Kaffee ohne mit Süss - Bernadette Brack - E-Book

Kaffee ohne mit Süss E-Book

Bernadette Brack

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Beschreibung

Bei einer Vernissage flirtet der charmante Bruder des Künstlers mit Hauptkommissarin Süss. Als sie ihn am nächsten Morgen über eine Leiche gebeugt wiedersieht, ist sie sprachlos. Er ist der neue Gerichtsmediziner. Bei dem Ermordeten handelt es sich um eine angesehene, stadtbekannte Persönlichkeit. Süss und ihr älterer Kollege Keller, ein ungleiches Ermittlerpaar, stossen bei ihren Recherchen auf einige Ungereimtheiten im Umfeld des Toten. Als bei einem Clochard die teure Uhr gefunden wird, die das Opfer bei sich trug, steht für den ambitionierten Staatsanwalt fest, dass es sich um den Täter handelt. Er erhebt Anklage und die Ermittlungen sollen eingestellt werden. Keller will sich damit nicht abfinden. Kurz vor Prozessbeginn nimmt der Fall eine unerwartete, dramatische Wendung.

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Seitenzahl: 278

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für Walter, Tobias und Nina

Inhaltsverzeichnis

August 2020

Juni 2020 (ein Monat zuvor)

August 2020

Mai 1941

Frühling 1942

November 2020

1965

November 2020

Dezember 2020

August 2020

Der Klingelton, der beim Öffnen der Türe einer Basler Galerie ertönte, liess den Redner im hinteren Teil des abgedunkelten Raumes kurz verstummen. Einige der Zuhörenden drehten sich nach ihr um, was Kathy beinahe zum Erröten brachte. Mit einer entschuldigenden Geste versuchte sie die Türe so leise wie möglich zu schliessen. Ein stattlicher Mann stand angeleuchtet von einem kleinen Scheinwerfer auf einem Podest. Er sprach mit einem französischen Akzent, was Kathy vermuten liess, dass es sich um den Künstler handeln musste. Neben ihm strahlte Lisa, die Besitzerin der Galerie, in die Runde der zahlreichen BesucherInnen. Kathy betrachtete das Bild an der Wand links neben ihr. In der Mitte der Leinwand war ein grüner Kreis zu sehen, der von einem bunten Farbchaos umgeben war. „Wie geschmacklos“, murmelte sie. „Gefällt Ihnen wohl nicht?“, flüsterte jemand leise in ihr Ohr. „Einfach nur scheusslich“, erwiderte sie, indem sie sich umdrehte. Sie blickte in ein lachendes Gesicht. Um die 40, Dreitagebart, die Schläfen leicht ergraut. Die Figur durchtrainiert, die Kleidung elegant, salopp und der Duft… „Bleu“, flüsterte sie. „Irrtum, grün, trou vert dance dans l´univers, grünes Loch tanzt im Universum“, antwortete die sonore Stimme leise und fuhr auf ihren fragenden Blick hin gleich weiter, „der Titel dieses Bildes“. Kathy war sich nicht ganz sicher, ob sie ihn darüber aufklären sollte, dass sie eigentlich sein Parfum „Chanel bleu“ gemeint hatte. Er streckte ihr seine Hand entgegen: „Carsten!“ „Süss“, antwortete sie. „Na also, das hat mir jetzt auch noch niemand…“ Weiter kam er nicht, denn Lisas Stimme ertönte nun durch das Mikrophon. „Meine Damen und Herren, wir möchten Ihre Aufmerksamkeit nicht weiter strapazieren, der Apéro steht bereit, ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Ausstellung und einen schönen Abend.“ Die Storen gingen mit einem sanften Quietschen nach oben und die Abendsonne durchflutete den Raum. Als Kathy die anderen Bilder in der Galerie sah, musste sie tief durchatmen. „Der arme Mann“, entfuhr es ihr, „so viele tanzende Löcher im Universum!“ Carstens herzliches Lachen wurde von Lisa in gestrengem Ton unterbrochen. „Sag mal, das darf doch nicht wahr sein. Erst kommst du zu spät und dann beginnt ihr zwei während den Ausführungen des Künstlers miteinander zu quatschen?“ „Meine Schuld“, verteidigte Carsten Kathy sofort. Lisa schmunzelte bedeutungsvoll, nahm Kathy in ihre Arme und flüsterte den beiden zu: „Aber es hat nicht geschadet, seinen Redeschwall zu unterbrechen.“ Kathy wollte sich gerade über die Scheusslichkeit der Bilder auslassen, als sich der Künstler ihnen näherte. Er trug einen seltsamen Hut und um seinen Hals einen Schal, der den Bildern in seinem Aussehen gefährlich nahekam. Galant nahm er Kathys Hand, führte sie vor seinen Mund mit den Worten: „Enchanté, Madame, isch offe, dass meine Werke Sie gefallen.“ Bevor sie darauf antworten konnte, fügte er hinzu: „Sie müssen misch excusieren, isch glaube eine Käufer warten auf misch.“ Als er wieder ausser Hörweite war, sagte Kathy zu ihrer Freundin: „Wo hast du denn diesen seltsamen Vogel aufgegriffen? Gibt es wirklich jemanden, der solche Bilder kauft?“ „Ehrlich gesagt ja, es gibt sogar eine ganze Menge von Leuten, die diese Kunstwerke haben wollen und das zu exorbitanten Preisen. Du würdest dich wundern. Aber nun verratet mir doch, woher ihr beiden euch kennt.“ „Nun, wir haben uns gerade zum ersten Mal gesehen“, antwortete Carsten, „aber erstaunlicherweise findet mich die junge Dame süss.“ Lisa und Kathy schauten sich kurz an und begannen herzlich zu lachen, was sich bei Carstens seltsamen Gesichtsausdruck noch steigerte. Dann erklärte Kathy, dass sie dieses Missverständnis sehr gut kenne, es sich bei dem Wort süss aber nicht um das Adjektiv, sondern um ihren Nachnamen handle, was Carsten mit einem leicht pikierten „Schade“ quittierte. „Also“, begann Lisa sogleich mit einem charmanten Lächeln, „das ist meine beste Freundin Kathy Süss und das ist mein guter Freund Carsten Schneider, der Bruder des Künstlers.