Kalt flüstern die Wellen - Kate Penrose - E-Book
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Kalt flüstern die Wellen E-Book

Kate Penrose

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Beschreibung

Über die wilde Schönheit der Scilly-Inseln legen sich dunkle Schatten – der dritte Fall für den charismatischen Ermittler Ben Kitto Detective Inspector Ben Kitto hätte seinen 35. Geburtstag lieber mit seinen Freunden im Pub statt im Dienst verbracht. Doch an diesem Abend findet das traditionelle Feuerwerk zur Bonfire Night auf der Insel St. Agnes vor Cornwall statt, das Ben überwachen soll. Unerwartet nehmen die Feierlichkeiten ein jähes Ende. In der Asche einer Feuerstelle werden menschliche Überreste gefunden. Ben Kitto stoppt sofort den Schiffsverkehr zu den Nachbarinseln und stellt die achtzig Bewohner von St. Agnes unter Hausarrest. Denn der Täter befindet sich noch immer auf der Insel. Und seine Botschaft ist eindeutig: Alle Eindringlinge sind dem Tod geweiht ...

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Seitenzahl: 438

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Kate Penrose

Kalt flüstern die Wellen

Ein Krimi auf den Scilly-Inseln

Aus dem Englischen von Birgit Schmitz

FISCHER E-Books

Inhalt

Teil 1Prolog1234567891011121314151617Teil 2181920212223242526272829303132333435363738Teil 3394041424344454647484950515253545556575859606162636465Anmerkungen der AutorinDankHinweis auf Band 4

Teil 1

»Brennen und schweigen ist die größte Pein, die wir auf uns nehmen können.«

Federico García Lorca, Bluthochzeit

Die Sonne geht gerade auf, als Jimmy Curwen an einem kalten Novembermorgen aufbricht. Sein Weg führt zuerst an dem Leuchtturm vorbei, der über St. Agnes aufragt wie ein Wintergeist. Obwohl die Lichtanlage schon vor Jahren entfernt wurde, gehört der Turm zu Jimmys Lieblingsgebäuden, aber er hat keine Zeit, stehen zu bleiben, um ihn zu bewundern. Seine Freunde warten, und er darf sie nicht enttäuschen. Den Feldstecher in der Tasche, nimmt er die übliche Route zum See.

Er geht in nördlicher Richtung durch Middle Town; dort fühlt er sich von den steinernen Fratzen der Häuser beobachtet und hält den Kopf gesenkt, um die stumpfen Blicke der Fenster nicht sehen zu müssen. Erst auf dem freien Feld, wo ihn niemand stören kann, entspannt er sich. Unter seinen Sohlen knirscht das gefrorene Gras der Wiese, und als der Big Pool in Sicht kommt, schlägt sein Herz höher. Der See schimmert rosa in der Morgensonne, seine Oberfläche ist heute glatt wie ein Spiegel. Doch keiner seiner Freunde ist gekommen, um ihn zu begrüßen: Der Himmel ist leer, nicht ein einziger Willkommensschrei ertönt.

Jimmy will schon wieder umkehren, da sinken plötzlich Möwen herab, kreisen zum Greifen nahe über ihm wie eine wirbelnde Wolke und grüßen ihn mit lautem Gekreisch. Um jedes Brotstückchen, das er in die Luft wirft, liefern sie sich eine Schlacht. Wenn ihre feuchten Federn seine Wangen liebkosen, riecht er das Salzwasser auf ihren Flügeln. Die Vögel bleiben noch lange, nachdem seine Futtervorräte erschöpft sind, dann verschwinden sie irgendwann wieder in die Lüfte, und es bleiben nur wenige seiner Lieblingswesen zurück. Nun fesseln Austernfischer, die durchs flache Wasser auf ihn zuwaten, seine Aufmerksamkeit.

Als Jimmy den Feldstecher zurück in die Tasche steckt, sind seine Finger taub von der Kälte. Es liegt ein merkwürdiger Gestank in der Luft – von brennendem Benzin, vermischt mit etwas Süßlichem, das er nicht einordnen kann. Jetzt, wo die Vögel weg sind, bemerkt er den Rauch, der von Burnt Island herüberweht, als wollte ihm jemand Zeichen geben. Er lässt den See hinter sich und sucht sich einen Weg über den Sanddamm, der sich von der Blanket Bay bis zu der kleineren Insel zieht.

Jimmy wird langsamer, als er den Hügel hinaufgeht, auf die Stelle zu, wo der Rauch aufsteigt. Der Geruch ist intensiver geworden, und ihm wird übel von dem ekligen Geschmack der Luft. Schwer atmend kommt er oben an. Erst kann er sich auf das, was er dort sieht, keinen rechten Reim machen: ein Haufen verkohlter, schwach glühender Äste und in der Nähe ein paar leere Paraffinkanister auf der Wiese. Als er noch mal hinschaut, sieht er in der Mitte der Feuerstelle eine schwarze Masse, die von kleinen Flammen umgeben ist. Ihm dreht sich der Magen um. Aus der Asche starrt ein Gesicht zu ihm hoch. Von freiliegenden Wangenknochen hängt geschmolzenes Fleisch, leere Augenhöhlen glotzen ihn an. Der Tote scheint ihn um Hilfe anzuflehen, und Jimmy darf sich nicht entziehen. Vor Jahren ist ihm schon einmal ein Leben durch die Finger geglitten; dies ist seine Chance, es wiedergutzumachen.

»Ich finde den, der dir das angetan hat«, murmelt Jim. »Das verspreche ich dir.«

Er kann nicht mal sagen, ob die Leiche männlich oder weiblich ist. Der Anblick lässt ihn nach hinten taumeln; er würde zu gern wegrennen, aber sein Gewissen hält ihn dort fest. Auf der Suche nach Halt landen seine Finger auf einem Erdhügel. Neben dem Feuer sind Buchstaben in einen Stein geritzt worden, doch er hat nie lesen gelernt und ist dabei auf die Hilfe anderer angewiesen. Jimmys Blick wandert zurück zu dem glühenden Aschehaufen, und ihm fällt etwas ein, was seine Mutter gesagt hat: Lass den Toten immer etwas da, um ihnen Respekt zu erweisen. Die Augen von Rauch und Tränen brennend, wirft er seinen Schaffellmantel über die Leiche und erstickt damit die letzten Flammen. Dann sagt er den Anfang des Lieblingsgebets seiner Mutter auf: Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Seine Worte verhallen in der rauchverhangenen Luft, als er mit wehenden grauen Haaren davonstolpert, um sich in Sicherheit zu bringen.

1

Freitag, 5. November

Mein fünfunddreißigster Geburtstag vergeht ohne viel Tamtam. Es ist ein Arbeitstag wie jeder andere, und ich habe Spätdienst. Die Winterluft liegt kühl auf meiner Haut, als die Fähre sich gegen achtzehn Uhr an St. Agnes herankämpft. Die Strömung ist so stark, dass wir Higher Town nicht anlaufen können, und als ich schließlich den alten Kai an der Blanket Bay betrete, schlägt mir der vertraute Geruch von Holzrauch und frisch gepflügter Erde entgegen. Felsbrocken, Seetang und Messermuschelhäufchen sprenkeln den Sand der hufeisenförmigen Bucht. St. Agnes ist die wildeste und geheimnisvollste der Scilly-Inseln und liegt am weitesten vom Festland entfernt. Das Eiland ist nur zwei Meilen lang und eine halbe Meile breit und hat neben zahlreichen versteckten Buchten auch zwei winzige Nachbar-Inselchen: Burnt Island und Gugh. Weder Autos noch Motorräder stören die Ruhe; Golfbuggys, rostige Fahrräder und eine Handvoll Traktoren sind die einzigen Fahrzeuge hier.

Mein Hund Shadow wirkt zufrieden mit seiner neuen Umgebung, ich hingegen könnte ein bisschen mehr Aufregung gebrauchen. In letzter Zeit vermisse ich das hektische Tempo meines alten Jobs als Undercover-Ermittler bei der Londoner Mordkommission, aber mein Hund ist in seinem Element, beschnüffelt jeden Stein und weigert sich, meinen Anweisungen zu folgen. Shadow ist ein zwei Jahre alter tschechoslowakischer Wolfshund mit hellgrauem Fell, eisblauen Augen und dem Kopf voller Unsinn; er taucht erst wieder neben mir auf, als ich landeinwärts laufe. Der Spaziergang ist belebend genug, um mich vergessen zu lassen, dass ich eigentlich keine Lust habe, an meinem Geburtstag das traditionelle Feuerwerk der Insel zu beaufsichtigen.

