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Leise steigt die Flut E-Book

Kate Penrose

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Beschreibung

In einer stürmischen Dezembernacht verschwindet ein junges Mädchen auf den Scilly-Inseln vor Cornwall – der fünfte Fall für den charismatischen Ermittler Ben Kitto Kurz vor der alljährlichen Narzissenernte schleicht sich die elfjährige Jade Minear mit ihrem Zwillingsbruder Ethan nachts aus dem Haus und verschwindet auf dem Weg zum Strand spurlos. Ethan ist seither so traumatisiert, dass er nicht mehr spricht.  Detective Inspector Ben Kitto sucht jeden Winkel der kleinen Insel St. Martin's ab, es gibt nur wenige Orte, an denen ein Kind versteckt sein könnte. Aber eines wird ihm bei den Gesprächen mit den Inselbewohnern immer klarer: Die Minear-Familie, eine der reichsten der Scilly-Inseln, hat viele Feinde, und Jade ist in ernsthafter Gefahr.  Ben versucht herauszufinden, wer ihm etwas verheimlicht. Bis eine Leiche gefunden wird, und plötzlich niemand mehr sicher ist. »Tolle Urlaubslektüre« news-magazin »Ein spannender Plot vor einer Wahnsinnskulisse.« Westdeutsche Zeitung »Spannend und atmosphärisch erzählt Kate Penrose ihre Geschichte, die Einblick gibt in eine faszinierende Inselwelt.« Hamburger Abendblatt

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Seitenzahl: 467

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Ähnliche


Kate Penrose

Leise steigt die Flut

Ein Krimi auf den Scilly-Inseln

Roman

 

Aus dem Englischen von Birgit Schmitz

 

Über dieses Buch

 

 

In einer stürmischen Dezembernacht verschwindet ein junges Mädchen auf den Scilly-Inseln …

 

Kurz vor der alljährlichen Narzissenernte schleicht sich die elfjährige Jade Minear mit ihrem Zwillingsbruder Ethan nachts aus dem Haus und verschwindet spurlos. Ethan ist seither so traumatisiert, dass er nicht mehr spricht. Detective Inspector Ben Kitto sucht jeden Winkel der kleinen Insel St. Martin’s nach Jade ab, doch vergebens. Aber eines wird ihm bei den Gesprächen mit den Inselbewohnern immer klarer: Die Minear-Familie, eine der reichsten der Scilly-Inseln vor Cornwall, hat viele Feinde, und Jade ist in ernsthafter Gefahr. Ben versucht herauszufinden, wer ihm etwas verheimlicht. Bis eine Leiche gefunden wird, und plötzlich niemand mehr sicher ist.

 

Der fünfte Band der Krimireihe auf den Scilly-Inseln mit dem charismatischen Ermittler Ben Kitto, der Ruhe sucht und Verbrechen findet.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Über die Autorin und die Übersetzerin

 

Kate Penrose kennt die Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls wie ihre Westentasche. Seit Kindertagen verbringt sie fast jeden Sommer dort und ist jedes Mal aufs Neue fasziniert von dem atemberaubenden Naturparadies. Die Idee für eine Krimiserie mit diesem einzigartigen Schauplatz kam ihr spontan bei einem Restaurantbesuch, und aus ein paar hastig hingekritzelten Stichworten auf der Speisekarte wurde einige Monate später der erste Insel-Krimi. Kate Penrose, die auch unter dem Namen Kate Rhodes schreibt, lebt mit ihrem Mann, dem Autor David Pescod, in Cambridge am Ufer des River Cam.

 

Birgit Schmitz hat Theater und Literatur studiert und arbeitete einige Jahre als Dramaturgin. Heute lebt sie als Literaturübersetzerin, Texterin und Lektorin in Frankfurt am Main.

Für Amanda Grunfeld,

eine kluge und geistreiche Freundin.

Teil 1

»Niemand erfährt Heilung, indem er einen anderen verwundet.«

Ambrosius von Mailand

Samstag, 18. Dezember

Die Zwillinge warten, bis es im ganzen Haus still ist. Vor ihrem Zimmerfenster zieht ein Sturm herauf, Küstennebelschleier jagen vorbei, und tiefe Dunkelheit senkt sich herab.

»Komm, los!«, flüstert Jade. »Auf dem Zettel steht, wir sollen um Mitternacht da sein.«

Ethan würde gern nein sagen. Keiner von ihnen beiden weiß, von wem die Nachricht stammt, und wenn ihr Vater sie erwischt, wird er sie hart bestrafen, doch seine Schwester greift schon zu ihren roten Handschuhen und dem roten Schal. Als Jade das Fenster öffnet und sich auf das Flachdach darunter fallen lässt, folgt Ethan ihr, obwohl er lieber im warmen, sicheren Bett geblieben wäre. Der Junge landet hart auf seinen Fersen, und die Kälte, die ihm ins Gesicht schlägt, sagt ihm, dass es nun kein Zurück mehr gibt.

