Die leere Stadt - Gerd Rufft - E-Book

Die leere Stadt E-Book

Gerd Rufft

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Beschreibung

Bei einem Abend mit zu viel Alkohol lernt er eine unbekannte Schöne kennen und wacht in einer Kleinstadt auf, in der alle Bewohner umgebracht wurden. Nur ein neugeborenes Mädchen hat überlebt. Er kann mit ihr die Stadt nicht verlassen, daher muss er den Kampf mit einem Wesen aus der Tiefe der Zeit aufnehmen, um das Baby und sich zu retten.

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Gerd Rufft

Die leere Stadt

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Kapitel Eins

Zweimal drehte die eine Hand das Glas zuerst links, dann rechts herum, während die andere in langweiliger Routine das Tuch bewegte, um die letzten Spuren des Spülwassers zu entfernen. Schließlich war das Ende dieser Prozedur erreicht, das Glas war,, wie alle anderen, zu denen es in das Regal gestellt wurde, von einem schmierigen Schleier überzogen und die eine Handwarf das Tuch unachtsam über die Schulter. Die andere Hand hatte längst die Flasche ergriffen und näherte sich mit ihr der über den Tresen gestreckten Hand, der ein leeres Glas dem ewigen Zyklus zwischen der Trübheit des Spülwassers und den klebrigen Rändern des Regalbrettes nur dafür hatte entrinnen dürfen, einem für diese Feinheiten unsensiblen Gast als Transportmittel der Verheißung zu dienen.

Er hatte dieses stumme Ritual in den letzten Wochen zu oft verfolgt, um ihm noch eine vergnügliche Seite abgewinnen zu können. Und zu oft war die ausgestreckte Hand mit dem leeren Glas seine eigene gewesen. Zu oft hatte er den Inhalt des Glases schnell in sich hineingeschüttet. Und zu oft hatte er den Rand des Glases nur widerwillig mit den Lippen berührt. Zu oft hatte er sich gesagt 'Alkohol desinfiziert', und dann doch mit dem Handrücken den Schmierfilm von seinen Lippen gewischt.

Und dann gleich mit jener lässigen, längst vertrauten Handbewegung ein neues bestellt. ‚Machen Sie eine typische Handbewegung‘. Was hätte er auch anders tun sollen. Der Wirt interessierte sich nur dafür, wie viel getrunken wurde, und natürlich dafür, dass dafür bezahlt wurde. Er konnte sich nicht erinnern, jemals mit dem Wirt geredet zu haben. Wie alle anderen Gäste war auch er dem gleichen Zyklus verfallen. Keins der Gesichter, die er durch den grauen Tabakrauch erkennen konnte, zeigte Spuren von Interesse an seiner Umgebung.

Rote Gesichter, graugelbe Haare über müden Augen. Die Nasen, von roten Äderchen durchzogen und leicht geschwollen. Nikotinfinger, die mit leeren Gläsern feuchte Spuren über das Holz zogen, als suchten sie den Ausgang aus einem Labyrinth. Doch alle kehrten zum Mittelpunkt zurück und machten die Handbewegung, bauten mit einem schnellen Zurückwerfen des Kopfes weitere Mauern im Labyrinth und begannen die Suche erneut. Mit jedem Abend, den er hier verbrachte, fühlte er sich mehr und mehr als einer der ihren. Er hatte sich dabei ertappt, wie er anfing, das leere Glas zwischen den Fingern zu drehen und erschreckt ein neues bestellt. Typische Handbewegung. Danach hatte er zwei Bier getrunken, aber auch Biergläser ließen sich drehen. Also weiter Schnaps.

Handbewegung, Willkommenes Brennen im Hals.

Helligkeit im Augenwinkel. Frischluft zog über sein Gesicht. Der Wirt griff mechanisch nach einem neuen Glas. Kundschaft.

Dann hielt seine Hand für einen winzigen Augenblick inne und die Gläser im Regal wurden klirrend aneinander geschoben, die Finger tasteten nach dem Glas.

Er wandte den Blick von den Zerrbildern des Wirtes und des Bierdeckels, die er durch das Glas betrachtet hatte. Im Gegenlicht der Straßenbeleuchtung und Neonreklamen stand eine Frau in der offenen Tür.

Eine Frau.

Er hatte hier noch nie eine Frau gesehen. Nicht in dieser Kneipe. Und sehr selten in dieser Straße.

ZweiStraßen weiter begann das Nachtleben mit billigen Bars und schmutzigen Porno-Kinos und setzte sich zur Stadtmitte hin fort, wo man schließlich Theater statt der Kinos und teure Restaurants statt der Dönerbuden fand. Und je weiter man in die Stadt kam, desto zahlreicher und attraktiver wurden die Frauen. Und teurer, dachte er verbittert und versuchte nicht an die zu denken, die nur noch in seiner Erinnerung existierte.

Zögernd stand die Frau in der Tür, ein schmaler Umriss im Licht der Straße. Ablehnung blickte ihr entgegen. Misstrauen. Neugier. Sie wollte nicht eintreten.

Dann machte sie einen unsicheren Schritt nach vorne und ließ die Tür hinter sich zufallen. Einige Sekunden stand sie reglos im Halbdunkel des Eingangs, dann ging sie mit festen Schritten auf die Theke zu.

Er sah, dass sie sich bemühte, ihren Gang selbstsicher und fest erscheinen zu lassen. Es gelang ihr nicht.

