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Claudia, die Protagonistin des Romans, ist Schauspielerin und alleinerziehende Mutter der 15-jährigen Lena, einer jugendlichen Klimaaktivistin. Den Kindesvater sieht sie nach 16 Jahren wieder und trotz einer heissen Liebesnacht kommt es zu keinen weiteren Begegnungen. Claudia unterrichtet an einer Schauspielschule und leitet Theaterkurse an Schulen und in einem Frauengefängnis. Dort lernt sie die spröde Rita kennen, eine Mörderin und Goethe -Expertin, oder auch die junge, drogenabhängige Lady, die ihre Emotionen nur schwer kontrollieren kann. Mit Geduld und Empathie kann sie zu den Frauen nach und nach eine Beziehung aufbauen. Eines Tages trifft sie ihre alten Schulfreundinnen wieder. Sie finden das alte Vertrauen und erzählen sich ihre Lebensgeschichten. Ein Roman über verschiedenste Frauen und ihre Lebensläufe, ins dem auch Männer ihren Platz finden.
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Seitenzahl: 335
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Der Termin im Tonstudio war in einer halben Stunde. Ich war wie immer viel zu früh. Sollte ich schon mal reingehen? Das erweckte womöglich den Anschein: die gute Frau ist aufgeregt und hat schon lange keinen Auftrag mehr gehabt. Obwohl das stimmte, sollte es keiner merken. Ein paar Häuser weiter sah ich eine Bar. Davor standen zwei kleine Tische. Grossartig, das versprach mir einen Kaffee und eine Zigarette. Oh Gott, hatte ich überhaupt welche dabei? Ein suchender Griff in meine überladene Handtasche zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich holte mir einen Espresso an der Theke und setzte mich draussen an einen der beiden Tische. Derjenige in der Sonne war bereits besetzt. Schade, aber man sollte sich im Hochsommer doch lieber in den Schatten setzen, dachte ich. Ich suchte nach einem Feuerzeug in der Unendlichkeit meiner Tasche. Ein schriller Schrei liess mich erstarren. „Claudi? Das gibt’s doch nicht. Claudia Schneider?“ Die Dame am Sonnentisch sprang hoch, und stürzte sich auf mich. Das Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor, aber… „Claudi, was verschlägt dich denn in diese Gegend. Mein Gott, wie lange ist das jetzt her? Mensch Claudi, Claudi von den Glorreichen Sieben, wie unser Mathelehrer immer sagte.“ Sibylle, schoss es mir durch den Kopf, das musste meine Schulfreundin Sibylle sein. „Puh“, erwiderte ich, „das müssen doch jetzt bestimmt 30 Jahre her sein. Hallo Sibylle, wie geht es Dir?“ Ihr Lachen klang hell und sympathisch. "Claudi, wie schön dich zu sehen.“ Ich mochte es nicht mehr, wenn man mich Claudi nannte. Schon lange nicht mehr. „Claudia“, sagte ich betont, „tut mir echt leid, dass ich dich nicht sofort erkannt habe, aber ich war gerade in Gedanken.“ „Kein Ding, das gibt’s doch nicht. Claudi, die Wilde, oder wie wir immer sagten: Claudi, der Raudi.“ „Nee, das gibt’s ja wirklich nicht, Bylle mit der Brille“, erwiderte ich leicht ironisch, was mir auch gleich wieder leidtat, denn wir waren mal beste Freundinnen. Sie schien meinen Unterton jedoch nicht zu bemerken und sprudelte drauf los. „Ach, meine Augen habe ich mir schon vor Jahren lasern lassen. Ich kann dir sagen, das ist eine super Sache. Nein, so ein Zufall, ich bin ja sonst nie in dieser Gegend. Ich habe nur meinen Mann zu einem Geschäftstermin begleitet. Das heisst eigentlich ist er nicht mein Mann, noch nicht. Aber wir sind verlobt.“ Damit hielt sie mir einen Diamantring unter die Augen, der mich durch die Spiegelung der Sonne kurz erblinden liess. „Tja, was soll ich sagen, ich dachte mir, in unserem Alter muss endlich mal ein Kerl her, der auch Geld hat.“ Ihr herzliches Lachen steckte mich an. In der Zwischenzeit hatte ich ein Feuerzeug gefunden und zündete mir eine Zigarette an. „Claudi, das darf doch nicht wahr sein, du rauchst immer noch? Weisst du noch unsere erste gemeinsame Zigarette? Hinter Meiers Garten? Ach, Mensch, waren das schöne Zeiten.“ „Ja, das waren sie wirklich“, sagte ich, während ich den Rauch tief in die Lunge zog. „Ich habe bei meiner ersten Schwangerschaft bereits aufgehört. Aber wenn ich es mir recht überlege, kann ich vielleicht doch eine haben? Nur so, der alten Zeiten wegen.“ Wie oft hatte ich schon vergeblich versucht mir dieses Laster abzugewöhnen. „Aber du wirst doch jetzt deswegen nicht anfangen, doch nicht der alten Zeiten wegen?“ „Doch genau, das will ich und dazu trinken wir ein Gläschen Champagner. Nun ja, ich weiss, das war damals kein Champagner, sondern der billigste Rotwein im Tetrapak aus dem Supermarkt. Ich erinnere mich noch ganz genau. Es war der 13. Juni, ein Tag vor meinem 16ten Geburtstag. Wir sind beide zuhause abgehauen und haben uns hinter Meiers Garten getroffen. Ich brachte den Wein mit und du die Zigaretten. Es war wunderbar.