Kaiserzeit 4.0 - Gerd Rufft - E-Book

Kaiserzeit 4.0 E-Book

Gerd Rufft

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Beschreibung

Die Bewegung der Kaisertreuen erpresst die Bundesregierung mit einer alten sowjetischen Atombombe und fordert sie zum Rücktritt auf, andernfalls wird diese Atombombe in sechs Tagen in der Mitte von Brüssel gezündet. Das Bundeskanzleramt beauftragt Dr. Leander van Lewen, Agent des Bundesamtes für Risikoprävention. Seine Mission: weder die Zündung der Bombe in Brüssel noch die Kapitulation der Bundesregierung sind akzeptabel.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Sonntag, der 14. August 2022: Tüwkow in Mecklenburg, eine der einsamsten Gegenden Deutschlands

Montag, der 08. August 2022, fünf Tage vorher: Es gab keine Kontaktgifte

Die Anwerbung des Unterbrunner Franz (erster Teil)

Die Anwerbung des Markus Kempft (erster Teil)

Die Anwerbung des Steffen ›Speedy‹ Peschke (erster Teil)

Dienstag, der 09. August 2022: Wir, Wilhelm III., von Gottes Gnaden Kaiser

Mittwoch, der 10. August 2022: Wir sprechen nicht als Gleichberechtigte

Die Anwerbung des Unterbrunner Franz (zweiter Teil)

Die Anwerbung des Markus Kempft (zweiter Teil)

Die Anwerbung des Steffen ›Speedy‹ Peschke (zweiter Teil)

Donnerstag, der 11. August 2022: Ich arbeite allein

Die Anwerbung des Unterbrunner Franz (letzter Teil)

Die Anwerbung des Markus Kempft (letzter Teil)

Die Anwerbung des Steffen ›Speedy‹ Peschke (letzter Teil)

Freitag, der 12. August 2022: Unser Problem ist soeben größer geworden

Samstag, der 13. August 2022: Er verschlief seinen Tod

Sonntag, der 14. August 2022: Sie fragen zu viel, Klugscheißer

Montag, der 15. August 2022: Schaffen Sie den kollabierten Zivilisten weg!

Impressum

Prolog

Am 5. Februar 1958 geht eine thermonukleare Mark-15 Bombe über der Insel Tybee des US-Bundesstaats Georgia verloren. Ein B47-Bomber fliegt eine Mission, deren Ziel der simulierte Angriff auf die Stadt Radford in Virginia ist. Während der Mission stößt die Maschine mit einem F-86 Jagdflugzeug zusammen, die B47 muss notlanden und wirft die Bombe ab, um Gewicht zu reduzieren. Die Bombe fällt in den Wassaw Sound neben der Insel Tybee und wird am 16. April offiziell als unauffindbar klassifiziert. Auch ein weiterer Bergungsversuch in 2004 ist erfolglos.

Eine thermonukleare B43-Bombe geht am 5. Dezember 1965 auf See zwischen den Philippinen und Japan verloren. Sie fällt zusammen mit der A4E Skyhawk und ihrem Piloten über den Rand des Flugzeugträgers USS Ticonderoga und liegt bis heute in einer Wassertiefe von 4.900 Meter.

Ein Kabinenbrand zwingt die Besatzung einer B52 am 22. Mai 1968 dazu, mit dem Schleudersitz abzuspringen und das Flugzeug mit einer thermonuklearen B28FI-Bombe an Bord nahe der Thule Air Base im Eis des grönländischen Wolstenholme Fjords abstürzen zu lassen.

Seit 1950 gab es mehr als 30 solcher ›Broken Arrows‹, so werden vom US-Militär Unfälle mit Nuklearwaffen oder deren Verluste genannt. Bis heute gingen sechs Nuklearwaffen verloren und konnten nicht geborgen werden.

Die UdSSR verfügte bis 1989 insgesamt über etwa 40.000 Nuklearwaffen, etwa die doppelte Anzahl wie die USA. Die USA haben seit über zwei Jahrhunderten ein stabiles politisches System mit einer zentralen Demokratie, die UdSSR ist in mehrere Autokratien zerfallen.

Sonntag, der 14. August 2022: Tüwkow in Mecklenburg, eine der einsamsten Gegenden Deutschlands

Auf der Dorfstraße stand ein Fremder. Er trug einen dunklen Anzug, hatte dunkle Haare und stand mitten auf der Straße. Der Mann blickte in die Richtung zurück, aus der er gerade gekommen war. In dieser Richtung gab es nichts, das nächste Dorf war sieben Kilometer entfernt, die Bundesstraße nach Rostock dreiundzwanzig Kilometer, die Autobahn nach Wismar oder Stettin mehr als vierzig Kilometer.

Tüwkow hatte weniger als einhundert Einwohner, jeder Fremde fiel auf. Noch dazu, wenn er zu Fuß ins Dorf kam.

Jetzt drehte der Mann sich um, sein weißes Hemd war mit getrocknetem Blut beschmiert, als hätte er sich blutige Hände an Brust und Bauch abgewischt. Sein Blick folgte der Dorfstraße, die wie ein Lineal durch den Ort führte.

Einige Sekunden bewegte sich nichts, kein Auto fuhr auf der Straße, kein Blatt wehte an den Linden, keine Gardine wehte hinter den Fenstern, keine Wolke flog am blauen Himmel, bis von rechts ein weißes Huhn mit langen Schritten aus einer Hofeinfahrt trat und an der Straße stehen blieb. Dann stakste es langsam über das Kopfsteinpflaster zur anderen Straßenseite.

Der Mann und das Huhn bewegten sich fast gleichzeitig. Seine Schritte waren steif und vorsichtig, als hätte er Blasen an den Füßen oder wäre unendlich müde. Das Huhn verschwand in einem Gebüsch, es duckte sich zwischen niedrigen Zweigen hindurch und war verschwunden. Der Mann ging an dieser Stelle vorbei, seine Ledersohlen waren laut auf dem Kopfsteinpflaster. Er schaffte es bis zu einer Stelle zwischen zwei Linden, an der im Schatten ein großer Findling lag. Es gab mehrere solcher Findlinge entlang der Dorfstraße von Tüwkow, er schaffte es bis zum sechsten davon, vom südlichen Ende des Dorfes aus gezählt. Auf diesen Findling setzte er sich, stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und ließ den Kopf hängen. Auch an seinen Händen war trockenes Blut, seine dunklen Haare wurden an den Schläfen grau. Er hatte die Augen geschlossen und atmete flach. Eine Gardine fiel zu, eine andere wurde ein wenig zur Seite geschoben. Nichts passierte. Das Huhn kam nicht zurück, es hatte sich in Sicherheit gebracht.

