Hackerhaus - Gerd Rufft - E-Book

Hackerhaus E-Book

Gerd Rufft

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Beschreibung

Die sechs besten Hacker werden in ein verlassenes Gebäude eingeladen, sie sollen ein unbekanntes IT-System angreifen. Zwei von ihnen sterben, bevor das Ziel erreicht ist. Kann Roland seinen geheimen Auftrag erfüllen, bevor auch er beseitigt wird? In der Demokratischen Republik Kongo wird ein Fernseh-Interview des Premierministers ausgestrahlt, das er nie gegeben hat. Man glaubt der jungen Chefin der IT-Sicherheit nicht, dass eine Künstliche Intelligenz das Land angreift. Kann Elikia die Angriffe rechtzeitig stoppen und einen Umsturz verhindern?

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Die Ankunft

Sand und Steine knirschten unter seinen Stiefeln. Die Waffe, die er hinten in den Gürtel gesteckt hatte, war noch warm.

Er hatte vor ein paar Minuten ein paar rostige Konservendosen gefunden. Die ersten Schüsse auf zehn Schritte, dann auf fünfundzwanzig, dann auf fünfzig. Stehend, kniend und aus der Drehung.

Von den Dosen war nicht mehr viel übrig.

In dieser Gegend konnte niemand die Schüsse gehört haben. Bis zum nächsten Dorf waren es vier Meilen und es gab nur diese Straße, die hier an der Arena endete. Hier lebten nur Raubvögel und Ratten.

Er war gestern lange durch dieses leere Land gefahren, bis er den Motor abgestellt hatte. Und er hatte jeden Meter das Gefühl gehabt, dass ihn Kameras beobachteten.

Cleveland wischte sich mit dem Ärmel seines karierten Hemdes den Schweiß von der Stirn und setzte die Baseball-Kappe wieder auf. Noch zwei Meilen, bis er zurück an der Arena war.

An der letzten Kreuzung hatte er Knochen gefunden. Neben den Knochen hatte ein Stück Metall gelegen, eine Gürtelschnalle. Und die Sohle eines Schuhs, der Stoff war verwittert und farblos. Die Sohle war glatt, da war jemand lange gelaufen, um hier zu sterben. Eigentlich sein ganzes Leben lang. Oder ihr ganzes Leben. Die Sohle sah klein aus.

Vielleicht war sie in der Sonne und der Trockenheit geschrumpft.

Die Schüsse und die Knochen hatten die Mauer um seine Erinnerungen durchlöchert.

Während der Ausbildung bei der Army war er häufig in solchen Gegenden gewesen. Es war entweder staubig und heiß oder es war feucht und heiß. Ganz egal wo, Cleveland kümmerte sich zuerst um seine Waffen. Geht es der Waffe gut, dann lebt der Mensch. Das hatten ihm die Ausbilder schmerzhaft beigebracht.

Diese Zeit war lange vorbei. Jetzt war er hier, andere Zeit, anderes Land, anderer Job. Er hatte viel Wissen mitgenommen, und die Erinnerungen konnte er nicht zurücklassen.

Er blickte auf das zerkratzte Display seiner Armbanduhr. In einer Stunde musste er am Haus sein und sich umziehen.

Dann wird er mit dem Bus losfahren und die Gäste abholen. Diese Art von Auftrag war neu für ihn. Aber das Gefühl der schweren Waffe hinten im Gürtel, sein Colt Desert Eagle wog ohne Magazin über zwei Kilo, war ihm vertraut.

Sie legten Wert darauf, dass die Gäste seine Waffe möglichst früh zur Kenntnis nahmen.

Die anderen Waffen waren im Haus verstaut. An seinen Fingern war noch etwas von dem Waffenöl, mit dem er sie gestern Abend gepflegt hatte. Schon oft hatte er sich die Finger an den Jeans abgewischt, aber das Öl blieb haften. Es störte ihn nicht, auch der Geruch war vertraut. An den Waffen waren keine Seriennummern, auch das störte ihn nicht.

Die Sprengladungen waren schon gelegt, das hatte er gestern Abend gemacht. Und doppelt geprüft. Auch das Kennwort für die Sprengung hat er in Erfahrung gebracht, es lautete Delphin. Das gefiel ihm nicht, denn er kannte das Kennwort, aber nicht den Zeitplan.

Er hatte bei der Arena außer den Raubvögeln und den Ratten nichts gesehen. Auch keine anderen Spuren, denn war er ein erfahrener Jäger und hatte bei der Army eine Scharfschützen-Ausbildung absolviert, kurz bevor sie ihn rausgeschmissen hatten. Waffen und Logistik, das war sein Teil des Auftrags, der gute altmodische Teil. Vom Rest verstand er nichts und das war gut. Manchmal war es gut, nichts zu verstehen. Auch wenn es ihm nicht gefiel.

Cleveland sah wieder auf die Uhr. Er ging schneller. Er hörte nur seine Schritte und die Stille des Landes.

Um 13:30 Uhr wurde von der Arena ein Mail verschickt. Sie hatten jeden seiner Schritte beobachtet und verfolgten jetzt auf einem ihrer Bildschirme, wie er in einem sauberen Hemd und schmutzigen Jeans in den Bus stieg und das Fahrzeug langsam auf die schmale Strasse lenkte, die eigentlich nicht mehr war als zwei Fahrstreifen durch Dreck und Kies.

„13:30. Er fährt los. Er holt die Gäste.“

Sie hatten verabredet, die Uhrzeit mit in die Mails zu setzen, weil der Empfänger den Systemwerten nach den weltweiten Umleitungen und Verzögerungen nicht vertrauen konnte.

Die ersten Meilen würde Cleveland langsam fahren müssen, bevor er die Asphaltstrasse erreichte. Und dann waren es drei Stunden bis zum Flughafen.

Hier nannte er sich Cleveland, das stand auf seiner Baseball-Kappe. Seinen Namen kannten sie nicht, das war nicht notwendig.

