Jugendstil und Heinerblut - Eric Barnert - E-Book

Jugendstil und Heinerblut E-Book

Eric Barnert

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Beschreibung

Jugendstil und Heinerblut Abgründig kriminelle Kurzgeschichten aus Darmstadt »Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord, so schön, als man nur verlangen kann, wir haben schon lange so kein gehabt.« (Georg Büchner, Woyzeck) Auch lange nach Büchner ist Darmstadt ein Ort des literarischen Verbrechens. Anlässlich der Criminale 2023, dem größten Branchentreff der deutschsprachigen Krimiautorinnen und -autoren, versammeln sich in dieser Anthologie einundzwanzig renommierte, preisgekrönte sowie etablierte lokale Autoren und setzen der südhessischen Metropole ein blutiges Denkmal. Ingrid Noll, Elisabeth Herrmann, Roland Spranger, Tatjana Kruse und viele mehr haben Darmstadt ihre Kriminalgeschichten auf den Leib geschrieben und beleuchten darin spannend und kurzweilig die vielen Facetten kriminellen Treibens der einstigen großherzoglichen Residenzstadt.

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Ähnliche


Eric Barnert & Michael Kibler (Hg.)

Jugendstil und Heinerblut

Kriminelle Kurzgeschichten aus Darmstadt

Originalausgabe

© 2023 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Ingrid Noll »Mein großer grüner Kaktus«

© Ingrid Noll / Diogenes Verlag AG Zürich

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp

Coverfoto: @ Stefan Daub - Daub Fotodesign

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-648-6

E-Book-ISBN 978-3-95441-655-4

Inhalt

Tatjana Kruse

Klaus-Günter macht die Mathildenhöhe platt!

Patricia Holland Moritz

Der zerstreute Heiner

Ingrid Noll

Mein großer grüner Kaktus

Michael Kibler

Alles gut

David Frogier de Ponlevoy

Vorsicht bei der Einfahrt

Eric Barnert

Lacrimosa

Susanne Hanika

Darmstadt zu Fuß

Klaus Berndl

Du bist das

Gisa Klönne

Reiher, Weiher, Tod

Sabina Altermatt

Er

Ivar Leon Menger

Die Kontaktanzeige

Michaela Pelz

Die Begegnung

Almuth Heuner

Stoßtrupp Kaviar

Elisabeth Herrmann

Luisenplatz, 1977

Sabina Naber

Jubiläum

Jutta Siorpaes

In größter Not

Thomas Schrage

Blutprobe

Ivonne Keller

Schneewittchen dürfen nicht sterben

Johannes Maria Stangl

3,6 Prozent

Ella Theiss

Die Fälscherin

Roland Spranger

Malaise

Autorinnen und Autoren

Tatjana Kruse

Klaus-Günter macht die Mathildenhöhe platt!

Tja, das war’s dann also. Aus die Maus. Eigentlich ein gutes Leben, zu Anfang auf jeden Fall, nur gegen Ende war’s ziemlich abgekackt. Und ja, er war nicht ganz unschuldig daran. Geschenkt! Was geschehen war, konnte man nicht rückgängig machen. Und es kann in diesem Leben nicht für alle und jeden ein Happy End geben.

Da kam sie auch schon, die Kugel mit seinem Namen drauf. Na ja, wenigstens ein furioser Abgang. Klaus-Günter – Günter mit ohne h – schloss die Augen und ergab sich in sein Schicksal.

Um exakt 12 Uhr mittags kam die Eilmeldung über den dpa-Ticker gelaufen: Geiselnahme durch Bombenattentäter auf Mathildenhöhe in Darmstadt.

Weil die Top-Leute in der Redaktion zu diesem Zeitpunkt andere Termine wahrnahmen, entsandte der Chefredakteur der Allgemeinen notgedrungen Ulrich Schumann-Kreuth an den Ort des Geschehens. In dessen Referenzschreiben zur Kündigung würde stehen: Er hat sich stets bemüht. Bemüht, ja. Ging aber immer irgendwie in die Hose.

»Versemmeln Sie das bloß nicht!«, mahnte der Chefredakteur.

Jetzt parkte Uli Schumann-Kreuth sein Moped direkt vor dem polizeilichen Absperrband. Mopeds – all die Risiken von Zweirädern, nur dass man nicht so cool darauf aussah. Aber bald würde er auf einem richtigen Motorrad unterwegs sein, auf einer echt heißen Maschine. Bislang hatte er über Umzüge von Feinkostläden berichtet, über gesperrte Klinikumsparkplätze, über die maue Resonanz bei Bürgerbefragungen oder auch mal über heiße Eisen wie Kritik am Schlossgrabenfest – und es war ja auch voll okay, die Bürgerschaft über das zu informieren, was sie betraf, das war eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe. Doch das hier, das hier war eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung. Ach was, von internationaler Bedeutung! Ein Bombengeiselnehmer, der ein Weltkulturerbe zu sprengen drohte. Das konnte – nein, das würde – sein Durchbruch als investigativer Journalist werden!

Rund um den Hochzeitsturm, in dem sich der Mann verbarrikadiert hatte, wie es hieß, war alles weiträumig abgesperrt. Auf den Zufahrtsstraßen zur Mathildenhöhe drängten sich die Übertragungswagen der Öffentlich-Rechtlichen und der Privatsender, und am Himmel kreiste ein Polizeihubschrauber und hielt den Luftraum frei.

Oh ja, dachte Uli, wenn er jetzt seine Karten richtig ausspielte, dann würden sich die großen Tageszeitungen der Republik um ihn reißen. Vielleicht sogar die Wochenzeitungen. Womöglich der Spiegel! Er schulterte seinen Rucksack und ging auf den Polizisten am Absperrband zu.

»Lassen Sie mich durch, ich kann als Mediator dienen – ich kenne den Mann!« Dass er ihn nicht kannte, das würde er später klären. Brauchte er aber nicht, denn der Polizist brummte nur: »Und ich kenne den Papst! Sie kommen hier nicht durch.«

Uli schmollte.

Einsatzleiter Jürgen Guderian hatte reichlich Kaffee intus. Grenzwertig viel. Noch eine einzige weitere Tasse, und sein Körper würde sich – sollte er bei diesem Einsatz draufgehen – noch vierundzwanzig Stunden nach seinem Tod bewegen.

