Julia Durant. Die junge Jägerin - Andreas Franz - E-Book
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Julia Durant. Die junge Jägerin E-Book

Andreas Franz

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Beschreibung

Der 21. Band in der Bestseller-Serie von Andreas Franz und Daniel Holbe um die Kommissarin Julia Durant und ihr allererster Fall - in München München, Anfang der 90er Jahre. Eine tote Frau wird gefunden – eine Prostituierte, wie es zunächst scheint. Doch eine genauere Untersuchung hält eine Überraschung für die ermittelnden Beamten bereit.  Zudem handelt es sich bei dem Opfer um eine bekannte Persönlichkeit der Stadt. Eine heikle Situation für die Mordkommission, denn in den Fall ist offenbar jede Menge lokale Prominenz verwickelt. Hatte man die Ermittlung zuerst auf Julia Durant abgewälzt, die Neue in einer von Männern beherrschten Abteilung, möchte man ihr den Fall nun wieder wegnehmen. Doch das lässt sie sich nicht gefallen, denn sie hat Blut geleckt. Als eine zweite Leiche auftaucht und sich in der Szene Angst ausbreitet, wird nicht nur der Polizei klar: Es geht ein Serienmörder um in der Stadt. Und er wird wieder und wieder zuschlagen. Wie war das eigentlich damals, als Julia Durants Karriere begann? In diesem spannenden Krimi lernt der Leser die Kommissarin in ihren Anfängen in München kennen: schon damals hartnäckig, klug und voller origineller Ermittlungsideen. Ein Muss für alle, die die Kommissarin Julia Durant lieben!

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Seitenzahl: 593

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AndreasFranz / DanielHolbe

Julia Durant

Die junge Jägerin

Kriminalroman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

München, Anfang der 90er Jahre. Eine tote Frau wird gefunden – eine Prostituierte, wie es zunächst scheint. Diese entpuppt sich bei genauerem Hinsehen jedoch als Transvestit und außerdem als eine bekannte Persönlichkeit der Stadt. Eine heikle Situation für die Mordkommission, denn in den Fall ist offenbar jede Menge Prominenz verwickelt. Hatte man die Ermittlung zuerst auf Julia Durant abgewälzt, die Neue in einer von Männern beherrschten Abteilung, möchte man ihr den Fall nun wieder wegnehmen. Doch das lässt sie nicht mit sich machen, und als eine zweite Leiche auftaucht und sich in der Szene Angst ausbreitet, wird klar: Es geht ein Serienmörder um in der Stadt. Und er wird wieder zuschlagen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Zum Geleit

Prolog

November 1990

Ein Jahr später

Acht Monate später

Sonntag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Donnerstag

Freitag

Zwei Wochen später

Epilog

Andreas Franz – Ein Porträt

Andreas Franz – eine Hommage

Danksagung

Leseprobe »Todesruf«

In memoriam Andreas Franz

*12.1.1954

+ 13.3.2011

Was Ihr jetzt seid,

das waren einmal wir.

Und was wir jetzt sind,

das sollt Ihr einmal werden.

 

Spruch der Toten

Zum Geleit

Diese Geschichte spielt in den frühen 1990er-Jahren.

Beim Verfassen einiger Dialoge, bei der Darstellung mancher Meinungen und bei der Verwendung von damals noch üblichen Begriffen stellte ich fest, wie sehr sich Sprache und Gesellschaft seit damals weiterentwickelt haben.

Und wie vieles noch immer im Argen liegt.

Die Verwendung diskriminierender Ausdrücke entspricht somit nicht meiner persönlichen Auffassung, sondern dem damals üblichen Gebrauch. Ich habe versucht, einen Spagat zwischen authentischer Darstellung und dem Verzicht auf bestimmtes Vokabular zu finden, um uns diese Zeitreise zu ermöglichen.

Ich wünsche dabei gute Unterhaltung.

Prolog

Die Glühbirne des Kühlschranks flammte auf und flutete die Küche mit Licht. Erschrocken blinzelte er und hob die Hand vors Gesicht. Er wagte es nicht, sich zu bewegen. Hatte er doch Stunde um Stunde gewartet, bis sämtliche Geräusche seiner Umgebung verklungen waren, bis nur noch ein klägliches Wimmern zu hören war, ein ersticktes Stammeln und dann nichts mehr. Totenstille. Außer seinem Bauch, der ebenfalls seit Stunden verkündete, dass er Hunger hatte. Ein Knurren durchfuhr ihn mit einem leichten Krampf. Noch immer stand er wie versteinert vor dem Kühlschrank, während draußen die Nacht gerade ihre finsterste Stunde erreicht hatte.

Das leise Ticken der Küchenuhr mischte sich unter seinen Atem, den er so leise und sparsam wie möglich einsetzte. Er reckte den Oberkörper. Muffige Kühle drang ihm aus dem Einbaugerät in die Nase, während er das Trauerspiel im Inneren betrachtete. Ein Schälchen Margarine, nicht verschlossen und bereits tiefgelb verfärbt. Zwei Gläser Marmelade. Aprikose und Pflaume. Am verklebten Deckel des dunklen Glases wucherte bereits ein Pelz. Das einzig Frische schien die Packung Toastbrot zu sein, aus der erst wenige Scheiben fehlten. Bedächtig und mit zittrigen Fingern löste er die Klammer an der Folie, zog sich zwei Scheiben heraus, überlegte kurz und wurde im selben Augenblick von einem weiteren Magenknurren übermannt. In seiner Gier angelte er vier weitere Scheiben, stapelte sie auf dem beschlagenen Glas neben der Margarine und verschloss die Packung wieder. Dann griff er nach dem Milchkarton. Er war geöffnet, halb leer, aber dem Geruch nach zu urteilen noch genießbar. Er drückte die dreieckige Lippe des Kartons zurück in ihre Position, klemmte sich die Milch unter den Arm und griff nach den Toastbrotscheiben.

Sobald das Licht hinter der geschlossenen Tür des Kühlschranks erstarb, war wieder alles ringsum tiefschwarz. Das Röcheln aus dem Wohnzimmer drang erneut in sein Ohr. Angestrengte Atemzüge, die ihn frösteln ließen. Erneut hielt er inne und lauschte, was als Nächstes geschah. Wenn er Glück hatte …

Doch durfte er tatsächlich von Glück reden, wenn dieses Glück einzig und allein darin bestand, dass seine alkoholbeseelte Mutter nicht zu Sinnen kam, sondern noch für ein paar Stunden im Delirium lag? Eine Frau, die ihn geboren hatte und die seine Kinderseele immer lieben würde, weil die Natur das so eingerichtet hatte. Was auch immer sie tat – oder was sie unterließ. Zum Beispiel, wenn sie ihn wegschickte, weil sie nicht hören wollte, was er ihr zu sagen hatte. Oder dass sie es hinnahm, wenn ihr neuer Freund ihn mit dem Gürtel verprügelte, anstatt sich mit all ihrer Kraft dazwischenzustellen. Ein Instinkt, der ihr als Mutter eigentlich gegeben war. Für den sie dank ihres andauernden Alkoholpegels aber zu müde, zu abhängig war, um ihm Folge zu leisten. Und gegen die Schuldgefühle trank sie noch mehr. Ein Teufelskreis, aus dem es längst kein Entrinnen mehr gab.

Auf leisen Sohlen erreichte er sein Zimmer. Ein besserer Abstellraum mit einem Bett, ein paar Postern und dem üblichen Chaos eines Heranwachsenden. Die Tür konnte er abschließen, auch wenn ihm das strengstens verboten war. Trotzdem tat er es manchmal, und er würde es auch jetzt tun. Dann würde er es sich mit dem Brot und der Milch auf dem Bett bequem machen, im matten Schein seiner verhängten Nachttischlampe in ein paar Comics blättern und von der großen Welt träumen. Von der Freiheit, die da draußen auf ihn wartete. Irgendwann.

Das Flurlicht flammte auf, und in der nächsten Sekunde klatschte auch schon der Milchkarton zu Boden.

»Was wird das, wenn’s fertig ist?«

Verdammt. Hatte er ihn tatsächlich aufgeweckt? Dabei war er doch so leise gewesen. Sein Magen krampfte sich zusammen. Der Hunger wich einem viel mächtigeren Gefühl. Angst. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.

»Antworte gefälligst!«, polterte es auch schon weiter, und mit einem gezielten Treffer landete der Handrücken des Mannes auf dem Toastbrot, welches daraufhin in Fetzen durch die Luft flog.

»Ich hatte Hunger«, gab der Junge leise zurück und erntete ein höhnisches Lachen.

»Fressen, fressen, aber nichts dafür tun!« Der Mann schubste und rempelte ihn in Richtung seines Zimmers. Seine Miene verhieß nichts Gutes. Mit einem scheuen Blick registrierte der Junge, dass er wenigstens keinen Gürtel trug. Dafür bemerkte er etwas anderes. Etwas, was ihm nicht weniger Angst machte.

Schon hatte der nach Schlafschweiß und kaltem Rauch stinkende Mann ihn durchs halbe Zimmer getrieben, und er landete auf dem Bett. Unter zwei Zentnern Fleisch und Knochen, die es ihm unmöglich machten, sich zur Wehr zu setzen.

»Dir werd ich’s einbläuen«, hörte er ihn keuchen. Und in einer Tirade, die zur Hälfte aus Flüchen und halb aus erregten Tönen bestand, riss der Große sich zuerst seine eigene und dann die Unterhose des Jungen von dessen Leib.

 

Über das, was dann geschah, würde der Junge niemals ein Wort verlieren. Es hätte auch kaum passende Worte gegeben, um seinen Schmerz und seine Verzweiflung auszudrücken.