“ „Ach“, sagte Kathy, „seit der Geburt getrennt? Oder wie kommt es, dass du deutsch redest und er anscheinend französisch?“ Carsten erklärte ihr, dass sein Bruder Hans in der Kunstwelt als Jeannot Tailleur bekannt war. Durch die französische Auslegung seines Namens und seinen Akzent hatte er zu Beginn seiner Karriere das Gefühl, eher dem Image eines Künstlers zu entsprechen. Obwohl er mittlerweile seine Bilder gut verkaufe, habe er diese Attribute beibehalten. Grete, die Mitarbeiterin der Galerie, versuchte Lisa ein Zeichen zu geben, was diese jedoch nicht gleich bemerkte. Kathy machte sie darauf aufmerksam. „Du wirst gebraucht“, sagte sie zu ihrer Freundin. „Und du bleibst bis zum Ende hier, ich will noch mit dir anstossen“, antwortete Lisa und sah sie mit einem gespielt strengen Blick an, bevor sie sich in die Menge stürzte. Kathy drehte sich zu Carsten um und als sie bemerkte, dass er bereits mit einem Ehepaar in ein Gespräch vertieft war, verzog sie sich schnell in eine Ecke des Raumes, um auf ihrem Handy noch einige Mails zu checken. Als sie kurz aufblickte, sah sie, dass sowohl Lisa als auch Carsten sie strafend anschauten. Sie liess sich davon jedoch nicht weiter beirren. Nach und nach verabschiedeten sich die Besucher und übrig blieben Carsten, Kathy, Lisa und Hans. Letzterer sprach nun wie sein Bruder einen waschechten Berliner Dialekt. „So, nun wollen wir aber endlich feiern“, verkündete Lisa. „Feiern? Was denn feiern?“, fragte Kathy. Die Antwort kam indirekt von Grete, die aus dem Büro stürmte. „Fünf“, rief sie, „fünf Bilder wurden verkauft, darunter das Grosse hinten an der linken Wand.“ Hans entfuhr ein Freudenschrei. Er rannte auf Grete zu und tanzte mit ihr durch die Galerie. „Dieses Bild allein kostet 15000 Franken“, flüsterte Lisa Kathy zu, „mit der Provision habe ich die Unkosten für die nächsten Monate gedeckt. Wie gesagt, er ist ein angesehener Künstler.“ „Wer um alles in der Welt hat denn dieses schreckliche Ungetüm gekauft“, rief Carsten mit einem ironischen Unterton in die Runde, indem er Kathy zuzwinkerte. Grete nannte ihnen den Namen. „Besitzer einer Privatbank“, sagte sie, „ein reicher, Sammler, der meint etwas von Kunst zu verstehen.“ „Was genau willst du damit sagen, wenn du behauptest, er meint etwas von Kunst zu verstehen?“, fragte Hans mit einer einseitig hochgezogenen Augenbraue, um gleich lachend fortzufahren, „Na egal, Hauptsache er hat es gekauft. Grete, du bist meine Königin, meine Muse. Champagner geht auf mich“, rief er mit theatralischer Geste, während er in die Hände klatschte. Sie setzten sich alle um den kleinen Tisch im hinteren Teil der Galerie. „Auf Grete!“, rief Hans mit erhobenem Glas, „und natürlich auf Lisa, meine neue Galeristin in der Schweiz.“ Es wurde ein feuchtfröhlicher Abend. Carstens Blicke waren immer wieder bei Kathy und als sie sich auf der Toilette kurz frisch machen wollte, stand plötzlich Lisa hinter ihr. „Na, mein alter Freund flirtet aber ganz schön mit dir“, sagte sie, was Kathy mit einer verneinenden Bewegung abtat. „Woher kennst du die beiden überhaupt?“, fragte sie ihre Freundin. Sie erfuhr, dass Lisa die Brüder während ihrem Studium der Kunstgeschichte in Berlin, das genau 14 Monate dauerte, kennengelernt hatte. „Carsten bin ich zum ersten Mal auf einer Studentenparty begegnet. Er, der smarte Medizinstudent, ich, die etwas verrückte Kunststudentin...“ „Ihr hattet…“ „Nein“, unterbrach Lisa sie sogleich, „wir hatten nichts miteinander. Damals war ich in unseren Professor verschossen. Du erinnerst dich? Ich habe dir doch von ihm erzählt. Er war der Star der Fakultät.“ Sie atmete tief ein, bevor sie mit einem ironischen Unterton weiterfuhr: „Natürlich war er verheiratet und hatte an die 20 Geliebte. Ich war eine davon.“ Kathy erinnerte sich dunkel. „Mit Carsten konnte ich über alles reden, in ihm hatte ich einen echten Freund gefunden“, fuhr Lisa fort, „er war mein Kummerkasten. Wir sind nächtelang zusammen um die Häuser gezogen.“ Für einen kurzen Augenblick schien es, als sei Lisa weit weg mit ihren Gedanken. „Er ist wirklich sehr in Ordnung. Wir haben immer Kontakt gehalten und jetzt hat er einen neuen Job hier in Basel. So hat sich auch die Ausstellung mit seinem Bruder ergeben. Ein echter Glücksfall, wie du siehst.“ Sie schaute ihre Freundin lachend an. „Und dass Carsten hier ist, scheint nicht nur mir zu gefallen“, fügte sie augenzwinkernd hinzu. „Ach Lisa, du weisst doch, dass ich glücklich verheiratet bin. Aber sag mal, was ist eigentlich mit Grete los. Ich habe das Gefühl, sie strahlt heute noch mehr als sonst,“ fragte Kathy, um von Carsten abzulenken. Lisa warf noch einen kurzen, prüfenden Blick in den Spiegel. „Verliebt“, sagte sie nur, „erzähle ich dir ein anderes Mal.“ Als sich die beiden Frauen wieder zu den Übrigen gesellten, setzte sich Süss neben Grete. Sie kannten sich ganz gut, da Grete Lisa manchmal begleitete, wenn sich die beiden Freundinnen zu einem Feierabendbier trafen. Kathy schätzte die ruhige und intelligente Frau mit ihrem ansteckenden Lachen sehr.

