Kaktüs, der Wald und die Welt, wie ich sie mir wünsche - Stefan Karch - E-Book

Kaktüs, der Wald und die Welt, wie ich sie mir wünsche E-Book

Stefan Karch

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Beschreibung

Als ein Mädchen namens Kaktüs neu in die Klasse von Sam kommt, beginnt sich für den schüchternen Außenseiter so ziemlich alles zu verändern: Kaktüs sieht nicht aus wie alle anderen, sie sagt mutig, was sie denkt – und sie will mit Sam befreundet sein. Und das ist erst der Anfang, denn Kaktüs hat noch ganz andere Ideen: Sie hat dem Müllberg, der Tag für Tag in der Schule anfällt, den Kampf angesagt und will eine Schar Hühner vor dem Schlachthof retten. Sam will mitmachen, aber wird er in der neuen Gruppe wieder der Außenseiter sein?

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Stefan Karch

Mit Illustrationen vonStefan Karch

Kaktüs, der Wald und die Welt, wie ich sie mir wünsche

von Stefan Karch

1.Digitale Auflage 2022

www.ggverlag.at

ISBN E-Book: 978-3-7074-1754-8

ISBN Print: 978-3-7074-2517-8

In der aktuell gültigen Rechtschreibung

Coverillustration: Stefan Karch

Innenillustrationen: Stefan Karch

© 2022 G&G Verlagsgesellschaft mbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten. Jede Art der Vervielfältigung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme, gesetzlich verboten.

Kaktüs

Der erste Schultag mit Kaktüs

Anakonda

Frau Anders

Star Wars

Kampfroboter

Die Hütte

Gemischte Gefühle

Überraschungen

Radstunde

Die Hühnerklappe

Nicht normal

Vollmond

Besuch im Wald

Das Referat

Hühner

Probleme

Ein neuer Plan

Das Begräbnis

Gemeinsame Sache

Franz

Die letzten Vorbereitungen

Schulfest

Es läutete an der Tür. „Die Ladies sind da!“, rief Frieda aus der Küche.

Die Ladies kamen jeden Mittwoch zum Kartenspielen und waren alle so um die Siebzig.

Sam trottete aus seinem Zimmer Richtung Tür. Frieda bestand darauf, dass er sich wenigstens einmal blicken ließ, um die Ladies zu begrüßen.

Friedas Freundinnen waren immer schick gekleidet und rochen ein bisschen zu stark nach Parfum. Sie strahlten Sam jedes Mal freundlich an und stellten immer dieselbe Frage: „Was macht die Schule?“ Als ob das Leben nur aus Schule bestünde.

Hauptsache, ich habe es hinter mir, dachte Sam und öffnete die Tür.

Da stand ein Mädchen. Ein ausgewachsener Tyrannosaurus Rex hätte Sam nicht mehr geschockt.

„Hey“, grüßte das Mädchen und lächelte ein fröhliches Gutentaglächeln.

Sam schluckte, zu mehr war er in diesem Augenblick nicht fähig.

„Ich heiße Kaktüs. Wir sind nebenan eingezogen. Ich werde in deine Schule gehen und ich schätze, sogar in deine Klasse.“

Wow, das waren Neuigkeiten. Dass jemand in das Haus nebenan einziehen würde, hatte Sam schon vermutet. Dass sein Leben davon betroffen sein könnte, daran hatte er nicht gedacht.

„Wie heißt du?“, erkundigte sich Kaktüs.

„Sam“, antwortete Sam knapp. Eigentlich hieß er Samuel, aber so nannte ihn niemand.

Kaktüs trug eine Mütze, die ihr dichtes, lockiges Haar darunter kaum bändigen konnte. Sie hatte dünne Arme und Beine, trug ein XL-T-Shirt und Turnschuhe, die abgenützt und verschlissen aussahen.

Sie streckte Sam förmlich ihre Hand hin und strahlte noch immer über das ganze Gesicht wie eine Sonne am Morgen. Sam nahm ihre Hand und drückte sie fest.

„Wir könnten morgen gemeinsam zur Schule gehen, wenn du willst“, schlug Kaktüs vor.

„Klar“, antwortete Sam und war selbst überrascht darüber.

Den Umgang mit Mädchen war er nicht gerade gewohnt. „Kannst du mir einen Radiergummi borgen?“, war der längste Satz, den je ein Mädchen in der neuen Schule zu ihm gesagt hatte.

„Wann startest du?“, wollte Kaktüs wissen.

„Äh“, Sam musste erst seine Gedanken ordnen.

Für gewöhnlich ging er so gegen sieben los, um knapp vor dem Läuten in die Klasse zu kommen und um den Fieslingen nicht in die Arme zu laufen.

Das Mädchen wartete geduldig.

„So gegen sieben?“, brachte er schließlich heraus.

„Gebongt“, freute sich Kaktüs. Sie deutete ein Winken an und machte auf der Stelle kehrt.

Sam stand noch an der Tür, als sie längst weg war. Er nahm eine Stille wahr wie nach einem Tornado.

„Die ist nett“, hörte er Frieda sagen. Sie stand hinter ihm mit einer Kanne Tee in der Hand und lächelte ihn über ihren goldenen Brillenrand an.