In der großen Ankunftshalle fühlte Cleveland sich wohler. In der Menschenmenge eines internationalen Flughafens fiel er nicht auf.

Er musste nicht durch Kontrollen, hatte aber seine Desert Eagle im Bus gelassen, in einer Fast-Food-Tüte unter dem Sitz. Die Cops hier würden sicher nervös, wenn jemand mit eigener Artillerie aufkreuzte.

Den Gästen waren ein Treffpunkt und eine Uhrzeit genannt worden. Zwanzig Meter rechts vom Starbucks.

Von jedem Gast hatte er auf seinem iPad ein Dossier, damit er sie erkannte und sie einschätzen konnte. Cleveland stand vierzig Meter rechts vom Starbucks und sah den ersten Gast kommen.

Es war Nummer Zwei auf der Liste. Der Deutsche.

Der war natürlich pünktlich.

Der Mann kam in gerader Linie auf ihn zu. Er war in Schwarz gekleidet, hatte einen schwarzen Rucksack über der Schulter und eine Palette mit Getränkedosen unter dem linken Arm.

Vor Cleveland blieb er stehen.

„Arena?“ fragte der Mann und streckte ihm die freie Hand entgegen.

Cleveland nickte, wich aber dem Blick aus. Ein kurzer und fester Händedruck folgte.

Das Geräusch von harten Absätzen auf dem Steinfußboden unterbrach sie, bevor sie mehr sagen konnten.

Rasch blickte Cleveland auf sein iPad. Das war Nummer Eins. Antonietta Scalfari, genannt Toni.

Sie zog einen schwarzen Rollenkoffer hinter sich her, blieb vor dem Starbucks stehen und sah sich um. Das Foto passte. Sie war blond, klein und sehr gut angezogen. Eine Designer-Handtasche in schwarz und gold hing über der Schulter ihres nachtschwarzen Kostüms.

Er gab ihr ein Handzeichen und ging auf sie zu.

Die Absätze gaben ihr ein wenig mehr Höhe, aber sie musste zu ihm aufsehen.

„Ich bin der Fahrer“, sagte er.

„Zur Arena.“ Sie sprach deutsch mit italienischem Akzent.

Er nickte.

Von diesem Augenblick an ignorierte sie ihn.

Toni lächelte den Deutschen höflich an, der aber blickte an ihr vorbei. Cleveland folgte seinem Blick und sah am anderen Ende der Halle eine alte Frau, die zwei Mäntel übereinander trug und mit prallen Plastiktüten auf eine leere Bank zuging, neben der ein Mülleimer stand. Das war eine der Bag Ladies, die am Flughafen nach Pfandflaschen suchten. Die alte Frau schwankte auf ihrem Weg zur Bank, das konnte an ihren schlechten Schuhen liegen oder an einem schlechten Rücken.

Cleveland versuchte, sich an das Dossier von Antonietta Scalfari zu erinnern.

Sie war auf einer Eliteschule in Mailand gewesen, danach folgte ein Studium in Australien und in Südafrika. Die Eltern waren Immobilienmakler in der Toscana und in Venedig, die Firma hatte sie verkauft, sobald sie achtzehn war. Die Wolle für ihre Kleidung ließ sie aus Indien und Peru einfliegen, daraus wurde für sie der Stoff gewebt und auf Maß geschneidert.

Als ihre Adresse war ein Palazzo in der Nähe von Rom angegeben. Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte er gelesen, dass dieses Gelände zwei unabhängige Stromversorgungen und drei unabhängige Zugänge zum Internet hatte, einen davon per Satellit. Man hatte sehr viel Datenverkehr gemessen, aber alles war stark verschlüsselt. Das Gelände hatte einen Energieverbrauch wie die tausend umliegenden Haushalte, aber im weitläufigen Gebäude wohnten nur sie und ein altes Ehepaar, ihre Hausmeister. Der Mann wurde draußen meistens mit einer Schrotflinte in der Hand gesehen.

Das Dossier brachte Toni Scalfari mit einem legendären Bitcoin-Hack in Verbindung, daneben stand der Hinweis, dass es dafür keine gesicherten Beweise gab.

In 2015 war die slowenische Bitcoin-Börse Bitstamp erfolgreich angegriffen worden. Der Hacker war damals nur als l’aquila, der Adler, bekannt geworden. So hatte er sich anschließend in einigen Foren genannt und Insiderwissen offenbart.

Ein halbes Jahr später hatte Antonietta Scalfari den Palazzo gekauft und über ein Jahr lang umgebaut.

Jetzt wartete sie neben Cleveland und sah an ihm vorbei.

Er bemerkte durch eine Spiegelung auf dem Display, dass eine zweite Person sich näherte. Eine zweite Frau, also war das Jocelyn Berceuse. Nummer drei auf seiner Liste.

Toni Scalfari sah die hübsche junge Frau von oben nach unten an und rückte dann einen halben Meter von ihr weg, auf die andere Seite ihres Koffers.

Miss Berceuse hatte helle Dreadlocks, die weit über ihre Schultern herabhingen. Ihr Oberkörper war in ein buntes Batikhemd gehüllt, bei den Farben dominierten orange und grün. Aus der Tasche ihrer Cargohose hing eine Air-France-Bordkarte. Die Schnürsenkel ihrer Outdoor-Schuhe hatten unterschiedliche Farben.

Sie ließ eine unförmige Tasche aus dunkelgrünem Segeltuch neben den kantigen Koffer der Italienerin fallen. Die Metallverschlüsse klickten auf dem harten Boden der Halle.

Klare grüne Augen strahlten Cleveland an. „Ich bin Joy. Du fährst mich zur Arena?“

Er nickte und hielt den Augenkontakt.

„Hallo Joy.“

„Cool. Ich freue mich! Wann kommen die anderen?“

Er sah auf die Uhr. „Sie haben noch zehn Minuten.“

Das Dossier zu Miss Berceuse kam aus einer anderen Quelle, jemand hatte sich mit Stichworten begnügt. Oder jemand anderes war zu geizig gewesen, um einen ausführlichen Bericht zu bezahlen. Oder es gab einfach nicht mehr über diese Frau.