St. Agnes wirkt wie ausgestorben; die Leute bereiten sich wohl auf die Besucher vor, die in ein paar Stunden aus Anlass der Guy-Fawkes-Nacht hier eintreffen. Ich begegne keiner Menschenseele, als ich bergauf zu dem Weiler im Zentrum der Insel gehe. In Middle Town wohnen die meisten der ungefähr achtzig Inselbewohner; das Dorf ist so malerisch, dass es häufig in den Hochglanzbroschüren der Tourismusbehörde auftaucht, die Cornwall als Reiseziel anpreisen. Der Leuchtturm der Insel steht auf einer kleinen Anhöhe und dominiert die Siedlung noch immer, obwohl er schon lange nicht mehr in Betrieb ist.

Erst als ich zum Cove Vean Beach hinunterlaufe, treffe ich auf eine Gruppe von Leuten, die an dem felsigen Strand ein Freudenfeuer errichten. Ihr Lachen dringt durch die Dunkelheit, während sie Paletten, Holzscheite und Treibholz fast zwei Meter hoch aufschichten. Ein anderer Trupp befestigt Feuerwerkskörper an einem Metallgerüst, und weitere Freiwillige schuften an einem riesigen Grill. Meine Ankunft dämpft die Stimmung merklich. Obwohl ich die meisten Inselbewohner schon mein Leben lang kenne, haben sie sich immer noch nicht an meine neue Rolle als Deputy Commander der Isles of Scilly Police gewöhnt. Ihre Gespräche verstummen, als sie mich bemerken. Für die Inseln sind insgesamt nur sieben Beamte zuständig, dennoch betrachten manche Einwohner uns mit Argwohn und ziehen es vor, Konflikte unter sich zu klären.

Ich bin überrascht zu sehen, dass die neueste Bewohnerin von St. Agnes, Naomi Vine, bei den Partyvorbereitungen hilft. Vine ist eine international renommierte Bildhauerin und erst vor rund einem Jahr hierhergezogen. Heute verrichten ihre Hände jedoch wenig glamouröse Arbeit, denn sie zerkleinern Paletten zu Brennholz. Vines schlanke Gestalt ist in eine Winterjacke gehüllt, ihre kurzen roten Haare sind größtenteils unter einer Wollmütze verborgen, ihr Gesicht zeigt ein lebhaftes Mienenspiel. Als bekannt wurde, dass sie das alte Herrenhaus auf der Insel gekauft hat, sind in der Gemeinde zahlreiche Gerüchte hochgekocht, und das kompromisslose Verhalten der Bildhauerin sorgt seitdem für Kontroversen. Die Leute halten Abstand zu ihr – bis auf eine Insulanerin, der Vines Ruf als Unruhestifterin offenbar nichts ausmacht. Rachel Carlyon ist eine große, plumpe Frau; sie ist auf St. Agnes geboren und zieht es normalerweise vor, im Hintergrund zu bleiben, aber heute Abend plaudert sie entspannt mit ihrer neuen Freundin. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Frauen scheint zu sein, dass sie Anfang vierzig sind, aber wenn man in einer winzigen Gemeinde am Rand der Welt lebt, können schon mal merkwürdige Verbindungen entstehen.

Auf der anderen Seite der Menschenmenge steht, in Ausgehuniform mit glänzenden Schulterklappen, Sergeant Eddie Nickell. Seit er im letzten Monat befördert wurde, lässt mein Deputy keine Gelegenheit aus, in vollem Ornat zu erscheinen. Er ist erst fünfundzwanzig Jahre alt, macht in seinem Privatleben aber schnellere Fortschritte als ich. Der Sergeant hat mit seiner Verlobten Michelle eine zwei Monate alte Tochter und scheint mit der gemeinsamen Mietwohnung in Lower Town zufrieden zu sein. Der Wind hat einige blonde Locken unter seiner Kappe hervorgezupft, sein Chorknabengesicht ist blass von der Kälte. Eddie ist absolut in der Lage, diese eher familiäre Veranstaltung mit harmlosem Publikum allein zu beaufsichtigen, ich muss nur überprüfen, ob die Sicherheitsvorschriften eingehalten werden. Wir gehen ein Stückchen weiter den Strand hoch, damit wir uns über das allgemeine Stimmengewirr hinweg verständigen können.

»Sie stellen mich ganz schön in den Schatten, Eddie.« Neben seiner makellosen Uniform wirken meine gefütterte Jacke, meine Jeans und die Wanderstiefel armselig.

Er grinst. »Man muss doch zeigen, was man hat, Boss. Es hat mich zwei Jahre gekostet, mir diese Abzeichen zu verdienen.«

»Ist alles startklar für heute Abend?«

»Ja, sieht gut aus. Wir haben zwölf Ordner und zwei ausgebildete Sanitäter von der Johanniterunfallhilfe.« Sein Ton ist so ernst, als würde er königlichen Besuch erwarten.

»Super, ich gehe runter und bedanke mich bei ihnen.«

Als ich über den Kiesstrand stapfe, taucht meine Patentante, Maggie Nancarrow, neben mir auf. Sie hat noch nie eine Party ausgelassen und ist heute früh von Bryher herübergekommen, wo sie wohnt. Neben einer so zierlichen Frau komme ich mir vor wie ein Riese; ihr kleines Gesicht wird von einer grauen Lockenmähne eingerahmt, und sie schaut durch ihre Nickelbrille zu mir hoch.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, schöner Mann.« Sie hüpft hoch, um mich auf die Wange zu küssen. »Ich hab auch ein Geschenk für dich.«

»Nicht nötig. Du bekochst mich doch andauernd.«

Sie drückt mir ein kleines Päckchen in die Hand. »Die hat meinem Dad gehört. Warum probierst du nicht mal, ob sie dir passt?«

In der Schachtel liegt eine alte Rolex, die – abgesehen von kleinen Kratzern auf dem schönen Stahlgehäuse – noch völlig intakt ist. Sie schmiegt sich um mein Handgelenk, als wäre sie für mich gemacht.

»Das ist zu viel, Maggie.«

»Zu Hause setzt sie nur Staub an. Lies mir die Gravur vor.«

Ich drehe die Uhr um: »Das Rad der Zeit hält niemand auf.«

»Vergiss das nicht, Ben, sonst gehst du am Ende noch leer aus.« Maggie versüßt ihre kryptische Botschaft mit einem Grinsen, bevor sie davoneilt und sich mit ihrer Turboenergie einen Weg durch die Menge bahnt.

Ich schließe zu Steve Tregarron, dem Organisator der Party, auf, als am Strand gerade Lichterketten an Pfosten aufgehängt werden. Tregarron betreibt seit Jahrzehnten den Turk’s Head Pub, sieht aber eher aus wie ein Roadie nach einem Leben voller harter Tourneen. Dutzende Flecken und Kratzer verleihen seiner Lederjacke Charakter, die grauen Haare trägt er zum Pferdeschwanz zusammengebunden, und tiefe Falten liegen wie Klammern um seinen Mund. Der Gastwirt ist höflich, aber kurz angebunden, und marschiert bald weiter, um seiner Frau Ella dabei zu helfen, Bierkisten neben der Sicherheitsabsperrung aufzustapeln.

Ich schaue dabei zu, wie die Inselbewohner die Feuerwerkskörper einer letzten Prüfung unterziehen, als ich plötzlich ein bekanntes Gesicht sehe: Liam Poldean schleppt Holz für das Freudenfeuer über den Strand. Der Bauunternehmer ist ungefähr in meinem Alter, hat zerzauste braune Haare und eine freundliche, kompetente Ausstrahlung. Ich habe ihn letztes Frühjahr kennengelernt, als er nach Bryher kam, um mein kaputtes Dach zu reparieren. Er lässt einen Armvoll Holzscheite auf einen Stapel fallen und lächelt, als ich näher komme.