Dann kam von Süden der Polizeiwagen. Aus der Richtung, aus der vor zwei Minuten der Fremde gekommen war.

Der Polizeiwagen fuhr langsam. Es war heiß, alle Fenster des Wagens waren geöffnet. Vor dem Findling bremste der Wagen, die Reifen knirschten auf den Steinen. Der Fahrer lehnte sich etwas aus dem offenen Fenster, er kam dem Fremden so nahe, dass er ihn hätte berühren können.

»Alles ok bei Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?«

Der Mann im dunklen Anzug schüttelte den Kopf. »Nein. Alles gut.«

»Sie sind verletzt.« Das war eine Feststellung, keine Frage. Das Blut auf dem Hemd und an den Händen war nicht zu übersehen.

Der Mann schüttelte wieder den Kopf. »Nein. Ja. Das ist nicht schlimm.« Er räusperte sich, blickte auf und sah dem Polizisten ins Gesicht. »Das sieht schlimmer aus, als es ist.« Er lächelte wie ein Schüler, der sich bei den Vokabeln nicht sicher ist.

Das Gesicht des Polizisten war rund und gerötet, mit dicken Wangen und einem breiten Mund. Ein großes Doppelkinn saß zwischen dem breiten Mund und dem offenen Hemdkragen, in dem einsam ein zerdrückter Krawattenknoten hing. Das Hemd spannte sich über den Schultern und der Brust, der Rest war von der Autotür verdeckt. Der Polizist trug eine Sonnenbrille, die er jetzt auf die Stirn schob, als könne er dann besser sehen.

»Sie sind verletzt«, stellte er noch einmal fest.

Der Fremde schüttelte den Kopf. »Nein. Ja. Nicht so schlimm. Denke ich.« Er sah zu Boden. »Ich komme schon klar.«

»Müssen Sie wissen. Kann Ihnen gerne einen Rettungswagen rufen.«

»Nein.«

Die Sonnenbrille wanderte wieder auf die Nase.

»Kann ich Sie mitnehmen? Oder haben Sie hier ein Auto?«

»Nein. Bin liegen geblieben. Irgendwo da hinten.« Er zeigte mit der Hand vage in die Richtung, aus der er und der Polizeiwagen gekommen waren.

»Da habe ich nichts gesehen.«

»Im Waldstück.«

»Bei den alten Eichen?«

Der Mann zuckte mit den Schultern und es sah aus, als hätte er dabei Schmerzen. »Kann sein. Viele Bäume auf jeden Fall. Wohin fahren Sie denn?«

»Bin auf dem Weg zur Wache. Da können Sie sich frisch machen und ein Taxi rufen. Da ist auch eine Bushaltestelle. Und ein Verbandskasten.«

Der Fremde schüttelte ein letztes Mal den Kopf. »Zu Fuß komme ich hier nicht weiter, oder?«

Der Polizist lachte. »Sehen Sie sich um. 40 Häuser. Keine Kneipe, kein Laden, keine Schule. Kein Taxistand. Keine Bushaltestelle. Busse fahren hier nur durch, wenn keine Schulferien sind. Es gibt einen Rufbus, dafür müssen Sie die Nummer kennen oder die App haben. Und eine Stunde warten. Und Empfang gibt es hier keinen. Meistens auf jeden Fall. Ein weißer Fleck, Tüwkow und Umgebung.« Er drehte sich um, lehnte sich über den Beifahrersitz und öffnete die rechte Tür. »Steigen Sie ein.«

Der Fremde sah, dass der Mann hinter dem Lenkrad tatsächlich sehr dick war, das Uniformhemd spannte sich in drei breiten Streifen über den Bauch, der bis an das Lenkrad reichte. Auf der Brusttasche war ›Hoffke‹ zu lesen und auf den Schultern hatte er vier blaue Sterne. Ein Polizeihauptmeister.

Hoffke fuhr los, noch bevor sein Beifahrer sich vorschriftsmäßig angeschnallt hatte. Wieder knirschten Steinchen unter den Reifen, dann waren sie schon am Ende von Tüwkow und Asphalt löste das Kopfsteinpflaster ab. Der Fahrtwind durch die offenen Fenster brachte angenehme Kühle. Der Mann im dunklen Anzug lehnte sich zurück, schloss die Augen und atmete aus. »Wie lange brauchen Sie bis zur Wache?«

»Halbe Stunde. Ist ein großes Revier, hier auf dem Land. Laut Statistik eine der einsamsten Gegenden Ostdeutschlands. Deutschlands sowieso.« Der Polizist sah in den Rückspiegel, hinter ihnen und vor ihnen war die Straße frei. Über dem Asphalt hatte sich Hitze gestaut, die der Streifenwagen durchschnitt wie ein Eisbrecher. »Wir haben hier nicht oft Gäste. Erst recht keine Gäste mit Maßanzug. Das ist doch ein Maßanzug, oder?«

Der Fremde hob kurz die linke Hand. »Den habe ich schon länger. Aus besseren Zeiten. Kein großes Thema.«

»Wir machen noch einen kleinen Umweg. Wir müssen am Steinbruch vorbei.« PHM Hoffke blickte fragend nach rechts.

Der Mann neben ihm brummte nur und genoss den Fahrtwind.

»Da treiben sich immer wieder Jugendliche rum. Fahren mit den Mofas durch, Paint Ball und so einen Kram. Dabei ist das ganze Areal gesperrt.« Der Wagen nahm eine Linkskurve zu schnell, Dreck spritzte zur Seite. »Da gibt es noch eine Menge Sprengladungen aus der DDR-Zeit, die auf keinen Karten eingezeichnet sind. Ist damals alles verloren gegangen, als der Betrieb zusammenbrach.« Hoffke nahm eine schnelle Rechtskurve, sein Beifahrer wurde in den Sitz gedrückt. »Ab und zu geht eine davon hoch, wenn es sehr feucht ist oder bei langer Hitze.« Hoffke wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn. »Lebensgefährlich für die Kinder.«

»Das ist ok. Mit dem Umweg, meine ich. Ich habe Zeit.«

»Dauert nicht lange.«

Sie kamen an eine T-Kreuzung, der Asphalt führte nach rechts weiter, der Polizist bremste stark ab und lenkte den Wagen nach links auf den Schotterweg. Er musste nun langsamer fahren, die Schlaglöcher schaukelten den Wagen durch, auf dem Mittelstreifen wuchs hohes Unkraut, das von unten gegen den Wagen kratzte.