Getrunken hat sie nichts, das sah er sofort. Man bekommt ein Auge dafür, als Fachmann, dachte er.

Sie setzte sich. Vier Holzbeine schabten auf dem Fußboden.

Mehrere Augenpaare folgten jeder ihrer Bewegungen, kamen an der Theke zur Ruhe.

Langsam legte sich die Spannung. Die Situation war da. Eine Fremde unter ihnen. Sie saß an der Theke wie ein Splitter im Fleisch ihrer Gemeinschaft.

Eine Fremde unter Fremden, die jetzt sicher waren, sich jahrelang zu kennen.

Ungefragt stellte der Wirt ein Bier vor sie hin. Auch er unsicher, abwartend. Doch sicher nichts Stärkeres? Sie nickte leicht, ergriff das Glas, trank einen kleinen Schluck.

Erleichtert zog der Wirt sich zurück und begann, die leeren Gläser wieder zu füllen, die leise in kleinen Pfützen herumstanden. Man kehrte zur Routine zurück, wenn auch mit Einschränkungen.

Sie spürte die Ablehnung und die Blicke und saß da, als würde jeder Blick, der an ihr herab glitt, eine schleimige Spur hinterlassen. Verkrampft hielt sie sich am Bierglas fest, beide Hände darum geklammert. Das Bier würde bald warm werden. Sie suchte einen festen Punkt in der Luft. Doch das Interesse an ihr ließ gleich wieder nach. Die Gläser, die von den ersten schon wieder auf die Reise geschickt wurden, versprachen eine viel realistischere Welt als die Unbekannte, die so jäh in ihre unerklärte Gemeinschaft eingedrungen war. Bald löste sich das vorletzte Augenpaar von ihr.

Nur er beobachtete sie weiter. Sie schien sich zu entspannen, und das Weisse verschwand aus den Fingerknöcheln.

Er sah, wie sie langsam und tief ausatmete.

Handbewegung. Wirt. Brennen im Hals. Handrücken.

Sie war mittelgroß. Schulterlange Haare. Braun oder schwarz, das war bei dieser Beleuchtung nicht genau festzustellen. Dunkelbraune Lederjacke, sicherlich teuer. Helle Jeans und Turnschuhe. Auch deshalb wirkte sie hier fehl am Platz. Saubere Jeans. Saubere Turnschuhe.

War sie hübsch? Das konnte er nicht sehen. Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn sie hübsch wäre?

Sie hob das Glas und nahm einen weiteren kleinen Schluck. Schlange Finger, schmaler Goldring. Als hätte sie ein Sektglas in der Hand, dachte er amüsiert. Kein Profi, so wie er.

Handbewegung. Wirt. Brennen im Hals. Handrücken.

Sollte es auch besser nicht werden, dachte er. Wäre schade um sie.

Wie alt sie wohl war? Von schräg hinten konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Mitte zwanzig. Eher etwas älter. Ende zwanzig.

Dann bemerkte er, dass sie die Anwesenden musterte. Aber nicht offen und misstrauisch, wie man es mit ihr gemacht hatte, sondern aus den Augenwinkeln und nur durch leise Bewegungen des Kopfes bemerkbar. Sie wollte nicht auffallen, nicht beachtet werden. Als hätte sie eine Verabredung mit einem Unbekannten und versuchte herauszufinden, hinter welchem der Gesichter er sich verbarg.

Jeden einzelnen betrachtete sie genau und ausgiebig und er kam auf den Gedanken, sie würde eine auswendig gelernte Beschreibung, einen mentalen Steckbrief, mit jedem der grauen Gesichter vergleichen, die in ungewollter Konzentration in die Zukunft sahen, die hinter ihnen lag. Er meinte verfolgen zu können, wie ihr Blick über diese gesichtslosen Gesichter glitt, wie sie mit der Neugier von jemanden, dem dieses Leben fremd ist, aufmerksam die Augen, die ungepflegten Bärte und die Falten in den Gesichtern streifte, die Lippen und die schmutzigen Finger. Er glaubte, jedes Mal ihre Erleichterung zu spüren, zum Nächsten übergehen zu können, ohne einem Blick der von Runzeln umgebenen Augen zu begegnen.

Sie sucht jemanden, will ihn aber nicht finden? Wie dumm ist das denn?

Der Wirt schob wieder klirrend Gläser auf dem Regal zusammen, sie zuckte zusammen und schien sich auf dem Stuhl klein machen zu wollen wie jemand, der in der Schule den Fragen des Lehrers entgehen will. Um eine Entdeckung zu vermeiden, wartete sie mit der Fortsetzung ihrer stillen Suche, bis der Wirt zur Routine des Gläserputzens übergegangen war.

Er hätte ihr sagen können, dass der Wirt sie auf keinen Fall behelligt hätte. Es hatte ihn nicht einmal gestört, dass vor ein paar Wochen der alte Mann im grauen Mantel, der immer der erste war, wenn der Wirt die Tür aufschloss, abends auf den Tisch gesunken war, und schon tot war, bevor der Notarzt kam.

Er hatte einfach das Glas des Alten eingesammelt und den Tisch abgewischt, auf dem sich der Speichel des Alten mit dem Schnaps des umgestoßenen Glases gemischt hatte. Hatte dann den Zettel in den Müll geworfen, auf dem der alte Mann hatte anschreiben lassen.