Hans entpuppte sich als äusserst unterhaltsamer Geschichtenerzähler, der seine eigene Kunst gar nicht so ernst nahm. „So“, sagte Carsten bestimmt, als sein Bruder wieder erneut zu einer Anekdote ansetzen wollte, „nun möchte ich aber einmal etwas über Süss erfahren. Woher kennst du Lisa? Was machst du so in deinem Leben?“ Bevor Kathy antworten konnte, vernahmen sie einen lauten Donnerschlag. „Ich denke, dieses Gespräch müssen wir verschieben“, antwortete Kathy, „ich sollte nach Hause gehen, bevor das grosse Gewitter kommt.“ Sie verabschiedete sich von allen und verliess schleunigst die Galerie. Draussen wurde sie bereits von dicken Regentropfen begrüsst. Sie ging einige Meter die Strasse entlang. Der Regen wurde immer stärker und sie überlegte, ob sie sich irgendwo unterstellen sollte, als ein Auto mit quietschenden Reifen neben ihr hielt. Die Beifahrertüre öffnete sich und Carsten schrie heraus: „Nun steig schon ein, Süss.“ „Du hast doch getrunken“, antwortete sie, was sie jedoch gleich wieder bereute. „Bist du etwa bei der Polizei? Ich hatte zwei oder drei Gläser Champagner. Aber wenn du nicht willst, bitte schön.“ Gleichzeitig mit einem Blitz, der schon gefährlich nahe zu sein schien, nahm sie einen Satz auf den Beifahrersitz. „Im Handschuhfach sollte ein Handtuch liegen. Wo soll ich dich denn hinbringen?“ „Adlerstrasse.“ Kathy vermied es von dem angebotenen Tuch Gebrauch zu machen. Carsten blickte sie belustigt von der Seite an. Dann stellte er das Radio ein. Bei einer Canzone von Gianna Nannini legte er seine Hand auf ihr Knie. Die Atmosphäre vibrierte. Sie schwiegen beide. Dann sagte er plötzlich: „Welche Nummer?“ „Wie bitte?“, fragte sie. „Welche Hausnummer?“ „17!“. Carsten bremste scharf, was Kathy in die Realität zurückkatapultierte. Sie hatte wohl bemerkt, dass sie bereits an ihrem Haus vorbeigefahren waren, konnte oder wollte aber in diesem Moment nichts sagen. „Du kannst mich vorne an der Kreuzung rauslassen.“ „Ich lass dich doch nicht in der dunklen Strasse allein“, sagte er und fuhr einige Meter zurück. Als der Wagen endlich stillstand, fragte er: „Und was machen wir jetzt?“, wobei sein Gesicht mitsamt dem Chanelduft immer näherkam. Schnell legte Kathy seine Hand zurück auf sein Knie. „Vielen Dank fürs Nachhause bringen“, antwortete sie und verliess beinahe fluchtartig den Wagen.