Der Fremde sah sich um. Rechts und links war nichts außer Feld und Acker und ab und zu einer kleinen Baumgruppe mit Hochsitz. Auch auf dem Bildschirm des Navis war um sie herum nur graue Fläche eingezeichnet, es gab nicht einmal den Weg, auf dem sie fuhren. Es war nicht erkennbar, dass hier in letzter Zeit jemand gefahren war, aber die Mofas der Jugendlichen hinterließen sicher wenig Spuren.

Nach etwa zehn Minuten erreichten sie die ersten überwucherten Abraumhalden, dazwischen war ein breites zweiflügeliges Tor, das mehr als doppelt so breit war wie der Weg, auf dem sie fuhren. Der rechte Torflügel stand offen. Am linken Flügel hingen eine rostige Eisenkette und ein faustgroßes rostiges Vorhängeschloss mit offenem Bügel.

»Dreck!« Der Polizist schlug auf das Lenkrad. »Da war wieder jemand drin.« Er fuhr langsam durch den rechten Türflügel, auf beiden Seiten hatte der Streifenwagen nur eine Handbreit Platz. »Tut mir leid, jetzt müssen wir genauer nachsehen. Sie glauben gar nicht, wie viele Schlösser mir hier geschreddert werden.«

Er fuhr langsam weiter, die Reifen rollten nur noch auf Dreck, Kieseln und Steinsplittern. Der Wagen folgte einer gerade noch erkennbaren Fahrspur in einem weiten Bogen nach rechts. Das Tor hinter ihnen war nicht mehr zu sehen.

Nach zweihundert Metern hielt Hoffke vor einem niedrigen Gebäude und stellte den Motor ab. Außer Steinen sah der Fremde nur magere Büsche und ein paar niedrige Birken.

»Dauert nicht lange. Wollen Sie mitkommen?«

»Ist das sicher hier?«

Der Beamte lachte. »Hier an der Halle gibt es bestimmt keine Sprengladungen. Bleiben Sie einfach nahe bei mir.«

»Und ich trete dahin, wo Sie auch hintreten.«

»So in etwa.«

Das Gebäude war ein Flachbau mit einer zweiflügeligen Schiebetür, die breit und hoch genug war, einen LKW durchzulassen. Ein Torflügel hing schief in den Angeln, er war aus der Führungsschiene gerutscht. Das Tor war mit blauer Farbe gestrichen, die in großen Flecken abgeplatzt war. Die Fensterscheiben in den Torflügeln waren aus Milchglas und mehrfach sternförmig gesplittert. Für den Fremden sah das aus wie staubige Eiskristalle. Oder wie Einschusslöcher.

Der Mann folgte dem Polizisten, der die rechte Hand auf die Waffe an seiner Hüfte gelegt hatte, vorsichtig durch das offene Tor in den Innenraum. Dort gab es Betonfußboden, der in der Nähe des Tores mit Flugsand bedeckt war, Schutt und große Steine, ein paar rostige Konservendosen, braune Splitter von Bierflaschen, zertretene F6- und Camel-Packungen. Hinter einem Holztisch mit vielen Brandflecken auf der Platte stand an der Wand in verblassten Buchstaben ›Rauchen verboten‹.

Den Raum schätzte er etwas kleiner als einen Tennisplatz, das hintere Drittel war mit einem Gitter abgeteilt. Fingerdicke Eisenstäbe waren in die Decke und den Boden eingelassen. Die Stäbe hatten einen Abstand, dass der Fremde seinen Oberschenkel hätte hindurchschieben können, aber nicht mehr. Horizontal waren vier weitere Eisenstangen daran fest geschweißt. In der Mitte dieses Gitters gab es eine Tür aus Metallstäben, daneben war ein Schild befestigt, das mit Paintball-Geschossen überdeckt war. Es war am rechten Rand abgebrochen, von ›Achtung Sprengstoff‹ fehlte das ›stoff‹. Links an der Wand sah der Fremde ein verblichenes Graffiti, ›Mein Arbeitsplatz – Mein Kampfplatz für den Frieden‹.

Die Gittertür stand weit offen, dahinter lagen alte Kisten und Kartons in dem vergitterten Raum, ein Stapel alten Holzes, eine zertretene Tür und zwei blaue Plastikfässer, ihre Deckel lagen daneben. Die Fenster der Halle waren ebenfalls vergittert, aber überall fehlten die Scheiben. An den Wänden konnte der Fremde Nester von Schwalben sehen und in einer Ecke hing etwas, das wie eine Gruppe Fledermäuse aussah. Er konnte nicht erkennen, ob sie tot waren oder nur schliefen. Es roch nach Vogelkot und Chemie.

Der Polizist machte eine Handbewegung. »Hier wurde der Sprengstoff für den Steinbruch aufbewahrt. Hier suchen die Vandalen immer zuerst.«

Sie gingen beide in den vergitterten Bereich. Der Polizist schob mit dem Fuß die Kartons von links nach rechts. »Können Sie mal da vorne nachsehen? Manche laden hier einfach nur ihren Müll ab.«

Der Fremde ging zu dem Haufen Sperrmüll, der in der hinteren rechten Ecke lag und suchte geflissentlich mit, um dem Polizisten einen Gefallen zu tun, auch wenn er nicht wusste, wonach er eigentlich suchen sollte. Alles hier sah aus wie Müll.

Hinter seinem Rücken schlug die Gittertür zu, der Polizist hatte ein Vorhängeschloss aus der Tasche gezogen, er ließ den Bügel um die Stäbe zuschnappen. Dann ging er hinaus, startete den Streifenwagen und fuhr weg. Er beeilte sich dabei nicht.

Der Fremde lächelte. Er war genau da, wo er sein wollte. Sein Handy zeigte zwei Balken Empfang, das sollte für Notfälle reichen. Er steckte es in die Tasche.

Montag, der 08. August 2022, fünf Tage vorher: Es gab keine Kontaktgifte

Niemand konnte sich später an den Boten erinnern, der das Schreiben abgeliefert hatte. Die Kameras für die Empfangshalle des Bundeskanzleramtes zeigten durch die Scheiben einen jungen Mann, der einem Beamten der Bundespolizei durch die Absperrung einen Umschlag vor die Füße geworfen hatte. Der junge Mann hatte Jeans an und einen dunkelblauen Hoodie mit der Kapuze über dem Kopf. An den Händen trug er Handschuhe, daraus folgerten sie später, dass er entweder keine Fingerabdrücke hinterlassen wollte oder Tattoos an den Händen hatte, die ihn hätten identifizieren können. Verwertbare Fußspuren gab es auch nicht, gleich danach war eine Gruppe von zwei Dutzend italienischer Touristen vorbeimarschiert. Gutes Timing. Dass er von Kameras beobachtet wurde, musste ihm klar gewesen sein. Den Kopf hatte er gesenkt, sein Gesicht war auf den Hochgeschwindigkeitsaufnahmen nicht einmal ein weißer Fleck.