Bei ihren Beobachtungen der Parade der Hoffnungslosen hatte sie ihm immer mehr den Kopf zugewandt.

Sie ist schön. Zumindest attraktiv. Oder hübsch. Er war aus der Übung.

Ihr Mund fiel ihm zuerst auf. Sie nahm einen weiteren Schluck und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, um die Reste des Schaumes zu erfassen. Das erinnerte ihn an die, die er vergessen wollte. Wie oft hatte sie es neckend bei ihm gemacht, um dann…

Handbewegung. Wirt. Brennen im Hals. Handrücken.

Gleich würde die Reihe an ihm sein. Plötzlich spürte er eine Erregung bei dem Gedanken, ihr gleich in die Augen zu sehen. Ihm wurde warm und eine Wärme legte sich auf seinen Magen, die sich erfreulich von der Wärme unterschied, die aus den Gläsern kam. Diese Wärme versetzte ihn fast in ein Hochgefühl. Eine Welle jagte durch seinen Körper, während sie sich weiter herumdrehte, immer darauf bedacht, nicht aufzufallen, zu sehen, aber nicht gesehen zu werden.

Gleich war sein Nachbar dran, zwei Tische weiter.

Er legte seinen Blick wie eine Maske auf ihr Gesicht und jede Regung, jede Bewegung der Gesichtsmuskeln, das rhythmische Weiten der Nasenflügel, das unmerkliche Pochen des Blutes in den Schläfen und die rastlosen, nervösen Bewegungen der Pupillen wurden von ihm registriert und versetzten ihm kleine warme Schläge in die Magengegend. Und mit jedem bisschen mehr, das er von ihrem Gesicht sehen konnte, glitten diese Schläge tiefer. Wie...

Handbewegung. Wirt. Brennen im Hals. Handrücken.

Mit einem für alle anderen nicht sichtbaren Ausdruck der Enttäuschung in den Augen — braun waren sie, das sah er jetzt — löste sie ihren Blick von einem weiteren ausgeschiedenen Kandidaten und wandte sich seinem direkten Nachbarn zu. Vom Alkohol und dem hammerartigen Schlagen seines Herzens abgelenkt registrierte er nur halb, wie systematisch sie seinen Nachbarn in Augenschein nahm. Ihre Augen verfolgten eine ganz bestimmte Bahn über sein Gesicht, hakten nach und nach Punkte ihres imaginären Fragebogens ab und wirkten doch ängstlich und gehetzt wie bei einem in die Enge getriebenen Tier. Als hätte sie Angst, etwas wichtiges zu übersehen und damit den Unbekannten für immer zu verlieren, von dem sie sich etwas zu erhoffen schien.

Eine furchtbare Angst spricht aus ihren Augen. Wie bei jemandem, der vor einem Arzneischrank steht und das Gegengift nicht finden kann.

Begierig sog er jede ihrer Bewegungen in sich auf, und war so auf sie fixiert, dass er kaum merkte, dass sie jetzt ihn ansah.

Für einen Moment stockte ihm der Atem. Der Blick aus diesen braunen Augen traf ihn wie ein warmer Windstoß. Er reagierte auf seine Verwirrung mit dem neu Wochen erworbenen Instinkt.

Handbewegung. Wirt. Brennen in Hals. Handrücken.

Kaum hatte er die Hand gehoben, erstarrte ihr Blick überrascht. Ungläubig sah sie ihn an.

Erstaunt und mit einem Anflug von Hoffnung und Beruhigung.

Mein Gott, Sie denkt, ich hätte sie gemeint! durchschoss es ihn. Aber er konnte seinen Blick nicht abwenden, um dem Missverständnis auszuweichen.

Ihre Augen waren fest aufeinander gerichtet. Keiner von beiden wagte, sich zu bewegen.

Für einen kurzen Augenblick standen Raum und Zeit still. Sein Verstand war plötzlich wie kalt geduscht. Er war wieder nüchtern. Beinahe.

Was will sie, was mache ich jetzt, wieso ich, ging ihm durch den Kopf.

Aber sie ließ den Blick nicht von ihm ab.

Durch die graublauen Tabakschwaden sah er, wie sie die Mundwinkel verzog. Fast unmerklich und zaghaft. Die unsichere Andeutung eines Lächelns.

Auf einmal fiel es ihm nicht so schwer, ihren Blick zu erwidern. Dem Blick in diese Augen, die durch dieses eine Lächeln zu einer Oase der Wärme und des Lichts in seiner halbdunklen Welt geworden waren, wollte er nicht ausweichen. Eine Welt, in der die Wärme vom Alkohol kam und in der das Licht dieses grauenvoll grelle und unbarmherzige Licht war, das ihm beim Öffnen der Augen das Hirn durchbohrte und danach verlangte, sofort durch mehr Alkohol verdunkelt zu werden.

Wie schön sie ist! dachte er. Fast so schön wie... Nein. Und sie ist anders.

Die Aufregung verlegte sich vom Kopf in seine Brust, weil sie noch einmal lächelte. Deutlicher diesmal. Offener. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, ihre Augen leuchteten. Oase mit Leuchtfeuer.

Ohne es gewollt zu haben, lächelte er zurück.