Aber keine Sekunde und kein Gefühl würden jemals aus seinem Gedächtnis verschwinden.

November 1990

Julia Durant besuchte den Friedhof zweimal pro Monat. Höchstens. Auch wenn ihre Zeit es vielleicht erlaubt hätte, öfter zu kommen, sie konnte es nur schwer ertragen. Wie jedes Mal stellte sie eine frische Grabkerze in das bronzefarbene Gehäuse, das zwischen den Pflanzen auf einer Marmorplatte stand. Um frische Blumen kümmerte sich jemand anderes, und das war ihr sehr recht. Das Feuerzeug brauchte im auffrischenden Wind einige Anläufe, und sie musste die Kerze mit der Hand abschirmen, damit sie nicht ausgeblasen wurde. Endlich flackerte warmes Licht auf. Ein Funken Hoffnung in der einsetzenden Dämmerung. Ein bisschen Wärme in dem durchdringenden Novemberregen, der sich wohl schon bald in Schneeflocken verwandeln würde.

Durant wäre gern noch ein paar Minuten geblieben, doch das Wasser durchdrang bereits ihre Jeansjacke. Sie zog den Kragen zum wiederholten Mal nach oben und folgte dem Schotterweg in Richtung Friedhofspforte. Der Wind peitschte ihr den Regen ins Gesicht. Die Tropfen trafen die Haut wie Nadelstiche, aber sie ertrug es. Wenigstens würde so niemand ihre Tränen sehen, denen sie nun ohne Hemmung ihren Lauf lassen konnte.

Vor zwei Jahren war es geschehen. Das Schicksal hatte mit all seiner Härte zugeschlagen und einer jungen Frau von Mitte zwanzig die Mutter genommen. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, was dabei am schlimmsten war. Die Tatsache, dass ihre Mutter mit ihrer verdammten Kettenraucherei dieses Schicksal förmlich heraufbeschworen hatte? Das kalte Grau, welches von ihrer Haut, ihren Augen und am Ende von ihrem ganzen Wesen Besitz ergriffen hatte wie ein Schatten, der ihr das Leben aussaugte? Oder waren es die Wut und Verzweiflung darüber, dass kein Gebet, keine Tränen und kein Flehen geholfen hatten? Julias Mutter war am Ende ihres Todeskampfes kläglich erstickt, und hätte man sie gelassen, sie hätte ihr letztes Röcheln mit einer Ladung Teer und Nikotin versehen. In Momenten wie diesen fühlte Julia sich schuldig, dass sie selbst diesem Laster verfallen war. Sie hasste es, manchmal verachtete sie sich sogar, aber meistens genoss sie es viel zu sehr. Und zum Aufhören war immerhin noch jede Menge Zeit.

Vor einer Woche war die Kommissarin siebenundzwanzig geworden. Wieder ein Jahr. Und wieder ein Geburtstag ohne Mama. Sie hatte ohne ihre Mutter Hochzeit gefeiert, und sie würde ohne sie Kinder bekommen. Enkel, einen Jungen und ein Mädchen, auch wenn man das vorher nicht festlegen konnte. Aber genauso hatte Mama es sich immer gewünscht.

Nein. Julia Durant würde sie niemals dafür hassen können, Lungenkrebs bekommen zu haben. Zu viele Menschen bekamen auch ohne Rauchen Krebs. Julia liebte ihre Mutter, und das würde für immer so bleiben.

 

Der Fahrersitz sowie die Türverkleidung des Renault waren durchnässt, sie hatte vergessen, nach ihrer letzten Zigarette den Schlitz des Wagenfensters zu schließen. Nun hatte es hineingeregnet. Einen stummen Fluch auf den Lippen, kurbelte sie das Fenster nach oben, rubbelte das Polster mit der Jeansjacke ab, ließ sich anschließend auf den Sitz sinken und startete den Motor. Während das Gebläse warme Luft in den Innenraum beförderte, entzündete sie sich eine Gauloise, schloss die Augen und inhalierte tief. Der Regen trommelte noch ans Fenster, deshalb öffnete sie nur einen kleinen Spalt, gerade so weit, dass sie die Spitze ihres Glimmstängels zum Aschen hinausstrecken konnte. Denn ihr Vater, ein allseits geschätzter Pastor, hatte es noch nie leiden können, wenn man in der Enge eines Fahrzeugs auch noch rauchte. Und da sie sich schon nicht an dieses Gebot hielt, hatte sie sich zumindest geschworen, den Aschenbecher niemals zu entweihen.

Ein dicker Tropfen traf die Glut, die mit einem wütenden Zischen erlosch. Sie murrte und ließ die kaum zur Hälfte gerauchte Zigarette fallen. Dann eben nicht. Es war beinahe, als habe der liebe Gott mit seinem Finger …

Julia Durant setzte den Blinker, warf einen Blick durch die beschlagene Heckscheibe und setzte den Renault in Bewegung. Der Verkehr war nicht dicht. Sie schaltete das Radio ein. Hörte einen Song von R.E.M. zu Ende, danach folgten Werbespots und anschließend die Nachrichten. Es schien, als befände sich die ganze Welt am Abgrund. Überall Hunger, überall Krieg, überall errangen aggressive Machthaber die Kontrolle und riefen zum Kampf gegen ihre Widersacher auf. Es gab Massenmorde und Gewaltexzesse. Die Leidtragenden waren wie immer Frauen und Kinder. Verfolgt. Vergewaltigt. Freiwild für Soldaten und Milizen, von denen manche einst Nachbarn oder gar Freunde gewesen waren. Ein Kloß formte sich in ihrem Hals, und sie wollte das Radio ausschalten, als die Lokalnachrichten etwas meldeten, was sie hellhörig werden ließ.

Wenige Minuten später erreichte Durant eine Tankstelle, wo sie zuerst den Renault volltankte und sich anschließend mit Zigaretten versorgte. Es war zwar ein Umweg gewesen, doch sie hatte es ohnehin nicht eilig, nach Hause zu kommen. Außerdem kaufte sie ein halb aufgeweichtes Salamibrötchen, das hier vermutlich schon den ganzen Tag in der Kühlvitrine gelegen hatte. Die Kassiererin schien den Blick der Kommissarin bemerkt zu haben und berechnete nur den halben Preis.

Es regnete noch immer, als Durant ihren Wagen in dieselbe Richtung zurücksteuerte, aus der sie gekommen war.

Vor einer Woche hatte sie ihren Geburtstag gefeiert. Viele hatten ihr gratuliert, aber die Person, von der sie es sich am meisten gewünscht hätte, war stumm geblieben. Wieder einmal. Denn sie war tot, und sie würde ihr nie wieder gratulieren können. Keine Umarmungen, keine tröstende Schulter, kein Anteil an ihrem Leben. Stattdessen ein einsames, kaltes Grab mit einem bescheuerten Licht, von dem man sich auch nichts kaufen konnte. Es erinnerte einen höchstens daran, wie dunkel es ringsum doch war. So wie der Lichtkegel einer grellen Taschenlampe, der die Umgebung in eine noch viel tiefere Schwärze taucht.

Sie drehte den Zündschlüssel, nachdem sie den Wagen in die Einfahrt manövriert hatte. Überprüfte beide Fenster, griff nach den Zigaretten und dem Brötchen, von dem sie zweimal abgebissen hatte. Stille umgab sie. Der Regen hatte etwas nachgelassen und trommelte nur noch leise auf das Autodach. Durant stieß die Tür auf, richtete sich auf und knallte die Tür mit dem Ellbogen wieder zu. Danach näherte sie sich der Haustür. Das Brötchen zwischen den Zähnen, um mit der freien Hand den richtigen Schlüssel aus ihrem Bund zu wählen. Der Bart hakelte, irgendwann musste mal ein neues Schloss her.

»Julia, bist du das?«

Eine Welle von malzigem Pfeifenaroma wogte ihr entgegen. Dazu ein beinahe himmlisches Licht und eine angenehme Wärme. Außerdem ein Essensgeruch, der das frühe Aus für ihr wabbeliges Brötchen bedeuten würde. Warum hatte sie es sich überhaupt gekauft?

Verdammt, Mädchen, mahnte sie sich. Du musst besser mit alldem klarkommen. Wie soll das denn noch werden, wenn …

»Julia?«

»Ja, ich bin’s. Wen hast du denn erwartet?«

Zuerst sah sie seinen Kopf, dann reckte er den halben Oberkörper in den Türrahmen. Er trug eine karierte Schürze und lächelte sie an: »Na ja, du hast keine Antwort gegeben. Aber du kommst genau im richtigen Augenblick.«

Nur dass ich nicht lange bleiben kann, dachte sie und spürte, wie das Gewissen an ihr nagte. Doch sie durfte dieses Abendessen nicht ausfallen lassen, auch nicht, wenn sie die Hälfte der Zeit an die Arbeit würde denken müssen. Deshalb gab Julia Durant sich besondere Mühe, ihrem Vater ein schönes Lächeln zu schenken und es nicht gequält aussehen zu lassen. Sie drückte die Haustür ins Schloss, warf ihre durchnässte Jacke über die nächstbeste Stuhllehne und betrat anschließend die Küche. Der Geruch hatte sie nicht getäuscht. Leberknödelsuppe.