“ „Und gekotzt habe ich zuhause“, erwiderte ich leicht ironisch. „Ja glaubst du denn ich nicht? Meine Eltern haben es ja Gottseidank gar nicht bemerkt. Die hatten immer soooo viel zu tun. Sie dachten, ich hätte eine Magenverstimmung und haben mich krankgeschrieben. Ich durfte zwei Tage zuhause bleiben. Das ist der Vorteil einer wohlstandsverwahrlosten Kindheit“, sagte sie sarkastisch. Ich musste an meine Mutter denken. Nein, von Wohlstandsverwahrlosung konnte in meiner Kindheit nicht die Rede sein. Meine Mutter war alleinerziehend. Sie war streng, aber gerecht und liebevoll. Sie hatte mich damals sofort durchschaut. Strafe gab es keine, aber aufstehen musste ich am nächsten Tag trotzdem. „Wer saufen kann, der kann auch zur Schule“, sagte sie trocken und mitleidslos. Ich erinnerte mich nun wieder genau an den Tag. Es war der blanke Horror. Mir war hundeelend und der Vormittag schien kein Ende zu nehmen. Als meine Mutter am Abend von der Arbeit nach Hause kam, war ich bereits im Bett. Sie klopfte an meine Türe und stand mit einer Tasse Tee vor mir. „Na, heute viel gelernt?“, fragte sie mit einem leichten Unterton. „Überhaupt nichts“, murmelte ich. „Ich glaube schon. Vielleicht nichts für die Schule, aber etwas fürs Leben.“ Sie zwinkerte mir zu, strich mir über den Kopf, stellte die Teetasse neben mein Bett und liess mich schlafen. Wir haben nie mehr darüber gesprochen. Sibylle riss mich aus meinen Gedanken: „Und geredet haben wir nur über Jungs!“ Meine Erinnerungen kamen wie in Zeitlupe auf mich zu. „Ja, über den Klassenprimus Heiner, über den pickligen Hannes und über Roberto mit den schönen langen Haaren.“ „Ach ja, Roberto. Wir alle haben doch für ihn geschwärmt, aber keine von uns hat ihn interessiert. Glaub mir, der war schwul.“ „Glaub mir, das war er nicht“, sagte ich. Der erste Kuss, die ersten Fummeleien. Roberto war behutsam und leidenschaftlich zugleich. Sibylle, die mich erst ungläubig ansah, sprang plötzlich auf. „Nee“, rief sie, „Nee, sag, dass das nicht wahr ist! Du hast…mit Roberto...das glaub ich ja nicht. Und du hast mir nie etwas davon gesagt? Wir waren doch best friends. Mensch Claudi.“ „Eben, deshalb“, versuchte ich mich zu verteidigen, „die ganze Clique war doch scharf auf ihn und ich wollte keine Eifersüchteleien.“ „Aber ich war deine beste Freundin, ich hätte es dir doch gegönnt!“ Sibylle sah mich nicht an und ich hatte das Gefühl, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde. „Ach Bylle, es war doch ganz harmlos und dauerte gar nicht lange“, sagte ich versöhnlich. Musste ich mich nun tatsächlich nach all den Jahren für diese alte Geschichte noch rechtfertigen? Plötzlich prustete sie los und sang lachend „Claudi und Roberto, Claudi und Roberto.“ Ihr Lachen steckte mich an. Ich streckte ihr meine Zigaretten entgegen. Sie zündete sich sogleich eine an. „Der ist doch plötzlich von der Schule verschwunden und keiner wusste weshalb.“ Sibylle sah mich fragend an. „Na, komm schon, du weisst doch etwas.“ „Ich weiss auch nichts Genaues, aber da war irgendetwas mit der Geschichtslehrerin“, versuchte ich abzulenken. „What the fuck, mit unserem verklärten Fräulein Ostermeier? Fräulein Ostermeier mit dem Faltenrock? Das wird mir nun doch zuviel, her mit dem Champagner“, lachte sie. „Aus dem Champagner wird leider nichts, ich habe gleich einen Termin und sollte einen klaren Kopf haben.“ „Ach Mensch, Claudi, wie schade! Dann müssen wir aber unbedingt unsere Nummern tauschen!“ Während ich in meinem abgefuckten Kunstlederbeutel zwischen Taschentüchern, Portemonnaie, Lippenpomaden, leeren Schachteln von Zigaretten und Pfefferminzdragees, Bleistiften, Kugelschreibern und einem Deo nach meinem Handy kramte, zückte Sibylle ihre smarte Handtasche mit den beiden in sich verschlungenen C und hielt ihr Telefon mit einem Griff in Händen. Kopfschüttelnd lachte sie mich an: „Immer noch die gleiche Chaotin.“ „Du hast leicht reden mit deiner kleinen Doppel-C Tasche. Ist die auch echt?“, fragte ich. Ihr verdutztes Gesicht machte mir klar, dass mein Kommentar nicht gerade fair gewesen war. „Sorry“, sagte ich schnell, „das war der Neid der Besitzlosen. Die ist echt superschön.“ „Kein Ding, schön ist sie ja nicht wirklich, wenn wir mal ganz ehrlich sind, aber mein Verlobter hat sie mir geschenkt.“ Sie lächelte mich an. Das war meine Sibylle, die kein Blatt vor den Mund nahm, immer voller Energie und Lebensfreude. Plötzlich spürte ich die alte Vertrautheit und für einen kurzen Moment schien es mir, als wäre die Zeit in unserer Jugend stehengeblieben. Wir waren so verschieden, unser ganzes Umfeld hätte nicht konträrer sein können und trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, waren wir uns schon früher sehr nahe gewesen. „Haaallooo, Erde an Claudi! Deine Nummer!“ Während ich nun tatsächlich mein Smartphone im Schlund meiner Tasche gefunden hatte, gab ich ihr meine Telefonnummer preis. Ein Blick auf mein Handy liess mich erstarren. „Das darf doch nicht wahr sein, mein Termin“, rief ich, „ich bin schon zehn Minuten zu spät.“ Ich sprang auf. Handy und Zigaretten wanderten zurück in die Tasche. Ich drückte Sibylle einen Kuss auf die Wange und bereits davoneilend rief ich: „War schön, dich zu sehen, Bylle mit der Brille, ruf mich an.“ „Mach ich, Claudi du Raudi mit Roberto“, schrie sie mir lachend hinterher. Ich rannte über die Strasse, vorbei an den drei Häuserblocks. Vor dem Studio blieb ich kurz stehen, holte tief Luft und trat ein. Ich kannte die Räumlichkeiten aus früheren Zeiten. „Sorry“, rief ich in den Raum, „ich bin etwas zu spät. Ich komme fürs Autohaus Keller.