Er konnte ihre Erleichterung fast körperlich spüren. Ihre Haltung entspannte sich, verlor die Aura eines gehetzten TieresJetzt sprach Zuversicht aus ihr. Glaube, dass die wie ein Kleinod gehütete Hoffnung berechtigt war. Wieder erschrak er, denn sie stand sie plötzlich auf. Mit einer entschlossenen Bewegung hatte sie die Ketten und Fesseln abgeworfen, die gerade von einem Krieger mit stahlgrauen Augen durchtrennt worden waren. Das Adrenalin strömte diesmal in seine Brust, nicht in den Bauch. Aber es half nicht, nüchtern zu werden.

So wusste er nicht, ob ihre Schritte noch unsicher waren oder ob nur er es so sah. Sie kam auf ihn zu, in gerader Linie. Sein Herz begann zu klopfen, das Blut in den Schläfen zu pulsieren. Wie ein Schuljunge, dachte er.

Sie hatte ungefähr seine Größe.

Er merkte, dass er sich auf Äußerlichkeiten konzentrierte, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. Ein Hauch eines ihm unbekannten Parfüms wehte ihm entgegen, während sie die Hand ausstreckte und einen Stuhl heranzog. Das Scharren der Stuhlbeine auf dem Boden war unerwartet und laut.

Aber niemand drehte den Kopf zu ihnen.

Das Geräusch hatte sie wieder verunsichert.

Jetzt saßen sie sich gegenüber. Getrennt nur noch durch die mit feuchten Ringen und leeren Gläsern geschmückte Tischplatte.

Jetzt, aus der Nähe, schätzte er sie auf Ende zwanzig.

Sie hatte ihr Glas an der Theke stehengelassen, deshalb waren ihre Hände ohne Halt, waren in dauernder Bewegung, unruhig, nervös. Als hätte die plötzliche Nähe ihre Befreiung um Minuten zurückgeworfen.

Er merkte, dass sie ihn weiter musterte. Ihre Blicke trafen sich, sie fühlten sich beide ertappt und wichen dem anderen aus. Keiner wollte der erste sein.

Die körperliche Nähe war mehr Konfrontation als Annäherung, mehr Graben als Brücke.

Minuten vergingen. Sie hörten die Geräusche geschobener Gläser nicht, die bezeugten, dass das Publikum längst das Interesse verloren hatte und wieder eigenen Vergnügungen nachging. Mit dem trügerischen Instinkt, der seinem Unwohlsein entsprach, hob er zwei Finger in die Luft und beantwortete den fragenden Blick des Wirtes mit einem Nicken.

Erleichtert über diese befreiende Bewegung, die seine starre Haltung des Beobachtetwerdens durchbrochen hatte, setzte er sich bequemer hin und sah ihr direkt in die Augen. Erstaunt über seine eigene Kühnheit. Flucht nach vorne, die bohrende Unsicherheit zu überwinden.

Er hatte Erfolg. Sie erwiderte seinen Blick und holte gerade Luft, um das entscheidende, herbeigesehnte erste Wort zu sprechen, da erschien der Wirt mit den Gläsern und schuf zwei neue feuchte Ringe in der Einöde der Tischplatte.

Sie mussten beide lächeln. Auge in Auge.

Er hob sein Glas und leerte es mit der üblichen Bewegung. Wartete, dass sie seinem Beispiel folgte. An ihrer Reaktion sah er, dass sie so etwas nicht gewohnt war. Sie wusste das Glühen im Hals und das plötzliche warme Gefühl im Magen nicht zu schätzen. Für sie schien es eher ein Kratzen zu sein, danach zu urteilen, wie sie ihr Gesicht verzog. Man merkte es, obwohl sie angestrengt versuchte, Haltung zu bewahren, sich nichts anmerken zu lassen. Früher war es ihm auch so gegangen.

Wie Spiegelbilder saßen sie sich gegenüber, kaum einen Meter auseinander. Ein Arm vor den Körper auf den Tisch gestützt, der andere lag auf der Tischplatte und hielt das leere Glas fest. Unbewegt, als wäre es durch die Feuchtigkeit am Tisch festgefroren. Aber das Eis zwischen ihnen war gebrochen.

Schließlich war sie es, die es zum Schmelzen brachte.

"Oft hier?"

Sie sprach leise, mit einer weichen Stimme. Mit Zurückhaltung, aber aus der Stimme hörte er heraus, dass sie auch laut werden konnte. Eine starke Stimme. Für eine starke Frau?

Sie fragte, aber es klang, als wisse sie die Antwort.

Er nickte. "Ziemlich". Und hob dabei die Schultern, als wolle er fragen, was man denn sonst machen sollte.

"Was machst du sonst so?“

Sie las die Antwort in seinen Augen: Nichts.

"Und vorher?"

Erstaunt sah er sie an. Sie fragte, als wisse sie Bescheid, als kenne sie das Ereignis und den Zeitpunkt, der sein Lebens brutal wie das Beil eines Schlachters in Vorher und Nachher aufteilte.

Dann sank er wieder zusammen. "Vorher war es anders. Vorher war ich..."

Er brach ab, fürchtete sich davor, Offenheit zu zeigen.

Fragend sah sie ihn an, auffordernd und ermunternd. Bestellte mit einer Kopie mit seiner Handbewegung zwei neue Gläser.

Er wartete, bis die neuen Gläser da waren. Mit ihnen neues Selbstbewusstsein und neue Zuversicht.

Brennen im Hals.