Ein Zustand, der übrigens sekündlich eintreten konnte, denn er stand nur wenige Meter vom Hochzeitsturm entfernt und Kollegin Buchting – das Fernglas vors Gesicht gepresst – meldete mit angespannter Stimme: »Ich kann den Täter in der offenen Tür sehen. Er hält eine Fernbedienung für den Sprengstoffgürtel in der Hand.«

Guderians Adern schwollen vor lauter Konzentration an. Es war sein erster Einsatz als Leiter eines hochbrisanten Sondereinsatzkommandos, und er hatte vor lauter Hektik seine persönliche Schutzweste nicht gefunden, als der Marschbefehl erging. Jetzt trug er die Weste von Kollege Meyer. Auf der fett MEYER stand. Ausgerechnet heute. Wo die Medien der ganzen Welt zusahen. Vielleicht besser so. Wenn er das hier versiebte, bekäme der Name Meyer einen Beigeschmack, nicht seiner. Aber dennoch … wenn ihn noch ein einziger mit Meyer anredete, floss Blut.

Jemand trat neben ihn und murmelte etwas.

»Was?«, brüllte Guderian und wirbelte wie ein Derwisch herum. Nicht absichtlich, das war allein der Überkoffeinierung geschuldet.

»Der Präzisionsschütze der Bundeswehr ist eingetroffen, Herr Meyer.«

Guderian ging ab wie ein HB-Männchen.

Ausgerechnet an seinem ersten Urlaubstag! Der Direktor der Mathildenhöhe war nicht glücklich. Man hatte ihn verständigt, als er gerade die Koffer in seinen Wagen wuchtete, um zum Flughafen Frankfurt zu fahren. Aber in einer solchen Situation gab es so was wie Urlaub natürlich nicht. Also fuhr er im Eiltempo zurück an seinen Arbeitsplatz und wollte die Evakuierung der Gebäude veranlassen, doch seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hatten sich bereits selbst evakuiert. Kluge Truppe!

»Sind alle von uns in Sicherheit?«, fragte er.

Seine Sekretärin nickte. »Die Leute, die der Geiselnehmer in seiner Gewalt hat, sind ausnahmslos Touristen. Und -innen«, setzte sie noch hinzu, weil ihr das Gendern in Fleisch und Blut übergegangen war.

Gundula Friedrichs – die Presse würde später schreiben: eine Hausfrau (64) aus Wixhausen-Ost – hatte seinerzeit im Hochzeitsturm der Mathildenhöhe geheiratet. Vor zwanzig Jahren und drei Monaten, um genau zu sein. Eine Spätehe, sie war damals schon Anfang vierzig gewesen. Hatte sich vorher einfach nie ergeben.

Doch schon viel früher, lange vor ihrer Pubertät, hatte sie die perfekte Hochzeit geplant: das Kleid, die Frisur, den passenden Mann – und auch, wenn Outfit und Mann sich im Laufe der Jahrzehnte änderten, hatte sie sich vor ihrem inneren Auge immer frisch vermählt im Hochzeitsturm gesehen. In diesem grandiosen Stück Architektur, das Joseph Maria Olbricht ersonnen hatte, quasi als nachträgliches Geschenk der Stadt an Großherzog Ernst Ludwig und seine Eleonore zur Hochzeit im Jahr 1905. Das Wandmosaik in der Eingangshalle mit den beiden Liebenden, die sich vor blauem Sternenhimmel küssend in den Armen liegen, hatte es Gundula seit jeher besonders angetan.

Schon als Kind hatte sie memoriert, dass diese Vision ihres Glücks von der Glasmosaikfabrik Puhl & Wagner nach Entwürfen von Friedrich Wilhelm Kleuken zur Ausstellung der Künstlerkolonie im Jahr 1914 angefertigt worden war. Gundula hatte sich dieses romantischste aller Mosaikbilder sogar auf den verlängerten Rücken tätowieren lassen – mit ihrem Gesicht und mit dem von Rainer, ihrem Seelenpartner. Jetzt ja eher ›Rainer, der Arsch‹, der sie mit ihrer besten Freundin betrogen hatte. Nicht wirklich schade drum: Er hatte ihr stets versprochen, alles für sie zu tun, aber damit hatte er dann wohl gemeint, allfällige Drachen für sie zu töten – den Müll rauszutragen, die Geschirrspülmaschine einzuräumen, ihr treu zu sein, das hatte er nicht darunter verstanden.

Vor ihr lag nun ein Leben ohne Mann und ohne beste Freundin, aber mit einem nicht-weglaserbaren Tattoo auf dem Hintern.

Gundula überlegte oben auf der Aussichtsplattform gerade, ob sie nicht trotz der Sicherheitsmaßnahmen vom Turm in den Tod und somit ins Vergessen springen konnte, als ein Tourist in Shorts und mit Kamera um den Hals die Treppe hochgelaufen kam und schrie: »Da unten ist ein Terrorist mit einer Bombe um den Bauch! Wir werden alle sterben!«

Woraufhin sich die Menge oben auf dem Turm wie verschreckte Welpen aneinanderkauerte. Nur Gundula trat beherzt den Weg nach unten an. Sie hatte ohnehin nichts zu verlieren.

Klaus-Günter positionierte sich mitten in der offenen Eingangstür. Der selbstgebastelte Bombengürtel saß deutlich zu eng und verunmöglichte die freie Nasenatmung. Er konnte nur ganz flach durch den Mund atmen. Na, lange würde es jetzt nicht mehr dauern.

Im Olbrichweg und sogar im Platanenhain standen diverse Streifenwagen, hinter denen Uniformierte kauerten. Ein Hubschrauber schwebte über dem Geschehen. Wegen des Rotorenlärms konnte Klaus-Günter nicht verstehen, was sich die Polizisten zuriefen, aber es hatte für ihn ganz den Anschein, dass gleich der Zugriff erfolgen sollte.

Gottseidank! Lange hielt er es nicht mehr aus. Er hatte alles minutiös von langer Hand geplant, aber wie nervenaufreibend-zermürbend es dann vor Ort tatsächlich sein würde, das hatte er nicht vorausgesehen. Außerdem drückte seine Blase. Aber das würde warten müssen …

»Scheiße!«, fluchte Uli Schumann-Kreuth. Drüben, in dem gesicherten Bereich weit weg vom Turm, sah er den Mitarbeiter eines großen Privatsenders vor laufender Kamera mit dem Direktor der Mathildenhöhe reden. Uli erkannte das Gesicht des Kollegen: eine bekannte Medien-Nase mit eigenem Abendformat. Klar, dass der die besten Interviews bekam.

Sofort stieg Panik in Uli auf: Gab es einen geheimen Zugang zum Turm, den nur der Direktor kannte? Würde dieser Großkotzkollege gleich hautnah mit dem Bombenattentäter sprechen? Uli sah seine Felle davonschwimmen. Aber so nicht, nicht mit ihm! Seine Hoffnung mochte im Sterben liegen, begraben hatte er sie noch nicht.