Statt Jocelyn Berceuse wollte sie lieber Joy genannt werden, das hatte er gerade schon gemacht und damit gepunktet. Die französische Herkunft schien ihr nicht recht zu sein, sie würde lieber als Amerikanerin durchgehen. Es gab einige Hinweise auf eine Jugend in Kinderheimen, der Vater war unbekannt, die Mutter hing am Alkohol und an dem häufigen Wechsel ihrer Männer.

Jocelyn war schon mit zehn Jahren in ihren PC geflüchtet, zunächst nur als Ablenkung und Flucht vor der Realität. Bei Ego-Shootern hatte sie rasch alle Jungs ihrer Klasse abgehängt. Dann wurde sie neugierig und wollte wissen, wie diese Spiele funktionierten, hatte sich Programmieren und dann das Hacken beigebracht. Sie hatte ein sehr gutes Zahlengedächtnis, sie war Autodidaktin ohne Ausbildung und Abschluss.

Einmal war sie überführt worden und kam wegen eines Hacking-Einbruchs für drei Monate ins Gefängnis. Sie hatte das als Weckruf bezeichnet, in dem Sinn, dass sie schlauer werden musste. Danach war sie nie wieder erwischt worden.

Im Dossier wurden viele Männer erwähnt, aber nie etwas dauerhaftes, nie länger als ein paar Wochen. Sie zog viel um, war dauernd unterwegs, hatte keine feste Adresse. Erreicht werden konnte sie nur elektronisch, am besten über das Darknet.

Am anderen Ende der Halle wurde es laut, sie drehten sich um. Menschen sprangen zur Seite, leere Plastikflaschen schepperten über den Boden, einige Flaschen wurden zur Seite getreten.

Der Deutsche ließ die drei anderen stehen.

Das Geräusch seiner Schritte wurde nach ein paar Metern vom Hintergrundrauschen der vielen Menschen verschluckt. Seine schlanke Gestalt konnte Cleveland aber gut verfolgen, die Leute wichen zur Seite.

Cleveland sah ihn der Bag Lady auf die Beine helfen. Sie war gestürzt und hatte die Plastiktüten fallen gelassen, deren Inhalt um sie verstreut war.

Von rechts näherten sich in schnellem Schritt zwei uniformierte Sicherheitsbeamte. Die Bag Ladies wurden hier nicht gerne gesehen, sie konfrontierten die Passagiere mit der echten Welt jenseits der Business-Class und des Duty-Free-Shopping.

Roland war ein paar Schritte vor den Cops bei der alten Frau. Sie saß auf dem Boden und hielt sich den Kopf.

Er kniete sich neben sie. „Können Sie mich verstehen? Sind Sie in Ordnung?“

Eines ihrer Augen war trüb. Das andere war mißtrauisch.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

„Ich will Ihnen helfen. Können Sie aufstehen?“

Er richtete sich auf und reichte ihr seine Hände. Sie versuchte, sich selbst aufzurichten, sank wieder zusammen und streckte ihm dann ihre Arme entgegen. Er musste sich bücken, um ihre Hände zu ergreifen und sie langsam in die Höhe zu ziehen. Die alte Frau war federleicht, unter den beiden Mänteln war kaum ein Körper zu spüren. Ihre Arme waren nicht dicker als Besenstiele.

Zwei Passanten hatten begonnen, einige von den leeren Flaschen aufzuheben und kamen gemeinsam mit den beiden Sicherheitsleuten bei ihnen an, Leergut in den Händen und unter den Armen.

Roland drehte sich so, dass er mit dem Rücken zu den Beamten stand. Die beiden Passanten, eine junge Frau und ihr Freund, sie hatten zwei Gepäcktrolleys mit dem gleichen Muster neben sich stehen und trugen Sportjacken des gleichen Vereins, stopften die Flaschen in die Plastiktüten.

„Sind Sie ok?“ fragte Roland die alte Frau und achtete nicht auf die Fragen der Beamten, die sie an ihm vorbei an die alte Frau richteten. Die Frau hörte die Fragen auch nicht.

Das gute Auge sah ihn jetzt fragend von unten an, nicht mehr mißtrauisch. „Das ist alles schwer für mich. Wir sind hier nicht gewollt.“ Sie blickte sich um, konnte aber die Beamten nicht sehen, die von ihm verdeckt wurden. „Sie schicken uns weg. Aber wir sind viele.“ sagte sie und beugte dabei den Oberkörper zu ihm vor. „Wir sind immer hier.“

„Ich denke, das ist gut so.“

„Und ich denke, dass es hier eine Hausordnung gibt.“ Die Stimme war laut und kam aus dem Off hinter seinem Rücken. Langsam drehte er sich um.

Cleveland bewunderte diese Bewegung. Sie war nicht so schnell, dass sie bedrohlich wirken konnte. Sie war nicht so langsam, dass sie aufreizend langsam gewesen wäre. Sie war genau so schnell und genau so langsam, um den Cops zu zeigen, dass der Deutsche erst antworten würde, wenn er die Drehung vollendet hatte und nicht früher. Und genau so lange würde sich die Cops gedulden müssen.

Das machte die Bewegung bedrohlich, auch wenn der Deutsche die beiden Männer in Uniform, die er um einen halben Kopf überragte, freundlich anlächelte.

„Ich danke für Ihre Unterstützung, meine Herren. Würden Sie bitte der Verwaltung sagen, dass die Böden hier für ältere Reisende gefährlich glatt sind? Nicht, dass jemand sich verletzt und seinen Anwalt bemühen muss.“

Die Männer sahen sich an und dann wieder zu ihm. „Das ist keine Reisende. Sie sammelt Müll ein. Eigentlich sogar Wertsachen“, sagte der Eine.

„Das ist gegen die Hausordnung“, sagte der andere.