"Früher war ich immer dabei, überall. Nichts war unmöglich. Ich war immer dabei. Unbesiegbar. Die Welt..." Er lachte, als er verlegen nach einer alten Beschreibung suchte. "Die Welt war meine Auster.“

Die Erinnerung traf ihn wie eine Breitseite. Er verstummte und seine Hand verkrampfte sich um das leere Glas. Sie schob ihm ihres zu. Dankbar griff er danach und stürzte es hastig hinunter.

Er sah sie an. In ihren Augen, ihrem Blick, glaubte er zu sehen, dass sie seine Geschichte kannte, dass sie mit jeder Einzelheit, mit der kleinsten Begebenheit, so vertraut war, als sei sie dabei gewesen und hätte mitgeschrieben. Er kam sich vor, als würde sie ihn länger kennen als er sich selber. Und konnte sich doch nicht an sie erinnern.

Aber das war nicht wichtig. In ihren Augen war Verständnis. Warm waren sie, diese Augen. Warm und zärtlich. Verheißungsvoll. Sie wussten alles, diese Augen. Aber sie tadelten nicht, sie klagten nicht an. Kein vorwurfsvoller Blick durfte sich in ihnen formen, keine zusammengezogenen Augenbrauen durften sie entstellen.

Gütig blickten sie, wie die Augen einer Mutter. Wissend wie die Augen eines Lehrers oder eines Richters. Und zärtlich wie die Augen einer Liebenden.

Den Gedanken an die Existenz eines Liebhabers wischte er beiseite, noch ehe er ihn richtig denken konnte. Nur der Augenblick zählte jetzt. Sie sah, dass er ins Stocken kam und nicht weiter wusste. Bestellte noch zwei Gläser, mit mehr Übung und weniger Zurückhaltung, und überhörte das klagende Schlurfen des Wirtes, mit dem er, er das Tablett vor sich herschiebend, zu ihnen kam.

Er trank und begann wieder zu erzählen.

Er erzählte und musste sich manchmal überwinden, die Erinnerungen wach zu rufen, die ihn nicht schlafen ließen. Namen ohne Gesichter begannen wieder Gestalt anzunehmen, füllten sich mit Leben und mit Vergangenheit. Vergessene Schicksale flossen in sein Gedächtnis zurück. Teilchen für Teilchen setzte er für sie das Mosaik seines Lebens zusammen. Aber die bunten Steine fehlten. Stein an Stein wurde zusammengefügt, grau an grau, und verschmolz zu einem formlosen Gebilde, das von wenigen sichtbaren Linien durchzogen wurde.

Die Handfläche einer griechischen Statue, die staubige Karte einer Wüste.

Er erzählte alles. Mehr, als er bisher jemandem erzählt hatte und mehr, als er selbst gewusst oder wahrgenommen hatte. Und sie nickte. Wieder und wieder. Er merkte nicht, dass sie ihn damit nicht nur zum Weiterreden ermuntern, sondern dass dieses Nicken auch ein erkennendes und selbstbestätigendes Nicken war. Er merkte nicht, dass sie Punkt für Punkt ihrer mentalen Checkliste befriedigt abhaken konnte, dass sie immer gelassener und ruhiger wurde, dass sie sich sicher war, denjenigen gefunden zu haben, auf den ihr Steckbrief passte. Er sah ihre Erleichterung nicht, endlich das Ende ihrer Suche erreicht zu haben.

Er erzählte und erzählte, redete sich sein Leben von der toten Seele.

Er merkte kaum, dass sie sich neben ihn gesetzt hatte. Dann durchfuhr ihn ein Stromschlag, weil sie seine Hand ergriff und die verkrampften Fingern vom Glas löste. Er hielt inne und spürte auf Nähe auch körperlich. Er meinte die Wärme zu spüren, die von ihr ausging, spürte Fleisch und Blut neben sich.

Und trotz seines Zustandes nahm er wahr, dass sie versucht hatte, mit dem Parfüm ihren eigenen Geruch zu verdecken. Er versuchte, diesen Geruch einzuordnen, zu fassen, zu beschreiben. Es kam ihm vor, als röche er eine Frau, die gerade einem Werbeplakat entstiegen war. Flach und körperlos war dieser Geruch.

Und trotz dieser Körperlosigkeit konnte er etwas mit diesem Geruch verbinden. Bilder und Empfindungen wurden in ihm wachgerufen. Städte waren in diesem Geruch enthalten, Dörfer und Straßen. Weite Felder, braun vom gepflügten Boden und gelb vom blühenden Raps. Lastwagen auf Landstraßen fuhren bis zum Horizont, ihr Motorengeräusch verebbte langsam.

Verwundert und erschreckt blickte er sie an.

Und im Geruch erschienen einsame, mit Heu gefüllte Scheunen, in denen Mann und Frau sich gefunden hatten. Er spürte, wie er sie begehrte, fühlte in sich Begehren und Trieb darum streiten, der erste zu sein.

Er öffnete die Lippen, wollte es herausschreien, mit ihrem Geruch in den Lungen und im Kopf. Da sprach sie “Lass uns gehen".

Lächelte dabei — jetzt nicht mehr wie eine Mutter — und zog ihn hoch.