Uli sah sich um. Ja, das war’s – er musste nur auf das Dach des Alice-Altenheimes gelangen, von dort könnte sein Plan klappen!

Uli Schumann-Kreuth sprintete los.

»Was machen Sie denn da?«, rief Gundula Friedrichs.

Klaus-Günter drehte sich zur Treppe. Er war mit der Linie MO1 zum Elisabethenstift gefahren und den Rest des Weges zum Hochzeitsturm zügig zu Fuß gegangen. Dort hatte er sich gleich als Attentäter zu erkennen gegeben und alle, die sich in der Eingangshalle befanden, weggeschickt. Er hatte bei der Planung extra darauf geachtet, keinen Trautermin zu stören. Dass sich oben im Turm noch jemand befinden könnte, hatte er zwar zu Hause miteingeplant, aber dann vor lauter Adrenalinrauschen in den Adern vergessen. Mist!

»Ich habe gefragt, was Sie da machen, junger Mann!« Gundula stemmte die Hände auf die Hüften und musterte ihr Gegenüber. Wenn dieser Bombenmensch nicht einen überdimensionalen Pornoschnauzer im Gesicht tragen würde, wäre er richtig gutaussehend. Und soviel jünger als sie sah er gar nicht aus, aber sie wollte gleich ein Altersgefälle etablieren, das sorgte für mehr Respekt.

Klaus-Günter musterte die Frau. Es war ja ein Irrtum zu glauben, Omas würden heutzutage noch in Kittelschürze und mit Dauerwelle herumlaufen. Die hier trug Destroyed Jeans und ein AC/DC T-Shirt und hatte einen frechen Kurzhaarschnitt.

Klaus-Günter murmelte etwas.

»Sie müssen lauter reden!«

»Ich habe gesagt, Sie sind jetzt meine Geisel. Gehen Sie bitte wieder nach oben, sonst … äh … muss ich die Bombe zünden.« Er zeigte auf seinen Gürtel, an dem mehrere Eineinhalb-Liter-Flaschen mit durchscheinender Flüssigkeit befestigt waren.

»Ist das Mineralwasser?« Gundula legte die Stirn in Falten. »Klar ist das Mineralwasser. Ich erkenne doch die Etiketten.«

Klaus-Günter hatte nicht damit gerechnet, dass man ihn so schnell überführen würde. Weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ihm jemand so nahekommen würde. »Nein, das ist Flüssigsprengstoff! Und das ist der Zünder, also tun Sie, was ich sage!« Er hielt seine Fernbedienung in die Höhe.

Gundula trat die restlichen Stufen hinunter und setzte ihre Brille auf. »Die Fernbedienung kenne ich, ich habe dieselbe. Die ist für den Fernseher.«

»Ich habe sie umgerüstet!«, erklärte Klaus-Günter trotzig.

Gundula legte den Kopf schräg. »Seien Sie ehrlich«, sagte sie. »Sie sind doch gar kein Bombenattentäter. Man sieht doch gleich, dass Sie einer von den Guten sind.«

Klaus-Günter schluckte schwer. »Ich wusste mir keinen anderen Ausweg mehr. Ich … ich bin arbeitslos und zahlungsunfähig. Meine Frau hat mich schon vor Jahren verlassen, und jetzt verliere ich auch noch meine Wohnung. Ich will Weihnachten nicht obdachlos auf der Straße verbringen. Aber wer stellt schon jemanden wie mich ein? In meinem Alter? Da dachte ich, im Gefängnis ist es auf jeden Fall besser. Also, zumindest wärmer.« Er sah sie aus großen Dackelaugen Verständnis heischend an. Sein Schnauzer vibrierte. »Dass oben noch wer sein könnte, habe ich vergessen. Ich mach das ja nicht als Profi, da geht einem schon mal was durch. Ich wollte Sie auf gar keinen Fall in Angst und Schrecken versetzen.«

Gundula nickte. Sie trat neben ihn und sah nach draußen. »Ist das da drüben ein Scharfschütze?«

»Was?« Klaus-Günter riss die Augen noch weiter auf. Damit hatte er nicht gerechnet. Er war immer davon ausgegangen, dass ihm jemand mit strenger Obrigkeitsstimme »Geben Sie auf!« zurufen würde – und dann hätte er natürlich augenblicklich aufgegeben. Seit wann wurden denn mitten in Deutschland Menschen einfach so von Scharfschützen erschossen?

Rasch zerrte er Gundula aus der Schusslinie und zeigte mit der Fernbedienung auf sie. »Bleiben Sie gefälligst dort, wo Sie keiner sehen kann!«

»Scheiße!«, rief jemand aus Guderians Truppe, der Klaus-Günters ausgestreckten Arm missdeutete. »Der will eine der Geiseln töten!« Einsatzleiter Guderian riss Kollegin Buchting das Fernglas aus der Hand. »Verdammt, tatsächlich!«, bellte er. »Sind die Präzisionsschützen in Position?«

Uli Schumann-Kreuth hatte es aufs Dach des Altenheims geschafft. Und ja, von hier oben hatte er einen guten Blick. Gut genug für seine Drohne. Er hatte sie für unter zweihundert Euro online bestellt und trug sie, für genau solche Fälle, immer im Rucksack mit sich.

Offenbar tat sich etwas – Uli bemerkte das hektische Treiben unter den Einsatzkräften. Wenn er schon kein Interview mit dem Attentäter bekam, dann doch wenigstens Livebilder auf sein Handy. Mit zittrigen Händen brachte er seine Drohne an den Start.

»Flieg, mein Kleiner, flieg!«

Mit geübten Händen lenkte er die Drohne mit der Fernsteuerung hinüber zu der offenen Tür des Hochzeitsturmes.

»Feuer!«, brüllte Guderian.

Der Präzisionsschütze, der Klaus-Günter schon die ganze Zeit im Visier gehabt hatte, schoss.

Klaus-Günter – Günter mit ohne h – hörte den Feuerbefehl. Das war es also. Aus die Maus. Er schloss die Augen und ergab sich in sein Schicksal.

Gleich darauf tat es einen unschönen metallischen Schlag und Metallteile flogen ihm um die Ohren und ratschten ihm die Haut auf.

»Aua!«, quietschte er und ging in die Knie.

»Nein!«, schrie Uli Schumann-Kreuth auf dem Dach des Altenheims. Sie hatten seine Drohne zerschossen! Seine wunderbare, neue Drohne! Aber wenigstens hatte er ein Livebild von den letzten Augenblicken des Bombenattentäters. Er rief die App auf seinem Handy auf, die die Datenübertragung von Drohne zu Smartphone regelte. Die App meldete lapidar: Geräte-Paarung nicht erfolgreich, bitte versuchen Sie es erneut.