»Ich dachte, Sie wären für das Feuerwerk zuständig, Liam.«

»Keine Chance, DI Kitto«, sagt Poldean und benutzt meinen Titel nur, um sich über mich lustig zu machen. »Die Dinger können Leute verstümmeln, wenn sie nicht richtig bedient werden. Davon lass ich lieber die Finger.« Seine Miene wird ernst, als er den Blick über die Menge schweifen lässt. »Haben Sie hier irgendwo meine Kinder gesehen?«

»Maggie kümmert sich um sie.«

»Das klingt gut. Schießpulver und kleine Jungs sind nämlich keine gute Kombination.«

»Es geht ihnen gut; die Sicherheitsabsperrung ist schon fertig. Diesmal wird das Feuerwerk noch imposanter als letztes Jahr, wie ich höre.«

»Toi, toi, toi«, erwidert er mit einem entspannten Schulterzucken. »Solche Feuerwerksraketen sind unberechenbar, aber Steve hat ein Vermögen dafür hingelegt, darum müssten sie eigentlich in Ordnung sein.«

Die Menge wächst zusehends, da Fähren ständig Partygäste von benachbarten Inseln herüberbringen. Manche stehen in Gruppen zusammen vor dem Pub, andere, die den Beginn des Feuerwerks kaum erwarten können, streben bereits dem Strand zu. Das Freudenfeuer brennt schon, und die orangefarbenen Flammen leuchten in der Dunkelheit. An Heuballen ein Stück daneben lehnen drei riesige Strohpuppen, die mit grinsenden Gesichtern, schwarzen Mänteln und Besen ausgestattet sind. Jede ist cirka viereinhalb Meter groß, und der Wind zerrt an ihren geflochtenen Gliedern. Es ist eine Tradition auf der Insel, böse Geister zu verbrennen, bevor der Winter richtig Einzug hält. Das Feuer lodert von Minute zu Minute heller, die Flammen schlagen jetzt höher, und die Brise trägt das Knistern des brennenden Holzes über die Bucht. Der Geruch, der mir entgegenweht – Salpeter, Bier und Aufregung –, ruft Erinnerungen an sämtliche Guy-Fawkes-Partys wach, die ich als Kind besucht habe.

Ich will Eddie gerade ermahnen, das Feuer unter Kontrolle zu halten, damit keine Funken in die Menge fliegen, als mir jemand auf die Schulter tippt. Eine große Brünette strahlt mich an, sie hat ein herzförmiges Gesicht und ist so attraktiv, dass ich mich erst sammeln muss.

»Zoe?«

»Hast du mich vergessen, großer Mann? Das ist aber schade, wo ich doch extra zu deinem Geburtstag den weiten Weg hierhergeflogen bin.«

»Deine Haare sind anders. Ich hab dich gar nicht erkannt.«

»Mehr kriege ich nicht zur Begrüßung?«

Ich drücke sie schnell an mich. »Ich habe dich erst nächsten Monat erwartet.«

»Der Flug ist jetzt billiger als an Weihnachten. Komm, lass uns näher ans Feuer gehen, ich bin schon halb erfroren.«

»Okay, aber ich habe Dienst. In zehn Minuten beginnt das Feuerwerk.«

Zoe rümpft missbilligend die Nase. Wir pflegen weiterhin die lockere Art des Umgangs von Freunden, die sich seit Kindertagen kennen, aber sie hat nicht mehr allzu viel Ähnlichkeit mit der blonden Granate, die bis vor sechs Monaten das Hotel ihrer Eltern auf Bryher geführt hat. Ihre braunen Augen sind wachsamer geworden, doch ihr neues Leben in Indien scheint ihr gut zu bekommen. Zoes Haut hat einen gesunden Schimmer, und sie hat ein paar Pfund zugelegt, was es noch schwerer macht, ihre Kurven zu ignorieren.

Ich lenke meine Gedanken zurück in züchtige Bahnen, während sie mir auf ihrem Handy ein Foto von ihrem neuen Arbeitsplatz zeigt. Die Schule in Mumbai ist ein viereckiger Betonklotz ohne Bäume außen herum, die seine Hässlichkeit kaschieren könnten, aber die Schüler, die in Reih und Glied auf dem Schulhof stehen, grinsen alle in die Kamera. Es sind Straßenkinder, die sich freuen, in sauberen Schlafsälen zu wohnen und drei Mahlzeiten am Tag zu bekommen. Zoes Aufgabe besteht darin, ihnen Musikunterricht zu geben und ihr Selbstbewusstsein wiederaufzurichten. In den letzten Monaten hat sie zusammen mit dem übrigen Lehrpersonal dafür gekämpft, dass die Schule ein weiteres Jahr geöffnet bleiben kann. Mein eigener Job wirkt dagegen sehr viel weniger sinnvoll. Ich hatte in letzter Zeit nicht viel mehr zu tun, als ein paar Verwarnungen wegen unsozialen Verhaltens auszusprechen und einen Jugendlichen zu verhaften, der die Scheune der Nachbarn angezündet hatte.

»Warte hier, Zoe. Ich sehe schnell mal nach dem Rechten, dann gebe ich dir einen aus. Steve zündet gleich die erste Rakete drüben auf Burnt Island.«

Das Fest beginnt stets mit einer Verneigung vor der Vergangenheit. Vor Hunderten von Jahren haben die Frauen von St. Agnes mit brennenden Fackeln den höchsten Punkt an der Nordküste erklommen, um den örtlichen Fischern den Weg zurück in den Hafen zu weisen. Zoe und ich plaudern noch, als ein Mann durch die Dunkelheit auf uns zugerannt kommt. Einer der wenigen Vorteile davon, eins dreiundneunzig groß zu sein, ist, dass man in einer Menschenmenge den Überblick hat, und dieser Mann, der an den Schaulustigen vorbeihetzt und jeden zur Seite stößt, der ihm in die Quere kommt, ist offensichtlich in Panik. Steve Tregarrons Lederjacke flattert im Wind, und er ist vor Anstrengung rot im Gesicht, aber was mich am meisten beunruhigt, sind seine Augen. Sie sind so weit aufgerissen, als hätte er vergessen, wie man sie schließt.

»Es ist was passiert«, stößt er mit seiner heiseren Raucherstimme hervor. »Ich hab’s gerade gesehen, auf Burnt Island, oben auf dem Hügel.« Er ringt nach Luft und steht offensichtlich unter Schock.

Ich führe ihn von der Menge weg, um mit ihm reden zu können, ohne dass jemand mithört. »Was haben Sie gesehen, Steve?«

»Menschliche Überreste. Ein streunendes Tier kann es nicht sein.«

»Sind Sie sicher? In der Dunkelheit kann man sich schon mal täuschen.«

Er schüttelt vehement den Kopf. »Kommen Sie mit und sehen Sie sich das selbst an.«

In Anbetracht der Lage treffe ich eine spontane Entscheidung: Die Menge wird langsam unruhig, die Leute erwarten schon ungeduldig den Beginn des abendlichen Unterhaltungsprogramms. Wenn ich das Feuerwerk jetzt absage, werden dreihundert Menschen über die Inseln wandern und einen potenziellen Tatort zertrampeln. Es ist besser, wenn sie hierbleiben, wo sie sich am Freudenfeuer wärmen können. Bevor ich Tregarron landeinwärts folge, instruiere ich Eddie, in zehn Minuten mit der Veranstaltung zu beginnen und niemandem zu erlauben, den Strand zu verlassen.

Der Himmel ist stockfinster, als wir nach Norden laufen und die Strahlen unserer Taschenlampen helle Linien über den unebenen Boden ziehen. Der Weg führt uns am Big Pool vorbei; auf diesem See lassen die Kinder jeden Sommer ihre Modellboote fahren, aber heute Abend sieht er gespenstisch aus. Auf seiner Oberfläche spiegeln sich die über den Himmel jagenden Wolken und die unscharfe Silhouette des Mondes. Tregarron ist offenbar zu schockiert, um reden zu können; mit wachsender Sorge lausche ich seinem rasselnden Atem. Wenn er einen Herzinfarkt bekommt, habe ich zwei Tote auf einmal, aber meinen Rat, langsamer zu gehen, ignoriert er einfach. Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass er wirklich eine Leiche gefunden hat. Es ist wahrscheinlicher, dass ein verirrtes Schaf den Hügel erklommen und sich dann bei einem Sturz den Hals gebrochen hat.

»Schnell«, ruft Steve mir über die Schulter zu, »bevor ein anderer es findet.«

Wir erreichen die nordwestliche Küste von St. Agnes, und die schwarzen Umrisse von Burnt Island ragen vor uns aus dem Meer. Der Sanddamm, über den man hinübergelangt, liegt im Mondlicht. Im Laufe der Nacht wird die Strömung die kleine Insel von St. Agnes abschneiden, bis die Flut sich bei Tagesanbruch wieder zurückzieht. Der Damm scheint schon jetzt im steigenden Wasser zu schwimmen.