Er war so damit beschäftigt, nach dem Aufstehen das Gleichgewicht zu halten, dass er nicht sehen konnte, ob sie bezahlte oder nicht. Nach den ersten Schritten hatte sie ihn eingeholt und stützte ihn, legte seinen Arm um ihre Schulter und umfasste ihn mit einem Arm. Er spürte, wie sie ihn an sich — oder sich an ihn? — drückte und erwiderte den Druck, konnte dabei durch die Kleidung ihren Körper fühlen. Das Blut pulsierte durch seine Adern, sammelte sich zwischen seinen Beinen. Bei jedem Schritt drängte er sich an sie, sie lachte und musste gegensteuern, damit sie die Tür trafen.

Die kalte Nachtluft traf ihn wie ein Regenguss und ließ ihn die vielen Gläser spüren, die er geleert hatte. Die Straßenlampen und Neon-Reklamen begannen vor seinen Augen einen wilden Tanz aufzuführen. Er musste die Augen schließen und umarmte sie reflexartig, um nicht zu fallen. Er hielt sie endlich fest in den Armen und die Welt begann sich zu drehen. Mit Mühe öffnete er die Augen wieder und schwankte, versuchte dem Schwindelgefühl durch geschicktes Antäuschen auszuweichen. Sie sah ihn an, den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Er sah nur noch ihre Lippen, feucht und warm schimmernd im Licht der Laterne. Er beugte sich nach vorne, seine Lippen berührten ihre, dann gaben seine Knie nach. Er brach vor ihr zusammen, knickte ein, fiel zur Seite und blieb liegen, mit dem Gesicht in einer warmen Pfütze.

Ihre Lippen waren eiskalt.

Kapitel Zwei

Er öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder mit einem Schmerzensschrei, weil gleißendes Sonnenlicht ihn blendete. Tausende von brennenden gelben Nadeln wirbelten in seinem Kopf herum. Sein Hals brannte, sein Mund war trocken und er musste würgen, weil er versuchte zu schlucken. Stöhnend drehte er sich auf die Seite und richtete sich auf.

Vorsichtig öffnete er die Augen wieder einen Spalt.

Er saß am Rande einer Straße, auf dem schmalen Streifen zwischen Asphalt und Graben. Nach links führte die Straße einen Hügel hinauf, von dessen Gipfel er nur wenige hundert Meter entfernt war. Rechts konnte er dem Verlauf der Straße weiter verfolgen. Sie schlängelte sich zwischen blühendem Raps und gepflügten Feldern dahin, deren braune Ackerfurchen sie stückweise begleiteten, entzog sich hinter weiteren Hügeln seinen Blicken, tauchte weiter hinten als dunkles Band zwischen den Feldern wieder auf und führte sein Auge schließlich zu etwas, das von hier aussah wie eine Ansammlung von Häusern, die sich zwischen die Hügel duckten.

Dieser helle und farbenfrohe Anblick traf ihn unerwartet, so dass er die Augen ganz öffnete und mit halb offenem Mund nur dasitzen und gucken konnte.

Etwas Dunkles fiel vor seine Füße. Er blinzelte. Ein Spatz war vor ihm gelandet und sah interessiert zu ihm hoch. Dann machte er einige Hüpfer, betrachtete ihn aus der neuen Perspektive und legte dabei ruckartig den Kopf von links nach rechts und zurück.

Diese Bewegungen durchbrachen die Mauer des Erstaunens, die ihn umfangen hatte. Er fühlte die warmen Sonnenstrahlen, den warmen Boden unter sich. Er hörte die leisen scharrenden Bewegungen, die die Krallen des Spatzes auf dem Asphalt machten. Ein Windstoß wirbelte den Staub der Straße hoch und hüllte ihn in eine Wolke aus Blütenduft, die aus dem Rapsfeld herüber wehte. Mit einem Mal waren auch die Kopfschmerzen verschwunden. Immer noch ungläubig und verwirrt schüttelte er den Kopf.

Erschreckt flatterte der Spatz einige Meter zurück. Außer dem durch die Felder streichenden Wind war nichts zu hören. Etwas kitzelte seinen Arm. Er riss den schwankenden Halm aus und begann, nachdenklich darauf herum zu kauen.

Er wartete auf einen klaren Gedanken.

Die erste halbwegs logische Handlung war ein Blick zur Uhr. Halb vier. Kaffeezeit, sagten seine Erinnerungen aus der Kindheit. Die Vorstellung von Kuchen verursachte Übelkeit. Aber sein trockener Hals schrie nach Flüssigkeit.

Der Spatz kam langsam wieder näher und setzte seine Inspektion fort. Ihre Blicke trafen sich.

Er betrachtet mich wie einen Fremdkörper! Er meint, ich gehöre hier nicht hin.

Und dann meinte er in den Augen des kleinen Tieres so etwas wie belustigte Neugier zu erkennen, der Vogel hatte einen lächerlich großen und lächerlich flugunfähigen Artgenossen vor sich.

In seinen Hosentaschen fand er nur etwas Kleingeld und einige Kronkorken, nicht die Brotkrumen, die er dem Kleinen zugedacht hatte. Er hob die Hände zu einer entschuldigenden Geste und sagte "Tut mir leid". Doch sein Hals weigerte sich, mehr als ein Krächzen von sich zu geben und seine Lippen sprangen auf. Der Spatz flatterte mit einem halb erschreckten und halb verärgerten "Tschilp!" hoch und flog in Richtung des nächsten Hügels davon.

Das kaum wahrnehmbare Sirren seiner kleinen Flügel war sofort verklungen.