Als Kathy am nächsten Morgen erwachte, griff sie automatisch zur linken Bettseite und bemerkte, dass sie leer war. Schnell schlug sie ihre Augen auf und erschrak, als sie die Helligkeit wahrnahm, die den Raum bereits durchströmte. Sie musste verschlafen haben. Sie hörte das gedämpfte Summen von Frank und ein verführerischer Kaffeeduft strich ihr um die Nase. Leise öffnete sich die Türe. „Na, du Schlafmütze, auch schon wach? Ist wohl spät geworden gestern. Ich muss los. Kaffee ist frisch gemacht. Heute Abend bei Giovanni? 19 Uhr? Freue mich.“ Mit dem letzten Satz gab er ihr, ohne eine Antwort abzuwarten, einen Kuss auf die Stirne. Schnell zog sie ihn zu sich herunter und küsste ihn leidenschaftlich. „Wofür war das jetzt“, fragte er leicht verdutzt. „Für den besten Ehemann der Welt“, antwortete sie. „Muss ich mir Sorgen machen?“, fragte Frank. Ihr Handy klingelte. „Musst du nicht, musst du nie“, flüsterte sie ihm zu, bevor sie ein überlautes „Hallo“ in ihr Telefon brüllte. „Noch höre ich ganz gut, Süss! Es gibt Arbeit. Bin in 10 Minuten bei dir.“ Kommissar Keller war kein Freund vieler Worte. „Gib mir 20“, antwortete sie kurz. „Wie du meinst, du bist der Chef“, gab er zurück. „Chefin, soviel Zeit muss sein“, erwiderte sie lachend und beendete das Gespräch ohne weiteren Kommentar. Wie oft hatte sie schon versucht, ihm auszureden, dass er sie nicht mit Chef anreden sollte. Keller, der in drei Jahren in Pension gehen würde, konnte nur schwer akzeptieren, dass man ihm vor zwei Jahren noch eine knapp 40-jährige Frau vor die Nase gesetzt hatte. Das hatte zur Folge, dass ihr Verhältnis anfangs ziemlich frostig war. Es hatte sich aber gebessert, als sie ihn im letzten Jahr zum Essen eingeladen hatte. Keller und Frank fanden sogleich einen Draht zueinander und sie verabredeten sich an diesem Abend zum Schach. Seither trafen sich die beiden jeden ersten Montag im Monat zum Spiel. Zudem, das musste sie sich neidlos eingestehen, war ihr Kollege wirklich ein äusserst erfahrener, empathischer und guter Kriminalist. Mittlerweile mochte sie ihn wirklich und sie hatte manchmal gar das Gefühl, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte.