“ Etwa zehn Augenpaare richteten sich auf mich. Alle steckten hinter einer Brille mit dicken, schwarzen Rändern und sassen vor einem Laptop. Entweder war das modern, oder sie hatten alle geschädigte Augen durch ihre ständigen Blicke in die Computer. Ein langhaariges Wesen erhob sich und kam mir schlurfend entgegen. „Kein Stress“, sagte die sonore Stimme, „das Aufnahmestudio ist noch besetzt. Du musst noch etwas warten. Du bist Claudia, nicht wahr?“ „Ja“ „Gut Claudi, nebenan stehen eine Kaffeemaschine und Mineralwasser. Bediene dich einfach. Wir rufen dich dann.“ Damit schlurfte er wieder zu seinem Computer. Hat der jetzt eben auch Claudi gesagt, fragte ich mich, stand das etwa auf meiner Stirne geschrieben? Mit einem „Alles klar, Danke.“ machte ich mich auf den Weg. In der hinteren Ecke des Warteraumes stand ein kleiner Tisch mit besagter Kaffeemaschine, Zucker, Kaffeerahm, Mineralwasser, Pappbechern und einer Schale mit Schokolade. Durch Espresso, Zigarette und Sibylle war ich schon ziemlich aufgekratzt und so entschloss ich mich für Mineralwasser. Beim Einschenken sinnierte ich nochmals über die Begegnung mit meiner Schulfreundin. Ihr munteres Geplapper war noch dasselbe wie vor 30 Jahren. Sie hatte sich wirklich kaum verändert. Was hatten wir doch alles zusammen erlebt. Sibylle war für jeden Streich zu haben. Das Gesicht unserer Englischlehrerin, Miss Stuart, als sie sich auf ihr Kissen setzte, das Bylle zuvor mit Wasser besprüht hatte, die Gummischlange auf dem Schreibtisch von Fräulein Ostermeier. Ich musste lachen und dabei goss ich etwas Wasser daneben. «Ist ja typisch! Scheisse!“, murmelte ich. „Nana, das habe ich nicht gehört.“ Eine Hand mit einer warmen Stimme hielt mir ein Papiertaschentuch entgegen. Da ich völlig in Gedanken gewesen war, hatte ich nicht bemerkt, dass jemand den Raum betreten hatte. „Oh, Entschuldigung, ich komme gerade von einer Begegnung mit der Vergangenheit.“ Was um Gotteswillen redete ich nur für einen Stuss. „Ich…äh...“ Jetzt bloss nicht noch mehr Unsinn rauslassen. „Danke!“ Ich nahm das angebotene Taschentuch, wischte das Wasser damit auf, nahm einen kräftigen Schluck und setzte mich in eine Ecke. Verlegenheitshalber zückte ich sofort mein Handy und tat so, als ob ich etwas ganz Wichtiges lesen würde. Nach etwa einer halben Minute blickte ich auf und schaute gedankenvoll in die Ferne, wobei ich aus den Augenwinkeln meinen Mitaufenthalter in diesem Raum, den grosszügigen Spender des Taschentuchs, beobachten wollte. Er schaute kurz auf und vertiefte sich sogleich wieder in seinen Laptop. Was ich da sah, gefiel mir nicht schlecht. Ein äusserst attraktiver Mann vielleicht etwas zu geschniegelt. Er musste etwa in meinem Alter sein. Eindeutig ein Geschäftsmann, eindeutig ein erfolgreicher Geschäftsmann. Mein Gott und diese Schuhe. Ich hatte ein Faible für Schuhe, ich hatte ein Faible für das Handwerk der Schuhmacher. Schöne Schuhe konnte ich mir kaum leisten, aber wenn ich mir einmal etwas Luxus gönnte, dann waren es meistens Schuhe. Seine waren handgenäht, das sah ich sofort. Sie mussten ein Vermögen gekostet haben. Wobei mein Vermögen dafür wohl kaum reichen würde, seines jedoch mit Sicherheit. Als ich mich vom Anblick dieses Meisterwerkes lösen konnte, schaute ich wieder hoch und sah, dass nun sein Blick auf mir ruhte. Ich lachte etwas verlegen. „Schöne Schuhe“, sagte ich. „Freut mich, dass sie ihnen gefallen. Sie scheinen ein Auge dafür zu haben.“ Ich blickte nun direkt in die Seinen, die mich an einen kühlen Bergsee in der Frühlingssonne erinnerten. Hör sofort auf, ihm so in die Augen zu schauen, warnte mich eine innere Stimme. Ich erhörte sie sogleich und sagte zu seinen Schuhen: „Mein Grossvater mütterlicherseits war Schuhmacher und ich liebte es als Kind in seiner Werkstatt zu sitzen. Er erzählte mir immer die schönsten Geschichten.“ Er schaute auf meine Kunstledersneakers und ich sah für einen Augenblick die Enttäuschung in seinem Blick. „Tja“, sagte ich etwas verlegen lachend, „das hat man davon, wenn der Nachwucvegan ist!“ „Wie alt?“, fragte er. „Nun, etwa vier Jahre alt.“ „Sie wissen es nicht so genau? Wie viele haben Sie denn?“ „Oh nur zwei Paar!“ Was gingen ihn denn meine Schuhe an. „Zweimal Zwillinge? Das ist aber eine stolze Leistung!“ „Nein“, ich konnte mein Lachen kaum mehr zurückhalten, „Schuhe, ich habe zwei Paar Schuhe und eine Tochter!“ Er lachte schallend. „Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Keller, Roman Keller.“ „Claudia Schneider.“ „Ach“, sagte er, „dann sind sie die Sprecherin.“ Nun ging mir ein Lichtlein auf. „Und sie sind das Autohaus?“ Er lachte. „Kann man so sagen. Ich sass in meiner Kindheit auch bei meinem Grossvater in der Werkstatt“, erzählte er. „Es war eine Autowerkstatt. Mein Vater hat dann das Autohaus Keller daraus gemacht. Aber ich erinnere mich noch ganz genau an den Öl- und Motorenduft. Und mein Grossvater hat mir auch immer Geschichten erzählt von verwegenen Helden und wilden Indianerschlachten.“ „Nun, da war ich aber mit dem Duft von Leder und Grimms Märchen wohl besser dran,“ erwiderte ich. „Das ist ja wohl Geschmackssache. Ich denke…“ Bevor er weitersprechen konnte, tönte eine blecherne Stimme aus der Gegensprechanlage: „Roman, Claudia, Ihr könnt dann kommen.“ Im Studio sass Raffael. Ich kannte ihn bereits von früheren Aufnahmen. „Mensch Claudia, schön, dich wieder mal zu sehen. Das ist ja eine Ewigkeit her, seit du das letzte Mal hier warst. Hast dich aber kaum verändert.