Tregarron klettert so hektisch den felsigen Hügel hinauf, dass er mit seinen Stiefeln kleine Steinlawinen lostritt. Oben bleibt er schließlich stehen, doch ich kann nichts Verdächtiges entdecken, nur einen antiken Grabhügel aus Granitsteinen, die so hoch aufgetürmt sind, dass der erste starke Wind sie eigentlich umwehen müsste.

»Da drüben«, sagt der Wirt. An dem Zittern seiner Stimme bemerke ich, dass er nur zu gern unrecht behalten würde. Ich weiß nicht, ob das eine Schwäche oder eine Stärke ist, aber die zehn Jahre bei der Londoner Mordkommission haben mich abstumpfen lassen. Wenn ich mit einem neuen Tatort konfrontiert werde, bin ich zunächst einmal nur neugierig. Was auch immer mich hier erwartet, kann nicht schlimmer sein als das Auffinden eines russischen Bandenmitglieds, das einen langen heißen Sommer hindurch ungestört im Kofferraum eines Autos verwesen konnte.

Tregarron wendet das Gesicht ab, als ich meine Taschenlampe auf einen Haufen verkohlter Äste richte. Ich sehe sofort, dass er recht hat – wir stehen an einem Tatort. Meine erste Sorge gilt dem Gastwirt; der Mann ist noch bleicher als zuvor, und seine Hände zittern.

»Es war gut, dass Sie mich hergeführt haben, Steve. Meinen Sie, Sie können allein zurückgehen?« Er nickt kurz. »Erzählen Sie niemandem von dem hier, bis ich morgen eine Meldung herausgebe.«

Der Wirt eilt davon, ohne sich noch einmal umzuschauen; er will sich offenbar nur noch in Sicherheit bringen. Sobald er weg ist, untersuche ich den Tatort. Es sieht so aus, als hätte der Mörder das Feuer entfacht und den Körper darauf gebettet, als die Flammen schon hell loderten. Es ist nichts mehr übrig, woran man den Toten erkennen könnte, der Schädel der armen Kreatur ist nur noch von einer schwarzen Hautschicht überzogen. Ich schätze, dass der Täter zurückgekehrt ist und etwas über das Feuer geworfen hat, damit niemand den Rauch bemerkt. Das Opfer muss schon seit Stunden tot sein, denn die Asche ist kalt, als ich das verkohlte Holz zu meinen Füßen berühre. Ich habe mich gerade wieder aufgerichtet, da wird die Nacht plötzlich von bunten Farben erhellt. Der Wind weht leisen Jubel vom Cove Vean Beach herüber, während Raketen mit goldenen und silbernen Schweifen über den Himmel ziehen. Da ich erst einmal nichts weiter tun kann, schlage ich den Kragen meiner Jacke hoch, um mich vor dem Wind zu schützen, und schaue sprühenden Feuerrädern dabei zu, wie sie sich schwindelerregend schnell am Himmel drehen, bis die Dunkelheit zurückkehrt. Wer auch immer diesen Mord begangen hat, kann inzwischen meilenweit weg sein und Kurs auf ruhigere Gewässer nehmen oder sich unter die Feiernden unten am Strand gemischt haben.

Ich rufe Eddie an und berichte ihm, was passiert ist, dann kontaktiere ich den einzigen Gerichtsmediziner in der Nähe. Dr. Gareth Keillor hat als Polizeiarzt gearbeitet, bevor er sich auf St. Mary’s zur Ruhe gesetzt hat, steht uns aber noch als Gutachter zur Verfügung, wenn es mal notwendig ist. Er geht nicht ans Telefon, als ich es auf seinem Festnetzanschluss versuche, aber ich hinterlasse ihm eine Nachricht. Zuletzt wähle ich die Nummer der Kriminaltechnik in Penzance und erwarte, erneut auf einem Anrufbeantworter zu landen, doch obwohl es schon nach zweiundzwanzig Uhr ist, hebt sofort jemand ab. Die Frau am anderen Ende der Leitung stellt sich als Liz Gannick, die neue Leiterin des kriminaltechnischen Dienstes von Cornwall, vor. Sie hört mir schweigend zu, als ich sie um ihre Unterstützung bitte. Dann verspricht sie mir, morgen mit dem ersten Flieger herüberzukommen, und legt abrupt auf. Sie klingt so, als käme sie aus Nordengland, und redet offenbar nur das Nötigste. Es überrascht mich, dass sie sich den Tatort selbst anschauen will, statt ihre Lakaien zu schicken. Ich bin Gannick noch nie begegnet, aber sie gilt als schwierig; nur, wenn sie ihren Job gut macht, werde ich ermitteln können, wie das Opfer gestorben ist.

Ich hocke mich hinter einen Felsen und muss daran denken, dass mein diesjähriger Geburtstag mir aus den falschen Gründen in Erinnerung bleiben wird. Aber hier gestrandet zu sein, ist nichts im Vergleich zu dem, was das Opfer erlitten hat. Als ich nach St. Agnes zurückblicke, brennt das Freudenfeuer am Strand noch immer lichterloh und hebt sich als goldener Fleck von dem stockfinsteren Himmel ab. Die Feiernden stehen in Gruppen herum und beobachten die rituelle Opferung. Durch das Verbrennen von Strohpuppen bei einer ausgelassenen nächtlichen Party sollen böse Geister ausgetrieben werden, doch als ich die Puppen brennen sehe, wird mir nur noch unbehaglicher zumute. Während die Flammen sich durch die Mäntel fressen, in die die Hexen gehüllt sind, wandert mein Blick zurück zu dem Scheiterhaufen vor mir. Das Opfer muss einen qualvollen, einsamen Tod gestorben sein, und der Mörder scheint eine Vorliebe für Symbolik zu haben. Er wollte offenbar, dass die verbrannten Überreste genau in dem Moment gefunden werden, in dem die Insel sich vom Bösen zu befreien versucht.

»Wer bist du?«, murmele ich leise.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein vorbeikommender Segler eine Leiche einen steilen Hügel hinaufschleifen würde, statt sie sang- und klanglos ins Meer zu werfen. Wer auch immer das hier getan hat, wollte ein beliebtes lokales Fest mit einer heimtückischen Drohung überschatten. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Inselbewohner, auch wenn auf St. Agnes niemand vermisst gemeldet wurde – einem Ort, an dem nichts unbemerkt bleibt.

Ich hinterlasse Zoe eine Nachricht auf ihrem Handy und bitte sie darum, sich bis morgen um Shadow zu kümmern. Eigentlich sollten wir jetzt zusammen feiern, aber ich kann den Tatort nicht unbeaufsichtigt lassen. Die Flut hat den Rückweg nach St. Agnes inzwischen fast überspült. Wenn ich Hilfe anfordern würde, käme sofort eine ganze Bootsladung von Freiwilligen hierher, aber sie würden nur wertvolle forensische Beweise zertrampeln. Und für eine Rückkehr zu Fuß ist es jetzt zu spät. Die starke Strömung zwischen Burnt Island und St. Agnes hat schon mehrere Urlauber, die die Gezeiten unterschätzten, das Leben gekostet.

Die Finsternis wirkt noch undurchdringlicher als zuvor, als ich mich neben einen Granithügel kauere und mir dickere Handschuhe herbeiwünsche. Die Kälte zieht mir bis in die Knochen, und ich fange an, meinen Wunsch nach mehr Aufregung im Job zu bereuen.

2

Jimmy meidet die Menschenmenge und bleibt zu Hause in seinem möblierten Zimmer. Trotz seiner dreiundfünfzig Jahre ist er auf die Wohltätigkeit anderer angewiesen, um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben, denn niemand hat ihm jemals einen Job angeboten. Ein altmodischer Gasofen hält das Zimmer warm, doch heute Abend kann er sich einfach nicht entspannen. Er starrt die Dinge auf seinem Fensterbrett an: Bündel von glänzend weißen Reiherfedern, ein verlassenes Schwalbennest und die durchbrochene Eischale eines Kernbeißers. Doch nicht einmal seine Lieblingsbesitztümer vermögen ihn heute Abend zu beruhigen.