Er spuckte den Halm aus und sah, dass das angekaute Ende braun von Blut war. Mit dem Ärmel fuhr er sich über den Mund. Auf dem Stoff blieb eine rote Spur zurück. Der Anblick seines Blutes und der Schmerz, der von seinen aufgeplatzten Lippen ausging, machte ihm endgültig klar, dass er sich nicht in einem seiner Rauschträume befand.

Wo bin ich? fragte er sich. Wie komme ich hierhin?

Obwohl Kater und Kopfschmerzen verschwunden waren, konnte er sich an nichts Konkretes erinnern. An das Trinken natürlich. Er musste schlucken und verzog schmerzhaft das Gesicht.

Aber sonst fiel ihm nichts mehr ein. An seinen Namen konnte er sich erinnern, an seine neue Adresse.

Wo bin ich jetzt? Und wie komme ich hierher?

Systematisch durchsuchte er nochmal seine Taschen in der Hoffnung, einen Fahrschein oder sonst etwas Schriftliches zu finden. Doch er hatte nur die Kronkorken und etwas Kleingeld dabei.

Reicht für drei Dosen Bier, dachte er und spürte seinen Hals wieder.

Er blickte umher.

Keine Haltestelle in Sichtweite. Vielleicht ist eine auf der anderen Seite des Hügels.

Er und stand auf. In Armen und Beinen hatte er keine Schmerzen.

Also hat man mich nicht aus einem fahrenden Auto geworfen. Er musste lächeln bei diesem Gedanken. Wieder kein Filmstar.

Unsicher auf den Beinen blickte er sich nochmal um. Er war der einzige Mensch weit und breit. Keine Autos auf der Straße, kein Traktor auf den Feldern, so weit er sehen konnte.

Mit den Händen als Augenschutz suchte er den strahlend blauen Himmel ab. Kein Flugzeug. Und auch kein Vogel weit und breit. Die Felder mit ihren sauber parallelen Furchen wirkten wie geharkt, nur durchbrochen von einigen Hecken und den leuchtend gelben Rechtecken des Rapses.

Hoffentlich fährt überhaupt ein Bus in dieser verlassenen Gegend, murmelte er vor sich hin, und gab dabei acht, seine Lippen nicht zu sehr zu bewegen. Vielleicht sollte ich gleich zu dem Kaff dahinten gehen. Telefonieren, dachte er und klimperte mit dem Kleingeld in der Hosentasche.

Ohne zu wissen, wen er anrufen sollte. Aber er hatte ein Ziel, das war ein Fortschritt. Die Handvoll Häuser, die am Ende dieser Straße lagen. Das musste als Ziel reichen.

Er tupfte sich noch einmal die Lippen ab und stellte fest, dass kein Blut mehr austrat. Nachdem er seine Hose abgeklopft hatte, setzte er sich hügelabwärts in Bewegung, etwas wackelig zuerst und weich in den Knien. Auf die ersten Schritte musste er sich konzentrieren und vor sich auf die Straße blicken, um seine Füße richtig zu setzen. Seine Schuhe waren irgendwie zu groß für seine Füße.

Nach einigen hundert Metern hatte er sich einigermaßen eingelaufen.

Kapitel Drei

Roland stand an der Fensteröffnung und wartete darauf, dass der frische Wind die Stube vom Rauch befreite. Die bemoosten und feuchten Scheite im Kamin verbreiteten einen dichten und beißenden Qualm, der ihm beim Feuermachen die Luft genommen und ihn zum Husten gereizt hatte. Begehrlich sog er die kühle Frühlingsluft in die Lungen und rieb sich die tränenden Augen.

Allmählich schaffte es der Luftzug, den Rauch in dunklen Schwaden aus den Fenstern zu treiben. Die Einzelheiten des Raumes wurden sichtbar. Außer dem Kamin stand noch ein roh behauener Tisch im Zimmer, der aus einer riesigen Holzplatte bestand, die man über zwei Böcke gelegt hatte, und die Truhe, die er als Erstgeborener von seinem Vater geerbt hatte und deren kunstvoll gearbeitetes Schloss schon so lange klemmte, dass er sie mit dem Beil geöffnet hatte. Auf allem hatte sich der Rauch des offenen Feuers niedergelassen, alles war dunkel und rußig. An den Wänden hatte die Feuchtigkeit Tränenspuren auf dem dunklen Mauerwerk hinterlassen. Graf Roland von Pfundhard, so sein voller Name und Titel, stand in den Trümmern seines Erbes.

Seit Jahren wurde das ganze Land von einer schweren Hungersnot geplagt. Die Felder waren leer, von schweren Regengüssen durchweicht und die Saat fortgespült. Die wenigen Vorratsspeicher waren längst leer, denn niemand hatte weiter als ein Jahr im Voraus geplant. Auf den Weiden fand das Vieh kein Gras, es stand bis zu den Knien im Schlamm und brüllte sich vor Hunger die Lunge aus dem Leib. Es mehrten sich die Gerüchte, man hätte in den Hütten einiger Bauern die Überreste von Reisenden gefunden, die verschleppt, erschlagen und gesotten worden waren. Das heilige Feuer, das all die befiel, die in gierigem Hunger die spärlichen Ähren verschlangen, die sie aus dem Dreck rissen, durchzog die Dörfer wie eine Seuche und ließ die Armseligen vor Qualen schreien und zucken, vom Teufel und den Heiligen phantasieren und nach wenigen Tagen, längst schwachsinnig geworden, wie Tiere verrecken. Wie viele von ihnen in die Mägen ihrer Nachbarn wanderten, wußte keiner. Und niemand fragte danach. Die wenigen Hunde, die noch lebten, längst nur noch aus Haut und Knochen bestehend und unsicher auf den Pfoten herumziehend, stürzten sich geifernd auf die Gebeine und verwischten so alle Spuren eines solchen Leichenschmauses.