»Hmm. Riecht verdammt lecker«, sagte sie und wollte den Koch gerade umarmen, als dieser sie rügte: »Du weißt, was ich von diesen Alltagsflüchen halte, nicht wahr?«

»Sorry, Paps.« Sie lächelte so entwaffnend, wie nur Töchter es gegenüber ihren Vätern fertigbekamen. »Ich korrigiere: Es riecht unheimlich lecker. Aber ich muss zuerst noch meine Dienststelle anrufen.«

»Du kommst doch gerade erst von dort!«

Julia Durant küsste ihren Vater auf die Wange und verschwand im Flur. Tippte die Nummer in das weinrote Tastentelefon, welches anders als die modernen Geräte im Büro noch nicht über eine Wahlwiederholungsfunktion verfügte. Besetzt. Sie legte auf, wartete ein paar Sekunden, dann versuchte sie es erneut. Immer noch.

Aus der Küche erklang die Stimme ihres Vaters: »Soll ich dir schon was auf den Teller geben?«

Ohne sich den aufsteigenden Frust anmerken zu lassen, wechselte Durant zurück an den Esstisch und drängte die Gedanken an die Arbeit vorerst ins Aus.

 

Während sie aßen und sich über Belanglosigkeiten unterhielten, kam die Rede kein einziges Mal auf den Friedhof. Er fragte nicht danach, sie erwähnte ihn nicht. So war die stille Absprache, die Vater und Tochter getroffen hatten: Wenn jemand der beiden etwas auf dem Herzen hatte, dann sollte er es sagen, wann immer er oder sie bereit dazu war. Nachbohren verboten. Und im Gegensatz zu ihren Jugendjahren, wo Julia Durant sich das ähnlich gewünscht hätte, klappte das mittlerweile ganz gut.

»Ich müsste nachher noch mal in die Stadt«, verkündete sie schließlich, die Hand an der Suppenkelle, um sich eine zweite Portion aus dem Topf zu schöpfen.

»Wie, du meinst dienstlich?«

»Ja. Da kam vorhin was im Radio. Es hat wieder Probleme auf dem Trucker-Parkplatz gegeben, du weißt schon, wo. Deshalb würde ich auch gerne deinen Wagen nehmen, wenn du nichts anderes damit vorhast.«

Durant musste es nicht näher beschreiben. Ihr Vater wusste auch so, dass es sich um eines der Areale handelte, auf dem sich Prostituierte feilboten und für ein lausiges Entgelt in Lastwagenkabinen ihre Würde verkauften. Manchmal gab es Zwischenfälle, wenn Freier nicht zahlen wollten. Und manchmal eine Razzia, an deren Ende ein halbes Dutzend Frauen mit fehlenden Papieren in U-Haft genommen wurde.

»Und du erfährst erst aus dem Radio davon?«, wunderte sich Pastor Durant.

»M-hm. Offenbar bin ich nicht wichtig genug«, brummte seine Tochter schnippisch. Der Frust stieg wieder die Kehle hoch, da mochte sie noch so viel Suppe von oben entgegensetzen. Seit fünf Jahren gehörte sie bereits zur Kriminalpolizei. Die meiste Zeit davon hatte sie bei der Sitte verbracht, immer wieder aber überschnitt sich dieser Tätigkeitsbereich mit dem der Mordkommission. Dort lag ihr erklärtes Ziel, ein dauerhafter Wechsel, eine feste Stelle, das wollte sie erreichen. Doch diese Posten waren begrenzt und äußerst begehrt. Bis sich eine Möglichkeit fand, musste sie sich wohl oder übel in Geduld üben und sich weiterhin beim Sittendezernat mit den abartigsten Dingen befassen, zu denen Menschen fähig waren. Die Täter waren nicht selten einflussreiche Männer, die Opfer hingegen hatten keinerlei Lobby. Die Ermittler waren zumeist ebenfalls Männer. Kein Wunder, dass viele Frauen lieber verstummten, anstatt sich erneut zu demütigen, weil sie sich den emotionslosen Rückfragen und den anzüglichen Blicken manches Beamten nicht aussetzen wollten.

Zu diesen Kollegen gehörte Vinzenz Burger. Durants Partner, wenn man es so nennen wollte. Die Wege der beiden Kommissare schienen miteinander verwoben zu sein, denn das Schicksal brachte sie immer wieder zusammen, und das, obwohl sie einander nicht ausstehen konnten. Beide wussten voneinander, dass das K111, die Mordkommission, ihr erklärtes Ziel war. Und beide warteten nur darauf, dass es mit ihrer Versetzung endlich klappen würde. Das Schlimmste daran war, dass Burger am Ende vermutlich die besseren Karten hatte. Denn sein Vater war ein Lokalmatador der Automobilbranche und galt damit weitaus mehr als ein Pastor auf dem Land. Er pflegte beste Verbindungen zur Politik, und die brachten einem im Diesseits erheblich mehr als ein guter Draht nach oben. Julia Durant machte sich daher kaum noch Illusionen, dass sie womöglich noch Jahre auf ihre Versetzung würde warten müssen. Der bittere Beigeschmack aber blieb.

»Ich rufe noch kurz bei Stephan an, dann bin ich weg, okay?«

Pastor Durant hatte die Hände vor den Bauch gefaltet, und sein Blick signalisierte Zustimmung. Während Julia Durant sein Lächeln in sich aufnahm, kam ihr ein seltsamer Gedanke.

Sie hatte »bei Stephan« gesagt. Nicht »zu Hause«. Warum eigentlich? Oder war das nur ein Streich ihrer Psyche, dem sie keine Bedeutung beimessen sollte? Redete sie nicht oft genug von »daheim«, wenn es um ihre Stadtwohnung in Schwabing ging, in der sie mit ihrem Mann lebte? Lag es vielleicht nur daran, dass sie hier, in ihrem Elternhaus, immer zu Hause sein würde, wohin auch immer sich ihr Lebensmittelpunkt verlagerte?

Denk nicht so viel nach, sagte sie sich, während sie die Rufnummer eintippte.

Am anderen Ende der Leitung meldete sich niemand, nicht einmal der Anrufbeantworter war eingeschaltet.

Durant verabschiedete sich von ihrem Vater und bat ihn darum, falls Stephan anriefe, ihm auszurichten, dass sie noch einmal dienstlich los müsse. Außerdem versprach sie, das Auto spätestens übermorgen wiederzubringen.

»Ist schon gut.« Er winkte ab. »Noch bin ich gut zu Fuß.«

Doch er war müde geworden in den vergangenen zwei Jahren, auch wenn er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Der frühe Tod seiner Frau hatte ihn verändert, als wäre ein Teil von ihm mit ihr gestorben. Was auch immer Gottes Plan mit ihr gewesen war: Er verstand ihn nicht. Wollte ihn nicht verstehen. Und trotzdem gab ihm der Glaube einen beneidenswerten Halt, viel mehr, als er es bei Julia vermochte.

Sie spürte den Kloß im Hals noch lange, nachdem sich die Lichter ihres Heimatdorfs im Rückspiegel verloren hatten.

Der Regen hatte wieder eingesetzt.

18:30 Uhr

Er war tot.

Und doch war er so wunderschön, als schliefe er bloß. Wie Schneewittchen in ihrem gläsernen Sarg.

Ob sie gefroren hatte? Ob sie geträumt hatte? Ob ihr Schlaf mehr wie eine flüchtige Ohnmacht oder wie ein Wachkoma gewesen war, bei dem das Gehirn registriert, wie die Zeit verrinnt? Stunden, Tage, Wochen. Gefangen in einem Körper, über dessen Funktionen man keine Kontrolle besitzt. Sehend, aber nicht in der Lage, sich seinem Gegenüber mitzuteilen. Leidend, aber nicht in der Lage, sich Hilfe zu holen. Einsam. Mehr tot als lebendig. Eine gefangene Seele, die sich nach der Freiheit sehnt.

Der Mann ließ die Finger über den Körper gleiten, der da vor ihm lag. Nackt bis zu den Lenden, der Rest war unter einem Tuch verborgen. Er fror nicht mehr.

»Du hast das alles hinter dir«, raunte er und war beinahe etwas neidisch um den tiefen Frieden, der den Toten umgab. Er war gewaschen und frisiert. Man hatte ihm sogar Puder aufgetragen und die Lippen mit einem Hauch Farbe versehen. Manche fanden das unnormal. Doch am Ende wollte niemand in ein totes Gesicht blicken.

Und solange der Tote wie ein Schlafender aussah, war er noch nicht endgültig verloren. Er war in einer Zwischenwelt, in seiner Welt, und er sollte weder kalt noch einsam sein.

Der Mann benutzte nun beide Hände, um den Körper zu streicheln. Zaghaft näherten sie sich der verborgenen Körperhälfte. Immer wieder wagten sich die Fingerkuppen scheu unter das Tuch, jedes Mal ein Stückchen tiefer.

Die Zeit schien für beide Männer stillzustehen. Für den einen war die Uhr des Lebens abgelaufen, für den anderen gab es in diesen Momenten nur noch seine Gier. Ein plötzliches Verlangen, eine Obsession, der er sich hingeben musste.

Endlich umklammerten seine klammen Finger das massive Geschlechtsteil seines willenlosen Partners. Seine nackte, eingeölte Haut rieb sich bald auf der Brust, dann auf dem Rücken des anderen. Als er in ihn eindrang, jauchzte er ungehemmt.

Niemand konnte sie hören.

Und keiner würde jemals ein Sterbenswort darüber verlieren.

19:10 Uhr

Was auch immer sie erwartet hatte, Durant fand zunächst nur einen dunklen, öden Parkplatz vor, mit regennassem Asphalt, auf dem sich die Lichter brachen. Triste Ölschlieren schimmerten in Regenbogenfarben, bullige Sattelschlepper parkten dicht an dicht. Keine Menschenmenge, keine Einsatzfahrzeuge. Unter dem Dachvorsprung einer Art Haltestellenhäuschen standen einige Frauen in unverkennbarer Aufmachung. Lackstiefel, Netzstrümpfe und Miniröcke. Dazu Dauerwellen, knallige Gesichtsbemalung und silberne Ohrringe mit dem Durchmesser von Armreifen. Keines der Gesichter kam ihr bekannt vor, und das, obwohl sie schon eine gefühlte Ewigkeit bei der Sitte war. Dort festsaß. Durant schob den Gedanken beiseite.