“ Küsschen links, Küsschen rechts. Gerne hätte ich ihm geantwortet, dass er mich problemlos öfter buchen könnte, aber bevor ich etwas sagen konnte, war er bereits beim Autohaus. „Und du musst wohl Roman sein?“ Kein Küsschen. „Ist es ok, wenn wir gleich anfangen? Ich bin etwas unter Zeitdruck.“ Mit diesen Worten drückte er mir den Werbetext in die Hand. „Du kannst gleich rüber in die Kabine und schon mal was ins Mikro sprechen, damit ich den Soundcheck machen kann.“ In der Kabine setzte ich mir die Kopfhörer auf. Durch ein Fenster sah ich Raffael am Mischpult und dahinter sass Roman auf dem abgefuckten Sofa und zwinkerte mir zu. „Mit dem neuen Elektroauto fahren wir gemeinsam in eine umweltbewusste Zukunft. Autohaus Keller.“ Durch das kleine Fenster sah ich, wie Raffael an irgendwelchen Knöpfen drehte und fing wieder von vorne an. „Mit dem neuen Elektro…“ Raffael schaltete sich zu mir in die Kabine. „Danke, Claudi, ich hab’s. Warte noch schnell.“ Die beiden Männer unterhielten sich, ich verstand aber kein Wort. Es dauerte circa zwei Minuten, bis sich Raffael wieder an mich wandte. „Also pass auf: erst kommen Waldgeräusche. Du zählst 21, 22, dann sprichst du drüber. Vor Autohaus Keller, das mit Musik unterlegt wird, machst du eine kleine Pause! Also nochmals 21, 22. Ok?“ „Ok“ sagte ich. „Und bitte!“ 21, 22 „Mit dem neuen Elektroauto fahren wir gemeinsam in eine umweltbewusste Zukunft“ – 21, 22 - „Autohaus Keller.“ „Das war doch schon richtig gut, wir machen gleich noch eine zweite. Und bitte.“ Nachdem ich den bescheuerten Satz freundlich, neutral ins Mikrofon gesprochen hatte, schaltete sich Raffael wieder zu mir. „Und jetzt mal mit einem Lächeln im Gesicht, jugendlich dynamisch und bitte!“ Diese immer gleich tönenden Radiospots gingen mir zwar mächtig auf den Keks, aber folgsam fügte ich mich der Anweisung. „Das war super,“ tönte es danach. Er schaltete mich wieder weg und ich sah, wie die beiden Männer sich lachend unterhielten. „Ok“ erklang Raffaels Stimme wieder in meinem Kopfhörer, „und zum Schluss noch einmal mit sexy Stimme.“ War ja klar! Was bitte war an einem Elektroauto sexy! Aber der Kunde ist ja schliesslich König, also befolgte ich die Anweisung brav. „Das wars auch schon, du kannst rauskommen.“ Gemeinsam hörten wir uns die verschiedenen Varianten an. „Wunderbar“, sagte Roman, „vor allem die letzte Aufnahme. Ich habe nicht gedacht, dass wir das in zehn Minuten haben. So schnell möchte ich mein Geld auch mal verdienen.“ Idiot, dachte ich, der hat ja keine Ahnung. „Tja, Claudi ist eben ein Profi!“ Raffael zwinkerte mir zu und sein Kompliment versöhnte mich gleich wieder. „Ich werde das Ganze jetzt gerade fertigschneiden. Wer will, kann noch bleiben, ansonsten: Tschüss und bis zum nächsten Mal.“ Das war typisch für Tontechniker, immer direkt, immer auf Zack. Ich ging zu Raffael, Küsschen links, Küsschen rechts und streckte Roman meine Hand entgegen, indem ich seine verdutzte Frage „Du willst wirklich schon gehen?“, mit einem bejahenden Kopfnicken beantwortete. „Vergiss nicht draussen das Formular für deine Gage auszufüllen“, rief mir Raffael noch nach. Wie könnte ich so etwas vergessen. Ich ging in den grossen Raum mit den zehn schwarz umrandeten Brillen, wartete etwa zwei Minuten, bevor ich ein kurzes „Entschuldigung!“ in den Raum schmetterte. Das langhaarige Elend erhob sich und kam mir mit einem Papier entgegen. „Spesen sind schon mit drauf“, sagte er, „einmal hier unterschreiben.“ Nachdem ich unterzeichnet hatte, merkte ich, dass jemand hinter mir stand. „Wenn du noch 20 Minuten wartest, könnten wir nebenan zusammen einen Kaffee trinken, Claudia mit der sexy Stimme.“ „Tut mir furchtbar leid, Roman mit den blauen Augen, aber meine Tochter wartet auf mich.“ Damit war wohl alles klar. Aber nicht für Herrn Keller. „Dann gib mir doch deine Telefonnummer, Claudi, dann können wir das mal nachholen.“ Etwas hilfesuchend drehte ich mich zu meinem langhaarigen Computerfreak. Der zuckte nur mit den Schultern und schlurfte davon. „Kein Bedarf, Romi“, antwortete ich keck, „Das ist in diesem soooo unglaublich gut bezahlten Job nicht drin.“ Damit schnappte ich meine Tasche und ging eiligen Schrittes nach draussen. Was für ein Schnösel, dachte ich, der glaubt wohl mit seinen blauen Augen, seinen Lederschühchen und dem dicken Portemonnaie sei alles möglich. Am nächsten Abend wollte ich mich gerade mit einem Glas Wein vor die Glotze legen, als mein Handy surrte. „Hallo Claudi, wie wäre es mit einem Aperitif morgen um 19 Uhr in der Casinobar? Würde mich freuen, Roman.“ Roman? Roman? Wer war denn gleich wieder Roman? Ach nee, schoss es mir durch den Kopf, Monsieur Blauauge mit den Lederschuhen, wie um alles in der Welt kam der zu meiner Nummer? Raffael, oder das langhaarige Elend musste sie ihm gegeben haben.
Ich: „Sorry, keine Zeit!“
Er: „Dann übermorgen!“
Ich: „Leider nein!“
Er: „Na komm schon, Claudi, das kann doch nicht sein!“
Ich: „Kann wohl sein. Du weisst ja, ich habe eine Tochter, die will gefüttert werden.“
Er: „Wie alt ist die nochmal?“
Ich: „15.“ Was ging den eigentlich das Alter meiner Tochter an, dachte ich, nachdem ich die SMS rausgelassen hatte.