Als sie 20 Minuten später frisch geduscht und kaffeegestärkt auf die Strasse trat, sass Keller bereits hinter dem Steuer eines Dienstwagens. Er hielt ihr ein frisches Croissant entgegen und startete das Auto. „Womit habe ich das denn…“ Seine abwehrende Bewegung unterbrach sie. „Na schön, was haben wir?“, fragte Kathy, indem sie genussvoll in das in das Gebäck biss. „Ein Toter, Allschwiler Wald, hinter dem Wasserturm.“ Als Keller mit dem Auto in den Wald einbog, bemerkte Kathy, dass sie auch zu Fuss weitergehen könnten, da hier eigentlich Fahrverbot sei und der Tote ihnen wohl kaum weglaufen würde. Keller bremste scharf, was einige Raben dazu veranlasste, laut schimpfend die Schlafstätte in ihrem Baum zu verlassen. „Du kannst ja zu Fuss weiter“, schnaubte er. „Mensch Keller, was ist denn mit dir los?“, fragte Kathy. „Die 120ste Leiche in meiner Karriere. Das, Süss, das ist mit mir los.“ Erstaunt schaute sie ihren Kollegen an. Zusammengefallen sass er hinter dem Steuer und schaute mit dumpfem Blick ins Leere. Sie kannte ihn nun schon seit einiger Zeit, aber so hatte sie ihn noch selten gesehen. Was wusste sie denn schon von dem alten Mann, mit dem sie doch täglich zusammenarbeitete? Ein Witwer, kinderlos, der gerne Schach spielte. Eine Mischung von Mitleid und schlechtem Gewissen beschlich sie. „Ich gehe die letzten Meter zu Fuss. Du fährst hier wieder raus und wartest in dem Restaurant am Anfang des Waldes auf mich.“ Als er etwas erwidern wollte, fuhr Kathy gleich weiter: „Das ist eine dienstliche Anordnung!“ Entschlossen stieg sie aus. Sie musste nicht lange gehen, als sie auch schon von weitem die weissen Gestalten der Kriminaltechnischen Untersuchung sah. Samir, der seit einem halben Jahr Praktikant in ihrer Abteilung war, kam ihr schnellen Schrittes entgegen. „Wo ist Keller?“, fragte er erstaunt. Sie ging erst gar nicht auf die Frage ein. „Was wissen wir?“ „Also, ich bin auch noch nicht lange hier und habe mich erst mal um die alte Dame gekümmert, die das Opfer gefunden hat. Ein neuer Gerichtsmediziner ist bereits bei der Leiche.“ Als sich die Gestalt, die sich über den Toten gebeugt hatte, umdrehte, blieb Kathy fast das Herz stehen. „Carsten“, rief sie, „was machst du denn hier.“ „Na, das Gleiche könnte ich dich fragen, meine Süsse.“ Die beiden letzten Worte führten dazu, dass sich Samir leicht hüstelnd umdrehte und wegging. Kathy konnte gerade noch ein Grinsen in seinem Gesicht ausmachen. „Ich weiss nicht, was daran lustig ist“, rief sie ihm hinterher. Dann wandte sie sich wieder an Carsten. „Ich bin Hauptkommissarin Kathy Süss!“, sagte sie um einen sachlichen Ton bemüht. Der Gerichtsmediziner starrte sie verdutzt an. „Sie können den Mund wieder schliessen, Herr Professor Schneider, ich habe auch nicht erwartet, Sie hier wieder anzutreffen“, sagte Kathy. „Sie haben sich gestern Abend von einem leicht alkoholisierten Mann nach Hause fahren lassen, Frau Kommissarin Süss. Lassen sie das mal nicht ihren Polizeikommandanten wissen“, antwortete Carsten mit einem ironischen Unterton. In Anbetracht der Leiche und dem Ernst der Lage, wollte Kathy nicht weiter darauf eingehen. „Was haben wir?“, fragte sie. Professionell und ohne weitere Anspielungen gab ihr Carsten einen ersten Überblick. Beim Toten handelte es sich um einen Mann mittleren Alters. Er trug einen hellen Jogginganzug, und lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. „Keine Personalien, kein Handy. Er hatte nichts bei sich. Ein starker Schlag auf den Hinterkopf war wohl die Todesursache. Vermutlich mit einem Ast. Ob absichtlich oder nicht, das herauszufinden, ist euer Job.“, sagte Carsten, „Todeszeitpunkt heute morgen zwischen sieben und acht.“ „Das weisst du jetzt schon so genau?“, fragte Kathy erstaunt. Er erklärte ihr, dass die Leichenstarre noch nicht angefangen habe, der Tod jedoch vor dem leichten Regenschauer kurz vor acht Uhr eingetreten sei. Er sah den fragenden Blick von Kathy. „Also, Frau Kommissarin“, begann er lächelnd, „die Leichenstarre beginnt nach etwa zwei Stunden.“ „Weiss ich“, fuhr Kathy etwas genervt dazwischen. Carsten blickte demonstrativ auf seine Uhr und fuhr unbeirrt weiter: „Es ist jetzt kurz vor neun. Der Tod kann also nicht vor sieben Uhr eingetreten sein. Der Boden unter der Leiche ist trocken im Gegensatz zur Umgebung. Das bedeutet, dass er vor acht Uhr hier zum Liegen kam.“ Auf Kathys fragenden Blick fuhr Carsten fort: „Dass es heute morgen kurz vor acht Uhr geregnet hat, hast du anscheinend nicht mitbekommen. Da hast du wohl noch geschlafen und süss geträumt“, fügte er augenzwinkernd hinzu. „Es reicht“, fuhr sie ihn an, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand in Hörweite war. Sie trat näher zur Leiche, die Carsten mittlerweile umgedreht hatte, um sie genau zu betrachten. „Ich habe den Mann schon irgendwo gesehen“, murmelte sie, indem sie ihr Handy zückte und ihn ablichtete. Sie konnte sich in diesem Moment jedoch nicht erinnern, wo es gewesen war. Gedankenvoll wandte sie sich ab und wollte zu Samir gehen, der sich mit einer älteren Dame unterhielt, die, wie Kathy vermutete, den grausamen Fund gemacht hatte. Carsten hielt sie zurück. „Da ist noch etwas: unter seiner Hand lag ein Stück von einem zerrissenen Notizzettel mit vier Ziffern. Möglicherweise waren auf dem Papier noch weitere Zahlen. Ob es ihm gehörte, kann ich nicht sagen. Es scheint jedoch noch nicht lange hier zu liegen. Vielleicht finden wir darauf noch Fingerabdrücke und das fehlende Stück.