Cleveland konnte aus der Entfernung die Worte nicht verstehen, die gewechselt wurden. Aber er sah, dass der Deutsche sich bei seiner Antwort unmerklich aufrichtete.

„Selbstverständlich ist sie eine Reisende. Sie reist durch das Leben und sie hat schon mehr Meilen auf sich genommen, als Sie oder ich jemals schaffen werden.“ Hinter seinem Rücken machte er der Frau mit der Hand Zeichen, sie solle weitergehen.

Für eine Sekunde spürte er, dass dünne harte Finger seine Hand drückten. Dann war diese Berührung vorbei.

Er hörte eine junge Frau sagen „Wir begleiten Sie ein Stück“ und wie drei Paar Füße und zwei Trolleys sich in Bewegung setzten. Vier junge Füße mit langen Schritten und zwei alte Füße, die eifrig versuchten, mit ihnen Schritt zu halten. Das Geräusch verlor sich.

Einer der Beamten sah an ihm vorbei. „Hey!“

Roland sah sich um, von der alten Frau und den beiden jungen Leuten war schon nichts mehr zu sehen. Die Menschenmenge, von der sie nur ein kleiner Teil waren, hatte sie aufgenommen.

„Dann ist wieder alles gut. Niemand ist zu Schaden gekommen. Danke für Ihre Unterstützung, Gentlemen.“

Er nickte beiden Cops freundlich zu und wartete zwei Sekunden. Sie reagierten nicht, er verließ sie und ging in gerader Linie zu Cleveland und den beiden Frauen zurück.

„Was sollte das denn?“ fragte Toni.

„Sie brauchte Hilfe“, sagte Roland.

Mister Sarek ist auf seinem Zimmer

Während dieser zwei Minuten, mehr war es nicht, das hatte Cleveland mit dem Display des iPad verfolgen können, hatte sich Nummer Fünf seiner Liste eingefunden.

Ken, der Asiate.

Der Japaner, korrigierte sich Cleveland.

Der Mann hatte sich exakt am vereinbarten Treffpunkt eingefunden, hatte sich neben seinen kleinen Rollkoffer gestellt und hielt eine weitere Tasche in der Hand. Cleveland ging zu ihm herüber, verbeugte sich, was der schmale Mann fast gleichzeitig erwiderte, und bat ihn mit ein paar Handbewegungen zu ihnen herüber.

Beim Herantreten an die kleine Gruppe verbeugte sich der schmale Mann erneut mehrfach, nochmal in Richtung Cleveland, erstmals in Richtung Roland, der die Verbeugung nachmachte, und etwas weniger tief in Richtung Toni und Joy.

Toni reagierte nicht, Joy wurde rot und verbeugte sich ungeschickt, was der Mann höflich nicht zur Kenntnis nahm, sondern sich seinerseits erneut verbeugte.

Das Dossier über diesen Ken war sehr kurz. Cleveland hatte den Inhalt telefonisch bekommen und sich nur kurze Notizen machen können, die ihm jetzt kaum noch etwas sagten.

„Auf diesen Ken müssen Sie achtgeben, Cleveland“, hatte die Stimme gesagt. „Das ist einer der besten. Auf jeden Fall war er das mal. Eine Legende, zu seiner Zeit. Lassen Sie sich nicht täuschen, der ist älter als er aussieht.“

Cleveland versuchte, sich jetzt selbst ein Bild zu machen.

„Der war immer auf Erfolg programmiert. Zweisprachig schon im Kindergarten, das heißt zwei Sprachen neben japanisch. Englisch und Deutsch noch vor der Grundschule.“

Er hatte nur ein undeutlichesBild erhalten. Das war ein altes Foto, das man schlecht eingescannt hatte. Das Original zwei Schritte vor ihm war klein mit einem schmalen Gesicht und langen Haaren. Gut gepflegt, Haarlack, manikürte Finger. Dunkle Jeans und T-Shirt von Decathlon.

Schnelle Finger sind sein Kapital? Hacken als Leistungssport.

„Er wird nicht viel reden. Das tun sie alle nicht, aber der hier schweigt besonders laut.“ Die Stimme am Telefon hatte gelacht, Cleveland hatte geschwiegen.

„Seine Familie hat in Fukushima gewohnt. Er war gerade in Tokyo, als es passierte. Er konnte sie nicht einmal beerdigen, man hat ihn nicht zu ihnen gelassen. War zwei Monate von der Bildfläche verschwunden. Kein Lebenszeichen. Hat einen Schrein für sie aufgestellt und dann einen Fonds gegründet, der Opfern von Fukushima hilft. Deshalb ist er hier dabei, deshalb will er das Preisgeld. Könnte mir einen besseren Zweck vorstellen.“

Cleveland hatte das nicht kommentiert. Er wurde nicht bezahlt, um Kommentare abzugeben.

„Er wird mit einem Linienflug von All Nippon Airways kommen. Direktverbindung von Tokyo. Wahrscheinlich müssen Sie auf ihn warten. Und passen Sie auf den auf. Auf den müssen Sie aufpassen.“

Aber Ken war pünktlich und stand jetzt am Rande der kleinen Gruppe, jeden freundlich anlächelnd, wenn er nicht an ihnen vorbei sah.

Warten mussten sie auf Nummer 4, den Amerikaner. Nur bei dieser Nummer hatte Cleveland noch kein Häkchen auf dem iPad setzen können. Er sah zur Anzeigetafel. Zwanzig Minuten Verspätung, eigentlich nicht schlecht für einen 22-Stunden-Flug von Austin über London nach Frankfurt/Main.

Sie mussten fünfundzwanzig Minuten warten, bis der Texaner langsam auf sie zu geschlendert kam.

Seine Kleidung war für Cleveland ein Zeichen entweder für eCommerce oder für Banker. Ein dunkler Anzug, weißes Oberhemd, keine Krawatte. Weiße Sneaker mit dicken Sohlen.

