bett und spricht nicht.«
»Verstehe«, murmelte die Mechanikern und sah zu Becky, die ihr in den Krankenraum gefolgt war, »kümmere dich darum, dass Mollys Bett neu bezogen wird. Mir egal, ob du es selbst machst oder jemanden findest, der es macht. Aber in fünf Minuten soll das Bett neu bezogen sein.«
»Aye.«
Becky verließ eilig die Krankenstation. Almyra überlegte derweil, wen sie jetzt dazu animieren konnte, auf Rachel aufzupassen. Sarah wollte sie nicht noch einmal darum bitten. Felicia wäre vielleicht noch eine Option. Doch diese hatte sich dank der Kälte die Blase unterkühlt und musste alle paar Minuten auf die Toilette. Außerdem sollte es eine von den Personen sein, die das Ganze schon mitbekommen hatten. Es wussten ohnehin schon zu viele davon. Almyra setzte sich an Rachels Bett und musterte sie.
»Rachel?«
»Ich bringe dich zurück in dein Zimmer, ja? Hier ist es doch ziemlich ungemütlich.«
Wieder gab es keine Antwort, aber immerhin stand Rachel auf. Sie taumelte etwas, sodass Almyra sie stützen musste.
»Ich hab dich. Und jetzt gehen wir in deine Kajüte.«
Almyra setzte Rachel auf Mollys Bett ab und setzte sich neben sie.
»Möchtest du darüber reden?«
Wieder nur Stille.
»Ich bin für dich da, wenn du reden willst, okay? Aber ich bin dir auch nicht böse, wenn du nichts sagst.«
Ihr Blick fiel auf die immer noch schweigende Rachel. Wie sollte sie das hier nur meistern?
Stunden vergingen, in denen sie einfach nur schweigend nebeneinandersaßen. Irgendwann merkte Almyra, dass Rachel die Augen zufielen. Es dauerte nicht mehr lange, bis die Blonde schließlich zur Seite auf die Matratze kippte und schlief. Almyra deckte sie zu und blieb am Bett sitzen. Sie selbst schien wohl wieder einmal keinen Schlaf zu bekommen. In Spanien würde sich aber sicher die Möglichkeit bieten. Nicht einmal einen vollen Tag musste sie noch durchhalten. Die Mechanikerin lehnte sich an die Leiter des Stockbettes und schloss die Augen. Noch ehe sie es merkte, war sie eingeschlafen. Es war einfach zu viel gewesen.
»Molly!«, riss Rachels panische Stimme Almyra gute zwei Stunden später aus dem Schlaf. Hektisch schaute die Mechanikerin sich um, bis ihr Blick an der blonden Frau hängen blieb, die kerzengerade und schweißgebadet in Mollys Bett saß. Rachel atmete ganz schnell, röchelte dabei leise. Almyra war so erschrocken, dass sie instinktiv handelte und Rachel in den Arm nahm und ihr über den Rücken streichelte. Rachel hatte eindeutig einen Albtraum von ihrer Schwester gehabt.
»Rachel, ich will, dass du ganz tief durchatmest.«
»Ich bin für dich da, Rachel. Dir kann nichts passieren.«
Es verging sicher eine halbe Stunde, in der Almyra Rachel im Arm hielt und ihr gut zuredete. Irgendwann atmete Rachel ruhiger und löste sich von der Mechanikerin. Noch immer liefen ihr Tränen die Wangen entlang, aber immerhin hatte sie sich etwas beruhigt.
»Mir ist so schwindelig.«
»Wir gehen dir etwas zu trinken holen, ja?«
»Ich bin nur schnell in der Küche und hole dir etwas Wasser, ja?«
Almyra verschwand in der Küche und suchte möglichst leise nach Wasser. Sie wollte nicht unnötig Isabella wecken, die nur einen Raum weiter schlief. Die Köchin hatte einen leichten Schlaf und die Wände waren nicht dick. Die Mechanikerin dachte daran zurück, wie noch vor fünf Tagen Molly an Rachels Bett gesessen und um ihr Leben gefürchtet hatte. Was für eine Ironie des Schicksals. Jetzt war es Molly, die nicht überlebt hatte. Es wäre beinahe zum Lachen, wäre es nicht so unglaublich bitter und traurig. Almyra nahm sich eine Wasserflasche und ein Glas und ging damit wieder zu Rachel. Sie schenkte der blonden Frau ein Glas ein und setzte sich zu ihr.
»Du hattest einen schlimmen Albtraum, oder?«
»Molly fehlt mir so sehr.«
Almyra nahm sie wieder in den Arm und seufzte. Sie sagte aber nichts, sondern wartete, bis Rachel sich wieder beruhigt hatte und half ihr dann ins Bett.
»Kann ich noch etwas für dich tun?«
»Guten Morgen. Hast du Hunger?«
Die Angesprochene schüttelte den Kopf und ging zum Schrank, um sich anzuziehen. Am liebsten hätte sich Almyra auch ihre Kleidung gewechselt – und duschen wäre wundervoll gewesen. Sie hatte noch immer die dreckigen Sachen vom Vortag an, als sie im Maschinenraum gearbeitet hatte.
Es klopfte an der Tür und Clara betrat den Raum.
»Wir sind gleich da.«
»Gut, alle sollen auf ihre Position.«
»Aye.«
Clara verließ die Kajüte wieder und gab lautstark den Befehl an alle weiter. Almyra stand auf und musste sich an der Leiter des Bettes festhalten, weil ihr kurz schwarz vor Augen wurde. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder sicher auf beiden Beinen stehen konnte.