“ Er streckte Kathy das Corpus delicti entgegen. „Telefonnummer?“, fragte sie ihn. „Kann sein, oder Autonummer, Versicherungsnummer was weiss ich. Das herauszufinden gehört nicht in meinen Aufgabenbereich.“ Kathy zog sich Handschuhe an und nahm den Zettel an sich, nachdem sie ihn ebenfalls mit ihrem Handy fotografiert hatte. „Ich bringe das Ding gleich zu Karl“, sagte sie. Carsten schaute sie fragend an und Kathy zeigte auf die Gestalt, die sich auf dem Weg oberhalb der Leiche aufhielt. „Karl ist von der KTU, eine Koryphäe.“ Ohne weiteren Kommentar ging sie zu dem rundlichen Mann, der schwer atmend auf dem Boden kniete. „Na Karl, gibt es verwertbare Spuren?“ fragte sie ihn. „Guten Morgen Süss, erstmal, soviel Zeit muss sein. Den genauen Tatort haben wir noch nicht, scheint aber etwa hier zu sein. Es gibt Schleifspuren und mehrere Fussabdrücke. Es ist fast alles dabei Schuhgrösse 38, 40, 42 und 45.“ „Na so ein Glück aber auch“, antwortete Kathy sarkastisch, „dann können wir ja alle Menschen mit Schuhgrösse 39 ausschliessen. Das erleichtert unsere Arbeit ungemein.“ „Na sag mal Süss, was ist denn mit dir los, heute morgen?“ Ja, was war bloss mit ihr los. Das Gespräch mit Keller, die Begegnung mit Carsten und dann die Leiche. „Sorry“, sagte sie, „nicht mein Tag heute. Gibt es noch sonstige Spuren und Hinweise auf die Tatwaffe? Unser neuer Medizinmann vermutet einen Ast.“ Karl schüttelte den Kopf. „Mensch Süss, ich bin doch auch erst seit wenigen Minuten hier. Musst dich schon noch etwas gedulden.“ Mit einer entschuldigenden Mine übergab Kathy ihm den Zettel, den Carsten gefunden hatte, mit den Worten: „Sorry, Karl, war nicht so gemeint. Ich weiss doch, dass du deine Arbeit immer sehr gründlich machst. Das lag unter der Leiche, muss auf Fingerabdrücke untersucht werden. Schaut euch auch bitte noch um, ob ihr den restlichen Teil des Papiers finden könnt.“ Bevor Karl antworten konnte, ging Kathy weiter zu Samir und der älteren Dame, die immer noch zitternd auf einem Baumstumpf sass. Ihr Dackel begrüsste Kathy freudig. „Irgendwelche Infos?“, fragte sie Samir, was dieser verneinte. Sie beauftragte ihn, die Frau nach Hause zu begleiten. Etwas verwirrt drehte sie sich noch einmal zu Carsten um. Er war bereits wieder mit der Leiche beschäftigt. Sie überlegte, ob sie noch einmal zu ihm gehen sollte. In diesem Moment blickte er auf und winkte ihr zu. Zaghaft hob sie ihre Hand, drehte sich um und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg zu dem Restaurant, in dem Keller auf sie wartete. Er sass draussen in der Sonne und trank einen Kaffee. Um jegliche Peinlichkeiten zu vermeiden, begann sie sogleich, ihm zu berichten. Sie zeigte ihm das Foto mit den Zahlen 2285. „Sind anscheinend Endziffern. Könnte eine Telefonnummer sein. Samir soll das mal recherchieren“, sagte Keller nun wieder mit seiner ruhigen Stimme. Kathy bestellte sich einen Espresso und sie sassen eine ganze Weile schweigend nebeneinander. „Führst du Buch über deine Leichen, oder wieso weisst du so genau, dass dies dein 120ster Todesfall ist?“, unterbrach Kathy die Stille. Keller liess seinen Blick in die Ferne schweifen und fragte seine Kollegin: „Wieviele Opfer mit Todesfolge hattest du bis jetzt?“ „19!“ „Na also, du weisst es also auch.“ „Nun ja“, antwortete Kathy, „aber zwischen 19 und 120 ist doch ein kleiner Unterschied. Hört man denn nicht irgendwann auf zu zählen?“ „Nie, du hörst nie auf damit, glaub mir. Jeder Tote, jede Tote, die dazu kommt, ist eine Leiche mehr und eine zuviel. Und niemand verdient es, im Tod vergessen zu werden.“ Er schnäuzte sich die Nase in ein Stofftaschentuch. Kathy, die diese Dinger aus hygienischen Gründen längst aus ihrem Haushalt verbannt hatte, fragte sich in diesem Moment, wer es wohl gewaschen und gebügelt hatte. Gab es jemanden, der ihrem Kollegen im Haushalt zur Hand ging? Machte er alles selbst? Wie sah es wohl bei ihm zu Hause aus? Er wusste soviel mehr von ihr. Die monatlichen Schachspiele mit ihrem Mann fanden immer bei ihnen zu Hause am Küchentisch statt. Keller kam jeweils nach dem Abendessen. Er kannte ihre alte, verwaschene Jogginghose, wenn sie mit einem Buch unter der Nase an den beiden Männern vorbeischlurfte, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu nehmen. Er wusste, dass sie keine Hausschuhe trug, dass ihre Socken beim grossen Zeh oft sehr dünn waren. Natürlich hatte er schon ihr Badezimmer benutzt, kannte ihre Duschcreme, ihre Haarbürste. Wahrscheinlich hatte er auch ihre Lieblingstasse entdeckt, die einen Riss hatte und innen vom Tee eine leichte Verfärbung zeigte. Nach dem Schachspiel tranken die beiden Männer noch ein Glas Rotwein, redeten über Literatur und philosophierten über das Leben. Zum Abschluss verzogen sie sich noch auf den Balkon und sie konnte den erdig, holzigen Duft eines Joints riechen. „Nun lass den alten Männern doch mal ihre kleinen Freuden“, hatte Frank nur kommentiert, als sie ihn einmal darauf angesprochen hatte. „So, jetzt ist aber gut“, unterbrach Keller ihren Gedankenfluss, „du musst mich nicht mehr schonen, alles ok. Und nun gib schon her.“ Sie wusste sofort, was er meinte, und zeigte ihm das Foto mit dem Toten. „Dio mio“, entfuhr es ihm, „von Hartmann, das ist Klaus von Hartmann Eigentümer der Import-/Exportfirma Frimann.“ Im gleichen Augenblick wusste Kathy, wo sie diesen Mann schon einmal gesehen hatte…