Frieda war Sams Großmutter, aber eigentlich noch viel mehr als das. Sie war der einzige Mensch, den er hatte.

Sam konnte lange nicht einschlafen, weil er an dieses Mädchen denken musste. Er überlegte, was es noch für Folgen haben konnte, dass sie nebenan eingezogen war.

Die innere Samstimme sagte, dass er vorsichtig sein sollte. Es war besser, nichts zu erwarten, dann konnte er auch nicht enttäuscht werden. Und dennoch hoffte er, dieses Mädchen würde wirklich in der Früh auf ihn warten.

„Du hast deinen Tee nicht ausgetrunken“, stellte Frieda besorgt fest, als Sam den letzten Bissen von seinem Frühstücksbrot hinunterschluckte. Sam stand auf und griff nach seinem Schulrucksack. Frieda war der Tee wichtig. Sie kochte zu allen Tageszeiten Tee, so als ob Tee ein Allheilmittel wäre. Gutelaunetee in der Früh, ein Tee um die Abwehrkräfte zu stärken und beruhigenden Tee am Abend. Nicht, dass Sam sich viel aus Tee gemacht hätte, aber um Frieda eine Freude zu machen, trank er jede Menge davon. Doch jetzt musste er los.

In seinem Gesicht war nichts von der Unruhe in seinem Inneren zu sehen. Sein Herz pochte. Seine Finger schwitzten. Er ging zur Tür, öffnete sie, und da stand sie, Kaktüs, so wie sie es gesagt hatte, und wartete bereits auf ihn.

„Wollen wir?“, forderte sie ihn auf. Ihr Gesicht sprühte vor guter Laune. Sam konnte nicht anders als lächeln. Und sie marschierten los, Seite an Seite. Die Luft war noch kühl und frisch und roch nach Sommer.

Sie gingen den Gehweg entlang, an hübschen Häusern mit kleinen Vorgärten vorbei. Sam ging an der Seite eines Mädchens, das ganz real war, also kein Fantasiemädchen.

„Wie ist es so in eurer Schule?“, erkundigte sich Kaktüs.

Das Beste an der Schule war der Weg nach Hause, dachte Sam, aber das sagte er nicht laut. „Es geht“, antwortete er stattdessen. „Die meisten in der Klasse sind ganz okay.“

Kaktüs nickte. Sie machte große Schritte und bewegte ihre Arme dabei wie die Pendel einer Uhr. Quer über die Schulter trug sie eine Art Tasche, die aussah wie eine alte zerschlissene Hose, deren Beine abgeschnitten und zugenäht worden waren. Sie konnte locker mit Sam mithalten, der mindestens zwei Köpfe größer als sie war und viel längere Beine hatte. Sam machte kleine Schritte, was so aussah, als würde er watscheln. „Du bist ja nicht gerade gesprächig“, sagte Kaktüs zu Sam. Aber dabei grinste sie ihn freundlich an, so dass Sam spürte, dass sie das nicht böse meinte. „Erzähl mir ein bisschen mehr über die Klasse“, bat Kaktüs ihn.

„Wenn sie dich so sehen, werden sie dich Mütze nennen“, platzte es aus ihm heraus.

„Sie vergeben gerne Namen“, erklärte er. „Neben mir sitzt Spider, er heißt eigentlich Ugur.“ Sam war überrascht, dass er gleich so losquasselte.

„Wie ist er zu diesem Namen gekommen?“, wollte Kaktüs wissen.

„Er hat sich zu Fasching als Spiderman verkleidet. Irgendwie ist Spider dann an ihm hängen geblieben.“

„Und du?“, wollte Kaktüs wissen, „hast du auch einen Spitznamen?“

„Einige“, antwortete Sam nur.

Sam hatte viele Spitznamen: Fettsack, Robbe, Monster, Knackwurst …, aber die würde sie schon selbst herausfinden, dachte er. Kaktüs nickte und lächelte ihm aufmunternd zu.

Für Sam und seine Mitschüler war es das zweite Jahr in der neuen Schule. Sam hatte sich vom ersten Schultag an eine Strategie zurechtgelegt. Er wollte unsichtbar sein. Das war bei über 100 Kilo kein leichtes Unterfangen. Rede nicht, halte dich zurück, bewege dich nicht, waren seine selbstauferlegten Regeln. Manchmal funktionierte es, meistens nicht.

Je näher sie der Schule kamen, desto mehr Kinder strömten von allen Seiten auf den großen Eingang zu.

Sam zeigte Kaktüs die Garderobe. Es war Ende September und noch warm, sodass sie nicht einmal Jacken anhatten. Kaktüs trug immer noch ihre Mütze. Sie trug sie auch dann noch, als sie die Garderobe wieder verließen. Kaktüs wurde von allen Seiten angestarrt, aber das schien sie nicht zu stören.