Er: „Ach komm, Claudi, die kann doch auch mal alleine futtern.“ Ich: „Wann, wo und mit wem meine Tochter ihre Mahlzeiten einnimmt, das bestimmen immer noch ich und mein Kind. Zudem heisse ich Claudia und nicht Claudi!“ So, nun war hoffentlich Ruhe. Tatsächlich, das war es auch. Ich schaltete meinen Fernseher ein und schwankte kurz zwischen "Tatort" und "Wer wird Millionär". Die 500-Euro-Frage lautete: Wer schrieb das Buch "Der Zauberlehrling"? A: Schiller, B: Goethe, C: Heine, D: Brecht. „B!“, rief ich laut und nahm einen grossen Schluck aus meinem Glas. „Also, ich bin mir fast sicher, dass es Brecht nicht war“, antwortete der etwas rundliche Mann mit der Nickelbrille. Ich schaute auf mein Handy. Roman hatte nicht mehr geschrieben. Ich sah jedoch, dass er noch online war. Es überkam mich eine mir unerklärliche innerliche Unruhe. Ob ich mich nochmals melden sollte? Bestimmt nicht! Obwohl, warum eigentlich nicht? Erneuter Schluck Rotwein. „Somit gratuliere ich zu 4000 Euro.“ Der kleine Dicke war nach drei weiteren Fragen alle Joker los, schien aber hocherfreut über seinen Gewinn. Ich bereute, dass ich zu Roman so zickig gewesen war. Warum eigentlich. Er war doch ganz sympathisch, sah gut aus und schien ganz erfolgreich zu sein mit seinen Elektroautos. Genau, dachte ich nach einem erneuten Schluck, der hat nicht nur Erfolg, der ist auch umweltbewusst. „Bilden Sie einen Satz mit den Worten: reo pro dubio in“. „In dubio pro reo“, murmelte ich, währenddem ich mir ein zweites Glas Rotwein einschenkte. Die 38jährige, blonde Renate hatte es als einzige nach 14.7 Sekunden gewusst. Blick aufs Handy. Nichts. Ich fragte mich, ob man tatsächlich Latein können sollte, um in einer Unterhaltungsshow mitspielen zu können. Eine halbe Stunde später nach einem weiteren Glas Wein und immer wiederkehrenden Blicken auf mein Telefon, musste Renate mit 32000 Euro kapitulierend nach Hause gehen. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Na immerhin, dachte ich, was würde ich denn mit 32000 Euro machen? Zuerst eine kleine Reise mit meiner Tochter. Ein paar Tage ans Meer, oder in die Berge, in ein völlig überzahltes, glamouröses Luxushotel mit Spa und allem Drum und Dran. Massage vor dem Fünf-Uhr-Cocktail, Beautybehandlung nach dem Frühstück… Herrlich! Und dann ein Paar Schuhe. Handgenähte Schuhe aus feinstem Leder. Blick zum Telefon und genau in diesem Moment surrte es.
Er: „Ich wollte dich nicht bedrängen, hätte dich einfach gerne näher kennengelernt, ganz unverbindlich. Wenn du mal dazu Lust hast, melde dich. Würde mich freuen.“
Das durfte doch nicht wahr sein, nun war Mister Perfekt auch noch anständig. Ich fasste das Ganze mal gedanklich zusammen. Dieser Mann sah gut aus, hatte Geschmack, wenn man mal von bescheuerten Werbetexten absah, war freundlich, zuvorkommend und anständig. Wo war bloss der Haken? Wahrscheinlich verheiratet und zehn Kinder zuhause. Aber hallo! Ich war Single und er gefiel mir. Warum sollte ich nicht einmal mit ihm ganz unverbindlich… „Hallo, Mama!“ Die Stimme meiner Tochter Lena riss mich aus meinen Gedanken. Sie schmiss sich mit einem erschöpften Seufzer neben mich aufs Sofa. „Na, mein Schatz, wie war dein Tag?“ „Voll anstrengend. Bis eben Training, eine ganze Stunde nur Kondition, ich gehe unter die Dusche, bin voll müde.“ „Und Schule?“ rief ich ihr nach, als sie bereits aus dem Zimmer war. Mit dem Seufzer einer uralten Frau gelang es ihr, die zwei Schritte zurück in das Zimmer zu machen. „Alles supi. Mathe ne 3, Deutsch ne 1.“ „Gratuliere, wie die Mama,“ antwortete ich voller Stolz. Um Lenas schulische Leistungen musste ich mir keine Sorgen machen. Ihr Kopf in der Tür zeigte mir, dass noch irgendetwas anstand. „Ja?“ sagte ich fragend. „Am Samstag ist Geburtstagsparty bei Jenny. Sie wird 16. Wäre mit Übernachtung. Ok?“ Sofort kam mir die Begegnung mit Bylle in den Sinn, der Wein hinter Meiers Garten vor ihrem 16. Geburtstag und mein erster Rausch. Oh Gott, nun war es also so weit. Mein Mädchen überwand die Hürden ins Erwachsenenleben und ihre Mutter musste das alles mittragen oder besser mitertragen. Lena schien meine Gedanken zu erraten. „Keine Angst, Mama, keine Drogen, kein Alkohol und wenn, dann nur mit Kondom!“ rief sie mir lachend zu. Sie erblickte mein verdutztes Gesicht und ergänzte grinsend: „War ein Scherz, Mama, wir machen einen Mädchenabend mit Filmen, Chips und Cola, wie in alten Zeiten.“ Erleichtert lachte ich auf, während Lena endgültig im Badezimmer verschwand. Jenny war bereits in der Grundschule ihre Freundin gewesen. Aber war denn die Jugend heute wirklich so brav. Mädchenabend mit Film Chips und Cola! Wie in alten Zeiten?!?Wenn die wüssten, was ihnen entgeht, und was den Eltern damit erspart bleibt, dachte ich. Der Gong im Fernsehen ertönte: „Damit sind wir am Ende unserer Sendung. Jürgen Meister steht bei 8000 Euro. Wir sehen uns in einer Woche wieder. Gute Nacht.