»NEIN!« Uli Schumann-Kreuth schrie seine Seelenqual in den Himmel über Darmstadt.

Als Klaus-Günter die Augen aufschlug, lag sein Kopf im Schoß der AC/DC-Oma. Von hier unten sah sie gar nicht so alt aus.

»Alles gut«, raunte sie ihm zu und presste ein Taschentuch auf seine blutende Schläfe. »Kopfwunden bluten immer wie Schwein, aber Sie sind nicht schwer verletzt. Eine Drohne hat Ihr Leben gerettet.«

»Ich bin noch nie straffällig geworden. Und ich wollte der Mathildenhöhe wirklich nichts tun, das müssen Sie mir glauben«, hauchte Klaus-Günter.

»Ich glaube Ihnen.« Gundula streichelte seine Stirn. »Ich bin Gundula. Und Sie?«

»Klaus-Günter. Mit ohne h. Sie duften wie eine frische Blumenwiese.«

Gundula schmunzelte. Klaus-Günter sah Rainer nicht unähnlich. Wenn sie sich auf das Tattoo einfach noch einen Schnauzer stechen ließ, war ihre Welt – und ihr Hintern – wieder in Ordnung. »Ich werde Sie regelmäßig im Knast besuchen«, versprach sie. »Sie sitzen Ihre Strafe ab und danach kriegen wir Sie wieder auf die Beine! Ganz bestimmt. Ich helfe Ihnen.«

Klaus-Günter lächelte. Gundula auch. Liebe lag in der Luft.

Später lächelte auch der Direktor, weil alles so glimpflich ausgegangen war – kein Verlust an Leib und Leben und kein einziger Kratzer an der Mathildenhöhe.

Nur Guderian und Uli Schumann-Kreuth lächelten nicht – Guderian verscherzte mit seinem ›Feuerbefehlio praecox‹, wie es sein Vorgesetzter nannte, beinahe seine Beförderung (letzten Endes wurde Kollege Meyer strafversetzt, dessen Schutzweste auf allen Berichterstattungsfotos weltweit zu sehen war und dessen Unschuldsbeteuerungen ungehört verhallten), und Schumann-Kreuth, der bis Redaktionsschluss keine einzige Textzeile schickte, weil er Quittung und Garantie seiner Drohne suchte, und die Allgemeine somit die einzige Zeitung war, die nicht über das Attentat berichtete, wurde fristlos entlassen.

Aber so ist es nun mal im Leben: Es kann nicht für alle und jeden ein Happy End geben.

Patricia Holland Moritz

Der zerstreute Heiner

»Du HORST!!! Sachma, hast du sie noch alle???« Äpfel rollten den Radweg hinunter. Ronny schaute ihnen hinterher. Wie auch dem Radler, der eifrig in die Pedale trat und hinter einer Gruppe angeschwipster Männer verschwand.

Ronny wuchtete die Faust in die Luft. Dann sammelte er seine Einkäufe wieder ein.

Der »Horst« war ihm so rausgerutscht in der Stadt, in der man Heiner heißen sollte und in der er noch nicht angekommen war. In Darmstadt.

Essen, Darmstadt, Pforzheim … Im Westen der Republik lag ganz offensichtlich ihr Verdauungstrakt. Als Stadt ließ es sich leben mit einem verunglückten Namen. Aber als Mensch? In einer Zeit, in der Eltern ihre Söhne nicht nur »Kasper« schimpften, sondern ihnen auch noch diesen Namen gaben, hieß er noch viel schlimmer: Ronny.

Der Ronny aus dem Osten war der Kevin aus dem Plattenbau und in der Schlussfolgerung des Ganzen nicht die hellste Kerze am Baum. Ein Vorurteil, das nicht nur in Berlin gedieh, sondern auch auf dem fruchtbaren Boden Darmstadts. Doch er lebte gern im Windschatten der intellektuellen Missachtung. Dort, wo er den Darmstädter Georg Büchner las und immer wieder den Frankfurter Goethe. Nirgendwo war es ruhiger als im Auge des Orkans. Dort, wo er in Ruhe gelassen wurde, seinen eigenen und nicht den Gedanken anderer nachgehen konnte, fühlte Ronny sich unantastbar. Auf jene in der zweiten Reihe wurden vielleicht weniger Blicke geworfen, aber auch weniger Steine.

Ronny Mischke hielt noch ein bisschen an seiner Jugend fest, und jede glatte Fläche hielt als Spiegel her. Kürzlich hatte er sich sogar über eine Pfütze gebeugt, um sich vom perfekten Sitz seines Hemdes zu überzeugen. Auch jetzt, zwei Baumwollbeutel mit Einkäufen in den Händen, betrachtete er sich im Schaufenster einer Galerie. Er tänzelte sogar ein wenig dabei. Hob unscheinbar die Beutel an, rechts und links im Wechsel, das Gewicht formte Bizepse unter dem glatten Stoff des bügelfreien Hemdes.

Auf dem Weg in seine Zweizimmerwohnung im dritten Stock begegnete ihm Frau Kanzler. Sie führte am frühen Abend ihren Hund aus. Beide – auch der schwarze Pudel – wie immer gekämmt und auffallend gut gepflegt. Sie mit ihren achtzig Jahren in bequemen Baumwollhosen und von einer erfrischenden Wolke Kölnischwasser umgeben.

»Wo geht’s denn hin?«, fragte Ronny und kannte die Antwort.

»In de Herrngadde nadierlisch! Zwaa Bembel un’ dann widder haam.«

Sie schaute ihn an mit einem Blick, den er als ziemlich verwegen wahrnahm. Frau Kanzler hegte so gar keinen Argwohn gegen ihren neuen Nachbarn. Was auch kein Wunder war. Sie vergaß. Alles und schnell. Ob ihr geistiger Zustand mit Alzheimer, Demenz oder schlicht Vergesslichkeit zu tun hatte, war Ronny einerlei. Er hätte sich keine bessere Nachbarin wünschen können. Konnte ihr alles erzählen, sie zu seiner Mitverschwörerin machen ohne auch nur die Spur eines Risikos, von ihr verraten zu werden. Nur dass sie einen Wohnungsschlüssel bei ihm deponiert hatte, weil sie ihren oft verlegte und manchmal sogar verlor, konnte sie sich merken. Ganz Darmstadt musste schon mit den Schlüsseln der Frau Kanzler ausgestattet sein, so oft sie bei ihm klingelte, um sich den Ersatzschlüssel zu holen und ihm kurz darauf einen neuen, frisch gefrästen zu bringen.