Als er nach draußen späht, brennt am Cove Vean Beach noch immer das Freudenfeuer, also zieht er die Vorhänge zu, um sich von dem Spektakel abzuschirmen. Die Flammen erinnern ihn zu sehr an die Leiche, die er heute Morgen gefunden hat. Das geschlossene Fenster hält den Rauchgeruch fern. Sein Gewissen mahnt ihn, das Versprechen einzulösen, das er der Gestalt in dem Feuer gegeben hat, denn der Todesfall, den er als Junge mitbekommen hat, verfolgt ihn immer noch in seinen Träumen. Aber er hat Angst, mit der Polizei zu reden. Wenn er allein ist, kann er die Namen aller Vogelarten der Insel aufsagen, doch sobald andere Menschen zuhören, bringt er kein Wort heraus. Er wird den Mörder ohne fremde Hilfe finden müssen.

Jimmy tigert aufgewühlt in seinem Zimmer auf und ab. Er schaltet das Radio ein, doch die fremden Stimmen, die über Dinge sprechen, die er nicht versteht, gehen ihm auf die Nerven. Es gibt nur eine Sache, die ihn beruhigen kann, deshalb stopft er sich eine Tüte Körnerfutter in die Tasche und eilt nach unten. Draußen auf dem Hof ist es eiskalt, aber das ist ihm egal. Die Voliere, die er gebaut hat, besteht aus Maschendraht und Treibholz, und als er die Tür des ersten Abteils öffnet, klappert der gesamte Rahmen. Während er Futter in ihre Näpfe verteilt, krähen die Vögel laut; ein junger Papageientaucher hackt mit dem Schnabel nach seiner Hand.

»Ihr braucht keine Angst zu haben«, flüstert er. »Ich tue euch nichts.«

Eine Mantelmöwe lässt es sich gefallen, dass er langsam und vorsichtig ihren Flügel streichelt. Das gebrochene Bein des Vogels heilt allmählich, und auch die halb verhungerte Klippenmöwe wird bald wieder stark genug für die Freiheit sein. Jimmy schließt die Tür der Voliere, für den Fall, dass einer der verletzten Vögel zu fliehen versucht, bevor er wieder gesund ist. Er kniet sich in den Schlamm und sieht seinen Freunden dabei zu, wie sie sich auf frischen Strohhaufen ihre Schlafplätze einrichten. Die rot umrandeten, dunklen Augen einer Mantelmöwe sehen ihn unvoreingenommen an, und das beruhigt endlich Jimmys angespannte Nerven. Er konzentriert sich so lange auf die ruhigen Bewegungen der Vögel, bis das Gesicht der verbrannten Leiche aus seinem Kopf verschwindet.

3

Samstag, 6. November

Auf dem felsigen Untergrund finde ich, wenige Meter von der Leiche entfernt, nur wenig Schlaf. Der kalte Wind weckt mich um fünf Uhr morgens auf, und ich erhebe mich mit schmerzenden Knochen. Das Meer hat sich in eine silberne Fläche verwandelt, auf der sich eine Armada von unruhigen Wellen tummelt. Es fühlt sich so an, als stünde ich am Ende der bekannten Welt, und außer dem Leuchtturm auf Bishop’s Rock würde rein gar nichts den Atlantik unterbrechen, bis er die Küsten Amerikas erreicht. Das riesige Freudenfeuer am Cove Vean Beach schwelt noch immer, obwohl die letzten Nachtschwärmer schon vor Stunden nach Hause gegangen sind. Von den Strohpuppen ist nichts übrig geblieben, und es ist endlich wieder Ebbe, so dass ich Burnt Island zu Fuß über den Sanddamm verlassen kann, bevor heute Abend die nächste Flut aufläuft.

Ich drehe mich um, um den Tatort noch einmal in Augenschein zu nehmen, und der bietet bei Tageslicht einen noch schlimmeren Anblick. Das Opfer scheint mich breit anzugrinsen, denn sein Gesicht ist verbrannt und enthüllt weiße Zahnreihen. Aufgrund der Proportionen der Leiche vermute ich, dass es sich um einen Mann handelt. Ich habe keine Ahnung, ob er den Hügel hinaufgeschleppt wurde oder freiwillig heraufgekommen ist. Vom Hals abwärts werden seine Überreste von einem Schaffellmantel bedeckt, den das Feuer an ein paar Stellen versengt hat. Neben dem Scheiterhaufen liegen zwei Paraffinkanister, die offenbar eilig weggeworfen wurden, so als hätte der Mörder befürchtet, auf frischer Tat ertappt zu werden. Unter dem Schaffell lugt die linke Hand des Opfers hervor. Die Finger sehen wie verkohlte Zweige aus, aber es ist eine Erleichterung, in der Morgendämmerung einen metallischen Gegenstand aufblitzen zu sehen: Der Ehering des Mannes könnte uns bei seiner Identifizierung behilflich sein.

Das morgendliche Licht enthüllt zudem, dass jemand in einen Felsbrocken nahe dem Fundort des Toten Schriftzeichen eingeritzt hat. Die Großbuchstaben sind zweieinhalb Zentimeter hoch und mit einem Messer oder Meißel geschrieben worden. Der Text ist in einer fremden Sprache verfasst. Gut möglich, dass irgendein Kind vor Monaten oder sogar Jahren mit einem Geheimcode herumexperimentiert hat. Für alle Fälle mache ich ein Foto von der Granitoberfläche und stecke das Handy dann zurück in meine Tasche.

Als endlich Eddie den Hügel heraufgestapft kommt, hat er DCI Alan Madron bei sich. Mein Boss ist ein förmlicher kleiner Mann, der sich stets makellos kleidet. Heute sind seine Stiefel spiegelblank poliert, sein Regenmantel ist bis oben zugeknöpft, und der Scheitel in seinem grau melierten Haar sieht aus, als sei er von einem Präzisionsingenieur gezogen worden. Eddie schockiert der Anblick des Opfers, doch Madron zeigt fast keine Reaktion. Die grauen Augen des DCI mustern mich mit kühler Distanz.

»Wie ich höre, haben Sie die Leiche die ganze Nacht bewacht, Kitto. Bewundernswerter Einsatz, aber Sie hätten besser Verstärkung angefordert.«

»Dann wären Beweise zerstört worden, Sir. Ich hätte ein Boot zurück nach St. Agnes benötigt, und die Vögel hätten den unbewachten Tatort beschädigen können.«

Angewidert betrachtet Madron die Überreste des Opfers. »Die Presse darf hiervon nichts erfahren. Geben Sie nichts bekannt, bevor der Gerichtsmediziner sein Gutachten fertig hat. Was wissen wir über das Opfer?«

»Es wurde niemand vermisst gemeldet. Die Leiche könnte von einem vorbeifahrenden Boot aus hier abgelegt worden sein, aber das ist unwahrscheinlich. Ich habe den Hafenmeister in St. Mary’s telefonisch um eine Liste der Schiffe in den hiesigen Gewässern gebeten. Er hat nichts Ungewöhnliches bemerkt. Das einzige identifizierende Merkmal, das uns jetzt schon zur Verfügung steht, ist sein Ehering.«

»Den können wir aber nicht anfassen, bevor die Spurensicherung kommt.« Der DCI stöhnt laut. »Im Pub steht für Sie ein Frühstück bereit, Kitto. Gehen Sie sich aufwärmen und holen Sie dann unsere Besucherin am Kai ab. Sind Sie Liz Gannick schon einmal begegnet?«

»Bislang nicht.«

»Sie ist eine ehemalige Polizistin und sehr reizbar. Als ich sie zuletzt gesehen habe, saß sie im Rollstuhl. Sie müssen sie mit Samthandschuhen anfassen.«

Madrons Befehlston ärgert mich, aber ich befolge seine Anweisungen. Der DCI steht kurz vor der Pensionierung. Er hat kaum Erfahrung mit Mordermittlungen, stellt aber gern seinen Rang heraus. Seit ich vor einigen Monaten zu seinem Team gestoßen bin, haben wir ein angespanntes Verhältnis; meine Stelle ist erst vor kurzem entfristet worden. Zähneknirschend gehe ich nach Higher Town zurück. Meine Nachtwache hat mich ungeduldig gemacht, etwas über die Identität des Opfers zu erfahren, doch mein Boss hat mich wie einen ungezogenen Schuljungen vom Tatort weggeschickt. Im Ort begegne ich niemandem, nur der makellos weiße Leuchtturm ragt über mir auf. Es sieht hier immer noch nach ländlicher Idylle aus, ein unwahrscheinlicher Schauplatz für einen so brutalen Mord.