“ Als am nächsten Morgen der Wecker surrte, hatte ich schon eine Nachricht von Roman auf meinem Handy: „Wünsche dir einen schönen Tag, ClaudiA mit der sexy Stimme.“ Ausdauer hatte er ja, das musste man ihm lassen. Aber er sollte sich nun erst einmal gedulden. Eine alleinerziehende Mutter hat am Morgen nie Zeit. Aufstehen, Kind wecken, Frühstück machen. Zu meiner grossen Überraschung hörte ich aus der Küche bereits klappernde Geräusche. Eine angezogene, ausnahmsweise ordentlich gekämmte junge Frau rief mir zu: „Mama, ich hab schon mal Kaffee gemacht.“ Ich setzte mich an den Küchentisch und nahm dankend einen ersten Schluck, der mir wohlig warm die Kehle herunterlief. Mein Kopf brummte. Lena hielt eine halbvolle Rotweinflasche hoch. „Warst du das ganz alleine?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Also Samstag? Ist das jetzt gebongt?“ „Ja, gebongt“, sagte ich. Lena gab mir einen Kuss, was mich etwas stutzig machte. „Also…hm…weisst du, ich bin etwas knapp bei Kasse und ich sollte Jenny doch ein Geschenk bringen…könntest du vielleicht etwas beisteuern?“ Langsam wurde der Kaffee teuer. Ich ging zu meinem Geldbeutel, holte 20 Euro raus und streckte sie Lena unter die Nase. Mit einem „Du bist die Beste. Bis heute Abend“, verliess sie die Küche. Ich zückte mein Handy und tippte: „Samstag, 21 Uhr Casinobar. Gruss ClaudiA.“ Kaum hatte ich die Nachricht weggeschickt, bereute ich es auch schon. War ich denn von allen guten Geistern verlassen? Casinobar, das war die angesagteste Bar in unserer Stadt. Da konnte ich doch nicht mit meinen vier Jahre alten Veganlatschen auftauchen und dazu meine beste Hose, die in der linken Tasche bereits ein Loch hatte. Ich sollte vielleicht vor Samstag noch shoppen gehen. Nein, befahl ich mir, du bleibst so, wie du bist, du hast nichts zu verlieren, ausser deiner Selbstachtung. Soll der Schnösel mit seinen handgenähten Lederschuhen doch von mir denken, was er will. Ich will ja nichts von ihm. „Freue mich“, stand da auf meinem Display.
Die Zeit bis zum Samstag verging wie im Fluge. Lena ging bereits um 18 Uhr mit ihrem Geschenk, einer kleinen, geschmackvollen Silberkette, und einer Packung Chips, aus dem Haus. Blieben mir also noch drei Stunden, die ich gemütlich auf dem Sofa mit einem neuen Buch verbringen wollte. Nach etwa zehn Minuten stand ich vor meinem Kleiderschrank. Was also sollte ich anziehen? Hinter sieben schwarzen, zwei blauen und drei weissen T-Shirts fand ich eine zerknitterte weisse Bluse. Optimal! Dazu meine schwarze Hose mit dem Loch in der Tasche. Nachdem ich die Bluse einigermassen gebügelt hatte, das war nun nicht gerade meine Stärke, ging ich wieder zum Sofa und zu meinem Buch. Nach weiteren 20 Minuten fand ich mich vor dem Spiegel wieder. Sollte ich mich schminken? Und wie? Bloss kein Makeup! Etwas Mascara und ein zartroter Lippenstift. Das musste genügen. Die Haare band ich zu einem Pferdeschwanz zusammen. Auf dem Balkon rauchte ich noch eine Zigarette und schaute einer Katze zu, die durch die Hinterhöfe schlich. Ein Spatz flog ihr hinterher und beschimpfte sie lautstark. Sollte ich pünktlich in der Bar auftauchen? Oder etwas zu spät? Auf keinen Fall zu früh! Um 21:10 Uhr betrat ich die Casinobar. Sie war schon sehr gut besucht. Ich entdeckte Roman an der Bar. Er winkte mir zu. Vorbei an smarten Männern und aufgebrezelten, nach neuster Mode gekleideten Frauen erreichte ich mein Date und hievte mich auf einen Barhocker. „Wie schön, dass es doch noch geklappt hat,“ flüsterte er mir ins Ohr und Küsschen links, Küsschen rechts. „Was darf ich dir denn bestellen? Cocktail, Champagner?“ „Gerne einen Cocktail,“ antwortete ich. „Cosmopolitan, Mojito, Caipi, White Russian, Sex on the Beach? Oder Cocktail des Hauses?” „Genau in der Reihenfolge,“ erwiderte ich völlig ahnungslos. Und mit gespielter Lässigkeit fügte ich hinzu: „Wie ist denn der Cocktail des Hauses?“ „Sehr fruchtig und erfrischend“. Die Antwort kam vom Barkeeper, der im Gegensatz zu Roman meine Unsicherheit mit geübtem Auge anscheinend erkannt hatte. Er zwinkerte mir aufmunternd zu. „Genau das Richtige,“ gab ich augenzwinkernd zurück. „Und“, fragte ich die bergseeblauen Augen, „hast du dir den Werbespot schon angehört?“ Wir unterhielten uns eine ganze Weile über das Tonstudio, über Raffael, über Sinn, Zweck und Wirksamkeit von Werbung. Der Barkeeper, den Roman mit Gregor ansprach, stellte uns diskret die Getränke hin. „Wie schmeckt er?