Banker, wusste er aus dem Dossier, war richtig.

Das Dossier zu Patrick Anderson war ungewöhnlich lang und hatte ungewöhnlich wenig Inhalt. Typisch amerikanisch, hatte Cleveland sich beim ersten Durchlesen gesagt. Viel Formalitäten, viel Overhead, einige militärisch wirkende Abkürzungen, aber den Menschen dahinter konnte er nicht herauslesen. Nur einige Fußabdrücke einer Existenz, aber nichts über den Menschen in den Schuhen.

Der Mann war unrasiert, kein Wunder nach dem langen Flug. Er hatte ein hartes Kinn und ein jungenhaftes Grinsen, mit dem er zuletzt bei Toni hängenblieb.

Sie reagierte nicht darauf, schließlich waren sie Konkurrenten. Nur einer konnte sich die halbe Million Dollar verdienen.

Cleveland hatte gelesen, dass Patrick über ein Baseball-Stipendium erst Wirtschaft und dann irgendetwas mit IT studiert hatte, später war er in New York als Banker mit Schwerpunkt IT gelandet, in den Hinterzimmern des automatisierten Börsenhandels. Seine Programme hatten in jeder Sekunde Milliarden Dollar durch die Welt geschoben, das war ihm schnell langweilig geworden und er hatte angefangen, die Systeme auf Schwachpunkte zu testen, die man im üblichen Design übersehen hatte. Das ging schnell, wenn man wußte, wo man ansetzen musste. Seinen richtigen Job hatte er dadurch auch schnell verloren, aber da war er schon finanziell unabhängig.

Der Vater war vierzig Jahre in der Gewerkschaft, die Mutter war Hausfrau und Stütze im Kirchenchor. Patrick war schon mehr als zehn Jahre nicht mehr in Montgomery (Alabama) gewesen, mitten im Bible Belt, sagte das Dossier. Cleveland hatte sich gefragt, woher sie das wissen wollten.

Patrick Anderson hatte außer einer großen Reisetasche eine aufgerollte Gymnastikmatte dabei. Die Tasche stellte er ab, die eingeschnürte Rolle behielt er unter dem Arm.

Die Unterlagen hatten unbestimmte Verpflichtungen angesprochen, die Anderson hatte und die mit dem Gewinn finanziert oder beglichen werden sollten. Es schien um Immobilien zu gehen, irgendwo in Texas.

„Don´t call me Pat“, sagte er in die Runde.

Ein Fitness-Freak, dachte Roland. Und er bewegt sich wie nach einer militärischen Ausbildung.

What´s your game, Pat?

Cleveland schaltete sein iPad aus. Sie waren jetzt komplett.

„Macht es euch einfach. Nennt mich Cleveland“ sagte er laut und zeigte auf seine Baseball-Mütze.

Niemand lächelte.

Roland griff seine Tasche und die Palette mit den Getränkedosen. Nette Idee, das mit der Kappe. Er glaubte nicht, dass viele von ihnen unter ihrem echten Namen hier waren.

„Folgen Sie mir.“ Cleveland führte sie durch die Halle und durch lange Gänge aus dem Flughafen heraus zum Busparkplatz. So unterschiedlich sie auch waren, hier fielen sie nicht auf. Um sie herum waren alle unterschiedlich. Am besten versteckt man sich in der Menge.

Sie waren mehr als zehn Minuten unterwegs, aber niemand sagte ein Wort. Sie waren Fremde unter sich.

Er öffnete den Bus mit der Fernbedienung, die Türen glitten automatisch auf, die Gepäckfächer an der Seite des Fahrzeugs musste er per Hand öffnen. Er streckte die Hand aus, doch Toni rollte ihren Koffer an ihm vorbei bis zur Kante und wuchtete ihn selbst hinein. Dann enterte sie als erste den Bus und setzte sich ganz nach hinten, in die Mitte der Rückbank.

Roland übergab sein Gepäck an Cleveland, nahm aber die eingeschweisste Palette mit den Getränkedosen mit in den Bus. Er setzte sich nach rechts und rutschte gleich im Sitz herunter, um die Blicke von Toni nicht auf dem Hinterkopf zu spüren.

Patrick ließ seine Tasche und die Rolle einfach neben Cleveland stehen, drückte sich an den anderen vorbei und ging dann im Bus ganz nach hinten durch.

Tonis Blick ließ ihn vor der Rückbank abbiegen, er blieb drei Reihen vor ihr auf der linken Seite.

Joy bedankte sich ausführlich bei Cleveland dafür, dass er ihre Tasche übernahm und wählte einen Platz ganz vorne.

Ken und Patrick schien es egal zu sein, wo sie saßen. Sie legten aber Wert darauf, möglichst weit von jedem anderen entfernt zu sitzen.

Über fünfzig freie Plätze, schätzte Roland. Wo ist Nummer Sechs?

Sie hörten die Klappen der Gepäckfächer zufallen, dann schlossen sich lautlos die Türen.

Roland stellte seine Palette auf den freien Platz links von ihm.

Vorne stieg Cleveland von links ein, kletterte auf den Fahrersitz und schloss auch diese Tür. Die Geräusche der Umwelt waren nun vollständig blockiert. Roland sah Autos und Busse an ihren vorbeifahren, es drang kein Laut zu ihnen hinein.

Sehr sanft setzte sich das große Gefährt in Bewegung und wurde von Cleveland vom Parkplatz über eine Brücke auf die A5 bewegt. In den Kurven musste er langsam fahren, Autos stauten sich hinter ihnen. Nachdem er auf die Autobahn eingebogen war und beschleunigte, löste sich der kleine Stau und die Autos überholten in einer langen Kette.

Sie fuhren nach Norden.

Es knackte leise in den Lautsprechern.

„Willkommen auf dem Weg zur Arena.“ Die Stimme von Cleveland klang über die Lautsprecher dünn und blechern. Roland fühlte sich an die Durchsagen auf der Kirmes seiner Jugend erinnert.