Als ich am Turk’s Head ankomme, steht die Hintertür offen. Ella Tregarron bemerkt mich nicht sofort; die Hausherrin arbeitet am Herd in der großen Küche des Pubs und wendet mir den Rücken zu, über den eine Kaskade schwarzen Haares fällt. Sie gießt Öl in eine Bratpfanne, und in der Luft hängt der Duft von Toast. Ich räuspere mich, um sie auf mich aufmerksam zu machen, und sie dreht sich erschrocken um.

Ella ist in ihren Vierzigern. Sie hat eine schlanke Figur und ist auffallend hübsch. Aus der Entfernung wirkt sie mit ihren hohen Wangenknochen, blassgrünen Augen und vollen Lippen noch jugendlich, aber aus der Nähe sieht ihre Haut stumpf und müde aus. Früher war sie der Schwarm aller Männer, und sie hat noch immer diese geheimnisvolle Aura, aber inzwischen umgibt ein Hauch stiller Enttäuschung sie, so als hätte ihr Leben nicht mit ihren Träumen mitgehalten. Als Teenager stand ich total auf sie, aber für sie gab es keinerlei Grund, das zu bemerken, da vermutlich jeder Mann auf der Insel dasselbe empfand. Ella widerspricht den stereotypen Erwartungen an eine Gastwirtin, denn ihre Art ist eher zurückhaltend.

»Komm rein, Ben, du hast bestimmt Hunger.« Sie hat einen derart starken Akzent, dass man glauben könnte, sie wäre ihr ganzes Leben lang nicht von der Insel weggekommen.

»Du bist meine Rettung, ich verhungere.«

»Und du bist nach einer ganzen Nacht im Freien bestimmt total durchgefroren.«

Sie bedeutet mir, mich auf einem Hocker an der stählernen Arbeitsfläche niederzulassen, und häuft auf einem Teller mehr Spiegeleier und Toast auf, als zwei Männer essen könnten. Schweigend gießt sie Kaffee in zwei weiße Becher, dann setzt sie sich gegenüber von mir hin und schaut mich an. So wachsam, wie sie ist, bin ich sicher, dass ihr Mann ihr erzählt hat, was passiert ist.

»Was hat Steve gesagt, als er von Burnt Island zurückgekommen ist?«

»Nichts, er ist gleich nach oben verschwunden. Ich hab kein Wort aus ihm rausgekriegt.«

»Aber jetzt geht’s ihm wieder gut?«

»Er war krank. Ich hab ihm einen heißen Grog gemacht und ihn ins Bett gesteckt«, antwortet sie und stellt ihren Becher auf den Tisch. »Steve kann man nicht so leicht schockieren. Auf dem Hügel muss was ziemlich Schlimmes passiert sein.«

»Wir geben im Laufe des Tages eine Erklärung ab.«

Ihre Augen weiten sich. »Es ist jemand getötet worden, oder? Das sehe ich dir an der Nasenspitze an.«

»Du erfährst es bald, Ella, versprochen.«

»Alle Bewohner von Middle Town waren auf der Party.« Sie schüttelt den Kopf. »Von hier kann’s niemand sein.«

Ella wirkt so beunruhigt, dass ich mit ihr nur über Belanglosigkeiten spreche, und als ich ihr danke und mich verabschiede, hat sie sich ein wenig entspannt. Meinen Versuch, zu bezahlen, wehrt sie ab, so als ob ein freies Frühstück die gerechte Belohnung dafür ist, dass ich auf der Insel für Sicherheit sorge.

Dank des warmen Essens und des Koffeins kann ich klarer denken, während ich den Pfad zum Porth-Conger-Kai entlanggehe. Wer auch immer das Opfer getötet hat, muss den Mord gründlich vorbereitet haben. Er hat vorher stapelweise Holz gesammelt und das Paraffin den Hügel hinaufgeschleppt. Ich frage mich, ob der Mörder es witzig fand, Burnt Island für die Verbrennung des Opfers auszusuchen, oder ob der Ort für ihn eine symbolische Bedeutung hat. Auf dem Weg passiere ich Helston Farm, wo auf einem nahe gelegenen Feld grüne Sprossen dem winterlichen Wetter trotzen. Der Rest des Landes scheint brach zu liegen, doch der Eindruck täuscht. Unter der Erde verbirgt sich eine Legion von Blumenzwiebeln, die im nächsten Frühling blühen und als die berühmten Narzissen der Insel in die ganze Welt verschickt werden. Heute wirkt es unwahrscheinlich, dass aus diesem Boden bunte Blüten hervorgehen; vor meinen Augen erstrecken sich viele Morgen bestellten Ackerlands, das zur Unkrautbekämpfung geeggt wurde.

Als ich den Porth-Conger-Kai erreiche, ist die Polizeibarkasse noch nicht in Sicht, doch die Verspätung überrascht mich nicht. Ich habe mich seit meiner Kindheit daran gewöhnt; Fährverbindungen werden wegen des unsicheren Wetters oft abgesagt. Ich warte auf dem Anleger, bis das Boot endlich kommt. Es sieht heruntergekommen aus; die blaue und gelbe Signalfarbe blättert von den Seitenwänden ab. Ich stelle mich darauf ein, dass Dr. Gannick ein finster dreinblickender Drachen ist, aber als die Barkasse sich dem Kai nähert, ist weder eine Passagierin noch ein Rollstuhl zu sehen.

Sergeant Lawrie Deane, ein Beamter mittleren Alters, steuert das Polizeiboot. Seine Wangen sind vom starken Wind gerötet, das rote Haar aus einem Gesicht nach hinten gekämmt, welches man großzügig als unscheinbar beschreiben könnte. Er ist ein altgedientes Mitglied von DCI Madrons Team und war stinksauer, dass er nicht selbst dessen Stellvertreter geworden ist. Aber so langsam scheint seine Missgunst mir gegenüber zu verfliegen. Hinter ihm sitzt mit ernster Miene Dr. Keillor mit seinen dicken Brillengläsern und winkt mir zur Begrüßung zu.

Erst nachdem das Boot angelegt hat, fällt mir die kleine Gestalt am Bug auf, die eine schwarze Lederjacke, enge Jeans und rote Gummistiefel trägt. Liz Gannick bemerkt mich nicht, denn sie tippt eine Nachricht auf ihrem Handy. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie sie in einem weißen Overall auf allen vieren Tatorte untersucht, aber wenn sie es zur Leiterin der Kriminaltechnik unseres Bezirks gebracht hat, muss sie ziemlich gut sein. Sie wirkt wie eine Elfe mit dem platinblond gefärbten kurzen Haar, dessen längere Strähnen ihr in die Stirn fallen. Gannick hat die Statur einer Zwölfjährigen, doch die Fältchen um ihre Augen verraten, dass sie Anfang vierzig sein muss. Ihr blassbrauner Blick erfasst meine Mängel in wenigen Sekunden. Sie gibt mir die Hand, bleibt aber sitzen, als ich ihr fürs Kommen danke.

»Raue See macht mir nichts aus, Inspector. Ich kenne die Inseln gut.« Sie klingt jetzt sogar noch brüsker als am Telefon, und ihr Akzent kommt stärker durch. »Würden Sie mir hier raushelfen?«

Ich könnte sie einfach auf den Anleger heben, aber ihre kratzbürstige Art lässt mich darauf schließen, dass sie es lieber allein schaffen will. Sie stemmt sich mit Hilfe von Krücken aus dem Gefährt und greift nur ganz kurz nach meiner Hand, als ihre streichholzdünnen Beine auf dem festen Boden landen. Dass ich mir dieses Manöver angesehen habe, missfällt ihr.

»Man starrt Leute nicht an, DI Kitto. Hatten Sie keine Kinderstube?« Sie sagt das leichthin, aber mir ist klar, dass sie mich auf die Probe stellt.