Ronny lächelte und sagte in verschwörerischem Ton: »Dann wünsche ich Ihnen viel Freude. Auf dass auch für Peppo was vom Tisch fällt.«

Sie lachte und beugte sich runter zum Pudel, der sofort gierig ihre Hand nach Essbarem absuchte. Als sie sich wieder aufrichtete, lag Sorge in ihrem Blick.

»Awwer du, goldische Bubb«, sagte sie, »bisdd die gaandse Zeit so fäddisch. Kommsch’de aach zum Festsche? Es ist doch der ersde Daach. Machst aaner druff. Dammschdadd lernste nedd nur iwwer die Awweid kenne.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Aufs Heinerfest freue ich mich schon lange«, entgegnete Ronny wahrheitsgetreu. »Wir begegnen uns dort ganz bestimmt die Tage.«

»Na dann druff un als dewedder!«, rief die alte Dame fröhlich und hangelte sich weiter am Geländer nach unten.

Heiner. Ein Name, den Ronny wie eine unkontrollierte Steigerung seines Unfalls von Namen empfand, war hier Programm. Am Abend sollte es eröffnet werden, das jährliche Heinerfest, auf dem sich bekennende Heiner als solche bekannten. Vom Herrngarten aus rund um das Darmstädter Schloss, den Karolinenplatz, Mercksplatz, bis zum Riesenrad auf dem Marktplatz, aufgebaut wie ein gallisches Dorf aus Bühnen für Theaterstücke und Konzerte, Kino und Sport. Und die Lücken dazwischen gefüllt mit dem, wonach den Menschen gelüstete, sobald zu viel Kultur ihn zu langweilen begann und er in deren Niederungen hinabstieg. Mit Bembel aufs Kettenkarussell. Illegale Rennen im Autoscooter simulieren. Dem Brechreiz im »Apollo-Flug« nachgeben. Plüschtiere mit Metallgreifern angeln. Ganze Sträuße Plastikrosen schießen. Ausdauernd Lose kaufen, bis einem der größte Teddybär gehörte.

Natürlich ging Ronny aufs Heinerfest. Zunächst brachte er die Einkäufe nach oben. Wechselte das Hemd, zog eine Cargohose mit aufgesetzten Taschen an und verstaute alles darin, was er für den Abend brauchen würde. Er wusste, wo sie sich trafen.

In die »Krone« ging, wer an seiner Jugend festhielt, wie Ronny es tat. In der Atmosphäre des Gasthauses mit der Patina von Jahrhunderten, das den Bomben getrotzt hatte, ließ sich bei Bier und Billard und Konzert und Kunst die eigene Vergänglichkeit besser verkraften.

Auch Heiner Schwöbel hielt an seiner Jugend fest, die ihm allerdings wie Schuppen aus dem lichter werdenden Haar fiel, je mehr er sich bemühte. Es sei wie beim Furzen, hatte Frau Kanzler Ronny kürzlich (und zum wiederholten Male) beim Kaffeetrinken in ihrer guten Stube mitgeteilt: Je mehr Druck man machte, umso mehr Kacke kam dabei heraus. (Sie vergaß auch die Witze, die sie bereits gezündet hatte. Und gab sie mit wachsender Begeisterung immer wieder aufs Neue zum Besten. Ihre Scherze alterten nicht, sondern reiften wie ein Wein, der erst durch seine Lagerung ein nennenswertes Prädikat erreichte.) Ronny lachte jedes Mal wie beim ersten Mal über die wohltuende Weisheit der kultivierten alten Dame, deren Leben dank ihres Gedächtnisschwundes sehr abwechslungsreich war.

Heiner Schwöbel machte eine Menge Druck. Er hatte allen Grund dazu. Schon der erste Anblick hatte Ronny gezeigt, was eine Nase in einem Gesicht anrichten konnte. In Heiner Schwöbels Fall großes Unheil. Doch Heiner Schwöbel galt als feiner Kerl mit dem Rüssel für das richtige Gespür. Wegen ihm war Ronny ins Fahrgeschäft eingestiegen. Und hatte sich ein Taxiunternehmen darunter vorgestellt oder einen Autoverleih, damals, als Mutter ihren neuen Freund zu Hause anschleppte. Dabei hatten sie gerade die ganze Scheiße hinter sich gehabt und den dauerbetrunkenen Vater in der Geschlossenen untergebracht.

Ronny würde den Tag nie vergessen, an dem dieser Clown zum ersten Mal vor ihm stand. Nach einem feuchten Händedruck hatte der überhaupt erstmal seine Sonnenbrille abgenommen. Hatte den stattlichen Sohn seiner neuen Geliebten anerkennend betrachtet. Was’n goldische Bubb.

»Rischdiesch!«

Ronny klopfte sich auf die Schulter, und sein Spiegelbild tat es ihm gleich.

»De goldische Bubb wird dir ein Fest bereiten, das seinen Namen fortan mehr denn je verdient.«

Die Darmstädter waren ein warmes, gastfreundliches Volk. Ronny konnte sich nicht beklagen, wobei er so wenig von ›den Darmstädtern‹ wie von ›den Menschen‹ reden wollte, weil doch jeder Einzelne seine Chance für sein eigenes Handeln verdiente und niemand als Gruppe existierte.

Manchmal arbeitete Ronny, das Handy am Ohr, unter dem »Langen Lui« auf dem Luisenplatz. Dann saß er auf den Stufen zum Denkmal für Ludewig I., führte die notwendigen Telefonate mit der Spedition seines Vertrauens, mit befreundeten Schaustellern, die seine Fleischwaren schätzten, mit der charmanten Sachbearbeiterin beim Gesundheitsamt und dem polternden Vorsitzenden vom Festausschuss. Mit jedem Telefonat besiegelte er, wie weit es ein Ronny aus dem Osten bringen konnte. Ließ dann das Telefon in die Brusttasche gleiten und genoss das Treiben auf dem Platz. Er und Lui bildeten den Stein im Flussbett, um den herum sich das Wasser spülte und das Leben spielte. Nur Tage zuvor hatte er dort gesessen. Hatte beobachtet, wie Stück für Stück die Bauten für das Heinerfest zusammen mit der Vorfreude wuchsen, die in der Luft lag. Dazwischen die Geigerin mit dem Teufelsblick, schwarzen Lederklamotten und Silberschmuck, der jede ihrer Bewegungen am Bogen orchestrierte. Und wieder der langhaarige Mann, zu jung für so wenige Zähne im Mund, doch mit einer Fröhlichkeit ausgestattet, die ihm ein ständiges Klimpern von Münzen im leeren Kaffeebecher bescherte. Eine ebenfalls – aber weniger erfolgreich – bettelnde Roma mit einem Pappschild in der Hand wurde fast überrannt von zwei Männern im Anzug und in Eile, die gierig in ihre Sandwichs bissen und dabei lauthals über einen Spruch lachten, den einer von beiden gerade gemacht hatte. Schaute sich Ronny auf dem Luisenplatz um, wirkte nur die Blumenhändlerin darmstädtisch in ihrer Vertrautheit mit dem Platz und seinen Menschen. Geduldig tackerte sie Preisschilder an Pflanztöpfe, während sie sich mit einem älteren Herrn in Beige und Braun unterhielt, der kurz darauf mit zwei Hortensien in Pink und Blau und zufriedenem Lächeln von dannen zog.