“, fragte Roman, nachdem wir miteinander angestossen hatten. „Himmlisch,“ erwiderte ich mit einem Blick zu Gregor, der meinen Kommentar in unserer Nähe abgewartet hatte. „Gregor, Sie sind ein Künstler“, ich wandte mich nun direkt an ihn. Mit einer leichten Verbeugung und einem „Danke, Madame“, widmete er sich neu ankommenden Gästen. Ich hatte das Gefühl, dass Komplimente für das Personal in dieser Bar nicht an der Tagesordnung waren. „Wie war deine Woche?“, fragte Roman und holte sich damit meine Aufmerksamkeit zurück. „Danke, ganz ok.“ „Was machst du eigentlich, wenn du deine sexy Stimme nicht gerade an Werbespots verschenkst?“ „Nun", antwortete ich, „hin und wieder spiele ich Theater. Ein geregeltes Einkommen verschafft mir aber zum einen ein Job als Lehrerin an einer Schauspielschule und zum andern gebe ich Theaterkurse an Schulen und führe Regie bei Schüleraufführungen. Zurzeit probe ich mit einer Abiturklasse "der ideale Gatte" von…“ Ein schrill ausgestossenes „Roman“ liess mich verstummen. Eine hochgewachsene Schönheit kam winkend auf uns zugestürmt. Das heisst, sie kam auf Roman zugestürmt und mit einem „Wie schön, dich wieder einmal zu sehen“, fiel sie ihm um den Hals. Aus der Nähe betrachtet hatte ihre Schönheit massiv abgenommen. Ich entdeckte ein dick überschminktes Gesicht, blond gefärbte Haare und die Grösse war auch nur den hochhackigen Schuhen geschuldet, die bestimmt handgenäht waren. „Schöne Schuhe“, murmelte ich. Sie schien mich nun tatsächlich wahrzunehmen. „Ja, nicht wahr“, sagte sie, während sie mich mit einem kritischen Blick von oben bis unten begutachtete. „Echte Louboutin!“ Sie hielt mir die rote Sohle des rechten Fusses entgegen. Das führte dazu, dass sie beinahe den Halt verlor und sich kichernd an Roman festhalten musste. Fasziniert schaute ich dabei in ihr Dekolleté. Obwohl sie das Gleichgewicht verloren hatte, waren ihre Brüste genau dort geblieben, wo sie auch schon vorher waren. Da wackelte nichts, aber auch gar nichts. Sie sah meinen erstaunten Blick und sagte ganz selbstverständlich: „4000 Euro pro Seite.“ „Ach, das ist übrigens Claudia und das ist Celine, eine alte Freundin“, versuchte Roman die darauffolgende Stille zu überbrücken. Ich streckte ihr meine Hand entgegen und brachte ein „Freut mich“ über die Lippen. Sie ignorierte mich völlig und schmiegte sich an Roman. Diesem schien die ganze Sache nun doch etwas peinlich zu sein. Er löste sich von ihr und sagte: „Claudia ist Schauspielerin.“ „Ach ja.“ Nun schien ich für sie doch interessanter zu werden. „Kennst du vielleicht John Kirk?“, fragte sie mich „ich habe ihn mal bei Freunden auf einer Party getroffen. Eine himmlische Party, auf einer Jacht in St.Tropez, ein himmlischer Mann und eine himmlische Nacht.“ „Nö“, erwiderte ich, „kenne ich nicht.“ „Was“, das blanke Entsetzen war ihr ins Gesicht geschrieben. „John hat sogar schon internationale Preise abgeholt. John ist ein Star! In welchen Filmen hast du denn mitgespielt?“ „Nun, Ich arbeite vor allem im Theater.“ Damit hatte sie das Interesse an meiner Person völlig verloren. Sie wandte sich wieder an Roman, und die beiden redeten über irgendeine Feier. John Kirk, überlegte ich, von dem hatte ich wirklich noch nie etwas gehört. „Ich finde Theater wundervoll“, flüsterte mir Gregor zu und stellte mir einen neuen Cocktail hin, „der geht aufs Haus!“ Dankbar nahm ich einen grossen Schluck. In der Zwischenzeit hatte sich ein älterer Herr zu uns gesellt. „Hallo, Max,“ begrüsste ihn Roman. „Tachchen, mein Lieber, tut mir leid, wenn ich euch störe, aber es warten schon alle auf dich.“ Der letzte Teil des Satzes war an die Blondgefärbte gerichtet. „Jaja, schon gut. Das Beste kommt ja bekanntlich immer zuletzt“, gab sie schnippisch zur Antwort. Sie drückte Roman einen Kuss mitten auf den Mund. „Ruf mich an“, flüsterte sie ihm noch zu. Wie nach einem Unwetter legte sich eine kurze Stille über uns. „Wirst du sie anrufen?“, fragte ich nach einigen Sekunden. „Ach was! Celine ist eine verrückte Nudel, das muss man alles nicht so ernst nehmen.“ „Und wer ist Max?“ „Ihr Mann.“ „Wohl eher ihr Geldbeutel“, gab ich zurück. Roman lachte laut auf und das Eis war gebrochen. Er bestellte mir einen weiteren Cocktail. „Max ist übrigens ein guter Kunde. In seiner Garage stehen mindestens fünf Autos, die er bei mir gekauft hat. Er wartet auch bereits auf das neue Elektroauto.“ „Wie ist denn die allgemeine Nachfrage nach diesen Dingern?“, fragte ich mit gespieltem Interesse, um die Unterhaltung irgendwie in Gang zu bringen. Es folgte ein etwa halbstündiger Vortrag über Autos. Geduldig und meinen dritten Cocktail zu Ende schlürfend liess ich Roman reden, während ich aus meinen Augenwinkeln die anderen Gäste der Bar beobachtete. Sie erinnerten mich an das Gedicht „Maskenball im Hochgebirge“ von Erich Kästner:
…Manche Frauen trugen nichts als Flitter, andere Frauen waren in Trikots
Ein Fabrikdirektor kam als Ritter
Und der Helm war ihm zwei Kopf zu gross..