Der Beamte wartete, bis der junge Mann sich wieder entfernt hatte.

»Noch so ein Spinner«, dachte er. Aber Vorschrift war Vorschrift. Mit einem kurzen Funkspruch sperrte er den Bereich zwischen Eingang und Straße ab und rief die Spezialisten.

Vor dem Tor sammelten sich erste Schaulustige.

Die Kollegen mit den schwarzen Koffern klärten innerhalb weniger Minuten, dass in dem Umschlag weder Drähte noch Pulver waren. Nur ein dünner Umschlag mit zwei Blatt Papier als Inhalt.

»Also echt ein Spinner«, fühlte sich der Beamte bestätigt und sah zu, wie der Umschlag von einem Mitarbeiter der Hauspost ins Gebäude getragen wurde, trotz der Entwarnung am ausgestreckten Arm. Auch dieser Mitarbeiter trug jetzt Handschuhe, die Prüfung auf Fingerabdrücke würde in der Postabteilung erfolgen. Dann wären die Indianer fertig mit ihrer Arbeit und das Papier würde an die Häuptlinge gehen.

Er drehte sich wieder zur Straße und nahm Haltung an.

Auf dem Brief im Bundeskanzleramt gab es keine Fingerabdrücke, weder auf den zwei Blättern, die er enthielt, noch auf dem Umschlag und auch nicht auf der Innenseite des Umschlags. Es gab auch keine Kontaktgifte auf den Oberflächen.

Der Brief landete auf einem Stapel zur Verteilung, zusammen mit fast zweihundert anderen, die an diesem Tag eingetroffen waren. Dort lag er bis zum Morgengrauen des 9. August.

Die Anwerbung des Unterbrunner Franz (erster Teil)

Der Unterbrunner Franz hatte zunächst einen der oberen Plätze im Verzeichnis erhalten und war danach immer weiter nach unten gerutscht.

Die einen sagten, die Nummer bei den Einträgen im Verzeichnis wäre eine Rangfolge, je kleiner die Nummer, desto wichtiger sei der Mann; die anderen sagten, die Nummer sei nur zur Unterscheidung da, das hätte nichts zu bedeuten. Meier hätte es erklären können, aber Meier schwieg dazu.

Jetzt stand Franz Unterbrunner auf jeden Fall in der unteren Hälfte des Verzeichnisses, aber das wusste er nicht. Er wusste weder, dass er überhaupt im Verzeichnis stand, noch wusste er, dass es dieses Verzeichnis überhaupt gab. Er wusste nur, dass der Mann im dunklen Sakko recht hatte und das war bisher sein einziger Kontakt.

Zu ihrem ersten Treffen im Schwarzen Ochsen in Klützing war der Unterbrunner Franz mit Wut im Bauch gefahren. Am Nachmittag hatte ihm die Rossmüller Rita gesagt, dass sie für ihre Tätigkeit im Betriebsrat jetzt freigestellt werden wolle, darauf hätte sie Anspruch, einen gesetzlichen Anspruch sogar. Die beiden anderen Mitglieder des Betriebsrates, auch Weibsbilder natürlich, hatten dabei auf die Tischplatte geblickt, aber sie hatten gegrinst, das hatte er genau sehen können. Jetzt wollen Sie also gar nicht mehr arbeiten, hatte er geantwortet, aber trotzdem von mir bezahlt werden. So gut hätte ich es auch gerne. Diese Sozialschnepfe Rossmüller ging ihm schon seit Monaten auf die Nerven, wegen der Arbeitsbedingungen in seinem Schlachtbetrieb, wegen der angeblich mangelhaften Hygiene und seiner Ankündigung, den Anteil der Fremdarbeiter am Personal noch weiter zu erhöhen. Die Leiharbeiter sprachen wenig, sie meckerten gar nicht und sie arbeiteten im Akkord für wenig Geld. Das hatten deutsche Arbeitskräfte wie diese Rossmüller und ihre Gewerkschaftstussen ja längst verlernt, die mit ihrer Betroffenheitsrhetorik den ganzen Betrieb durcheinander brachten. Ein Wort hatte das nächste gegeben, und schließlich waren sowohl die Rossmüller Rita mit ihren Kommunistenfreundinnen als auch er voller Wut aus dem Raum gestürmt.

Auf dem Weg zum Unternehmertreffen in Klützing war seine Wut nicht verraucht. In der Gastwirtschaft war es dann hoch hergegangen. Das Dutzend anwesender Unternehmer im Vereinsraum des Schwarzen Ochsen war sich in jedem Punkt einig gewesen. Die Tarifabschlüsse seien überall zu hoch, die Auftragslage sei überall zu schlecht, die Zahlungsmoral der Kunden sei wieder schlechter geworden und wer dann noch immer keine Zukunftsängste hatte, dem stieg der Betriebsrat aufs Dach.

Die Bedienung im grünen Dirndl brachte jede Viertelstunde ein neues Tablett Halbe in den Raum mit den Geweihen an der Wand und ab und zu auch ein Tablett Obstler, der ging heute aufs Haus. Auch der Ochsenwirt musste schauen, wie er seine Kunden bei Laune hielt. Aber es gab nur den Hausbrand, der nicht auf der Karte stehen durfte. Sie brauchten heute Abend fast zwei Stunden, um sich den Frust von der Seele zu reden und endlich und laut auf die immer beliebten Themen Fußball und Frauen zu kommen. Die Teller mit Schweinsbraten und Kraut waren leer und wurden weggeräumt, nur der Peter mit dem Autohandel hatte Knödel mit Pilzen gehabt, wegen der Galle, hatte er gesagt.

Der Unterbrunner Franz konnte gar nicht sagen, wann der Mann im dunklen Sakko aufgetaucht war. Irgendwann saß der Mann neben ihm, eine angetrunkene Halbe in der Hand und einen nachdenklichen Blick im Gesicht.

»Ihre Diskussion war ja sehr angeregt. Entschuldigen Sie, dass ich in den letzten Minuten mitgehört habe.«

Unterbrunner hob kurz sein Bierglas, zur Begrüßung und um zu signalisieren, dass er damit kein Problem hat. »Sind ja schwere Zeiten, da wirds schon mal laut.«

»Ich kann Ihnen da nur zustimmen. Vieles von dem, was ich von Ihnen und Ihren Kollegen gehört habe, spricht mir aus dem Herzen.« Der Mann im Sakko hob ebenfalls sein Glas, sie tranken sich zu. Um sie herum tobte das Gespräch der Anwesenden, sie mussten die Stimmen erheben, um sich zu hören.