Juni 2020 (ein Monat zuvor)

Kathy kam von einem Kontrolltermin beim Zahnarzt. Die Frühlingssonne blendete sie kurz, als sie von der Praxis auf die Strasse trat, und zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Ihr nächster Termin, die Vernehmung eines Heiratsschwindlers, war in einer guten Stunde. Sie hatte nun zwei Möglichkeiten. Entweder nahm sie den Bus ins Kommissariat und konnte zuvor noch irgendwo einen Tee trinken, oder sie ging den Weg zu Fuss. Sie entschied sich für ersteres, als sie von weitem ein nettes, kleines Cafe erblickte. Sie setzte sich an einen der beiden Tische, die draussen in der Sonne standen. Am Nebentisch sassen zwei junge Frauen mit einem Baby, das selig schlafend im Kinderwagen lag, und unterhielten sich lautstark. Die eine beklagte sich über ihren Partner, der seit der Geburt des Kleinen kaum mehr zu Hause und nur noch in der Kneipe oder bei Fussballspielen anzutreffen sei. „Du kannst dir das doch nicht gefallen lassen. Du musst auch wieder mal raus“, sagte die andere, „am Samstag steigt eine Party in der Kuppel. Dein Mann kann den Kleinen auch mal hüten.“ „Ich will ihn mit dem Kind nicht allein lassen. Er flippt immer aus, wenn Felix mal schreit. Stell dir vor, er hat ihn sogar schon mal…“ Das letzte Wort flüsterte sie ihrer Freundin zu, sodass es Kathy nicht verstehen konnte. Die junge Frau setzte ihre Sonnenbrille ab und wandte sich zu ihrer Freundin, die sogleich kurz aufschrie. Kathy sah über dem rechten Auge eine eindeutige Verfärbung und konnte sich vorstellen, woher sie stammte. Nein, sagte sie sich, lass es, du kannst nicht immer die ganze Welt retten. Sie blickte auf den friedlich schlafenden Jungen im Kinderwagen, stand automatisch auf und ging zu den beiden Frauen. „Entschuldigen Sie“, begann sie zaghaft, „haben Sie zu Hause Schwierigkeiten? Kann ich Ihnen helfen?“ „Geht’s noch“, antwortete die einseitig Blauäugige, währenddem sie sich schnell die Sonnenbrille wieder aufsetzte, „natürlich nicht, was erlauben Sie sich überhaupt, sich einzumischen. Unglaublich so etwas.“ Schnell ging Kathy zurück zu ihrem Tisch, nahm den letzten Schluck von ihrem Tee und bezahlte. Sie erhob sich, zückte eine Visitenkarte und legte sie bei den Frauen auf den Tisch. „Ich habe es nur gut gemeint“, sagte sie, „wenn Sie mal Hilfe brauchen, melden Sie sich.“ Demonstrativ nahm die junge Mutter die Karte und zerriss sie. Im Weggehen hörte Kathy, wie sie noch sagte: „Was für eine bitch, ey.“ Sie drehte sich noch einmal um. Die Betroffene hielt ihr den Mittelfinger entgegen, während ihre Freundin beruhigend auf sie einredete. Wortlos machte sich Kathy auf den Weg zur Busstation. Sie hätte sich den Tee doch sparen und lieber zu Fuss gehen sollen.

„Mensch, Süss, was ziehst du denn für ein Gesicht“, empfing sie Keller im Büro, „nicht so gut gelaufen beim Zahnarzt? Zuviel Süsses gegessen?“ Als er ihren Blick und ihre abweisende Handbewegung sah, fuhr er sachlich fort: „Dein Gigolo ist schon hier. Vernehmungsraum 2. Soll ich mitkommen?“ Sie schüttelte den Kopf, nahm die Akte, die sie am Abend zuvor bereitgelegt hatte und ging in besagtes Zimmer. Ein adretter Mann mittleren Alters, gutaussehend und ebenso gekleidet, Solarium gebräunt erhob sich sofort und streckte ihr seine Hand entgegen. Sie gab ihm die ihre, die er sogleich zu seinem Mund führte und küsste mit den Worten: „Nun erzählen Sie mir nicht, dass Sie Polizistin sind. Eine so unglaublich schöne, junge Frau.“ Seine Stimme hatte ein warmes, dunkles Timbre und er lächelte charmant. Kathy konnte sich gut vorstellen, dass er bei einigen Damen damit punkten konnte. „Kommissarin Süss“, sagte sie, was er mit „Der Name passt wunderbar zu ihnen, gnädige Frau“ kommentierte. „Ich weiss“, erwiderte sie zuckersüss, um sogleich in gestrengem Ton fortzufahren, „Sie können sich das Getue bei mir sparen. Sie haben ja keine Vorstellung, wer schon alles auf diesem Stuhl sass und versuchte sich bei mir einzuschleimen. Zudem setzt man den Kuss nicht direkt auf die Hand.“ Damit wischte sie ihren Handrücken mit einem gespielt angewiderten Ausdruck ab. Das charmante Lächeln wich aus dem Gesicht ihres Gegenübers. Kathy begann mit der Befragung. Er hatte innerhalb der letzten sechs Monate drei Frauen um je 20000-40000 Franken erleichtert und ihnen die Ehe versprochen. Eine der Frauen liess immer grosszügig Champagner fliessen. Als er sie dabei des Öfteren mit falschem Vornamen ansprach, wurde sie misstrauisch und engagierte einen Privatdetektiv. So fand sie ihre beiden Leidensgenossinnen und zu dritt erstatteten die Damen Anzeige. Er gab alles zu, wies jedoch jegliche Schuld von sich mit den Worten: „Was kann ich denn dafür, wenn diese alten Weiber so blöd sind. Die hatten doch ihren Spass. Für mich war das alles harte Arbeit.“ Kathy entliess ihn mit der Information, dass sie alles an die Staatsanwaltschaft weiterleiten würde und er sich zu ihrer Verfügung halten müsste. Zurück in ihrem Büro fand sie eine Nachricht auf ihrem Handy: „Mädelsabend heute? Ausnahmsweise bei mir zu Hause. Baccioni, Lisa.“ Kathy vergewisserte sich erst, dass Frank nichts für den Abend geplant hatte. Dann schrieb sie zurück: „Wunderbar, genau das brauche ich heute. Und bitte keine Jungs dazu.“ „Keine Angst“, war die Antwort, „nur Grete wird noch kommen.“ Als sie aufblickte, sah sie, wie Keller sie strafend anstarrte. „Dass ihr jungen Leute immer mit diesem Ding beschäftigt seid“, sagte er. Sie lächelte ihn charmant an. „Ach Keller, dass du mich als jung bezeichnest, rettet mir gerade den Tag.“