In den Neunzehn-Uhr-Nachrichten waren die Tumulte auf dem Parkplatz an der A99 nur noch eine Randnotiz gewesen. Wegen einer Rangelei zwischen einem Zuhälter und einem Freier war die Polizei auf den Plan gerufen worden. Ein zweiter Streifenwagen folgte, die ersten Zaungäste fanden sich ein. Und dann hatte die Situation eine sonderbare Eigendynamik entwickelt. Junge Männer, offenbar Stricher, waren auf die Beamten zugeströmt. Einige alkoholisiert oder unter Drogen, Unterstützung erhielten sie von einigen Truckern und Frauen, die sich der Menge anschlossen. Es wurde lauter, dann flog die erste Flasche. Der Unmut, dass man das älteste Gewerbe der Welt nur unter allerlei Repressalien und in den Randbezirken der Stadt ausüben durfte, kochte in regelmäßigen Abständen hoch. Weitere Einsatzfahrzeuge kamen herbei, die Medien bekamen Wind von der Sache, und auch wenn der Spuk nun vorbei schien, so wusste Durant, dass sich an den Problemen nichts geändert hatte.

Sie brachte den Renault 19 auf Höhe der vier Damen zum Stehen und beugte sich in Richtung der Fensterkurbel auf der Beifahrerseite. Sobald das Fenster einen Spaltbreit offen war, lugte ein blonder Lockenkopf mit traurigen Augen hinein. Als die junge Frau erkannte, dass kein Mann am Steuer saß, stieß sie einen spitzen Schrei aus. »Hey! Hier gibt’s nur hetero. Oder bist du etwa ne Transe?«

Julia Durant unterdrückte ein Grinsen. »Sehe ich so aus?« Ihre Hand legte sich auf den rechten Busen. »Alles echt, so wie der liebe Gott es geschaffen hat.«

»Gott kommt hier nicht oft vorbei«, erwiderte die Frau und zündete sich eine Zigarette an.

Julia Durant nutzte diese Gelegenheit, um auszusteigen und ebenfalls nach einer Zigarette zu greifen. Sie wollte gerade ein paar Schritte um den Renault herum machen, da keifte eine andere: »Du willst hier doch nicht festwachsen, oder?«

»Genau!«, pflichtete eine dritte bei. »Mitten in der Einflugschneise.«

Durant kapierte, setzte sich wieder hinters Steuer und fuhr den Wagen zwanzig Meter weiter. Danach kehrte sie zu der Blonden mit dem melancholischen Blick zurück.

»Ich bin übrigens Julia«, begann sie. »Was war das eben mit Gott?«

»Keine Ahnung von Gott. Lange nicht gesehen hier.«

Eine ihrer Kolleginnen lachte auf: »Was will der auch mit uns? Wir sind doch eh alles Sünderinnen.«

Durant hüstelte. »Dafür war eine Menge anderes los heute, wie? Bullen, Freier, Zuhälter. Kam sogar im Radio.«

»Na und? Es ändert sich trotzdem nichts. Haben drei von uns mitgenommen und einen Typen wegen Widerstand verhaftet. Diese Arschlöcher.«

»Bist du ne Zeitungstante?«, wollte eine Brünette wissen, offenbar die älteste von allen, deren weiße Lackstiefel schon bessere Zeiten gesehen hatten. Die ganze Zeit über hatte sie sich zurückgehalten, jetzt funkelte sie die Kommissarin geradezu an.

»Dann wäre ich aber ziemlich spät vor Ort.« Durant zwinkerte und zog einen Mundwinkel nach oben. »Nein, im Ernst. Ich bin bei der Sitte.«

Sie hatte es kaum ausgesprochen, da gingen drei der Damen spürbar auf Distanz. Die Brünette indes schien um fünf Zentimeter zu wachsen. Mit einer spöttischen Miene musterte sie die kleine Frau mit dem dunklen Haar und den tiefgründigen Augen.

Während die anderen Frauen sich in verschiedene Richtungen entfernten, verharrte die Angriffslustige und hielt Durants Blicken stand. Sie starrte auf sie herab, als wolle sie allein durch ihre Größe Überlegenheit demonstrieren.

»Mich können Sie damit nicht verschrecken. Der Parkplatz hier liegt außerhalb vom Sperrbezirk, außerdem bin ich legal, und das gilt auch für die meisten anderen hier. Oder wollt ihr uns hier jetzt auch vertreiben?«

»Ich bin nur hier, weil ich von den Tumulten gehört habe.«

»Pah! Tumulte«, äffte die Dunkelhaarige sie nach. »Wenn ein Freier nicht blechen will, dann solltet ihr mal da sein! Oder wenn die Perversen unterwegs sind, weil keine normale Frau sich für ihre Phantasien begeistern kann. Oder wenn die Jugos ihre Lolitas hier abladen.« Sie spuckte auf den Boden. »Aber nein! Daran seid ihr ja nicht interessiert! Hauptsache, der Marienplatz ist frei von Gesindel, damit sich keiner in seinem Heile-Welt-Bild gestört fühlt.«

»Politik und Polizei müssen nicht zwangsläufig dieselbe Meinung haben«, wandte Durant etwas unbeholfen ein. »Ich helfe gerne. Deshalb bin ich zur Kriminalpolizei gegangen. Aber ich muss dazu wissen, was hier los gewesen ist.«

»Das fragen Sie mal Ihre Kollegen«, kam es, noch immer in verächtlichem Tonfall. »Die waren ja immerhin rechtzeitig da.«

»Ich pfeife auf die Kollegen«, versuchte die Kommissarin es mit einer anderen Strategie. »Alles Kerle. Was verstehen die schon?«

»Genug, um zu wissen, worauf es im Leben ankommt.«

»Und das wäre?«

»Geld regiert die Welt. Männer regieren die Welt. Und beides zusammen bedeutet am Ende nichts Gutes.«

»Aber was genau hat sich denn hier nun abgespielt?«

»Herrje. Es gab Stunk, die Polizei hat es aufgelöst. Dann tauchte diese Edelnutte auf. Immer wenn die sich hier sehen lässt, gibt es miese Stimmung. Das hier ist unser Revier – die verdient genügend Moneten in der Innenstadt. Doch das kapiert sie nicht, deshalb reagieren manche Frauen hier allergisch auf sie.«

»Hat sie auch einen Namen?«

»Janine, nein, Jasmin. Mehr weiß ich nicht. Aber Ihr Kollege hat sie direkt einkassiert.« Die Frau verfiel in einen kehligen Unterton, und ihre Mundwinkel zuckten verschwörerisch. »Typisch Mann eben. Womit wir wieder beim Thema wären. Er sah so aus, als könne er es kaum erwarten, Jasmin einer Befragung zu unterziehen.«

Durant schluckte hart.

19:35 Uhr

Rings um den Hauptbahnhof herrschte reges Treiben. Hier und da Gruppen von südländischen Männern, deren muskulöse Oberkörper in Bomberjacken oder Seidenblousons steckten. Dazwischen Obdachlose, die, sobald sie sich irgendwo niederließen, von Uniformierten davongejagt wurden. Je lichtscheuer die Gestalten, desto später krochen sie aus den U-Bahn-Treppen und schattigen Winkeln hervor. Dazwischen Reisende und Taxifahrer, die sich lauthals darüber stritten, wer den nächsten Fahrgast befördern durfte. Der Regen hatte aufgehört, die Dunstschwaden rochen nach Abgasen und Zigarettenrauch.

Julia Durant hatte das Fenster hinuntergekurbelt, um nötigenfalls mit dem Arm zu gestikulieren. In der Bayerstraße herrschte ein Krieg. Ein gnadenloser Kampf um die wenigen Parkplätze und die heißbegehrte Zufahrt zur Tiefgarage. Mit einem Zähneknirschen stellte sie fest, dass sich mal wieder jemand halb vor die ohnehin viel zu enge Einmündung gestellt hatte. Ohne zu zögern, presste die Kommissarin den Handballen auf die Hupe des Renault. Nach endlosen Sekunden erschien ein Mann. Er mied ihre Blicke. Schuldbewusstsein sah zwar anders aus, aber Hauptsache, er fuhr seine Karre aus dem Weg. Der klobige Diesel spuckte eine schwarze Rauchwolke aus, dann setzte er sich in Bewegung. Julia Durant wusste, dass er vermutlich nur einmal um den Block fahren und sich anschließend wieder an dieselbe Stelle platzieren würde. Es war ihr gleichgültig. Solange sich hier Läden und Imbissstuben aneinanderreihten, würde es immer Laufkundschaft und Schwarzparker geben.

Sie erreichte die Parkebene, auf der sich die wenigen Möglichkeiten befanden, wo man sein Fahrzeug abstellen konnte. Nach einer erfolglosen Umrundung quetschte sie den R19 auf eine schraffierte Fläche, an deren Wand ein Halteverbotsschild prangte, auch wenn ein dort abgestellter Wagen keinerlei Behinderung für den Verkehr bedeutete. Sie knallte die Wagentür zu und schloss ab. Tastete nach ihren Zigaretten und dem Feuerzeug, welches kurz darauf aufflammte. Der Tabak knisterte, während sie einen tiefen Zug nahm. Abgase mischten sich unter das Aroma, doch das war ihr egal. In der Lunge kitzelte es, sie musste husten. Für ein paar Sekunden hielt Julia inne, um abzuwarten, bis der Hustenreiz verflogen war. Sie wollte gerade erneut am Filter ziehen, als sie im abgelegensten Teil der Tiefgarage eine Bewegung zu erkennen glaubte. Sofort verengten sich ihre Augen, doch sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nichts erkennen. Näher ran? Nein, besser nicht. Sie war ganz allein.