Sam und Kaktüs gingen den langen Korridor entlang zu ihrer Klasse. Ein schlaksiger Junge kam ihnen entgegen. Er war mittelgroß, hatte dunkle Haare und dunkle Augenbrauen. „Hey, King Kong!“, rief er von Weitem. „Mich laust der Affe, hast du ein Mädchen gerettet?“ Er hob einen Arm und Sam schlug ein. „Ugur“, stellte er sich Kaktüs vor. „Spider“, bemerkte sie und hielt sich die Finger vor den Mund, weil sie das nicht laut hatte aussprechen wollen. Ugur schien es gar nicht gehört zu haben.

Er tänzelte um die beiden herum und kam so langsam in Fahrt. „Hat er dir alles gezeigt, die Mensa und so? Ich meine, die Mädchentoiletten, es ist immer gut zu wissen, wo man hin kann …“

Sam drehte die Augen über.

„Wir haben einen ultracoolen Fußballplatz“, redete Ugur weiter. „Spielst du Fußball? Ich trainiere, ich werde einmal Profikicker.“

Sam war froh, als sie endlich die Klasse erreichten.

Kaktüs blieb in der Tür stehen und sah sich um, als wäre ein Klassenzimmer der spannendste Ort der Welt. Die meisten waren schon da. Sie redeten, lachten und alberten herum.

Kaktüs entschied, die Vorstellungsrunde selbst in die Hand zu nehmen. Sie marschierte schnurstracks zum Lehrertisch und räusperte sich. Es wurde still in der Klasse.

„Hallo“, verkündete sie selbstsicher, „ich bin die Neue, ich heiße Kaktüs.“

Zwei Mädchen, die im Partnerlook gekleidet waren, bekamen einen hysterischen Lachanfall. Sie hielten abrupt inne und wiederholten im Chor: „Kaktus?“ Dabei starrten sie einander so an, als hätten sie sich an einer Spinne verschluckt. Sam war mit Selma und Luise schon in die Volksschule gegangen, damals trugen sie noch Haarreifen mit glitzernden Hörnern.

Kaktüs reagierte nicht darauf.

„Ist irgendwo ein Platz frei?“, erkundigte sie sich und steckte eine abtrünnige Locke unter die Mütze.

„Bei mir!“, rief Grace.

Grace kam zu Kaktüs nach vorne und schüttelte ihr ganz förmlich die Hand. Sie war groß und eine Spitzenfußballerin. Grace kam aus Afrika und war adoptiert worden. Sie hatte braune Augen, die warm leuchteten, und weiße Zähne, die zum Vorschein kamen, wenn sie lächelte. Und Grace lächelte viel.

Sam freute sich für Kaktüs und für sich selbst, denn Grace saß nur einen Tisch vor ihm. Und da würde jetzt auch Kaktüs sitzen.

Nicht dass Sam Enzi, neben der auch noch ein Platz frei gewesen wäre, nicht mochte, aber sie konnte einem echt auf die Nerven gehen. Enzi war Klassenbeste und hieß deshalb Enzi, weil niemand Enzyklopädie aussprechen konnte. Sie benahm sich wie ein wandelndes Lexikon und drängte ihr Wissen gern auch denen auf, die es gar nicht hören wollten.

Der Rest der Klasse erwachte wieder zum Leben.

Frau Kramer, die Mathematiklehrerin, betrat die Kasse. Alle Kinder sprangen wie auf Kommando auf, als wäre Frau Kramer ein General. Irgendwie war sie das auch.

„Wir nennen sie Anakonda“, flüsterte Sam und beugte sich zu Kaktüs vor. „Ihr Blick verwandelt dich in eine Maus.“

„Samuel!“, schallte es durch die Klasse. „Alle außer dir haben begriffen, dass der Unterricht begonnen hat.“ Sam erstarrte, noch nie war er von Frau Kramer ermahnt worden. Er spürte, wie das Blut in seine Wangen schoss. Selma und Luise kicherten.

Frau Kramer deutete auf Kaktüs und krümmte ihre Finger, was hieß, dass sie nach vorne kommen sollte.

Die Lehrerin legte ihre Hände auf Kaktüs‘ Schultern und drehte sie zur Klasse. „Das ist eure neue Mitschülerin Kattis Silber.“

Kaktüs schlüpfte unter Frau Kramers Händen weg. „Bitte nennen Sie mich Kaktüs“, bat sie und schenkte Frau Kramer ein Lächeln.

Anakondas Lippen wurden schmal. Sie lächelte, aber ihr Lächeln war nicht echt. „Kindchen“, begann sie mit ruhiger, beherrschter Stimme. „Wir nennen uns beim richtigen Namen, Spitznamen sind etwas für Freundinnen. Setz dich und nimm bitte die Mütze ab.“

„Das geht nicht“, sagte Kaktüs.

„Was geht nicht? Ist deine Mütze etwa angewachsen?“

„Es tut mir leid, aber ich kann die Mütze aus persönlichen Gründen nicht abnehmen“, versuchte Kaktüs zu erklären.

„So – und die wären?“ Anakonda richtete sich zur vollen Größe auf.

„Das kann ich nicht sagen“, antwortete Kaktüs und hielt Anakondas Blick stand, „weil sie persönlich sind, verstehen Sie?“

„Du meinst, ob ich kapiere, was du sagst?“

Sam und der Rest der Klasse hielten die Luft an.