Lisa wohnte in der Altstadt direkt über ihrer Galerie. Schon von weitem hörte Kathy die Musik, die eindeutig aus ihrem Haus kam. Als Kathy die Wohnung betrat, kam ihr Lisa schon mit einem Glas Champagner entgegen und platzierte sie auf ihrem pinkfarbenen Sofa. „Du musst mir helfen“, war ihre Begrüssung. Gretes Sohn wollte sich am kommenden Wochenende verloben. Die Feier fand ihm Haus seiner künftigen Schwiegereltern statt. „Eine piekfeine Familie. Die von Hartmanns, Besitzer der Import-/Exportfirma Friman. Naja, du kennst doch die Klamotten von Grete“, kommentierte Lisa, „schwarze Hose, schwarze Jeans, schwarze Bluse, schwarzes T-Shirt, schwarzer Rolli und das höchste der Gefühle: grauer Rolli mit schwarzer Lederjacke. Sie hat ja in etwa meine Grösse. Ich werde ihr was ausleihen und du sollst mir bei der Entscheidung helfen. Aber nimm erst mal einen kräftigen Schluck.“ Dann rief sie mit lauter Stimme: „Grete, Kleid Nummer eins…und bitte.“ Als Grete in der Türe erschien, musste Kathy so lachen, dass bei einem folgenden Hustenanfall der Champagner beinahe den Weg aus ihrem Körper gefunden hätte, wäre da nicht der kräftige Schlag gewesen, den Lisa auf ihren Rücken sausen liess. Das bodenlange Paillettenkleid hatte einen tiefen Ausschnitt, den Grete mit der rechten Hand etwas verschämt zusammenhielt. „Nicht dein Ernst“, sagte Süss immer noch glucksend vor Lachen, „diesen Fummel kannst du vielleicht mal deinem Freund Claude für das nächste Dragqueen Treffen ausleihen.“ Lisa schien nun doch etwas beleidigt zu sein. „Na hör mal“, sagte sie, „das Prachtstück hat ein Vermögen gekostet. Ich habe dieses Kleid bei der Berlinale vor fünf Jahren getragen und war, um es bescheiden auszudrücken, damit recht erfolgreich.“ „Bitte entschuldige“, sagte nun Kathy versöhnlich, „das war nicht so gemeint. Ich glaube sehr wohl, dass du damit an der Berlinale tausend Blicke auf dich gezogen hast, denn das Kleid passt zu diesem Anlass und es passt zu dir. Aber Grete auf einer Verlobungsfeier ihres Sohnes in den besten Kreisen. Entschuldige, nein.“ Da musste auch Lisa lachen und Grete konnte man eine grosse Erleichterung ansehen. Beim Kleid Nummer vier rief Kathy spontan: „Wow, Grete, wie schön du bist. Das ist dein Kleid.“ Ein schlichtes, rotes Outfit, das ihre Figur bestens zur Geltung brachte, umspielte Gretes Körper. Lisa gab neidlos zu, dass Kathy recht hatte. Sie war froh, ihre Freundin bei dieser Entscheidung dabeigehabt zu haben. Bei der zweiten Flasche Prosecco liessen die drei Frauen den Abend ausklingen.

Als es am darauffolgenden Samstag punkt vier Uhr bei Grete klingelte, warf sie noch einen kurzen, prüfenden Blick in den Spiegel, bevor sie die Wohnung verliess. Sie hatte ihre Haare hochgesteckt und ein leichtes, natürliches Make-up aufgetragen. Sie musste sich selbst eingestehen, dass sie gar nicht mal so schlecht aussah. Das Kleid, das Kathy und Lisa für sie ausgesucht hatten, stand ihr wirklich gut. Trotzdem überkam sie eine Unsicherheit bei dem Gedanken an die bevorstehende Feier im Kreise dieser reichen Leute. Sie öffnete die Haustüre und sah ihren Sohn Tom, der neben seinem Auto eine Zigarette rauchte. Bei dem Anblick seiner Mutter pfiff er durch die Zähne. „Mensch Mama, du siehst ja scharf aus.“ Sie küsste ihn auf die Wange: „Danke, mein Schatz, aber das hilft mir im Moment auch nicht. Ich bin schon sehr aufgeregt. Ich passe doch nicht in diese feine Gesellschaft.“ „Nun hör aber auf, Mama“, erwiderte ihr Sohn, „du hast die Hartmanns doch schon einmal kennengelernt. Sie sind wirklich nett und Julia magst du doch auch.“ Er hatte recht, Julia mochte sie. Sie war eine herzliche und unkomplizierte Frau. Seit die beiden jungen Leute vor einem halben Jahr zusammengezogen waren, kam Tom jeden Sonntagabend zum Abendessen und Julia begleitete ihn jedes zweite Mal. Bei ihren Eltern war Grete erst einmal zu Besuch gewesen. Die feudale Villa der Familie von Hartmann in der Vorortsgemeinde hatte sie beinahe erschlagen. Julias Mutter war ihr gegenüber sehr freundlich, beinahe schüchtern gewesen. Ihr Vater war ein redegewandter, charmanter Mann. Trotz aller