Weil sie aber nur wenige Meter von der Ausfahrt entfernt stand und eine gute Joggerin war, die einen Verfolger locker abhängen konnte, entschied sie sich zu einem »Hallo? Ist da wer?«, welches weder mit einer Antwort noch mit einem Geräusch quittiert wurde.

Dann eben nicht.

Durant lief die Ausfahrt hinauf und betrat das Gebäude durch den Haupteingang. Wie jedes Mal stellte sie sich die Frage nach Treppe oder Aufzug, und wie meistens landete ihr Finger daraufhin auf dem beleuchteten Knopf, den irgendein Spaßvogel mit seiner Zigarettenspitze versengt hatte.

Die Tür öffnete sich, und sie trat ein.

Vierter Stock. Sitte.

Die Zahlen zogen an ihr vorbei. Irgendwann wirst du auf die Zwei drücken, dachte sie. Zum K111. Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Mundwinkel. Nein. Wenn ich es mal bis dahin geschafft habe, laufe ich jeden Tag die Treppe.

Das Büro war zu dieser Tageszeit nur dünn besetzt. Niemand tippte Berichte, keine schrägen Typen hockten im Wartebereich herum. Es war beinahe schon zu ruhig.

Durant lief zielstrebig ins Büro des Chefs. Ein bierbäuchiger Mittfünfziger mit fettigen Haaren und einem wulstigen Hals, dessen Hemdzipfel meist über der Hose hingen und das Unterhemd hervorlugen ließen. Darüber altbackene Hosenträger, als habe er sich aus dem Kleiderschrank seines Urgroßvaters bedient.

»Was machst du denn hier?«, begrüßte er sie und runzelte die feucht glänzende Stirn.

»Ich dachte, es gibt noch was zu tun«, antwortete Durant. »Wenn’s schon im Radio kommt.«

»Ach Quatsch.« Der Chef winkte lachend ab. So unangenehm sein Äußeres auch war, in seinen Augen lag stets eine gewisse Güte. Und das, obwohl sie schon in eine ganze Menge Abgründe geblickt hatten. Fast dreißig Jahre, wusste die Kommissarin. Ein paar Jahre noch und er würde seinen Sessel räumen. Für sie selbst, hoffte sie, würde es nicht mehr so lange dauern …

Seine Worte schnitten jeden weiteren Gedanken ab. »Das mit der Presse war reiner Zufall. Ein paar Nutten, ein unglückliches Gerangel, dazwischen ein übereifriger Reporter. Morgen gibt’s ein Bild in der Zeitung, und man wird sich hier und da mal wieder über die scheinheilige Sittenpolitik unserer Stadtväter auslassen.« Er schnaufte und zog die Lippen in die Breite. »Mehr kommt am Ende nicht dabei rum, so wie immer. Wegen mir kannst du wieder nach Hause fahren.«

»Aber wo sind denn Burger und die anderen? Gibt es keine Verhaftungen, kein gar nichts? Ich dachte …«

»Burger ist gerade erst weg. Ihr müsstet euch eigentlich in die Arme gelaufen sein. Er wollte sich noch um eine Vernehmung kümmern, aber frag mich nicht nach Details. Mehr gibt es nicht.«

In diesem Augenblick wurde Durant gewahr, was sie vorhin auf der Parkebene übersehen hatte.

Sie rannte nach unten. Nahm zwei, manchmal drei Stufen auf einmal, sodass es an ein Wunder grenzte, dass sie unbeschadet ankam. Der weinrote Opel Omega Kombi. Sie war direkt daran vorbeigefahren, als sie einen Stellplatz gesucht hatte. Die beschlagene Frontscheibe. All das hätte ihr doch auffallen müssen! Sie erreichte Burgers Wagen. Die Vordersitze waren leer, hinten konnte sie wegen der getönten Gläser nichts sehen. Doch durch den Nebel des Beschlags zeichnete sich etwas ab. Der Lockenkopf einer Frau, gezähmt von einem Stoffband in knalligen Farben, wie sie jetzt in waren. Mehr brauchte Durant nicht zu sehen, denn dieser Look war so etwas wie ein Markenzeichen. Jasmin Quindt, dreiundzwanzig, immer wieder tauchte dieser Name in den Akten auf. Sie hatte eine besondere Masche, denn sie versuchte, ohne Zuhälter zurechtzukommen. Eine Studentin aus gut betuchtem Hause, die sich an drei Abenden pro Woche verkaufte. Wahrscheinlich wusste niemand, der beim sonntäglichen Familienbrunch saß, womit sie ihr Studium, ihre Kleider und die noble Wohnung in der Elisabethstraße finanzierte. Vermutlich hätte sie das auch alles so bekommen. Doch Durant musste akzeptieren, dass die junge Frau diesen Lebenswandel auf eine für sie nicht nachvollziehbare Weise zu genießen schien. War es eine Art fehlgeleitete Rache an ihren Eltern? Doch dafür hätten diese etwas von ihrer Tätigkeit wissen müssen. In den eineinhalb Jahren, in denen Durant Jasmin kannte, war allerdings niemals auch nur ein Wort darüber nach außen gedrungen. In dieser Sekunde verstand sie auch, wieso.

Burgers Mundwinkel fielen auf zwanzig nach acht, in seinen Augen stand Entgeisterung. Seine Hand, mit der er Jasmins Kopf in seinen Schoß gedrückt hatte, ließ von ihr ab. Sie befreite sich, griff nach ihrem Oberteil und hielt es sich vor die nackten Brüste. Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff Vinzenz Burger das Wort.

»Na, wir sind dann wohl fertig für heute«, schnauzte er und schob das Mädchen nach draußen.

»Haben Sie einen Totalausfall?«, fragte Durant, völlig perplex von den Bildern, die sie immer noch verdauen musste.

Burger kletterte ebenfalls aus dem Wagen und bleckte die Zähne. »Na was denn. So prüde? Die macht das doch gerne.«

Er zog den Reißverschluss nach oben und fummelte sein Hemd zurecht.

Julia Durant rang nach Worten. Sie hatte durchaus schon erlebt, dass sich manche ihrer Kollegen gegenüber Frauen anzüglich verhielten. Dass man sich an zwielichtigen Adressen traf oder gewisse Partys feierte. Aber das …

»Du schuldest mir noch was«, hörte sie ihren Kollegen in Richtung des Mädchens rufen, die gerade den Aufzug erreichte und sich unschlüssig umsah. Sein Lachen schallte voller Hohn durch die Nacht. »Aber das holen wir nach!«

Im selben Augenblick klatschte die Hand von Julia Durant mit Schwung auf seine Visage.

Ein Jahr später

Oktober 1991

Im kühlen Abendwind schmiegte sie sich enger an ihn. Er gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit, und das, obwohl die beiden sich eben erst kennengelernt hatten. Es war eine dieser Bars, nicht weit von zu Hause, in denen einsame Seelen sich unter abgedrehte Typen mischten, die unter all ihren poppigen Farben meist selbst ein farbloses Dasein fristeten. Männer und Frauen – oder auch welche, denen man auf den ersten Blick nicht ansehen konnte, in welche Kategorie sie gehörten. Er hatte vor einem Longdrink gesessen und mit seiner Baseballkappe gespielt. San Francisco 49ers. Das Grellblau des Getränks und diese Mütze waren das Einzige, was an ihm hervorstach. Vielleicht noch seine Augen, ständig die Umgebung taxierend. Im Gegensatz zu ihr, die sich zu den Stammgästen zählen durfte, war sein Gesicht in dieser Bar neu. Doch gerade diese Verlorenheit, die sie bei ihm spürte, durchflutete sie mit einer lustvollen Woge. Kurzerhand hatte sie sich einen Kir Royal einschenken lassen und sich ihm genähert.

Der Rest war ganz schnell gegangen.

Irgendwann kam es fast schon zwangsläufig zur Sprache, ob man sich an einen ruhigeren Ort zurückziehen sollte. Sie schlug ihre Wohnung vor, die relativ schnell zu erreichen war. Tatsächlich aber entpuppte sich seine Adresse als noch näher.

 

Zwei weitere Drinks später bezahlte er, und die beiden schritten die Treppe hinaus in die Kühle des Oktoberabends. Ihr Mantel entpuppte sich als viel zu dünn. Er schien ihr Frieren zu spüren und legte den Arm um sie. Etwas unbeholfen, aber vielleicht kam ihr das auch nur so vor, denn ein Großteil ihrer Konzentration lag auf den Stöckelschuhen, in denen sie sich mehr schlecht als recht fortbewegte. Kein Wunder für jemanden, der normalerweise flache Sportsohlen trug. Es erfüllte sie mit Erregung, wenn sie daran dachte, wie er sie angehimmelt hatte. Wie er glaubte zu wissen, was sich unter ihren weiblichen Konturen verbarg. Es gehörte zum Spiel, dass man das Offensichtliche nicht aussprach. Das war der Kick, der Lustgewinn, der ihr das Blut hinab in die Lendengegend trieb. Das hart werdende Genital wehrte sich mit einem kaum erträglichen Jucken gegen sein Gefängnis, in das es gezwungen war, um nicht eine Beule unter dem Kleid entstehen zu lassen.

Du bist noch nicht dran, drängte sie es im Stillen zur Räson. Denn solange sie gekleidet und geschminkt war, war sie kein Mann, und ihre Männlichkeit hatte sich dementsprechend zurückzuhalten.