Das Sakko des Mannes war sicher teuer gewesen. Der Unterbrunner Franz hatte nur einen guten Anzug, einen schwarzen. Den hatte er zur Beerdigung seiner Schwiegermutter gekauft. Da hatte er gut aussehen wollen, an diesem guten Tag. »Sie sind nicht von hier?« Er war sicher, diesen Mann weder im Ochsen noch in seinem eigenen Ort jemals gesehen zu haben.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Auf der Durchreise. Sozusagen.« Er trank noch einen Schluck. »Aber Sie haben recht mit dem, was Sie beklagen. Wie kommen Sie denn über die Runden?«

Unterbrunner lächelte. So schlimm war es nun auch nicht. Aber Klappern gehört zum Handwerk und die Klage ist das Morgengebet des Unternehmers. Und gerade in schlechten Zeiten musste man aufpassen, dass nicht alles noch schlechter wurde. Solche Schmarotzer wie die Rossmüller Rita und ihre Kommunisten waren vielleicht nur der Anfang vom Ende. »Man kann halt nichts ändern und muss sehen, wie man klarkommt. Jeder für sich.« Sein Glas war leer und er hob die Hand, weil die Ochsentochter im grünen Dirndl gerade mit dem neuen Tablett hereinkam. Schnell warf er einen fragenden Blick zu dem Mann neben ihn, der nickte sofort und trank den Rest aus seinem Glas.

Mit vollen Gläsern tranken sie sich wieder zu. Der Unterbrunner Franz hatte nicht gezählt, das wievielte Bier das heute Abend war. Aber man musste es auch mal gut sein lassen, die Stimmung war gut, er hatte sich wieder beruhigt, und in dieser Gesellschaft musste er nun wirklich nicht aufpassen, was er sagte. Was beim Ochsenwirt passiert, das bleibt beim Ochsenwirt, darauf hatten sie sich vor Jahren geeinigt, als sie begannen, sich regelmäßig in dieser Runde zu treffen. Was gesagt und was getan wurde, blieb in diesem Raum. Das konnte der Mann im Sakko natürlich nicht wissen, aber er schien es irgendwie zu ahnen. Auf jeden Fall hatte er gesehen, dass der Blick vom Unterbrunner Franz schon etwas schwammig geworden war.

Es müsste sich mal etwas ändern, sagte der Mann im Sakko nachdenklich und beobachtete die Reaktion von Unterbrunner aus dem Augenwinkel. Der nickte genauso nachdenklich. »Aber wo soll man da anfangen? Wenn Sie wüssten, womit ich mich alles rumschlagen muss.«

»Ich höre gerne zu«, sagte der Mann im Sakko. »Gehen Sie doch mal Ihre Liste durch. Was nervt denn gerade am meisten?« Er trank wieder einen Schluck, als ob er seine Frage hinter dem Bierglas verstecken wollte.

»Betriebsrat! Unverschämt und arbeitsscheu, sage ich nur!« Er fühlte sich besser, das einmal so klar auch einem Fremden gegenüber gesagt zu haben und trank zur Belohnung einen großen Schluck. Seine Halbe war schon wieder halb leer. Die Ochsentochter stellte ungefragt zwei Obstler neben ihre Gläser.

Der Mann im Sakko trank ihm zur Bestätigung zu. »Das war ein Riesenfehler damals, mit so einem Mist anzufangen. Ich habe noch keinen Unternehmer kennengelernt, der sich darüber gefreut hätte. Wenn Sie mich fragen«, er lehnte sich vertrauensvoll zum Unterbrunner Franz hinüber, »alles Sozialschmarotzer. Und arbeitsscheu sowieso, da haben Sie ganz recht.«

»Aber sie sind halt da. Was soll man machen?« Der Unterbrunner Franz ließ die Schultern sinken.

»Wollen Sie die Hoffnung ganz aufgeben? Das sieht doch einem gestandenen Unternehmer wie Ihnen nicht ähnlich. Man kann immer etwas ändern, sage ich.«

»Wie denn? Die haben Kündigungsschutz! Und keine von den Schnepfen hat bei mir Zugriff auf eine Kasse. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er blinzelte zu dem Mann im Sakko.

Der schüttelte mit dem Kopf. »So macht man das heute nicht mehr. Das kennen die Arbeitsgerichte längst, mit so etwas kommen Sie nicht mehr durch. Außerdem, wenn ich das so frank und frei sagen darf, wäre das ein Kurieren am Symptom. Das eigentliche Problem ist doch, dass die überhaupt da sind.«

Franz war der Alkohol in den Kopf gestiegen und sein Rücken sehnte sich nach seinem Bett. Aber diese Unterhaltung wollte er noch nicht beenden. »Und was heißt das? Wir können sie ja nicht an die Wand stellen.« Er musste aufstoßen.

Sein Nachbar im dunklen Sakko war noch wesentlich nüchterner. Er lehnte sich wieder zu ihm hinüber. »Das Problem ist doch, dass diese Schmarotzer auch noch Gesetze haben, auf die sie sich berufen können. Diese Gesetze müssen weg, sage ich, ersatzlos streichen. Wie soll sich ein Unternehmer entwickeln, wenn er bis zu den Knien in Gesetzen steht? Wie stellen die in Berlin sich das eigentlich vor?«

»Die stellen sich gar nichts vor! Die haben noch nie ein Unternehmen von innen gesehen. Haben Sie mal nachgeschaut, wer da eigentlich für uns im Bundestag sitzt? Gewerkschafter, Berufsschullehrer und Historiker. Wie sollen diese Freigeister verstehen, wie ein Unternehmen geführt wird?«

»Was machen Sie denn eigentlich genau?«

»Habe einen Schlachtbetrieb. 60 Mitarbeiter. Fleisch aus der Gegend, konventionell und Bio. Aber das reicht nicht. Muss immer mehr Ostware bei mir durchziehen, damit der Laden läuft.«

»Respekt! Und ihre Freunde hier?« Der Mann im Sakko machte eine Handbewegung.