Die hiesigen Frauen waren die besseren Heiner, fand Ronny. Das männliche Original galt einst als übel beleumdeter Hunne, als grober Hüne, der zu »Heune« und schließlich »Heuna« wurde. Ein ungeschlachter Typ, der unverfälschten Dialekt sprach. Erst vor gut hundert Jahren, wie ihm Frau Kanzler zum wiederholten Male erzählte, sei der Heiner zum feinen Kerl geworden.

›Und wo ist Ihrer?‹, hatte Ronny zwinkernd gefragt, wissend, wie fröhlich Frau Kanzler auf einen unvermuteten Flirt reagierte.

›Mein Heiner is schon langge dohd. Hab isch Ihne des ned erzählt?‹

Hatte sie. Ebenfalls schon hundert Mal, doch Ronny liebte es, wenn die feinen Altersäderchen ihr Gesicht erröten ließen. So hatte die Mutter gelächelt, als sie Heiner Schwöbel kurz nach der Wende zum ersten Mal mit in die Plattenbauwohnung gebracht hatte.

Ronny hatte gerade die letzte Prüfung der Zehnten bestanden und nun sein Leben vor sich gehabt. Das Land war mit nie da gewesener Freiheit gesegnet. Die Mutter war vom prügelnden Vater befreit. Die Zimmer waren entrümpelt und frisch tapeziert. Ronny hatte gekocht an dem Tag und Schnittblumen gekauft. Das Zeugnis lag unter einer Flasche französischen Rotweins. Der Korken daneben, zwei polierte Gläser standen bereit. Trotz des Tageslichts hatte Ronny eine Kerze angezündet. Die Mutter kam rein und strahlte. Dabei hatte sie weder die Kerzen, noch den Wein oder das auf dem Tisch liegende Zeugnis bemerkt. Sie strahlte vor Glück, und Heiner Schwöbel, der Mann an ihrer Seite, war der Grund dafür.

›Daan goldische Bubb ist ja schon ganz schee groß. Da muss isch uffbasse, dass mer uns verdraache.‹

Und dann ging das Getätschel los, auf das bald jene Niedertracht folgte, die hinter jeder übertriebenen Geste der Zuneigung lauert. Dieser Heiner war der Inbegriff von Akkuratheit und Kontrolle. In der Wohnung und im Leben von Ronny und seiner Mutter herrschten fortan Ordnung und Sauberkeit unter dem Duft von WC-Reiniger.

Heiner war ein hessischer Lokalpolitiker, der sich kurzzeitig als Karussellbetreiber im Osten versuchte. Mit Erfolg. Goldgräberstimmung überall, und neben flugs errichteten Baumärkten zog auch das Geschäft mit den Fahrgeschäften an. Der Rummel allerorten berieselte die dehydrierten Gemüter, und auch Ronny ließ sich darin treiben. Die Mutter blühte auf in ihren neuen Kleidern, behängt mit Schmuck, der zum ersten Mal in ihrem Leben echter war.

Erst als die Mutter entschied, mit ihrem Geliebten ein Haus zu kaufen, wurde Ronny stutzig. Sie sollte es kaufen und die Papiere unterschreiben (»Des is sischerlisch viel besser für disch, denn immer dro denke, mir sinn ned verheiraded!«), für das nötige Kleingeld würde er dann schon sorgen.

Die Fleischerlehre hatte Ronny abgebrochen, obwohl es ihn immer zum Schlachten gezogen hatte. Den Tieren einen sanften Tod zu ermöglichen, bevor sie zerstückelt wurden – das war sein Plan gewesen. Er hatte es auf sich genommen, die brachiale Lehre zu ertragen, um sie eines Tages mit eigenen Ideen zu unterwandern. Doch Heiner Schwöbel wusste zu reden, er motivierte Ronny jeden Tag aufs Neue: Das Leben sei ein Rummel und kein Gammelfleisch. Er würde reisen und interessante Leute treffen statt in einer Kühlhalle in tote Kuhaugen zu starren.

Sein Vater hatte nie so mit Ronny geredet und Heiner leichtes Spiel.

›Bist doch kaa Kabb! Mer wern e guudes Team!‹

Also fuhr er mit, wenn Heiner Schwöbel seine Karussells und Schießbuden in die Dörfer im Speckgürtel um Berlin herum dirigierte. Und dann zogen sie um. In ein Haus in Brandenburg. Mit einem Garten, kleinem Teich, einem Entenpaar und einigermaßen leidlichen Nachbarn. Ronny hatte ein großes Zimmer unterm Dach und die Mutter endlich ein Badezimmer so groß wie ein Ballsaal. Doch Walzer konnte sie dort nicht tanzen, weil ihr Partner plötzlich verschwunden war. Hatte sich für ein paar Tage nach Darmstadt verabschiedet und noch gesagt, dort stünden die Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung an. Und kam nicht wieder.

›Wie kann er sich dort wählen lassen, wenn er hier lebt?‹, war eine von Ronnys Fragen, auf die er nur ein Schulterzucken von der Mutter als Antwort bekam. Sie schien von ganz anderen Sorgen getrieben zu sein. Ihr Schmuck glänzte heller als ihre Augen, und bald legte sie ihn ab. Das Telefon blieb still, und wenn die Mutter Heiner Schwöbels Nummer wählte, legte sie kurz danach wieder auf.

›Wir schaffen das auch zu zweit‹, versuchte Ronny die Mutter zu trösten. ›Haben wir doch schon mal geschafft.‹

Sie hörte ihn schon nicht mehr.

Monate waren vergangen. Rechnungen stapelten sich zu Türmen des Versagens. Die Raten des Hauses wurden nicht mehr gezahlt. Der Teich trocknete aus. Das Entenpaar war weggezogen. Die Nachbarn wandten sich ab und tuschelten untereinander. Frühjahrsblüher verblühten, bevor der Frühling vorbei war, und keine neuen kamen nach.