»Bin nur zu schnell aufgestanden. Wir sollten auf das Oberdeck gehen.«
»Aye.«
»Was ist los?«, fragte er verunsichert und ließ seinen Blick suchend durch die Gruppe schweifen.
»Ist etwas mit Molly? Ist sie verletzt?«
Rachel fing wieder an zu weinen und fiel John in die Arme. Er schien zu verstehen. Sein Gesicht versteinerte zu einer entsetzten Miene und Almyra konnte ihm ansehen, dass etwas in ihm zerbrach. Mit geweiteten Augen sah er sie an. Die Mechanikerin schluckte.
»Es tut mir leid. Molly hat es nicht geschafft.«
Ungläubig schüttelte John den Kopf und sah zu Clair, welche den Blick abwendete. Dann brach auch er in Tränen aus. Almyra sah in die Gruppe.
»Ihr habt vorerst Zeit für euch, aber ich will euch alle beim Mittagessen sehen.«
»Die Kinder kommen bald von der Schule. Wie soll ich ihnen nur sagen, dass ihre Mutter tot ist?«, überlegte er mit gebrochener Stimme. Almyra seufzte.
»Ich weiß es nicht.«
»Es kam zu einem Gefecht mit der Marine. Molly hat den Ballon reparieren müssen. Sie wurde angeschossen und fiel vom Ballon; sie hat uns vorher aber noch das Leben gerettet.«
John sah mit Tränen in den Augen zu Boden.
»Doch, das können wir.«
John zwang sich zu einem Lächeln, doch es sah in seinem traurigen Gesicht viel mehr aus wie eine Grimasse.
»Gut, dann also im Hochzeitskleid. Sie ist in der Schatzkammer. Ich kann sie neu ankleiden, wenn du willst.«
Panisch sah Hope in die Runde.
»Was ist mit ihr?«
Clara trat näher und sah Hope an.
»Die letzten Tage waren für sie ziemlich viel Arbeit. Wir bringen sie am besten auf ihr Zimmer und lassen sie sich ausruhen.«
Zögerlich nickte Hope.
»Ist gut. Aber was ist mit Molly?«
»Schlaf gut.«
Sie verließ den Raum und wollte etwas frische Luft schnappen. In Spanien war es so viel wärmer als die letzten Tage auf dem Flugschiff. Hope musste nur eine dünne Jacke über ihrem Top tragen und in ihren Stiefeln wurden ihre Füße beim Gehen richtig warm. Lange lief sie am Strand entlang. Eigentlich würde sie gerne im Meer schwimmen, doch dafür war es dann doch zu kalt. Etwas weiter weg konnte sie Clair erkennen, die gerade Liegestütze machte. Schnellen Schrittes näherte Hope sich der Amazone. Die beiden mussten sich dringend unterhalten. Clair schien sie aber gar nicht zu bemerken. Sie machte weiter Liegestütze. Hope räusperte sich. Überrascht sah Clair sie an und richtete sich auf.
»Ja?«
»Wie wäre es mit einem Zweikampf?«
»Das letzte Mal war ich unvorbereitet. Oder hast du Angst, dass ich mich räche?«
Darauf grinste Clair und nahm ihren Säbel zur Hand.
»Sicher nicht.«
»Es tut mir leid.«
Dennoch musste Hope grinsen. Zum einen war sie stolz darauf, so einen Treffer gelandet zu haben, zum anderen hatte es unglaublich gutgetan, Clair eine zu verpassen. Die Amazone fasste sich kurz an die Augenbraue und schaute dann auf ihre blutverschmierte Hand. Dann schmunzelte sie.
»Gut gemacht. Dein Training hat sich gelohnt.«
Hope lächelte stolz. Der Kampf war damit wohl beendet. Clair nahm sich ein Taschentuch aus der Hosentasche und drückte es sich auf die Augenbraue.
»Am besten gehe ich zu Charlotte.«
»Gut, ich komme mit.«
»Entschuldigung!«, sagte Hope hektisch und schloss die Tür sofort wieder. Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Sie war sicherlich knallrot.
»Was ist?«, fragte Clair neugierig.
»Ich hätte anklopfen sollen.«
Die Amazone blickte Hope erst verwirrt, dann aber amüsiert, an.
»Sie ist beschäftigt, ja?«
»Was ist denn los?«
Die Amazone deutete auf ihre Stirn.
»Ich denke, das muss genäht werden.«
»Komm rein, ich sehe mir das an.«
»Ein paar Stiche, dann ist alles wieder gut. Aber was hast du denn angestellt?«
Clair zuckte gleichgültig mit den Schultern.
»Hope hat mich beim Training besiegt.«
»Ihr habt euch geschlagen?«
»Wir haben trainiert! Da gibt es einen Unterschied.«
Becky lachte und steckte sich eine Zigarre an.
»Was auch immer. Hope hat dich also verprügelt? Was hast du denn gemacht, um sie so wütend zu machen? Dich an Almyra rangemacht?«
»So ähnlich, stimmt’s?«
»Ja.«
»Dass wir das mit uns verschwiegen haben, tut mir leid.«
»Schon okay. Es war nicht deine Aufgabe, es mir zu sagen. Aber wenn du sie mir wegnimmst, dann breche ich dir das nächste Mal die Nase.«
Die Amazone grinste sie an, doch dann seufzte sie.
»Ja. Ich hoffe, Almyra ist schon fit.«
»Warum, was ist mit ihr?«
»Sie hatte die letzten Tage viel zu tun. Dann geh‘ und schau nach ihr.«
»Ja.«
»Was soll’s…«
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