„Bevor ich zu den Einzelheiten komme, erinnere ich noch einmal an die Vereinbarung zur Geheimhaltung und die Sicherheitsvereinbarungen, die Sie alle bereits unterschrieben haben. Und an die hohen Strafen, die dort festgelegt sind. Sie haben die Anreise selbst bezahlt, denn wir sehen Sie als Unternehmer, die Ihre Leistung und Ihr Risiko selbst kalkulieren. Jeder von Ihnen erhält für die Woche, die Sie wahrscheinlich bei uns sind, hunderttausend Dollar. Wer das Ziel als erster erreicht, erhält eine halbe Million on top. Die anderen erhalten nichts, außer einer Freifahrt zum Flughafen.“

Er pausierte so lange wie er brauchte, einen langsamen Laster zu überholen.

„Sie sind sechs der erfahrensten, teils auch der bekanntesten, Hacker. Mister Ken zum Beispiel war in Asien eine Legende.“

Ken reagierte auf diese Provokation nicht und sah weiter aus dem Fenster.

„Wir haben für Ihr Turnier ein Haus angemietet und umgebaut. Jeder von Ihnen erhält ein Zimmer mit Bad. Essen wird rund um die Uhr für Sie unten zur Verfügung stehen. Wir wollen, dass Sie Ihre Zeit bestmöglich und effizient einsetzen. Sie erhalten eine High-Speed-Verbindung zum Internet. Für den Rest sind Sie selbst verantwortlich. So haben Sie es unterschrieben.“

Von hinten hörten sie Tonis Stimme. Sie musste sich anstrengen, um bis vorne zu Cleveland durchzudringen.

„Wir sind nur fünf. Sie haben gesagt, wir sind sechs.“

Cleveland rückte seine Kappe zurecht.

„Mister Sarek ist bereits eingetroffen.“

Dann schaltete er das Mikrofon aus und beschleunigte.

Roland klappte die Rückenlehne seines Sitzes nach hinten. Der offizielle Teil war vorbei. Jetzt war es am besten, Energie zu sparen.

Er hörte sehr leise klassische Klaviermusik. Das schien aus den Ohrstöpseln zu kommen, die Jocelyn gerade eingesetzt hatte.

Er schloss die Augen und schlief ein. Das konnte er in fast jeder Umgebung, wenn es sein musste.

Roland wachte auf, weil der Bus langsamer fuhr und wackelte. Er war sofort wach und sah rechts und links nur Dunkelheit, Einzelheiten waren nicht zu erkennen. Keine Lichter, keine Umrisse, keine Bewegungen. In der Seitenscheibe spiegelten sich die wenigen Displays, von denen der Fahrer vorne umgeben war. Draußen war nichts. Die Leuchtzeiger seiner Uhr standen auf kurz nach Zehn.

Sie mussten in einer sehr leeren Gegend sein. Gut für die Nachtruhe, aber schlecht, wenn man zu Fuß irgendwo hin wollte. Fliehen zum Beispiel.

Sein Kopf schlug an die Scheibe, weil der Bus ein besonders tiefes Schlagloch genommen hatte. Nun wurden auch die anderen wach.

Hinten hörte er einen halb unterdrückten Fluch auf italienisch.

Nach einer gefühlten Unendlichkeit beleuchteten die Scheinwerfer zum ersten Mal ein Gebäude. In der Sekunde, in der es angestrahlt wurde, sah es für Roland wie ein altes Gutshaus aus, zweistöckig, lang gestreckt und ohne Licht.

Der Bus nahm eine enge Linkskurve und bremste nach einer Art Halbkreis vor dem Gebäude.

„Willkommen in der Arena“, erklang Clevelands Stimme über die Lautsprecher.

Mit einem Zischen gingen die Türen auf. Das war das Signal zum Aufstehen und Aussteigen.

Roland blieb sitzen, bis Toni an ihm vorbei geeilt war. Sie hatte es wohl eilig, als erste ihren Koffer herauszuholen.

Draußen war es schwarz, auch das große Haus war noch nicht beleuchtet. Und der Boden musste uneben sein, Roland konnte hören wie Toni mit den hohen Absätzen stolperte und erneut auf italienisch fluchte, ziemlich laut dieses Mal. Ihre Stimme verlor sich in der schwarzen Watte der Nacht.

Er hörte Clevelands Stimme. „Das ist einer der dunkelsten Orte Deutschlands.“

Über ihnen war ein sehr klarer und sehr dichter Sternenhimmel. Roland hatte aber nicht genug Zeit, aus dem Sternbild auf ihren Standort zu schließen. Irgendwo in Ostdeutschland, mit dem Bus fünf Stunden vom Flughafen Frankfurt entfernt. Das musste reichen.

Im Dunkel konnte er keine Kameras sehen, weder am Gebäude noch in der Umgebung. Das hieß aber nicht, dass es keine Kameras gab.

Der Motor des Busses hinter ihm tickte leise und strahlte etwas Wärme ab. Jemand hustete, er konnte nicht sehen, wer es war.

Jetzt öffnete sich die zweiflügelige Tür des Hauses. Licht, breit wie ein D-Zug, traf den Bus und die Menschen, die davor warteten.

Die Männer im Keller hatten mit zwei Mausklicks das Licht im Flur eingeschaltet und die Haustür geöffnet.

Dann schickten sie die nächste Mail.

„22:30. Die Gäste sind eingetroffen.“

Auf den Bildschirmen verfolgten sie, wie Cleveland und die Gäste das Haus betraten.

Gleich würde Cleveland seine Waffe ziehen müssen.

Während der Fahrt hatte Cleveland sich das Dossier über diesen Deutschen in Erinnerung gerufen. Der Name in der Datei war Roland Ecks. Sein Hackername war Rolex, teils aus seinem Namen abgeleitet und teils, weil er mit dem Geld seines ersten bezahlten Hacks eine Rolex Submariner gekauft hatte, gebraucht und trotzdem wahrscheinlich für den Preis eines Kleinwagens. Es war eine Oyster Perpetual Military Submariner 5513, das Dossier war da ausnahmsweise sehr genau. Sie war in den 1970ern für die Royal Navy hergestellt worden und es gab weltweit nicht mehr als tausendfünfhundert Exemplare.