Schon bald verwandelt sich die Angst des Jungen in gespannte Erregung. Der Nebel raubt ihm die Sicht, doch nichts kann ihn verlangsamen, während er den Weg entlangrennt, den er kennt, seit er laufen kann. Jede Erhebung und jede Baumwurzel hat sich in sein Gedächtnis eingegraben. Neben einem Narzissenfeld bleiben die Zwillinge stehen. Der Duft der Blumen ist berauschend heute Nacht, von Tausenden Blüten strömt eine süße Mischung aus Jasmin und reifen Orangen in die Dunkelheit. Der Mond gießt sein Licht über die Insel St. Martin’s und färbt die Blumenfelder silbern, bis neuer Nebel landeinwärts zieht und den Horizont verschleiert.

»Wer zuerst am Strand ist!«, ruft Jade.

»Bleib auf dem Weg! Dad weiß sofort, dass wir es waren, wenn Blumen umgeknickt sind!«

»Und wenn schon! Komm, beeil dich!«

Jade wird mit den Strafen ihres Vaters leichter fertig, aber Angst vor ihm haben sie beide. Ethan sieht, wie seine Schwester durch die kniehohen Narzissen trampelt und abgerissene Blütenblätter an ihrer Jeans haften bleiben. Der Junge erhascht noch einen Blick auf ihren knallroten Schal, dann verschluckt der Nebel sie. Sein Instinkt rät ihm, ihr zu folgen, denn er ist der Zweitgeborene – zur ewigen Aufholjagd verdammt. Jade war schon immer die Anführerin, und an Tagen, an denen er nicht sprechen kann, leiht sie ihm auch ihre Stimme.

Ethan hat das Feld bereits halb durchquert, als Jade plötzlich aufschreit; danach hört er nur noch den Wind, der durch die Hecken fährt. Er ruft ihren Namen, erhält jedoch keine Antwort. Seine Schwester liebt es, ihn zu erschrecken, aber Ethan hat ohnehin schon Angst. Vor seinen Augen tanzen Geister, die Dunkelheit spielt ihm Streiche.

»Wo bist du?«, ruft er. »Hör auf mit dem Quatsch!«

Plötzlich legt sich eine Hand auf Ethans Schulter und umschließt sie so fest, dass jeder Finger einen blauen Fleck hinterlässt. Dann tritt ihm jemand von hinten in die Knie, und er fällt hin. Jade kann das nicht gewesen sein, so stark ist seine Schwester nicht. Ethan schreit um Hilfe, aber sein Angreifer, der nach Alkohol und Zigaretten stinkt, drückt ihn auf den Boden. Jade ruft ihm zu, dass er weglaufen soll, doch ihre Stimme klingt weit weg. Eine Nebelwand verbirgt die Sterne, und als der Junge erneut um Hilfe rufen will, versagt ihm wieder einmal die Stimme. Eine Sekunde lang sieht er das Gesicht seines Gegenübers. Er kennt es gut, aber sein Verstand kann die Wahrheit nicht akzeptieren. Ethan versucht, sich loszumachen, doch der Arm, der sich um seine Taille gelegt hat, ist zu stark; er kann nicht entkommen. Erst als er dem Angreifer in die Hand beißt, lockert sich endlich dessen Griff.

Der Junge nutzt seine Chance und befreit sich. Über die zerfurchte Erde stolpernd, rennt er nach Hause. Er versucht wieder, nach Jade zu rufen, aber es kommt kein Ton heraus. Er kann nur beten, dass sie ein sicheres Versteck gefunden hat. Die Augen vor Panik weit aufgerissen, klettert er über die Regenrinne zurück nach oben. Dann stellt Ethan sich ans Fenster und hält Ausschau nach seiner Zwillingsschwester, doch der Nebel hat sich um das Haus gelegt wie eine Augenbinde und verbirgt die Felder vor seinem Blick.

1

Samstag, 18. Dezember

Meinem Großvater ging Schönheit über Sicherheit. Er hätte überall auf den Scilly-Inseln bauen können, aber er entschied sich für die Hell Bay an der Westküste Bryhers, wo das Haus jeder Sturmbö vom Atlantik her schutzlos ausgeliefert ist. Meine Freundin Nina scheint das Unwetter, das heute Abend tobt, gar nicht wahrzunehmen; obwohl es schon fast Mitternacht ist, sitzt sie seelenruhig am Küchentisch und schreibt Weihnachtskarten. Sie hat das Haus mit Lichterketten und Lametta geschmückt und im Wohnzimmer einen großen Baum aufgestellt. Jetzt wirkt es hier sogar festlicher als in meiner Kindheit. Draußen vor dem Fenster sieht es weitaus weniger einladend aus. Regen rinnt die Scheibe hinab, und fünfzig Meter weiter donnern Brecher gegen die Küste. Mein Hund, Shadow, scharwenzelt um mich herum und bettelt um einen letzten Spaziergang.