Auf der Tischplatte lag ein Rest Braten, außen verbrannt und rußig. Die angeschnittene Seite zeigte, dass er innen noch fast roh war. Er zog den Dolch und machte einen wütenden Schnitt durch das Fleisch. Widerwillig und träge erhob sich eine kleine Wolke von Fliegen und stürzte sich sofort auf das aus dem Schnitt auslaufende alte Blut, bevor es auf dem schmierigen Holz in einem der Risse verschwinden konnte. Die widerlichen Schmeißfliegen waren fast so schlimm wie die Ratten, die sich an den verwesenden Kadavern im ganzen Land die Bäuche voll schlugen. Wenn sie sich nicht mit den Menschen und Hunden um ihr seltenes Mahl streiten mussten.

Zornig riss er ein großes Stück aus dem Fleischbrocken heraus und begann, darauf herum zu kauen. Mehrmals musste er den Dolch zu Hilfe nehmen, um das zähe, von Sehnen durchsetzte Fleisch zerkleinern zu können. Blut und kalter Bratensaft liefen durch seinen ungepflegten Bart und am Hals herunter in sein Wams.

Das letzte Schwein des Windeck-Bauern, dachte er missmutig. Er musste an letzte Woche zurückdenken, da hatte er das Schwein geholt. Verängstigt und ausgemergelt hatte der Windecker in der Tür seiner halb zerfallenen Hütte gestanden. Auf dem Arm das letzte von fünf Kindern, drinnen die Frau auf dem Totenbett, ihr Husten und Schreien gellte durch die Fensterlöcher nach draußen.

Nicht mal gewehrt hat sich der Bauerntölpel, dachte er. Soll doch froh sein, hat bald ein Maul weniger zu stopfen. Die Sau hätt er ja doch nicht halten können.

Höhnisch hatte er dem Mann vor die Füße gespuckt und das Tier von seinen Knechten wegschleppen lassen. Vom Hunger getrieben hatten sie es gleich auf den Spieß gesteckt, ohne Zeit damit zu verschwenden, es auszunehmen. Noch halbrohe Stücke herausgesäbelt und verschlungen. Und danach Mühe gehabt, das Essen bei sich zu behalten.

Angewidert kaute er auf einem zähen Klumpen herum und spuckte ihn schließlich ins Feuer.

"Käthe!" brüllte er. “Scher dich her, verdammtes Weib!" Er ging auf und ab, bis er die Treppenstufen knarren hörte.

Auch der Anblick seiner Magd — dem einzigen der drei Weiber, die sich nicht fiebernd und phantasierend auf dem feuchten Strohlager in ihrer Kammer hin und her warf — wurde von Tag zu Tag abstoßender. Das braune Haar hing ihr strähnig am Kopf herunter, die früher so stolzen und festen Brüste — auf denen man eine Laus zerdrücken konnte, wie er immer geprahlt hatte — schlotterten mager und faltig unter dem schmutzigen Hemd. Die runden Hüften und die drallen Schenkel, zwischen denen er so viele Nächte verbracht hatte, waren längst verschwunden. Kaum dicker als ihre knochigen Arme waren die Waden, die unter dem Rock hervorkamen, der vorher ein Kartoffelsack gewesen war.

"Da, nimm!" Er warf ihr den Rest Fleisch vor die Füße. Hastig griff sie mit ihren knochigen Händen nach dem Brocken, der vor ihr auf die Dielen fiel und stopfte sich einen Teil davon in den Mund, um schmatzend und zerrend ein Stück davon abzubeißen. Mit einem feuchten, reißenden Geräusch gaben die Sehnen schließlich nach und schnell verschlang sie den Klumpen, ihr abgemagertes Gesicht eine gierige und verschmierte Fratze.

Die erschreckende Erinnerung, wie dieses Gesicht — jung und voll und begehrenswert noch vor einem Jahr — sich vor Lust und Schmerz unter ihm verzogen hatte, bestärkte ihn erneut darin, dass seine Entscheidung richtig war, diese Einöde zu verlassen und in das Land zu ziehen, wo Milch und Honig fließen.

Wie froh war er über die Kunde gewesen, die sein Nachbar Walter von Teck, dessen Burg zwischen Pfundhard und dem Neckar lag, ihm überbracht hatte.

Papst Urban II., Statthalter Gottes auf Erden und Christlichster aller Christen, hatte im letzten November, im Jahre 1095 nach der Geburt des Herrn, die christlichen Ritter und Heerscharen aufgerufen, gen Jerusalem zu ziehen und die Heilige Stadt von der Herrschaft der Ungläubigen zu befreien.

Die öffentliche Rede und Aufforderung des heiligen Vaters, dargebracht mit brennendem Herzen und glühenden Worten, wie Walter von Teck berichtete, hatte in Clermont das Konzil beendet und an jenem 25.

---ENDE DER LESEPROBE---