Dieser Rolex war im Bus gleich eingeschlafen, oder er hatte zumindest erfolgreich so getan. So hätte Cleveland es auch gemacht, in dieser Situation, um Energie sparen. Und ein guter Soldat konnte in jeder Lage schlafen.

Der Mann war unauffälliger als die anderen vier, obwohl er ganz in Schwarz gekleidet war. Er sprach nicht viel, beobachtete aufmerksam und bewegte sich sehr weich, wie eine große Katze.

Und er hatte die Augen eines Killers, hatte Cleveland sich gesagt. Der wird Ärger machen. Vergiß diesen Ken, der hier ist mein Problem.

Sein Dossier zu Roland Ecks war nicht sehr ergiebig, über lange Phasen seines Lebens war nicht viel bekannt. Wahrscheinlich war deshalb die Uhr so genau beschrieben worden, bis hin zum Juwelier, bei dem er sie gekauft hatte.

Die Eltern lebten in Deutschland, der Vater war ein Pflegefall und wurde von der Mutter versorgt, eine Adresse dazu wurde nicht genannt. Es gab die Vermutung, dass Ecks nicht der richtige Name war. Der Vater war häufig gewalttätig, der Junge war für das Studium in die USA geflüchtet, Informatik und Mathematik. An der Aufnahmeprüfung für Astrophysik war er zweimal gescheitert. Guter Football-Spieler auf dem College, aber nie in der Liga gespielt, nie den Absprung in eine Sportler-Karriere geschafft. Dabei hatten viele gesagt, er habe das Zeug dazu.

In den einschlägigen Hacker-Foren und im Darknet waren viele Nennungen des Namens Rolex zu finden. Man sagte, er arbeite methodisch und habe immer einen Plan.

Mal sehen, ob das hier ausreicht, dachte Cleveland. Hier hat jeder einen Plan, die meisten haben wahrscheinlich mehr als einen.

Die Gäste waren ihm gefolgt. Die kleinen Räder von Tonis schwarzen Rollkoffer hatten leise auf dem Steinfussboden gequietscht.

Hinter ihnen schloss sich die Haustür. Es war nicht notwendig, den Bus abzuschließen. Niemand kam hier vorbei und nur die alten Leute im nächsten Ort wussten, dass hier überhaupt ein Haus stand.

Sie betraten einen geräumigen Flur mit einem großflächig schwarzweiß gefliesten Fußboden. Die Fliesen waren verkratzt, einige waren gesprungen.

Auf der linken Seite standen fünf schmale Tische in einer Reihe.

„Bitte gehen Sie durch und legen Ihr Gepäck auf einen der Tische. Teil der Sicherheitsmaßnahmen. Ich werde Ihre Rechner kontrollieren.“

Ken war der erste, der dieser Anordnung folgte. Er ging zum letzten Tisch und legte seine Tasche darauf. Rolex hörte ein dunkles Klirren von Glas. Wie Flaschen, die aneinander stießen.

Der Japaner trat zwei Schritte vom Tisch zurück, verbeugte sich in Richtung Cleveland und stand dann still.

Die anderen suchten sich, in der Reihenfolge in der sie gerade standen, die nächsten Tische aus. Rolex stand neben Jocelyn. Hier roch es nach Blumen und Erde. Mit jeder Bewegung ihres Kopfes fielen die Dreadlocks schwer auf ihre Schultern.

Wir stehen hier wie die Bauern auf der Grundlinie, dachte Rolex. Aber wo ist der König? Und wo ist die Kavallerie?

Auch hier drinnen hatte er bisher keine Kameras gesehen. Gerade im Eingang hätte er welche angebracht. Und Bewegungsmelder.

„Ken, bitte öffnen Sie Ihre Tasche, nehmen Sie Ihren Rechner heraus und fahren Sie ihn hoch. Sie werden mir den Rechner zeigen, wenn er hochgefahren ist.“

Der Japaner verbeugte sich wieder, trat an den Tisch und öffnete die Tasche. Wieder klirrte etwas.

Er nahm einen Sony-Laptop aus der Tasche, klappte ihn auf und startete ihn. Cleveland trat an Kens Tisch.

Alle bis auf Toni hatten ihre Taschen auf die Tische gelegt. Auf vier Tischen standen Laptops. Unterschiedliche Marken, unterschiedliche Größen.

Der Rollkoffer stand aufrecht neben der Italienerin.

„Sie bitte auch, Miss Scalfari.“

„Auf keinen Fall.“

„Das ist eine der Regeln, Miss Scalfari.“ Cleveland hatte ihr den Rücken zugedreht und beobachtete das Hochfahren von Kens Rechner. „Sie haben unterschrieben.“

Rolex beobachtete an ihm vorbei auf dem Display die schnelle Sequenz der Anzeigen beim Hochfahren von Windows. Hatte dieser Ken schon irgendein Kennwort eingegeben? Dann war er sehr schnell mit seinen Fingern. Oder er arbeitete mit einem Fingerabdruck-Sensor. Rolex nahm nicht an, dass einer von ihnen seinen Rechner nicht mit Verschlüsselung geschützt hatte. Nur sein eigener Schutz war noch effektiver.

„Stronzo! Niemand fasst meinen Rechner an.“ Sie legte die linke Hand auf den Griff des Rollkoffers.

Ihre rechte Hand hielt den Gurt der Handtasche umklammerte, die geöffnet von ihrer Schulter hing. Beim Einsteigen in den Bus, während sie vor Rolex zwischen den Sitzreihen hindurchging, war die Tasche geschlossen gewesen. Sie musste sie im Bus geöffnet haben.