Gleich, versprach sie ihm. Gleich.

 

Als der Fremde sie in ein dunkles Stiegenhaus schob, entschuldigte er sich für die seit Monaten defekte Beleuchtung. Er werde sich wohl selbst darum kümmern müssen, sagte er und hielt sein Feuerzeug in die Höhe, um die Stufen auszuleuchten. Es waren nur wenige Schritte bis zu seiner Wohnungstür in der ersten Etage. Kaum war sie geöffnet, flammte auch schon eine Glühbirne auf. Hinter ihr klickte die Tür ins Schloss, und die Vorhängekette rasselte. Sie musste schmunzeln. War es nur ein Reflex, oder plante er, sie die ganze Nacht hierzubehalten? Würden sie wie ausgehungerte Raubtiere übereinander herfallen oder sich mit vorsichtiger Scheu umrunden, wartend, wer den ersten Schritt unternähme? Dem unerträglich werdenden Pulsieren in ihrem Höschen nach zu urteilen würde es vermutlich aufs Erste hinauslaufen. Sie begann sich aus dem Mantel zu schälen und versuchte, seinen Blick zu erhaschen. Er stand direkt hinter ihr, die Hand an der Garderobe. Sie gab sich einem sinnlichen Blick hin, einzig das Wanken ihrer Stöckelschuhe störte ihre Bewegungen. Und so kam es, dass sie für den Bruchteil einer Sekunde zu Boden blickte und das Nudelholz nicht kommen sah, das sie mit einem dumpfen Knall auf den Hinterkopf traf und die Sinne raubte.

 

Er schnaubte zweimal. Ein Tick, den sie schon an der Bar wahrgenommen hatte. Es hatte sie nicht im Geringsten gestört.

»Spürst du den Feuersturm?«

Wie bitte?

Sie verstand es nicht, sie verstand gar nichts mehr. Was war mit ihr geschehen? War es ein Traum gewesen, in dem er sie von oben bis unten angefasst hatte? Mit der Zunge über ihren Unterleib gefahren war, mit ihrem Nabel gespielt und ihre Brustwarzen mit den Zähnen bearbeitet hatte?

Oder hatte er sie vollständig entblößt und ihr damit das Kostüm und damit sämtliche Illusion ihrer Weiblichkeit genommen? Das Spiel beendet, die Schminke und die Perücke entfernt, wieder einen Mann aus ihm gemacht? Und jetzt lag er da, regungslos, mit einem Knebel, gegen den er nichts tun konnte, und mit einem schmerzhaften Brennen im Inneren.

Er wollte schreien. In seinem Inneren schienen Lavaströme durch die Organe zu brechen – oder Tausende Glassplitter, die sich in Magen- und Darmwände bohrten.

Doch jeder Versuch, gegen das Klebeband anzukommen, welches offenbar um den ganzen Kopf gewickelt war, schien zwecklos und zurrte es nur noch fester.

Er erinnerte sich nur noch an einen Schlag. Einen hallenden Klang. Und danach kam nichts mehr. Nichts außer einer schwarzen Ledercouch und einer Folie, die sich nass anfühlte. Nass von seinem eigenen Schweiß.

Weggefegt war alles Scheue an seinem Gegenüber. Der Mann wirkte so, als wisse er haargenau, was er da tat. Im Hintergrund lief das Radio. Schlagermusik.

Michael Holm sang Mendocino, und der Mann erhob sich, um die Musik lauter zu drehen.

Panik stieg in ihm auf.

Der Schlag. Der Knebel. Die Folie.

Das Feuer, das ihn von innen zu verzehren drohte.

All das war keine spontane Tat.

Der Mann verfolgte einen ausgeklügelten Plan, ein grausames Drehbuch, in dessen letztem Akt jemand sterben würde. Eben kehrte er zurück, und wieder nahm er neben seinem Opfer Platz. Zufrieden schmatzend.

»Bald wirst du die Engel singen hören.«

Er lachte auf.

Und dieses Lachen klang wie der Teufel höchstpersönlich.

Acht Monate später

Juni 1992

Der Himmel war tiefschwarz verhangen, Blitze zuckten vor den Wolkenbergen, und das Krachen des Donners übertönte die verzerrten Bässe aus den Lautsprechern. Julia Durants Jeans steckten zentimeterweit in einer Schlammpfütze, der Regen prasselte auf sie herab und hatte ihr Shirt längst durchweicht, sodass sich vermutlich jede Naht ihres BHs darunter abzeichnete. Doch keiner stierte ihr auf die Brüste. Alle Blicke kannten nur ein Ziel. Die meisten der Umstehenden hielten sich die Hand wie zum Militärgruß an die Stirn, entweder, um das nasse Haar oder die Sintflut fernzuhalten, die über sie hereinbrach. Hinter Schweißschwaden und Scheinwerferblitzen.

November Rain. Im Sommer.

Das Licht-und-Sound-Gewitter auf der Bühne hatte es schwer, gegen den göttlichen Zorn anzukommen, der sich an diesem Abend auf dem Schenkenfeld in Würzburg über fünfundvierzigtausend Fans zu entladen schien.

Hätte sie sich doch bloß anders entschieden.

Vor drei Wochen, an Christi Himmelfahrt, hatten Guns n’ Roses ein Konzert in Stuttgart gegeben. Dreißig Grad, Sonne und über siebzigtausend Menschen. Weil es die bislang größte Veranstaltung auf der Cannstatter Wasen war, hatten Polizeibeamte aus allerlei Bezirken daran teilgenommen. Julia Durant hätte sich ohne viel Mühe eine Gelegenheit sichern können, doch sie hatte ihren Liebsten nicht vor den Kopf stoßen wollen. Stephan hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um heute mit ihr hier sein zu können. Und immer wieder versuchte er, seinen Adidas-Windbreaker über ihren Kopf auszubreiten, um sie vor der Hölle zu schützen, die der Himmel über ihnen ausspie.

Knockin’ on Heaven’s Door, Don’t Cry und Paradise City bildeten den Schlussakkord. Mit Mühe und Not kämpften sich die beiden vom Gelände, nass und verdreckt standen sie eine halbe Stunde später an Stephans Audi 100 V8, den er sich vor einem knappen Jahr gegönnt hatte, nachdem seine Werbefirma einen Raketenstart hingelegt hatte. Er zog eine klimpernde Metallansammlung hervor, an der neben einem Karabiner und einem Dutzend Schlüsseln auch ein abgegriffener Glücksbringer in Form einer Hasenpfote baumelte. Außerdem der heilige Wagenschlüssel. Mit einem weinerlichen Gesichtsausdruck kommentierte er: »Ciao, Neuwagen«, während er Julia die Tür aufhielt.

Sie hauchte ihm einen Kuss zu. »Danke. Ich passe auf wie ein Schießhund.«

Zog sich die Schuhe aus und wartete, bis Stephan seine Tür geschlossen und damit die Innenleuchte abgeschaltet hatte. Dann befreite sie sich von dem nassen Shirt, Stephan half ein wenig nach und nutzte die Gelegenheit, um sich zu ihr rüberzubeugen und ein paar Küsse auf Brust und Schultern zu geben. Als er gerade dazu überging, seine Zähne einzusetzen und seine Hand mit ins Spiel zu nehmen, donnerte ein Schlag so hart gegen die Scheibe, dass der ganze Wagen erzitterte. Von außen grölten Männer- und Frauenstimmen.

Stephan richtete sich reflexartig auf, Julia zuckte zusammen, und mit der nächsten Bewegung förderte sie ihre Jeansjacke zutage, die sie auf dem Rücksitz hatte liegen lassen.

»Fortsetzung folgt«, grinste sie ihrem Mann zu, der dem Audi mit einem Lächeln die Sporen gab.

Es wäre ein Leichtes gewesen, die Strecke nach München mit dem ICE zu fahren, denn seit Neuestem konnte man auch auf dieser Verbindung mit den neuen Hochgeschwindigkeitszügen fahren. Allerdings hätten sie dann eine Nacht in Würzburg verbringen müssen, und davon hatte Stephan nichts gehalten.

»Aber es ist doch Sonntag!«, hatte Julia insistiert. »Was spricht denn gegen ein kleines Hotel und ein fränkisches Frühstücksbuffet?«

»Tut mir leid. Die Firma.«

Das hörte sie in letzter Zeit öfter – zu oft, wie sie fand. Doch ohne die Firma wäre Stephan womöglich nicht an die Tickets gekommen, und ohne die Firma säßen sie jetzt nicht in einem PS-starken Wagen kurz vor Oberklassengrenze, der sie, falls das Wetter sich beruhigte, in gut zweieinhalb Stunden zurück in die Bayernmetropole bringen würde.

Schneller schaffte es der ICE auch nicht.

»Ich wundere mich, dass sie bis zum Ende durchgespielt haben«, sagte Stephan, als sie auf die Autobahn eingebogen waren und er den Wagen in den kargen Nachtverkehr eingefädelt hatte.

»Ich mich auch.« Julia nickte. Immer wieder gab es Schlagzeilen um die Band, deren Leadsänger für seine Exzesse berüchtigt war. Vor einem Jahr erst hatte er in den USA auf einen Zuschauer eingedroschen, der während des Konzerts fotografiert hatte. Konzertabbrüche gehörten praktisch zur Tagesordnung.