Das Gebirge machte böse Mine ,
Das Gebirge wollte seine Ruh
Und mit einer mittleren Lawine
Deckte es die blöde Bande zu…
„Geschieht ihnen recht“, murmelte ich leicht beschwipst. „Wie bitte“, Roman riss mich aus meinen Gedanken. „Ich habe gefragt, was du für ein Auto fährst.“ „Oh, entschuldige, ich besitze kein Auto.“ „Aber“, fügte ich schnell hinzu, „ich habe ein Fahrrad, ja stell dir vor, sogar ein Elektrofahrrad.“ „Mensch, tut mir leid, ich habe dich wohl gelangweilt!“ „Nö, überhaupt nicht. Ich amüsiere mich prächtig.“ Und das stimmte mittlerweile sogar, wobei der Alkohol wohl auch dazu beitrug. „Weisst du, das hier ist ein wunderbarer Ort für Rollenstudium. Ich habe diesen Typ Frau schon öfter auf der Bühne gespielt, aber ich muss neidlos zugeben, dass die Originale weit besser sind…“ „Roman, hättest du vielleicht fünf Minuten für mich?“ Max hatte sich zu uns gestellt. „Oh“, sagte Roman, „das ist im Moment gerade nicht so günstig.“ Er sah mich unsicher an. „Kein Problem“, mischte ich mich ein, „ich gehe mal für eine Zigarettenpause raus.“ Runter vom Barhocker spürte ich den Alkohol nun auch in meinen Beinen. Derart harte Getränke war ich schon lange nicht mehr gewohnt. Nur nichts anmerken lassen, dachte ich und ging beherzten Schrittes in Richtung Balkon. Dabei spürte ich zahlreiche Blicke auf mir ruhen. Tja, Ladies, das ist jetzt eben die neuste Mode. Raus aus den 1000 Euro Kleidern, rein in die Secondhandklamotten, raus aus den Highheels, rein in die Sneakers, raus aus den Makeupschichten, rein in die Natürlichkeit! Die Aussicht vom Balkon war einzigartig. Es war wunderbar, wie der Alkohol meine Unsicherheit weggewischt hatte. Ich nahm einen kräftigen Zug von meiner Zigarette. „Verrätst du mir dein Geheimnis?“ ertönte eine Stimme in meinem Nacken. Ich drehte mich um und blickte in das frisch gebügelte Gesicht von Celine. „Wie bitte, was für ein Geheimnis?“ fragte ich. „Was will ein Mann wie Roman von Dir? Da stimmt doch etwas nicht.“ „Was soll denn daran nicht stimmen.“ „Naja…“ Ihr vernichtender Blick, der mich von oben bis unten abcheckte, sprach Bände. „Weisst du, er hat einfach die Schnauze voll von euch gelifteten, plastifizierten, zugekleisterten Frauen. Er liebt meine Natürlichkeit und soll ich dir etwas verraten: unser Sex ist einmalig, sowas kannst du dir überhaupt nicht vorstellen. Da würde bei dir wohl so einiges platzen!“ Ich packte meine Tasche und liess die verdutzte Celine stehen. Roman stand immer noch mit Max zusammen an der Bar. Ich winkte Gregor zu und verliess die Räumlichkeiten so schnell wie möglich. Draussen atmete ich erleichtert auf. Eines musste man Celine lassen, sie hatte recht, Roman und ich kamen aus zwei verschiedenen Welten. Wir passten nicht zusammen. Ich war mir nicht sicher, ob ich auf dem Nachhauseweg schwankte, fand mich und die ganze Welt jedoch sehr amüsant. Als ich mich zuhause hinlegen wollte, fing sich das ganze Zimmer an karusellartig zu drehen. Also setzte ich mich noch eine Stunde auf mein Sofa. Ich hatte wohl wirklich zu viel und zu schnell getrunken. Ich machte mir einen Tee und suchte im Netz nach John Kirk. Gab es ihn wirklich? Tatsächlich amerikanischer Schauspieler, informierte mich Onkel Google, erhielt 2007 für seinen einzige Film "die goldene Himbeere". Das war die Auszeichnung für den schlechtesten Schauspieler des Jahres. Bevor ich einschlief, dachte ich nochmals an meinen Abgang. Das war auch nicht gerade eine Meisterleistung gewesen. Eigentlich tat es mir auch schon leid. Roman war ja wirklich nett und sympathisch. „Sorry für mein überstürztes Verschwinden“, tippte ich schlaftrunken in mein Handy, „aber ich habe wohl zu schnell getrunken, mir war unwohl und du warst so in das Gespräch mit Max vertieft.“ „Alles gut“, schrieb Roman zurück, „vielleicht auf ein anderes Mal.“ „Ja, vielleicht!“ war meine Antwort. Und wir wussten wohl beide, dass es dieses andere Mal nie geben würde. Eine Woche später, ich war mit der 6. Klasse des HesseGymnasiums gerade mitten in einer Probe von Oscar Wilde’s „der ideale Gatte“, surrte mein Handy. Ein kurzer Blick auf mein Display zeigte eine mir unbekannte, namenlose Nummer an. Bestimmt wieder einer, der mir irgendetwas andrehen will, dachte ich. Das war an diesem Morgen bereits der vierte Anruf. Der Erste wollte mir ein Computerprogramm verkaufen. „Do you speak english?“, fragte er mich, währenddem ich genüsslich meinen Frühstückskaffee schlürfte. „Nein!“ erwiderte ich in gestochen scharfen Deutsch, was ihn allerdings nicht hinderte, auf Englisch weiterzusprechen. Ich unterbrach das Gespräch kommentarlos. Die zweite Anruferin wollte mir ein Präparat mit Omega-3-Fettsäuren aufschwatzen. Sie war überzeugt, dass ich zu wenig davon zu mir nahm, wie alle Leute in unseren Breitengraden. Omega-3, so versicherte sie mir, das vor allem im Fisch vorkommt, sei sehr wichtig, besonders in einem gewissen Alter. „Wenn sie verstehen, was ich meine“. Künstliches Lachen. Als sie nach meinem Speiseplan fragte, erwiderte leicht genervt: „Sie stören mich gerade bei meinem alltäglichen Lachsfrühstück.“ Ich beendete das Gespräch und nahm einen Bissen von dem vier Tage alten Brot, das ich zuvor in meinen Kaffee getaucht hatte. Frisch geduscht vor meinem Kleiderschrank stehend, kam der dritte Anruf. Eine dramatische Stimme schilderte mir die Situation in meinem Bett. „Milben, Tausende von Milben sind ihre Bettgenossen. Davon kann man sehr krank werden. Nicht jedoch, wenn sie unsere neu entwickelte Anti-Milben-Matratze kaufen.“ „Vielen Dank, aber es geht sie nichts an, wer sich in meinem Bett herumtreibt. Ich bin nicht interessiert.“ „Aber diese schrecklichen Tiere, die können…“ „Ich liebe Tiere,“ gab ich zur Antwort und legte auf. „Am liebsten spreche ich von nichts, denn es ist das Einzige…äh.“ Der 17jährige Leon, der den Lord Goring spielte, holte mich in die Realität zurück. „Äh…“ „Wovon ich wirklich etwas verstehe“, flüsterte ihm Ronja, unsere Souffleuse, zu. „...denn es ist das Einzige, wovon ich wirklich etwas verstehe“, wiederholte er etwas gelangweilt. „Und gleich nochmal, mit etwas mehr Engagement. Gehe ein paar Sätze zurück,“ mischte ich mich ein. Eine halbe Stunde später war die Probe zu Ende und die Kids stürmten aus der Aula.