Ronny hatte die Fleischerlehre wieder aufgenommen. Er schuftete im Schlachthof und übernahm die unbeliebten Schichten. Die Nächte der Wochenenden brachten am meisten Geld, doch das Loch, in das er sein Verdientes schüttete, war zu tief, um noch etwas davon zu sehen.

›Manschmal guckste wie maan Sohn‹, sagte Frau Kanzler. Und nicht selten riss sie Ronny genau mit diesen Worten aus seinen Gedanken.

›Weil Sie mich an meine Mutter erinnern.‹

Eines Abends war er nach Hause gekommen und hatte die Mutter gefunden. Erhängt am Dachbalken ihres unbezahlten Hauses.

Ronny packte seine Sachen, einen Karton mit Fotos und dem Schmuck seiner Mutter, und zog ins Lehrlingswohnheim des Schlachthofs. Das schuldenbelastete Erbe seiner Mutter schlug er aus. Das Haus mit Garten wurde zwangsversteigert. Ging für einen Spottpreis an einen Darmstädter Lokalpolitiker.

Hatte er genügend Redbull mit Wodka intus, ging Ronny dort spazieren. Sah immer andere Autos vor der Tür, immer andere Kinder am Teich, immer andere Frauen auf der Sonnenliege im Garten. Das Haus erfreute sich reger Vermietung, und der Garten blühte, dass es ein regelrechtes Wuchern war. Ähnlich verhielt es sich mit den Mietpreisen in und um Berlin bis Brandenburg, und eines Tages stand ein größerer Wagen als all die anderen vor der Tür des Hauses. Ein junges Paar mit zwei Kindern zog ein und blieb. Im Biergarten hieß es, sie hätten das Haus gekauft und dem Eigentümer die unfassbare Summe mit einem Mal gezahlt.

Ronny entdeckte Heiner Schwöbel am Stammtisch der »Krone«. Er bestellte sich ein Bier am Tresen und setzte sich an den Nebentisch der fröhlich palavernden Runde aus Lokalpolitikern. Twitter war ein offenes Buch, in dem sich jeder einzelne von ihnen mit all seinen Vorlieben, Hassobjekten und mehr oder minder viel Talent für Satire offenbarte. Und mit der »Krone« als bevorzugtem Treffpunkt fürs analoge Parteileben.

»Dr Labbeduddel in de Poledigg is nedd nur fraktionsloos, nu isser aach sei Fraa los! Und zwaar an misch, de Heiner!«, dröhnte Heiner Schwöbel und erstickte fast an einem Lachanfall. Er hatte also eine Neue. Diesmal eine Ausgespannte.

Ronny lehnte sich zurück, nippte am Bier und zog das schmale Bändchen von Büchners »Woyzeck« aus der Tasche seiner Cargohose. Das Gehör geschärft für jedes Wort am Nachbartisch, schlug er das Büchlein auf und gab vor, sich zu vertiefen. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt, ich glaub’ wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen. Soweit war es noch nicht.

Die Fraktionen am Tisch nebenan spaßten über ihre eng gesteckten Parteigrenzen hinweg und gaben ein Bild ab, das sie auch im Rathaus pflegten. Aus Berlin kannte Ronny Institutionen dieser Art von einer ganz anderen Seite: Da gab es Gebäude, in die man schon gebückt hineinging und noch etwas untergebener an einer Bürotür klopfte, eintrat und gebeutelt wieder herauskam. Dabei hatte man doch nur den ausgefüllten Bogen mit den drei Durchschlägen abgeben wollen, auf den genau diese Behörde mit genau diesen Beamten schon so lange drängte. Die gebückte Haltung schützte vor bösen Blicken, aber nicht vor dem erniedrigenden Zischen, mit dem man wieder rausgeschickt wurde, um zu warten, erneut zu klopfen, sobald drinnen die Stimmen verstummten, dabei hoffend, nicht nur eine Redepause erwischt zu haben und wieder zum falschen Moment hineinzuplatzen und das Ganze erneut über sich ergehen lassen zu müssen. Nein, so ein Rathaus war das Darmstädter nicht. Und Heiner Schwöbel merkte man an, dass er gern dort wirkte. Seine Parteikameraden schätzten ihren fokussierten Arbeiter, indem sie ihn immer wieder zum Stadtrat wählten.

Zwanzig Jahre und eine Menge Zeit zum Nachdenken hatten Ronny vom Jungen zum Mann gemacht. Mit Mitte dreißig wirkte er vertrauenerweckend in seiner Ernsthaftigkeit, war nicht protzig muskulös, aber an den richtigen Stellen unter der Kleidung mit den richtigen Paketen versehen. Sein dichtes, tiefschwarzes Haar trug er nicht so wild, dass er damit auffiel, aber wild genug, um als attraktiv zu gelten und von seinem Gegenüber nicht als der Ronny von damals erkannt zu werden.

Heiner Schwöbels Haar war gelichtet, aber akkurat gescheitelt. Sein Schnauzbart formvollendet gestutzt. Auf seinen Schultern lag ein Pullover, dessen Ärmel auf exakt der gleichen Höhe endeten. Neben seinem Bierglas stand ein sauber leergegessener Teller, darauf eine sorgfältig zusammengelegte Papierserviette unter fleckenfreiem Besteck. Ronny spürte einen Stich bei der Erinnerung an genau dieses Arrangement seiner Jugend, als habe er gerade auf ein Stillleben davon geblickt. Heiner Schwöbel war der Kampf gegen das Altern anzusehen. Sich lautstark zu einer neuen Eroberung äußern zu müssen, sprach schon von tiefer Verzweiflung.

Ronny musste unwillkürlich lächeln und lenkte seinen Blick ins Bierglas, bevor irgendwer sein Lächeln erwidern konnte.

Im Herrngarten hatte Frau Kanzler gerade ihren zweiten Bembel geleert und schickte sich an, nach Hause zu gehen, als die Runde am Stammtisch der »Krone« ebenfalls den Aufbruch verkündete.

Ronny trank sein Bier aus und schob das Buch zurück in die Hosentasche. Vermutlich hatte auch Büchner hier seine Biere getrunken, dieser blutjung Gestorbene, der nicht nur Drama und Literatur vorzüglich beherrscht hatte, sondern auch ein begnadeter Naturforscher gewesen war. Es waren wohl Bakterien gewesen, mit denen er sich selbst infiziert hatte und an denen er schließlich verreckt war nach einem seiner Selbstversuche. Vielleicht aber hatte er seine Beschwerden zu lange der Psychosomatik zugeschrieben, an der er als Vorreiter ebenfalls forschte.