Ein heftiges Gähnen überkam sie. Sie entschuldigte sich, legte ihrem Mann die Hand auf den Oberschenkel und lächelte ihn an. »Danke noch mal. Das war echt geil, auch wenn das Wetter übelst war.«

»Gerne. Wobei der Sound hätte besser sein können. Aber das ist wohl so, Open Air. Ich frag mich, wie viel von dem Equipment heute draufgegangen ist. Da war ja nichts geschützt, na ja, und die Jungs werden vermutlich auch alle krank sein.«

»Genau wie wir, fürchte ich«, antwortete Julia und zog demonstrativ die Jacke enger um sich. Stephan reagierte sofort und drehte das Heizgebläse stärker. Danach verfielen sie in Schweigen. Noch immer beschäftigte der Regen die Scheibenwischer, und am Horizont war Wetterleuchten zu sehen.

Eine Viertelstunde später meldete sich das Autotelefon, welches in der Mittelkonsole untergebracht war. Stephan zuckte spürbar zusammen, offenbar war er es nicht gewohnt, dass das Gerät klingelte, oder er war überrascht, dass es mitten in der Nacht geschah. Während Julia sich noch immer darüber wunderte, wie das ganze System mit Mobilfunkantennen funktionierte, die ein Anrufsignal punktgenau auf den angewählten Apparat sendeten, wo auch immer dieser sich befand, versteinerte sich die Miene ihres Mannes.

»Ja, Moment«, hörte sie ihn sagen, dann trafen sich ihre Blicke. Stephan fuchtelte mit dem Hörer in ihre Richtung. »Für dich«, flüsterte er, und die Kommissarin versteifte sich. Was auch immer das bedeuten mochte, es konnte nichts Gutes sein.

Sonntag

21. Juni, 3:25 Uhr

Nach einem kurzen Zwischenstopp in Schwabing, damit Julia sich mit neuer Kleidung ausstaffieren konnte, erreichte der Audi das südliche Bahnhofsviertel. Auch zu dieser Stunde war der Vorplatz des Hauptbahnhofs noch belebt. In den Fenstern des mehrstöckigen Kastenbaus, einer grauen Bausünde der Fünfzigerjahre, brannte hier und da noch Licht. Es war dasselbe Gebäude, in dem sie seit Jahren Dienst tat. Mehr noch: Seit rund zwei Jahren hatte es immer wieder Gelegenheit gegeben, mit der Mordkommission gemeinsame Sache zu machen. Und immer wieder war sie dafür angefordert worden. Ein Test? Hatte man ihre Fähigkeiten auf den Prüfstand gestellt? Sie wusste es nicht. Doch am Ende war sie stets zu ihren Kollegen bei der Sitte zurückgekehrt. Der innere Kreis des K111 war ihr verschlossen geblieben. Bis jetzt. Bis zu diesem Anruf. Und daher rührte das flaue Gefühl in Durants Magengegend. Es war schon seit geraumer Zeit zu spüren und verschwand auch nicht, nachdem sie sich mit einem innigen Kuss von ihrem Mann verabschiedet hatte und in die Nachtluft ausstieg. Der offizielle Dienstbeginn war erst für Montag geplant gewesen. Ein Neustart, plötzlich richtig dazugehören, ein Sprung ins kalte Wasser. Doch Kommissariatsleiter Habel hatte sich bei seinem überfallartigen Anruf unmissverständlich ausgedrückt: »Können Sie heute schon hierherkommen?«

»Ich bin gerade auf der A3 Richtung Nürnberg«, war Durants Antwort gewesen. Vermutlich war die Irritation in ihrer Stimme nicht zu überhören gewesen. Und woher kannte er überhaupt diese Nummer? Doch natürlich waren Stephans Kontaktdaten im Revier hinterlegt. Viel zu stolz war er auf seine schillernden Visitenkarten mit Goldrand, auf der auch die Nummer des Autotelefons vermerkt war, um sie nicht bei jeder Gelegenheit zu präsentieren.

Habels Antwort hätte kaum lakonischer ausfallen können. »Die Leiche hat alle Zeit der Welt. Es fehlt mir derzeit mehr an den Lebenden. Es wäre also gut, wenn Sie sich beeilen könnten.«

Dieses Gespräch lag nun etwa drei Stunden in der Vergangenheit. Durants Dienstbeginn stand also unmittelbar bevor, wobei sie sich ihren ersten Arbeitstag in der Mordkommission weiß Gott anders vorgestellt hatte.

Sie winkte dem Audi hinterher, nahm noch einen letzten Zug von ihrer Gauloise und schnippte die Kippe in Richtung des nächsten Gullys.

Dann wollen wir mal, dachte sie. Bist du bereit? Nein. Aber was soll’s.

 

Richard Habel war ein leicht untersetzter Mann mit spitzer Nase und einer wachsenden Platte am Hinterkopf, die sich derzeit aber noch mit geschickt frisierten Haaren retuschieren ließ. Seine blaugrünen Augen wirkten durchdringend, aber nicht angsteinflößend. Seine Stimme klang sonor, konnte sich bei Bedarf aber durchaus Respekt verschaffen. Julia Durant hatte den Kommissariatsleiter während ihrer Ausbildung einige Male erlebt und schätzte sein unaufgeregtes Wesen, welches nicht vielen ihrer Kollegen gegeben war. Als sie sein Büro erreichte und die Tür mit heruntergedrückter Klinke öffnete, stieg ihr ein Gemisch aus Tabak und Kaffee in die Nase.

»Da sind Sie ja.« Habel lächelte ihr freundlich entgegen. Er wirkte übernächtigt, was sicher daran lag, dass auch er in dieser Nacht noch keinen Schlaf abbekommen hatte.

»Ja, da bin ich.« Durant folgte seiner Geste und zog sich einen Stuhl heran, auf den sie sich sinken ließ.

»Sie waren also auf einem Konzert.« Habel deutete an ihr vorbei. »Möchten Sie einen Espresso?«

»Danke.«

»Danke ja oder Danke nein?«

»Danke nein. Darf ich rauchen?«

»Nur zu.«

Sie zog ein zerknautschtes Päckchen hervor, bot ihrem neuen Chef eine an und überlegte, während sie ihm Feuer gab, ob die Bezeichnung Chef heute überhaupt schon offiziell stimmte.

Habel leerte den letzten Schluck aus seiner Tasse und blies anschließend einen Kringel in die Luft, der sich unter der Bürolampe in einer wabernden Schwade auflöste.

»Kommen wir gleich zur Sache«, begann er, »denn ich habe Sie nicht ohne triftige Gründe hierher beordert.«

»Das dachte ich auch nicht«, erwiderte Durant. »Aber ich würde auch gern wissen …«

»Sie haben Erfahrung bei der Sitte?«

»Äh, ja.« Das wusste Habel doch längst aus ihrer Akte.

»Kennen Sie das Apartmenthaus über dem Tiefparterre?«

Natürlich kannte Durant diese Adresse. Das Tiefparterre war ein Nachtclub im Gärtnerplatzviertel unweit der Altstadt. Die Räumlichkeiten erstreckten sich auf den gesamten Keller des massiven Hauses. Manch einer behauptete, das Fundament gehöre zu einem alten Luftschutzbunker, doch dafür gab es keine Belege. Das Gebäude darüber jedenfalls verfügte über eine Reihe von Wohnungen und Einzelzimmern. Teilweise vermietet, teilweise vermutete man dort ein Etablissement der bestimmten Art. Eine Anbahnungs- und Ausübungsstätte für allerlei Unzucht, wo sich Freier einfanden, die ihre Damen nicht auf dem Straßenstrich holen mochten. Solche Häuser gab es, wie Durant wusste, überall in der Stadt. Genau genommen stammte nur ein geringer Prozentsatz der Freier, die sich auf den einschlägigen Parkplätzen herumtrieben, direkt aus München. Es gab innerhalb der Stadtgrenzen ein ausreichendes Angebot an Escort- und weniger legalen Services, die sich herumsprachen. Gelegentlich führte eine Razzia zu kleineren Erfolgen, aber am Kern der Sache änderte sich nichts. Immer dann, wenn ein Mann Macht oder Geld hatte, fanden sich Frauen, die seine Neigungen befriedigten. Ob freiwillig oder nicht, darüber ließ es sich trefflich streiten. Eine Kollegin an der Polizeihochschule hatte es einmal so formuliert: »Ist der Geschlechtsverkehr noch freiwillig, wenn der Kühlschrank und das Konto leer sind und man sonst weder über einen Job noch über irgendeine andere Möglichkeit verfügt, um die Miete pünktlich zusammenzukratzen?«

»Wir hatten dort hin und wieder zu tun«, bestätigte sie Habels Frage. Mit mäßigem Erfolg, erinnerte sie sich. Dass dort Professionelle ihre Freier bedienten, war nur schwer nachzuweisen. Man behauptete einfach, man habe sich unten an der Bar kennengelernt, und der Wirt habe aus Gefälligkeit einen diskreten Raum zur Verfügung gestellt. Durant erinnerte sich an einen Vorfall vor etwa einem Jahr. Damals hatte sie eine Frau namens Svenja kennengelernt. Diese hatte sich mit einem Mann eingelassen, der gut und gerne doppelt so alt und dreimal so schwer gewesen war. Bezahlt hatte er nichts, aber ein blaues Auge und einige unschöne Blessuren hinterlassen. Seine Personalien wurden aufgrund der Personenbeschreibung von Zeugen ermittelt, doch es erfolgte nicht einmal eine offizielle Befragung, geschweige denn eine Anklage. Er war einfach zu einflussreich, und sein Anwalt hatte eines klargestellt: »Es steht Aussage gegen Aussage. Und jetzt betrachten Sie einmal meinen Mandanten und dann diese … Person.« Es klang so, als ekle er sich allein davor, sie zu erwähnen. Parallel dazu hatte Svenja kein Interesse daran, dass ihre Nebentätigkeit bekannt wurde. Sie gönnte sich drei Wochen Pause, danach sah man sie wieder anschaffen. In einem vertraulichen Gespräch hatte sie Julia Durant gegenüber angedeutet, jemand aus ihrem Umfeld habe sich über Jahre sexuell an ihr vergangen. Ob es sich dabei um den Vater, einen Onkel, den Bruder oder den Großvater handelte, darüber verlor sie kein Wort. Durant wusste, dass man die Täter in der Regel im engsten Umfeld suchen musste. Allein der Gedanke daran trieb ihr die Übelkeit hoch.