Jetzt musste sich der Unterbrunner Franz zu ihm herüber lehnen, um sich über das Gelächter seiner Kollegen Gehör zu verschaffen. Nacheinander zeigte er mit dem Finger auf die anderen Männer am langen Tisch. »Busunternehmer. Autohändler. Zwei Landwirte. Sie sollten mal hören, was denen aus Brüssel alles zugemutet wird. Da kann einem schlecht werden.« Er trank einen Schluck. »Ein Tischlermeister, Familienbetrieb. Der Sohn macht Messebau, kurz vor der Pleite, wenn Sie mich fragen. Der im weißen Hemd ist ein Spezi von mir, Bäckermeister mit sieben Filialen. Den bringen gerade die Energiekosten um. Die Lohnkosten sowieso, auch die schlechtesten Gesellen wollen gut dafür bezahlt werden, dass sie früh aufstehen. Musste schon zwei Filialen dichtmachen, weil er einfach keinen mehr hatte, den er hinter den Tresen stellen konnte.« Er hatte die Runde mit dem Zeigefinger noch nicht beendet, setzte sie aber nicht fort, weil das Weitermachen zu schmerzhaft war.

Der Mann neben ihm nickte, als hätte Unterbrunner mit dieser Vorstellung der Anwesenden seine Meinung bestätigt. »Da geht es Ihnen wie vielen anderen. So etwas höre ich dauernd. Bin ja viel unterwegs. Ich sage, das sind die Gesetze. Am besten wäre, da käme jemand, und würde die aus der Welt schaffen. Mal auf die hören, die mit den Gesetzen auch leben müssen.«

»Und arbeiten.«

Sie tranken sich zu. Der Unterbrunner Franz konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann der Mann im Sakko gegangen war und wie sie sich verabschiedet hatten. Auf der Rückfahrt vom Ochsen in Klützing nach Obervillach hatte er die Feldwege genommen und die Scheinwerfer seines Mercedes nicht eingeschaltet. Zweimal hat er auf der kurzen Strecke zum Pinkeln anhalten müssen. Beim ersten Mal hatte er noch kichernd versucht, die Anfangsbuchstaben dieser Betriebsratsschnepfe in den Schnee zu pinkeln, das zweite Mal Pinkeln müssen und Aussteigen war nur noch lästig gewesen.

Die Anwerbung des Markus Kempft (erster Teil)

Markus Kempft stand im Verzeichnis mit der Markierung ›fraglich, aber relevant‹. Auch er kannte weder das Verzeichnis noch seine Position darin.

Seinen Austritt aus der letzten Partei hatte er laut im Netz gepostet. ›Ich trete jetzt dem Marktführer bei, der Partei der Nichtwähler!‹, mit vielen Smileys und Daumen-hoch. Für ihn gab es mit Anfang 30 keine Parteien mehr, das war für ihn vorbei, das machte alles keinen Sinn, das Geld konnte er sich sparen und die Parteidisziplin auch. Als Jugendlicher war er begeisterter Juso gewesen, dann Jungliberaler, dann in der Jungen Union. Schließlich war er bei den Grünen gelandet, das war schon mehr aus Protest und weniger aus Überzeugung gewesen. Jetzt war er mit denen auch fertig. Seiner Meinung nach hatte die SPD es hinter sich, die Grünen hatten es noch vor sich, die CDU stand sich im Weg und eine Partei, die dauernd an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, war ein Zeitfresser. Für Extremisten hatte er nichts übrig. Die Linken stellten immer neue Forderungen, weil sie sicher waren, ihre Forderungen weder umsetzen noch bezahlen zu müssen, die Rechten waren nur contra und bei jeder Diskussion leicht aus dem Ring zu werfen. Aus seiner Sicht gab es nirgendwo die richtigen Themen und die richtigen Leute dafür. Und wenn es in einem Wahlkampf mal nach einer klaren Linie einer Partei aussah, dann kamen Koalitionsverhandlungen und die Stichworte Realpolitik und Wählerauftrag und aus der klaren Linie wurde ein kurzes Gekritzel, das nach ein paar Monaten nicht mehr zu erkennen war. Er hatte für Atomkraft argumentiert und später dagegen, für mehr Zuwanderung und später für ein strengeres Asylrecht, gegen Waffenhandel und später für Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie. Nichts hatte sich für Markus richtig angefühlt und die Begeisterung seiner Parteigenossen, ganz egal in welchem Alter und in welcher Farbe, war nicht auf ihn übergesprungen. Parteien, das war nicht sein Ding. Schluss, aus, Ende.

Jetzt hatte ihn eine Frau angesprochen, eine junge Frau, online, mit einer Freundschaftsanfrage aus heiterem Himmel. Eine Studentin aus Tübingen, stand im Profil und weil sie ein ausgesprochen hübsches Profilbild hatte, kurze blonde Haare, ein freches Lachen und einen sehr unauffälligen Nasenring, hatte er ihre Anfrage angenommen. Ich arbeite im Internet nur mit Hightech, hatte er seine Arbeitskollegen angegrinst, sogar mit Gesichtserkennung. In Tübingen war keine Jenny mit diesem Nachnamen im Telefonbuch zu finden, auch keine Jennifer oder Gina, aber hey, sie war Studentin, da nimmt man das mit dem Anmelden nicht so ernst.

Jenny studierte Politik und Sport, sagte ihr Profil, das passte doch prima. Mädel, da gibt es viel, das ich dir zeigen kann, zwinker. Ich habe schon alles gesehen, für alles gekämpft und Ausdauer habe ich auch, zwinker zwinker.

Sein Post habe ihr imponiert, hatte die Jenny mit dem hübschen Bild geschrieben. Endlich mal jemand in seinem Alter, der sich für Politik interessiere und sich offen äußere. Das sei soo selten heutzutage und echt krass bewundernswert.

Zuerst hatte er sie für eine Verschwörungsmaus gehalten, hübsch und leichtgläubig, aber hey, sie war Studentin, also nicht doof. Und sie war hübsch. Und er war gerade solo, das hatte sie bestimmt in seinem Profil nachgesehen. Sein Profilfoto war veraltet, aber das wollte er nicht gerade jetzt updaten.

Was Politik anging, hatte die Kleine auf jeden Fall etwas auf dem Kasten, kannte sich aus mit der Geschichte der Parteien und ihren Programmen. Da konnte er mitreden, da hatten sie ein gemeinsames Thema. Was sie ihm beim ersten Chat alles so zuwarf, das war manchmal ein wenig durcheinander, sozialdemokratische Themen mischten sich mit Umweltschutz und beim Thema Wahlrecht und Familie warf sie mit christdemokratischen Buzzwords um sich. Versuchte sie, ihm etwas vorzumachen oder hatte sie den Stoff der letzten Vorlesungen noch nicht sortiert? Kurz hatte Markus gedacht, er würde mit einem Bot chatten, der ihn mit etwas Bla-Bla auf irgendwelche Sex-Seiten locken wollte oder nur an seiner Bankverbindung interessiert war. Aber das war es wohl nicht. Jenny schrieb immer in ganzen Sätzen und ohne Rechtschreibfehler, auf jeden Fall fiel ihm nichts dergleichen auf.