„Miss Scalfari, die Regeln gelten auch für Sie. Danke sehr“, sagte er zu Ken, der sich erneut verbeugte und den Laptop eilig zuklappte. Cleveland drehte sich um, in der Hand hielt er eine kantige Waffe, die Rolex als Desert Eagle erkannte, Kaliber 44.

Der Mann und die Frau standen drei Schritte auseinander, auf diese Entfernung wurde eine 44er ein faustgroßes Loch in den Oberkörper der Frau reißen und sie einige Schritte nach hinten schleudern. Ihr Blut würde eine halbe Sekunde vor ihrem Körper an der Wand auftreffen.

Noch bevor Cleveland die Waffe vollständig auf Toni Scalfari gerichtet hatte, hielt auch sie eine Pistole in der Hand, klein und schmal und silbern und in gerader Linie auf seinen Kopf zeigend. Rolex erkannte ein italienisches Modell, natürlich. Zwischen ihren schmalen Fingern hindurch sah er einen Perlmuttgriff. Eigentlich ein Spielzeug, eine Salonknarre, aber auf diese Entfernung genauso tödlich wie Clevelands große Automatik.

„Mein Rechner, meine Regeln.“

Unter Jocelyns Sohlen knirschte ein Steinchen.

„Guys, this is not fair.“ Patrick sah Toni an. „Wenn einer von euch abdrückt, dann ist für uns alle dieser Job vorbei. Und er ist nicht vorbei, bevor ich nicht die halbe Million habe.“ Er grinste.

„Wie hast du die Knarre durch die Flughafen-Kontrolle gekriegt?“. Rolex sagte etwas, um es zu sagen.

Sie drehte den Kopf und er konnte ihre Zähne zwischen den geschminkten Lippen sehen. „Mein Flugzeug, mein Pilot. Keine Kontrolle.“ Und zu Cleveland „Keine Kontrolle.“

„Sie haben unterschrieben.“ Seine Waffe bewegte sich nicht.

Rolex griff in seine Tasche, zog einen flachen Karton heraus und legte ihn auf seinen Tisch. „Nimm erstmal meinen.“

Die beiden Waffen bewegten sich nicht.

„Wir machen einen Deal“, sagte Cleveland.

„Ich höre.“

„Sie zeigen mir Ihren Rechner, aber nur mir. Niemand anders.“

„Ok, wir anderen halten uns die Hände vor die Augen.“ Jocelyn sah Rolex an, der schüttelte den Kopf.

„Sie werden sich alle umdrehen.“

„Ok, Let´s do it. Waste of time.“ Patrick drehte sich von Toni und Cleveland weg. Er blieb aber so stehen, dass er seinen eigenen Rechner im Blick behielt. Ken machte es ihm schweigend nach. Rolex gab Jocelyn ein Zeichen mit dem Kopf und drehte sich dann weg.

Er hörte, wie Jocelyns Schuhe beim Umdrehen wieder ein knirschendes Geräusch auf den Steinfliesen machten. Weißer Bauer auf schwarzem Feld. Nein, sie waren alle Black Hats. Schwarze Bauern auf schwarzem Feld.

Dann wurde der große Schalenkoffer auf den Tisch gehoben und zurecht gerückt. Die Schlösser wurden geöffnet und er wusste ohne hinzusehen, dass Toni den Koffer nur so weit öffnen würde, um ihren Laptop heraus zu ziehen. Etwas Hartes wurde auf den Tisch gestellt, zwei Personen bewegten sich.

Ein Lüfter startete.

Neben ihm blickte Patrick an die Decke. „Waste of time“, murmelte er.

„Ok“, hörte er Cleveland sagen. „Danke. Jetzt Sie.“ Er schob die Waffe hinten in seinen Gürtel.

Nach Jocelyn war dann Patrick an der Reihe. Alle bestanden den Test, wonach auch immer Cleveland gesucht hatte. Und alle hatten ihre Rechner verschlüsselt, Jocelyn hatte ohne sich zu vertippen ein vierundzwanzigstelliges Passwort eingegeben, Rolex hatte mitgezählt. Aber der Mann hatte Recht, sie hatten das mit unterschrieben. Das war eine der vielen Regeln für dieses Spiel.

Dann stand Cleveland neben dem Tisch von Rolex.

„Was ist das?“

„Ein Rechner.“

„Im Karton?“

„Originalverpackt. Gestern gekauft.“

„Auspacken. Einschalten.“

Rolex ließ die Palette mit den Energy Drinks neben dem Karton auf den Tisch fallen. „Haben Sie ein Taschenmesser? Mit meinem kam ich nicht durch die Kontrollen.“

„Nein. Haben Sie nichts anderes? Einen Schlüssel oder so etwas?“

Rolex zog einen seiner Schlüssel durch die verklebten Kanten des Kartons und öffnete den Deckel. Alle sahen einen Laptop im Plastikfolie.

„Ich brauche Strom. Der Akku ist noch leer.“

Hinter Jocelyns Tisch war eine alte schwarze Steckdose an der Wand, er trug den Rechner dorthin und roch in ihrer Nähe wieder Blumen und Erde. Rolex zog den Akku aus der Plastikfolie, setzte ihn in den Rechner, er rastete mit einem Klick ein. Dann schloss er den Strom an und schaltete den Rechner ein.

Cleveland stand neben ihm. „Da ist nichts“, sagte er nach einer Minute. „Nicht mal ein Betriebssystem.“

„Originalverpackt. Leer. Nur ein BIOS.“ Rolex sah in an. „Der ist sicher, würde ich sagen.“

„Wir haben sechs der gefährlichsten Hacker eingeladen, die schwärzesten der Black Hats, die wir finden konnten. Und Sie kommen unbewaffnet?“ Cleveland schüttelte den Kopf. „No points for Germany.“

„Fucking loser“, murmelte Patrick. Jocelyn sah Rolex an wie einen Welpen, der Angst vor Donner hat. Toni sah ihn an wie jemanden, der sich vollgekotzt hat.

---ENDE DER LESEPROBE---