»Hallo, sind Sie noch da?«

»Entschuldigung, ja.«

»Wir sprachen gerade vom Tiefparterre.«

Die Kommissarin berichtete in knappen Sätzen, was sie über die Adresse wusste. Svenja erwähnte sie nicht. »Darf ich jetzt auch etwas fragen?«, beendete sie ihre Rede.

Habel bejahte.

»Wenn es in diesem Sündenkeller eine Leiche gibt – warum sitzen wir dann hier?«

Habel lachte freudlos auf. »Erstens lag die Leiche in einem der Zimmer weiter oben, und zweitens befindet sie sich schon längst in der Rechtsmedizin.«

Durant legte die Stirn in Falten. »Dann verstehe ich nicht, was ich hier soll.«

»Das ist ganz einfach gesagt. Die Polizei erhielt gestern Abend um 22:13 Uhr einen anonymen Hinweis auf ein Gewaltverbrechen. Der Anruf kam von einer Telefonzelle nahe dem Taxistand, so viel ließ sich ermitteln. Also in unmittelbarer Nähe der besagten Adresse. Im Appartement ›Diana‹ solle sich ein lebloses Mädchen befinden, vermutlich tot. Keine weiteren Details. Als die Beamten eintrafen, wurde im Club noch gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Die Zimmer allerdings waren leer, keine Nutten, keine Freier, man muss also gewusst haben, dass sich da etwas anbahnt. Irgendjemand hatte besagten Raum sogar abgeschlossen, von innen, aber die Frau war dermaßen betrunken, dass wir sie erst einmal zum Ausnüchtern in Gewahrsam genommen haben.«

»Und dann war da noch die Leiche. Oder verstehe ich da jetzt etwas falsch?«

»Nein. Korrekt. Die Betrunkene und die Leiche, das waren zwei Personen.«

»Hm«, dachte die Kommissarin laut, während sie sich das Kinn knetete. »Demnach kannte sich der Anrufer gut genug im Gebäude aus, um den Namen des Appartements zu kennen. War es ein Mann oder eine Frau?«

»Eine Fistelstimme. Nicht eindeutig zuzuordnen.«

»Hm. Dann wussten also mindestens drei Personen von dem Verbrechen.«

»Drei?«, hakte Habel nach und zählte an den Fingern ab: »Der anonyme Anrufer, die betrunkene Frau …«

»Und der- oder diejenige, der ihr den Auftrag gab, sich einzusperren. Wenn sie tatsächlich derart betrunken war.«

»Zwei Komma vier Promille.«

»Na also. Dann muss ihr doch jemand dabei geholfen haben, oder nicht? Könnte am Ende sogar der anonyme Hinweisgeber gewesen sein. Wurden denn schon Zeugen vernommen?«

»Teilweise.« Habel räusperte sich. »Genau da kommen wir jetzt zu Ihrem etwas verfrühten Dienstbeginn.«

»Ich kann’s kaum erwarten«, erwiderte Durant, die längst bereute, nicht doch einen Kaffee angenommen zu haben. Sie versenkte ihre Zigarette in dem Drehaschenbecher auf Habels breiter, ungewöhnlich leerer Schreibtischplatte.

Im Folgenden zählte der Kommissariatsleiter einige Namen auf, die Durant allesamt kannte, aber nur beim letzten lief ihr ein Schauer über den Rücken. Die bayerischen Pfingstferien sollten an diesem Sonntag zu Ende gehen. Kollege Nummer eins saß in Spanien fest. Der Rückflug war wegen eines Triebwerksdefekts gestrichen worden. Er würde nicht vor Dienstag in München eintreffen können. Kollege Nummer zwei hatte sich krankgemeldet. Lungenentzündung. Vermutlich blüht mir das ebenfalls, dachte Julia, als ihr die nasse Kleidung in den Sinn kam, die sie bis kurz zuvor noch getragen hatte. Ein anderer Kollege war längerfristig ausgefallen, und damit kam auch schon der letzte Name ins Spiel.

»Außer Burger ist keiner da. Und den erreiche ich seit Stunden nicht«, schloss Habel.

Burger. Seit der Ohrfeige damals hatte Durant keine zehn Sätze mehr mit ihm gewechselt. Er hatte den Sprung zum K111 vor ein paar Monaten geschafft, sie war auf Platz zwei geblieben. Hätte sie ihn damals gemeldet … doch so war sie nicht. Durant schüttelte den Gedanken ab.

»Hat Burger denn keine Bereitschaft?«

»Nein. Die habe ja ich. Und finden Sie mal jemanden, der sich am Wochenende in die Schickeria stürzt.«

Das passte ja, dachte Julia. Doch sosehr es ihr auch auf der Seele brannte zu erfahren, was der neue Chef von ihrem besonderen Verhältnis zu Vinzenz Burger wusste, sie verkniff sich die Frage. Das würde sie anders herausfinden müssen. Sie hatte es immer wieder verdrängt, dass ein Wechsel zur Mordkommission zwangsläufig bedeutete, dass sie und dieses Arschloch sich wieder über den Weg laufen würden. Ein Team bilden mussten. Wie er wohl dazu stand? Jedenfalls schien auch er nicht schlecht über sie gesprochen zu haben, denn ansonsten wäre ihre Versetzung wohl kaum so glattgelaufen. Die Nachricht war an einem eisigen Wintertag zwischen den Jahren gekommen. Als sie am wenigsten damit gerechnet hatte. Die Monate bis heute hatten sich hingezogen wie alter Kaugummi.

Habel blickte zur Telenorma-Wanduhr, deren Design an eine Bahnsteiguhr erinnerte, und erhob sich. Er griff die Espressotasse, umrundete den Schreibtisch und stellte sie zu einem fleckigen Wasserglas zwischen Kochplatte und Kaffeemaschine. »Ich möchte, dass Sie mich in die Stadt begleiten. Im Tiefparterre sollte jetzt endgültig Zapfenstreich sein.«

Durants Augen weiteten sich. »Sie haben den Club geöffnet gelassen?«

Habel zuckte die Achseln. »Wir sind mit dem Wirt übereingekommen, dass er kein Aufhebens macht. Das hätte niemandem genutzt.« Dann zwinkerte er. »Aber wir haben die Beamten draußen darauf angesetzt, von jedem, der den Club verlässt, die Personalien aufzunehmen.«

»Na gut.« Durant stand ebenfalls auf. Sie wusste, dass der Wirt im selben Haus wohnte. Ein aalglatter Österreicher mit allerlei Verbindungen nach oben, aber er ließ sich nie etwas direkt zuschulden kommen. Entweder verfügte er über ein gut geschmiertes Frühwarnsystem, oder er war einfach zu gewieft für die Ermittler. Oder man hatte schlicht kein Interesse, ihm an den Karren zu fahren, denn ihn wollte keiner zum Feind haben. Die Prostitution unter seinem Dach nahm er hin, doch er organisierte sie nicht, jedenfalls nicht offiziell. Er beschäftigte ihres Wissens keine Illegalen, und er zwang keinen Frauen aus dem Ostblock perverse Freier auf. Es gab Schlimmere als ihn. »Gibt es einen Hinweis auf die Identität der Toten? Die Todesumstände? Irgendwas Brauchbares? War sie eines der Mädchen, mit denen man sich dort vergnügen konnte?«

»Identität nein, aber ein paar Polaroids hätte ich schon mal im Angebot. Die anderen Tatortfotos sind noch in Arbeit.«

Habel kehrte zurück an den Schreibtisch und fummelte ein halbes Dutzend Fotos aus einem Kuvert. Er entschuldigte sich für die schlechte Qualität. Blickte wieder in Richtung Uhr, als könne er die Entwicklung der professionellen Bilder damit beschleunigen, und wartete, bis Durant alles durchgesehen hatte.

Die ersten zwei Fotos zeigten das Konterfei und den Oberkörper einer jungen Frau. Kein Blut, keine offenkundigen Verletzungen. Die Augen stierten ins Nichts, leider waren beide Aufnahmen stark milchig. Danach dreimal der gesamte Körper aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Der Blutfleck rund um den Schambereich, der das einteilige Sommerkleid durchdrang, war nicht zu übersehen. Das Laken, auf dem der Körper lag, war davon ebenso betroffen wie der Fußboden. Durants Atem stockte. Da war sie also. Nicht die erste Leiche zwar, die sie in ihrem Leben zu Gesicht bekam, aber das erste Mordopfer, das ihr in ihrer neuen Funktion als Ermittlerin beim K111 begegnete. Sie schluckte hart. Etwas an den Bildern störte ihr Unterbewusstsein, aber sie konnte es nicht greifen. Vielleicht war es auch schlicht die Mixtur aus fremder Brutalität und eigener Übermüdung. Sie nahm sich das nächste Foto vor. Trotz aller Unschärfe war eines eindeutig zu erkennen: Es handelte sich um eine andere Person als das Mordopfer.

Jasmin Quindt.

»Verdammt, das ist doch … Was hat die denn damit zu tun?«, wollte sie wissen.

Habel zog die Lippen in die Breite und antwortete: »Das ist die Frau, die in der Ausnüchterungszelle sitzt.«

4:05 Uhr

Das Tiefparterre