»Es hieß, dass Sie einen Rollstuhl benötigen, und wir müssen über Stock und Stein. Ist das okay?«

»Ich bin gut zu Fuß.«

»Wollen wir los?«

»Lassen Sie mich Ihnen vorher noch ein paar Ratschläge geben.«

»Nur zu.«

»Behandeln Sie mich wie einen ganz normalen Menschen. Wenn wir zusammenarbeiten sollen, macht das uns beiden das Leben leichter.«

»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht beleidigen.«

Jetzt, da sie mich in die Defensive gebracht hat, nehme ich in ihrem Blick einen Hauch von Amüsiertheit wahr. »Glauben Sie mir, ich bin Schlimmeres gewohnt. In dem Koffer da sind Überschuhe und Schutzanzüge. Ich packe meine Ausrüstung zusammen, dann können Sie mich unterwegs auf den aktuellen Stand bringen.«

Dr. Keillor wartet schweigend, während Gannick ihre Sachen einsammelt. Seine Miene strahlt Resignation aus, so als sei die Untersuchung von Leichen eine Verschwendung wertvoller Freizeit. Er geht mit Deane vor, und ich bleibe bei der Kriminaltechnikerin. Wir beide müssen ein schönes Bild abgeben: Ein schwerfälliger Riese, der das Gepäck einer kleinen Frau schleppt, die rasend schnell an Krücken geht. Die Wissenschaftlerin stellt sehr präzise Fragen. Meine Antworten hört sie sich unkommentiert an und speichert die Fakten zur späteren Analyse ab.

Als wir Burnt Island erreichen, beklagt sich Gannick mit keinem Wort über den steilen Anstieg. Während Dr. Keillor vorausgeht, navigiert sie geschickt zwischen den Felsbrocken hindurch. Oben angekommen, ist es mir unangenehm, dass ich ihre Kräfte unterschätzt habe. Die Leiterin der Kriminaltechnik ist nicht einmal außer Atem, als sie DCI Madron und Eddie begrüßt, die noch immer die Leiche bewachen. Mein Boss heißt sie und Dr. Keillor steif willkommen. Er hält sich stets pedantisch ans Protokoll, und diesmal erst recht, da die beiden im Rang über ihm stehen. Gannick ignoriert die altmodischen Höflichkeiten des DCIs und bleibt im Hintergrund, während Dr. Keillor sich dem Tatort nähert. Aber ich bemerke, dass sie darauf brennt, loszulegen.

Der Gerichtsmediziner hockt sich hin und konzentriert sich zunächst auf das Gesicht des Opfers. »Da hat Sie jemand ganz schön übel zugerichtet, nicht wahr, mein Freund?«, murmelt er halblaut.

Keillor streift sich sterile Handschuhe über und hebt vorsichtig das Schaffell von der Leiche. Eddie schwankt ein wenig, während er mit glasigen Augen den Toten anstarrt, aber wenigstens hält er sich aufrecht. Vom Feuer ist das Fleisch des Opfers wie geschmolzen, so dass sich seine Arme mit dem Oberkörper verklebt haben. Dort und an den Beinen sind teilweise die Knochen zu sehen, und verbrannte Muskelfetzen hängen an Beinen und Rippen. Dr. Keillor ist zu sehr in die Untersuchung vertieft, um Kommentare abzugeben. Die Stille um uns herum wird immer drückender, und ich bin schon drauf und dran, nach seinem Urteil zu fragen, als er sich mir zuwendet.

»Das Opfer ist männlich mit durchschnittlichem Körperbau. Über sein Alter kann ich noch nichts sagen.« Er beugt sich vor, um den Schädel genauer zu betrachten. »Das Scheitelbein ist gebrochen, aber der Schlag könnte auch nach dem Tod ausgeführt worden sein.«

»Können Sie uns noch mehr Details geben?«, fragt Madron.

»Dazu muss ich erst eine vollständige Obduktion vornehmen. Seine Arme und Beine müssen gefesselt gewesen sein, denn sonst hätten sich die Muskeln aufgrund der Hitze verkrampft. Für die genaue Ursache des Feuers müssen wir die Laboruntersuchung der Asche abwarten, aber wenn man eine so große Hitze erzeugen will, braucht man benzinbasierte Anzünder, Paraffin und feste Brennstoffe. Es ist so viel Gewebe zerstört, dass er mindestens drei Stunden gebrannt haben muss. Der Mantel wurde erst anschließend über die Leiche geworfen. Wenn alles nach Plan läuft, führe ich heute Abend die Obduktion durch und kann das Opfer dann vielleicht anhand von Röntgenaufnahmen der Zähne identifizieren.« Er wendet sich Liz Gannick zu. »Ich fürchte, Sie werden es schwer haben, Täter-DNA zu finden. Nachdem der Mann gestorben ist, hat es geregnet.«

»Sie wissen doch, ich kann Wunder vollbringen, Dr. Keillor.« Das Grinsen der Kriminaltechnikerin ist eine direkte Herausforderung an jeden, der ihre Fähigkeiten in Frage stellen könnte. »Bauen Sie bitte sofort ein steriles Zelt über der Leiche auf. Ich fange schon mal an, bevor meine Kollegen eintreffen.«

»Danke, dass Sie hierhergekommen sind, Dr. Gannick«, wirft Madron ein. »Sie hatten einen weiten Weg.«

»Kein Problem, Chief Inspector. Ich habe Verwandte auf St. Mary’s; auf die Art kann ich ihnen einen Besuch abstatten.«

Der DCI und Sergeant Deane begleiten Keillor zu der wartenden Polizeibarkasse zurück, also müssen Eddie und ich das weiße Polyäthylen-Zelt aus Gannicks Spurensicherungskoffer holen. Mein Deputy studiert mit ausdrucksloser Miene noch einmal die Überreste, so als könnte er einfach nicht glauben, dass eine halbe Meile von seiner Wohnung in Lower Town entfernt ein Mord verübt wurde. Als wir das Zelt aufgebaut haben, ziehe auch ich sterile Handschuhe an, löse vorsichtig den Ehering von der geschwärzten Hand des Opfers und stecke ihn in einen Asservatenbeutel. Das Design ist ungewöhnlich – Weißgold mit eingravierten Sternen und Halbmonden.

»Eddie, machen Sie ein Foto und fragen Sie Marie, ob sie den Ring identifizieren kann.« Seine ältere Schwester arbeitet bei dem einzigen Juwelier der Inseln als Goldschmiedin.

Der junge Sergeant wirkt erleichtert über diese klare Aufgabe. Mit weißen Fingern umklammert er sein Telefon wie ein Rettungsseil. Während er mit seiner Schwester spricht, rufe ich ein paar andere Inselbewohner an und bitte sie, weiterzusagen, dass um zwei Uhr im alten Rettungsbootschuppen eine öffentliche Versammlung stattfindet. Liz Gannick kriecht auf Händen und Knien an dem Opfer entlang und leuchtet den Boden mit einer UV-Lampe ab, deren violetter Strahl keinen Felsbrocken oder Kieselstein auslässt. Als ich sie frage, was sie zu finden hofft, wirft sie mir einen genervten Blick zu.

»Blutspritzer natürlich. Im Gegensatz zu dem, was alle meinen, zerstört Regen keineswegs alle Spuren. Die Lampe findet auch mikroskopisch kleine Spritzer, und Blut ist ja, wie man sagt, dicker als Wasser. Oft klebt es an den Unterseiten von Steinen.«

Ich lasse sie in Ruhe weitermachen. Eddies Miene ist ernst, als er auflegt.

»Den Ring hat Alex Rogan letzten Sommer in Auftrag gegeben, zusammen mit einem gleich aussehenden für seine Frau. Aber er könnte ihm ja auch gestohlen worden sein, oder?«

»Möglich, aber unwahrscheinlich, fürchte ich.«

Meine Gedanken überschlagen sich, während ich den Ring anstarre und mich wundere, dass er die Flammen unbeschädigt überstanden hat. Professor Alex Rogan war Ende dreißig; er ist vor zwei Jahren nach St. Agnes gezogen, um eine alte Schulfreundin von mir zu heiraten, die jetzt den Insel-Supermarkt betreibt. Weil dieser bescheidene Mann seine Bildung nie zur Schau trug, hatte ich keine Ahnung, dass er ein bekannter Astronom war, bis ich ihn als Gastexperten in einer Wissenschaftssendung im Fernsehen sah. Von den wenigen Abenden, die ich mit ihm und Sally im Pub verbrachte, habe ich ihn als freundlichen und ausgeglichenen Akademiker in Erinnerung, der in seiner Beziehung glücklich war und einen trockenen Humor hatte.

Jetzt, da er zu dem entstellten Skelett zu meinen Füßen reduziert worden ist, überkommt mich Wut. Alex Rogan war frisch verheiratet und bei allen beliebt. Warum war er getötet worden?