Markus Kempft hatte nicht studiert, er hatte seine Ausbildung gemacht, der Vater war Arbeiter, die Mutter kommunale Angestellte, er hatte keine Geschwister. Er wollte also nicht erst beurteilen, ob und wie Jenny mit ihren Studieninhalten klarkam. Jenny hatte eine Schwester, schrieb sie, die wäre aber gerade im Ausland.

Ja, sie würde ihm gerne auch ein paar Fotos von sich schicken, vom letzten Urlaub, zwinker zwinker. Wenn sie sich etwas näher kannten. Und vielleicht könnten sie sich ja mal treffen, wenn alles vorbei wäre. Was alles?, hatte er gefragt. Damit war der erste Chat vorbei gewesen. Er hatte den Laptop auf dem Couchtisch zugeklappt und den letzten Schluck Cola getrunken, der keine Kohlensäure mehr gehabt hatte.

Und Markus hatte zur Arbeit fahren müssen. Er war Schichtleiter in der größten Erdölraffinerie Südwestdeutschlands. Jeden Tag fuhren Tankwagen mit Kraftstoff für zwanzig Millionen Autobahnkilometer aus seiner Anlage.

Die Anwerbung des Steffen ›Speedy‹ Peschke (erster Teil)

Mit dem vierten Brief und der vierten Geldspende hatte Speedy begriffen, dass er gelinkt worden war und aus der Nummer nicht mehr herauskam. Bei den Mitgliedern seines Boxclubs hatte sich eine Erwartung aufgebaut und irgendjemand hatte durchsickern lassen, dass es eine kostenfreie Reise nach Berlin geben werde.

Aber der Reihe nach.

Der Anfang war ganz harmlos gewesen und sehr erfreulich. Ein Umschlag war in der Post, hatte zwischen der Werbung und den Rechnungen auf dem Tresen gelegen. Adressiert an den Boxclub Dicke Rippe Solingen, den Vorstand, und mit der Bemerkung ›persönlich‹.

»Sehr geehrter Herr Peschke, als aufmerksamen Begleiter Ihres Boxclubs und des sportlichen Erfolgs Ihrer Bemühungen ist es uns nicht entgangen, dass die finanzielle Ausstattung Ihres Vereins sich einer spontanen Unterstützung nicht widersetzen wird. Bitte verwenden Sie die beiliegende Spende nach Ihrem Belieben. Ich wünsche Ihnen und Ihren Vereinskameraden weiterhin viele sportliche Erfolge.«

Als Unterschrift stand nur ›Willi‹ unter dem Schreiben. Das Schreiben war schon irgendwie komisch, aber die zehn Hunderter, die beim Öffnen auf seinen Tisch gefallen waren, die waren echt. Speedy kannte keinen Willi, besser gesagt, er kannte zwei Typen namens Wilhelm und einen Wilfried. Wilhelm Kroenekens war über achtzig und lebte in München in einem Altersheim, der war das bestimmt nicht. Der Dr. Wilhelm Wilken war Frauenarzt, hatte seine Praxis gegenüber dem Boxclub und beschwerte sich dauernd wegen dem Lärm und der zugeparkten Bürgersteige. Und Wilfried, der war seit zwanzig Jahren Mitglied, lebte seit dreißig Jahren von der Stütze und war immer wieder mit seinen Vereinsbeiträgen im Rückstand. Speedy drückte da immer ein Auge zu, denn alle mochten den alten Wilfried und er kannte mehr Tricks im Ring, als die jungen Kerls jemals lernen würden. Also wer hatte Brief und Geld geschickt? Speedy hatte das Geld zur Bank gebracht und auf das Vereinskonto eingezahlt. Klar konnten sie das gut gebrauchen, zwei Boxsäcke waren kaputt, die Jungs standen im Training vor den anderen beiden Säcken Schlange, sie brauchten dringend neue Handtücher und eine Wärmelampe. Und auf der Bank standen sie schon im Minus, der anonyme Tausender hatte das gerade so ausgleichen können.

Speedy freute sich zwei Tage über das unerwartete Geld und hatte es dann schnell vergessen, Job und Familie und Training drängten sich in den Vordergrund. Seine Kleine hatte Probleme in der Schule, seine Süße konnte damit nicht richtig umgehen und reagierte überreizt darauf, fand Speedy, sagte es aber nicht, und im Büro waren alle neben der Spur, seit es die Gerüchte über den Verkauf der Firma gab und die beiden Chefs sich widersprachen. Und hier im Club stapelten sich die Rechnungen, viele der Mitglieder zahlten ihre Beiträge mit vielen Monaten Verspätung, und außer den beiden Boxsäcken und dem Rest drängelten einige der Jungs, sie wollten endlich wieder eine Vereinsparty haben. Die Fußballer und die Kleingärtner und sogar der Schachclub, die hatten alle schon ihre Parties gehabt, nur hier sei schon Mitte Sommer und es hätte noch nichts zu Essen auf dem Grill gelegen. Nur extra zahlen dafür wollte natürlich keiner.

Und zwei hatten schon laut gemeckert, beim Türkenclub sei eh alles besser, die hätten eine größere Halle, saubere Duschen und eine ganz neue Ausrüstung. Klar war es da besser, bei Boksçuluk Remscheid waren die Beiträge auch höher als bei Dicke Rippe, es gab mehr Mitglieder, die schneller zahlten, und es gab sogar einen Sponsor, Cem mit dem Supermarkt und dem dicken Mercedes schien jede Menge Geld in Boksçuluk zu pumpen. Nicht, dass er damit etwas andeuten wollte, Cem war ein guter Typ. Aber seine Jungs sollten bitte Äpfel nicht mit Birnen vergleichen, das war ganz einfach unsportlich.

Nach dem ersten Schreiben und den ersten tausend Euro war der Club wenigstens bei der Bank wieder auf plus-minus Null, das war für Speedy ein akutes Problem weniger.

Dienstag, der 09. August 2022: Wir, Wilhelm III., von Gottes Gnaden Kaiser

In dieser Konstellation hatten sie noch nie zusammengesessen. Eingeladen hatte der Chef des Bundeskanzleramtes, der ChefBK, wie es in der Amtssprache hieß, Dr. Axel Schladinger. Also würde er das Gespräch auch eröffnen. Solche Rituale waren wichtig im politischen Berlin, sie gaben Orientierung und jeder Teilnehmer konnte ableiten, wann er das erste Mal sprechen durfte.