›Ma waas es ned, ma munkelds nur.‹

Die Erinnerung an die pragmatische Antwort der weisen, aber sehr vergesslichen Frau Kanzler ließ Ronny schmunzeln. Das schmale Buch trug er als Talisman bei sich. Geschrieben von einem, der sich in nur dreiundzwanzig Jahren unsterblich gemacht und sein größtes Werk noch nicht einmal hatte vollenden können. Es war lediglich ein Fragment, auf der die Welt nun von Inszenierung zu Inszenierung einen zeitlosen Tanz aufführte. Auch Woyzeck war für dumm verkauft worden in einer Gesellschaft, in der sich die Bauernschlauen für die wertigeren Menschen hielten. Ein jeder hatte seinen Tambourmajor im Leben, der einen respektlos behandelte und lächerlich machte. Im Gegensatz zu Woyzeck aber war Ronny nicht bereit, sich der Willkür anderer Menschen unterzuordnen, auch wenn sie nichts als Wut in ihm auslöste. So war, was kommen musste, eine logische Folge: die Reinigung der Gesellschaft von Tambourmajoren, wie Heiner Schwöbel einer war.

»Darmstadt liegt am große Woog, im Wald die Ludwigsheh. O, Darmstadt, du old Heinerstadt, wie warste doch so schee!«1

Ronny konnte sie hören, bevor er sie sah. Am Ende ihres Kneipenabends waren es noch die hartgesottenen Vertreter der so genannten etablierten Parteien, die im Schwips vereint gemeinsam weiterzogen. Die kleine Gruppe hatte sich auf drei Leute dezimiert. Neben dem Liberalen Heiner waren da noch der Christdemokrat Wolfgang und der Sozi Ulrich. Lange würde es nicht mehr dauern, und Ronny hätte den Liberalen Heiner ganz für sich allein.

Den erstaunten Blick, als er seinen einstigen Stiefvater unterm »Apollo« – dem Karussell, das einen den Sternen näherbrachte – stellte, würde Ronny nie mehr vergessen.

»Isch fasses ned! De Ronny!«

Diesen Heiner vom Heinerfest wegzulotsen und ihm die akkurat eingerichtete und bis in den letzten Winkel klinisch reine Wohnung zu zeigen, war eine leichte Übung für Ronny.

»Da hadds doch was gebracht, dass isch dir e bissje Oddnung beigebrachd hab!«, sagte Heiner Schwöbel, während er es sich auf der Couch bequem machte. Erst als sein Blick auf dem gerahmten Foto der Mutter an der Wand hängenblieb, veränderte er seinen Gesichtsausdruck. »Des mit daane Mudder dudd mer leid.«

»Schon gut«, sagte Ronny versöhnlich.

Mit Georg Büchner hatte Ronny gemeinsam, dass er sich neben seinem eigentlichen Talent in der Schlachtkunst auch dem der pharmazeutischen Forschung verschrieben hatte. So ein Schwein gehörte betäubt, bevor es geschlachtet wurde. Das war das Mindeste an Menschlichkeit. Und was bei Ronnys Schweinen funktionierte, schien sich auch bei Heiner Schwöbel zu manifestieren: Eine bleierne Müdigkeit überfiel den Mann, während er noch weiter brabbelte, wie schwach die Mutter doch für dieses Leben gewesen sei, und dass es doch absehbar gewesen war, dass sie sich eines Tages … eines … Tages … sfhsgtschlkgffffhhhmmm…

In seine Einzelteile zerlegt und in schwarze Folie verpackt, war ihm der Mann zum ersten Mal sympathisch. Die Akkuratesse, mit der Ronny ihn zerlegt hatte, suchte ihresgleichen und hätte Heiner Schwöbel sicher gefallen.

Zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf, ein Oberkörper und ein Unterkörper bedeuteten sieben Spaziergänge übers Heinerfest, das vor Ronnys Fenster gerade wieder an Fahrt aufnahm.

Die beiden Arme würden sich auf einem einzigen Gang entsorgen lassen, was die Tagestour auf sechs Gänge reduzierte.

Erst beim Abbau des Heinerfestes wurden die ersten Körperteile gefunden. Der Kopf steckte in einer Tombola. Der rechte Arm zeigte aufs Riesenrad. Das linke Bein klemmte unter dem Kettenkarussell. Der Brustkorb lag in einer Schießbude. Das rechte Bein war tagelang Autoscooter gefahren. Nach dem Unterleib suchte man noch.

So zerstreut kannte man Heiner Schwöbel gar nicht.

1 aus dem Heinerlied vom »Schlappe Kall«

Ingrid Noll

Mein großer grüner Kaktus

Als ich noch ein kleiner Junge war, haben wir oft und gern unsere Großmutter besucht. Wir Kinder durften fast alles, was zu Hause verboten war: uns die Bäuche mit Süßigkeiten vollschlagen, auf dem Sofa lümmeln und stundenlang fernsehen, Omas Bett als Trampolin benutzen und in allen drei Zimmern herumtoben. Hinterher brauchten wir noch nicht einmal aufzuräumen. Nur eines mussten wir immer beachten: Die vielen exotischen Sukkulenten auf der Fensterbank waren ein absolutes Tabu.

»Passt bloß auf, dass ihr euch nicht gegenseitig reinschubst«, pflegte unsere Oma zu sagen. »Wenn einer von euch auf einen Kaktus fällt, sieht er aus wie ein Igel, aber es tut höllisch weh! Und man braucht viel Zeit und Geduld, um jeden einzelnen Stachel wieder herauszukriegen.«

Wir sahen damals nicht ein, warum sie nicht lieber Alpenveilchen züchtete, aber die mochte sie überhaupt nicht. Dafür sang sie uns gern das Lied vom kleinen grünen Kaktus vor. Wichtig war vor allem eine Zeile:

Und wenn ein Bösewicht was Ungezognes spricht, dann hol ich meinen Kaktus, und er sticht, sticht, sticht.

Es leuchtete mir ein, dass ein Kaktus eine hervorragende, legale und preiswerte Waffe war. Unsere Eltern hatten uns leider verboten, mit Plastikgewehren, Katapulten oder Pfeil und Bogen zu spielen, selbst Wasserpistolen wurden sofort konfisziert. Doch als mir die Oma einen Ableger überließ, hielten sie eine lebendige Pflanze sogar für ein pädagogisch wertvolles Geschenk. Einen Hund wollten sie leider nicht anschaffen, weil sie es mir nicht zutrauten, die Verantwortung für ein Tier zu übernehmen. Bei einem Kaktus war hingegen bekannt, dass man ihn kaum zu gießen brauchte. Und falls man auch das vergessen sollte, war es wiederum kein Problem, das anspruchslose Gewächs zu ersetzen.