4

Kriminaltechniker haben mit normalen menschlichen Wesen nichts gemein. Die beiden Beamten der Spurensicherung, die Liz Gannick helfen, die Überreste des Opfers für die Überführung ins St. Mary’s Hospital vorzubereiten, sind anscheinend von den Verletzungen der Leiche fasziniert, wohingegen ich mich mehr dafür interessiere, warum Alex Rogan einen so schrecklichen Tod sterben musste. Doch vorher brauche ich erst einmal die Bestätigung seiner Identität; ich finde es merkwürdig, dass ihn noch niemand als vermisst gemeldet hat. Ich lasse meine Gedanken schweifen, während die Männer in sterilen Schutzanzügen exakt nach Garricks Anweisungen an der Leiche arbeiten. Der eine ist ein stämmiger Mittfünfziger, der den Einsatz seines Spatels mit einsilbigen Äußerungen begleitet. Der andere ist jünger, er hat einen Pott-Haarschnitt und Zahnlücken. Mit einer riesigen Kamera nimmt er Bilder aus allen Perspektiven auf. Die beiden arbeiten so langsam, dass ich Zeit habe, die Buchstaben zu studieren, die jemand am Tatort in den Stein geritzt hat:

AN TIR SANS MA YW DHYN NO AGAN HONAN, GWITHYS GANS MOR HAG EBRON. YNHERDHYORYON OMMA A VEROW YN SERTAN.

Da ich ein paar kornische Wörter erkenne, tippe ich die Nachricht in eine Übersetzungs-Website. Das Ergebnis überzeugt mich davon, dass sie von dem Mörder stammt:

Dieses heilige Land gehört nur uns, geschützt von See und Himmel. Eindringlinge müssen hier sterben.

Als ich Eddie die Übersetzung zeige, sagt er nichts, sondern stößt ungläubig einen leisen Pfiff aus. Der Mörder hat seine Tat kaltblütig geplant, denn es muss Stunden gedauert haben, die Buchstaben so sauber in den Stein zu ritzen. Wer auch immer Rogan getötet hat, zeigt uns, dass er im hiesigen Boden tief verwurzelt ist und eine Sprache gut spricht, die vor zehn Jahren für ausgestorben erklärt wurde. Nur rund sechshundert Menschen sprechen sie noch fließend, und obwohl eine kleine Zahl von Schulen und Vereinen das Kornische wiederzubeleben versucht, überlebt es inzwischen lediglich in Ortsnamen. Auch die Mitteilung selbst überrascht: St. Agnes empfängt den ganzen Sommer über Besucher, und es gibt nur selten Konflikte zwischen Inselbewohnern und Touristen. Doch irgendjemand verheimlicht offenbar seinen Hass auf Zugereiste.

Es dauert zwei Stunden, bis die Überreste aus der Asche gegraben und in einen Leichensack gelegt worden sind. Der jüngere KTUler ist begeistert darüber, dass er etwas in der Tasche des Schaffellmantels entdeckt hat. Er legt einen kaputten Feldstecher auf einen Asservatenbeutel, um ein weiteres Foto zu machen; inzwischen sehe ich mir die geplatzten Linsen und das geschmolzene Plastik genauer an. Es ist noch nicht klar, warum ein anscheinend gut organisierter Mörder einen so offensichtlichen Hinweis auf seine Identität am Tatort hinterlassen sollte. Der jüngere Mann winkt uns jovial zu, so als ob die Entdeckung dieser trostlosen Überreste den Höhepunkt seines Jahres darstellte.

»Freaks«, murmelt Eddie, als die Spurensicherer außer Sicht sind.

»Ganz meine Meinung.«

Gannick ist zu weit weg, um uns hören zu können. Sie sammelt Bodenproben in Asservatenbeutel und erhebt sich dann mit einer einzigen geschickten Bewegung vom Boden. Im Laufe des Vormittags ist mein Respekt für die Chef-Kriminaltechnikerin immer weiter gewachsen; ihr Arbeitseifer scheint unermüdlich.

»Kommen Sie mal hierher, Inspector«, ruft sie. Sie steht neben zwei Granitplatten, die gegeneinander lehnen und so ein natürliches Dach bilden. »Von hier aus verlaufen Blutspuren bis zu dem Scheiterhaufen. Ihr Opfer hat zwischen diesen Steinen gelegen. Wenn das sein Blut ist, dann stammt es wohl aus einer oberflächlichen Wunde und ist geflossen, während man ihn hinübergeschleppt hat. Da unten ist ein größerer Fleck.«

Gannick schaltet ihre Lampe wieder ein, und ein fünfzehn Zentimeter breiter Blutfleck wird etwa dreißig Zentimeter über dem Boden an dem Granit sichtbar.

»Wie ist es da hingekommen?«

»Wahrscheinlich hat er seine Hände an dem Felsen gerieben, um sich von den Fesseln zu befreien.«

Ich trete einen Schritt zurück, um mir die Steinplatten noch einmal anzusehen. Sie sind hoch genug, um den Körper eines Menschen vor Spaziergängern zu verbergen, die an einem kalten Wintertag den Hügel heraufkommen könnten. »Der arme Mann muss total panisch gewesen sein.«

»Seine Psyche interessiert mich nicht, ich will nur wissen, wie er gestorben ist. Ich lasse die Blutspuren noch heute ins Labor schicken. Ich mache ein paar Tage auf St. Mary’s Urlaub, und wir unterhalten uns wieder, wenn die Ergebnisse per E-Mail gekommen sind.« Sie mustert mich unangenehm ausführlich mit ihren blassbraunen Augen. »Aber zögern Sie nicht, mich zu konsultieren, Inspector. Wenn ich an einem Fall arbeite, will ich auch ein Resultat.«

»Gut zu wissen.«

Ich überlege, ob ich ihr meine Begleitung zurück zum Kai anbieten soll, entschließe mich dann aber, ihr zu danken. Es würde mich interessieren, warum sie von einer Polizeikarriere zur Kriminaltechnik gewechselt ist, aber jetzt ist der falsche Moment für persönliche Fragen. Gannick lächelt mich höflich an und bricht dann auf. Sie bewegt sich mit der Eleganz einer Abfahrts-Skiläuferin den Hügel hinab; ihre Füße berühren kaum den Boden. Als sie weg ist, denke ich wieder über den schrecklichen Tod des Opfers nach. Er war vielleicht stundenlang allein, hat verzweifelt versucht, sich zu befreien, nur um dann auf die schlimmste nur vorstellbare Art sterben zu müssen. Wer auch immer ihn getötet hat, befindet sich noch auf der Insel und geht entspannt und sorgenfrei seiner Wege.

Mein Deputy studiert eine Namensliste aus dem aktuellsten Wählerverzeichnis. Auf St. Agnes leben neunundsiebzig Einwohner dauerhaft, dazu kommen noch drei weitere aus der winzigen Siedlung auf Gugh. Da knapp über zwanzig Insulaner bis zum Beginn der Touristensaison auf dem Festland arbeiten, bleiben sechzig mögliche Verdächtige übrig. Keiner von denen hat jemals ein schweres Verbrechen begangen, was es unwahrscheinlich erscheinen lässt, dass sie sich eines kaltblütigen Mordes schuldig gemacht haben. Wir müssen dringend Sally Rogan besuchen, denn ich will sichergehen, dass kein anderer mit dem Ehering ihres Mannes an der Hand verbrannt worden ist.

 

Auf dem zehnminütigen Weg nach Middle Town folgt Eddie mir schweigend. Wir kommen an schlammigen Wiesen und einer Ziegenherde vorbei, die Sauergras knabbert. Als wir den Weiler erreichen, kann ich in der Ferne den Steinkreis von Troytown sehen. Das Wahrzeichen ist eines der größten Geheimnisse der Insel. Weiße Steine formen eine unregelmäßige Spirale. Einige Einwohner behaupten, die frühen Siedler hätten den Steinkreis angelegt, während andere meinen, ein Leuchtturmwärter hätte ihn erbaut, um sich nicht zu Tode zu langweilen. Als Kind habe ich es geliebt, von einem Stein zum nächsten zu springen, ohne mich dabei jemals zu fragen, wer die riesige Spirale erschaffen hat. Am liebsten würde ich durch das Labyrinth gehen und mich sammeln, bevor ich mit Sally rede, doch ich kann das Unvermeidliche nicht weiter hinauszögern. Menschen desselben Alters haben auf den Scilly-Inseln eine enge Beziehung: Wir sind alle zur Five-Islands-Schule auf St. Mary’s gegangen, und das kann Segen oder Fluch sein. Im Pub kennt man immer irgendjemanden, und wenn es zu einer Tragödie kommt, kann man sich nirgends verstecken.