Dieses Mal würde diese Frist kurz sein, sie waren im privaten Konferenzraum des ChefBK nur zu dritt. Im Dreieck saßen sie am kleinen Konferenztisch, trotzdem war zwischen ihnen jeweils zwei Meter Abstand. Links vom ChefBK saß Generalleutnant Klaber, der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr. Der Generalinspekteur der Bundeswehr als ranghöchster Soldat Deutschlands hatte das Thema gleich auf die Arbeitsebene durchgewinkt. Rechts saß Dr. Amelung, Abteilungsleiter Öffentliche Sicherheit des Bundesinnenministeriums, er hatte auch die Fachaufsicht über das BKA und den Verfassungsschutz, das BfV. Mit dem ChefBK, dem auch der BND unterstellt war, saßen drei Geheimdienste und alle deutschen Streitkräfte an diesem Dreiertisch.

Dr. Schladinger, ChefBK und Bundesminister für besondere Aufgaben, kostete seinen Heimvorteil aus und ließ sich Zeit mit der Eröffnung. Aber nicht mehr Zeit, als er für den letzten Schluck Espresso brauchte. Er galt als stiller und fleißiger Politiker, der sich immer in der zweiten Reihe bewegte und der ersten Reihe folgte, die ihn mit nach oben gebracht hatte. Schladinger war im gleichen Jahr und im gleichen Bezirk wie der jetzige Bundeskanzler in die Partei eingetreten, das waren die einzigen beiden Parteieintritte in diesem Bezirk und in diesem Jahr gewesen, so etwas verbindet. In den Berliner Kreisen, in denen man sich jeden Abend von jemand anderem beköstigen lassen kann, und mit berufsbedingtem Bewegungsmangel, hatte er Hüftgold angesetzt, war aber im Kopf schlank und schnell geblieben. Als ChefBK hatte er 600 Mitarbeiter und einen Jahresetat von 3,7 Milliarden Euro, zwei Geheimdienste und, in seinen eigenen Worten, in Deutschland den Schreibtisch mit den unterschiedlichsten Themen. Trotzdem war er glücklicher Familienvater geblieben.

»Meine Herren, vorab habe ich den Herrn Bundeskanzler, den Bundesminister der Verteidigung und den Bundesminister des Innern informiert. Danach in Absprache mit dem BK auch das Sicherheitskabinett. Es ist also nur eine sehr begrenzte Zahl von Personen eingeweiht.«

Und mit uns eine unbekannte Zahl von weiteren Assistenten, Referenten und Taschenträgern mit unbekannter Sicherheitsstufe, dachte Klaber. Es gibt in Berlin keine Geheimnisse.

Generalleutnant Klaber war hager und lang, er war in Uniform erschienen und musste beim Eintreten den Kopf einziehen. Als Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr wurden von ihm und seinen Leuten in Potsdam alle Einsätze geplant und geführt, die von der Bundeswehr weltweit durchgeführt wurden. Er war ehemaliger Fallschirmspringer und bestand auf einen Absprung im Monat, um in Übung zu bleiben. Klaber ging auf die sechzig zu und man flüsterte, er sei bereits dabei, seine Nachfolge vorzubereiten. Auch das würde ablaufen wie alle Missionen, für die er verantwortlich war, gradlinig, effizient und still. Nur würde er bei dem Nachfolgeprojekt nicht mehr an der Nachbesprechung teilnehmen.

»Gestern erhielten wir per unbekanntem Boten ein Schreiben, in dem der Bundesregierung ein Ultimatum gestellt wird. Das Schreiben fordert nicht mehr und nicht weniger als den sofortigen Rücktritt der Bundesregierung, die Auflösung der staatlichen Strukturen und Übergabe der BRD an eine neue Regierung. Das Schreiben liegt Ihnen als Ablichtung vor.«

Dr. Amelung schmunzelte, ohne die Lippen zu verziehen. Der ChefBK war für seine präzise Sprache bekannt, er strapazierte gerne den Unterschied zwischen Ablichtung und Kopie. Hoffentlich müssen wir uns nicht mit solchen Spitzfindigkeiten aufhalten. Er warf einen weiteren Blick auf die Ablichtung des Schreibens, die ihm von einem persönlichen Boten heute Morgen um halb sechs überbracht worden war. Zwei Minuten später hatte er alle Termine für diesen Tag abgesagt.

Während sie das Schreiben noch einmal lasen, blickte Dr. Schladinger zu dem Vertreter des Bundesinnenministeriums herüber. Mit seinen schmalen Schultern und der blassen Haut war Dr. Amelung unscheinbar, nur die Augen machten ihn äußerlich besonders, über seine Gestalt sah man hinweg, an seinen Augen blieb man hängen. In einem ehrlichen Personalausweis müsste ›blattgold‹ in dem Feld für Augenfarbe stehen. Schladinger hatte nie herausgefunden, ob das die natürliche Augenfarbe von Amelung war oder ein Kunstprodukt. Diese Augen waren immer gleich freundlich, oder gleich unfreundlich, je nachdem, auf welcher Seite man stand. Und immer gleich wachsam. Heute trug Amelung einen dunklen Maßanzug, in einem Blau, das nicht zu seinen Augen passte. Aber das war sicher auch nicht das Ziel von Amelung.

Der ChefBK las das Schreiben, genauer die Ablichtung des Schreibens, noch einmal.

An die amtierende Geschäftsführung der Bundesrepublik Deutschland GmbH,

Wir geruhen Sie zu informieren, dass mit Ablauf des 14. August dieses Jahres in der Innenstadt von Brüssel ein nuklearer Sprengkopf gezündet wird.

Das beiliegende Fotodokument wird Sie davon überzeugen, dass sich dieses Instrumentarium in unserem Besitz und zu unserer Verfügung befindet.

Es liegt in Ihrer Verantwortung, dieses Ereignis zu verhindern. Dafür werden Sie die deutsche Öffentlichkeit bis zum genannten Datum darüber informieren, dass Sie als sogenannte Regierung die Geschäftsführung der Bundesrepublik Deutschland GmbH mit sofortiger Wirkung niederlegen und die Amtsgeschäfte sowie das angehäufte Vermögen an den legitimen Rechtsnachfolger des deutschen Kaiserreiches übergeben werden.

Diese Information unseres Volkes hat in den sozialen Medien und mit ganzseitigen Anzeigen in allen im Reichsgebiet erscheinenden Tageszeitungen und Anzeigenblättern zu erfolgen, sie ist zu unterzeichnen von Ihren Rechtsvertretern, dem Bundeskanzler, dem Bundespräsidenten und dem Präsidenten des Bundestages.

---ENDE DER LESEPROBE---