»Keine Chance, mein Freund«, sage ich zu ihm. »Es schüttet wie aus Eimern.«

»Sei nicht gemein, Ben«, sagt Nina. »Lass ihn noch mal laufen.«

Als ich die Haustür öffne, wirft der Wind mich fast um, aber Shadow ist überglücklich. Er sprintet los, als wollte er das Auge des Orkans suchen, und ich bleibe kopfschüttelnd zurück. Vor vier Monaten wurde er so schwer verletzt, dass zwei OPs nötig waren, um seine inneren Blutungen zu stoppen, und danach hatte er, während die Wunden heilten, wochenlang Schmerzen, doch sein Kampfgeist hat ihn in all der Zeit nie verlassen. Der Tierarzt meinte, Wolfshunde seien eine zähe Rasse, und das stimmt offenbar. Der einzige Unterschied, den ich seit Shadows Nahtoderfahrung in seinem Verhalten feststellen kann, ist, dass er, abgesehen von gelegentlichen Streifzügen über die Insel, zumeist an meiner Seite bleibt. Nun prescht er am Flutsaum entlang und sucht nach Unrat, den er nach Hause schleppen kann.

»Ihm geht’s besser, aber ganz der Alte ist er noch nicht.«

»Posttraumatische Belastungsstörung«, erwidert Nina. »Gib ihm Zeit, sich zu erholen.«

»Können Hunde auch depressiv werden wie Menschen?«

»Sie haben Emotionen, das ist sicher. Wenn Shadow sauer ist, findet er doch einen Weg, es dich wissenzulassen, oder nicht?« Ein Windstoß von draußen fegt ihre Umschläge vom Tisch. »Mach die Tür zu, um Himmels willen!«

Ich sehe ihr an, dass sie nur so tut, als wäre sie verärgert. Sie ist im August auf die Scilly-Inseln gezogen, und ich habe Monate gebraucht, um ihre Launen zu durchschauen. Ihr Schutzschild des Geheimnisvollen ist so undurchdringlich, dass ich ein Röntgengerät bräuchte, um herauszufinden, was sich dahinter alles verbirgt. Nina lässt sich selten aus der Ruhe bringen, aber der Tod ihres Ehemanns vor bald drei Jahren macht ihr immer noch zu schaffen. Sie verbringt jedes Wochenende mit mir, schätzt ihre Unabhängigkeit jedoch viel zu sehr, um Kompromisse einzugehen. Ich hab sie vor Wochen gefragt, ob sie nicht zu mir ziehen will, und warte noch immer auf eine Antwort. Morgen kehrt sie zurück auf die Insel St. Martin’s, die mit dem Boot zwanzig Minuten von Bryher entfernt ist; dort hütet sie das Haus eines einheimischen Paares, das den Winter im Ausland verbringt. Dieses Arrangement passt ihr perfekt in den Kram. So kann sie ungestört für ihre Abschlussprüfung zur Therapeutin lernen, Gartenarbeiten erledigen und mich auf Distanz halten.

Nina legt ihre Weihnachtskarten zu einem ordentlichen Stapel zusammen, was mir Zeit gibt, sie erneut zu betrachten. Ich kann nicht erklären, warum sie sich in meinem Kopf festgesetzt hat wie eine Melodie, die ich andauernd vor mich hin summen muss. Davon abgesehen, dass sie morgens mit einem Kamm durch ihre schulterlangen schokobraunen Haare fährt, hält sie sich nie mit ihrer äußeren Erscheinung auf. Heute trägt sie eine alte Levi’s und ein weißes T-Shirt, ihre olivfarbene Haut, die sie von ihrer italienischen Mutter hat, ist eine Nuance dunkler als meine.

»Starr mich nicht so an, Ben. Du lenkst mich ab.«

»Warum schreibst du jetzt noch Karten? Die kommen doch eh nicht mehr rechtzeitig an.« Ich setze mich zu ihr.

»Der Wille zählt. Du solltest auch ein paar verschicken.«

»Weihnachten ist nichts als eine geschickte Marketingstrategie. Wann hat dir zuletzt jemand was geschenkt, das du wirklich brauchst?«

Nina verdreht die Augen. »Das kann nur ein Mann so einseitig sehen. Jetzt stör mich nicht weiter und spiel mir was auf dem Klavier vor.«

»Bin ich so schlecht in Konversation?«

»Ich möchte den Tag lieber mit Musik ausklingen lassen.«

Ich erhebe mich demonstrativ widerwillig. Nina spielt Geige, als wäre das Instrument eine Verlängerung ihres Körpers, ich dagegen haue auf dem Klavier, das mein Dad irgendwann mal dem Insel-Pub abgekauft hat, häufig daneben. Da meine Eltern keinen Fernseher im Haus haben wollten, hab ich mir als Kind aus Langeweile selbst das Klavierspielen beigebracht, indem ich Lieder aus dem Radio nachgespielt habe. Ein paar Melodien kriege ich noch zusammen, aber es ist schwieriger geworden, sie abzurufen. Ich beginne »Someone to Watch Over Me« im falschen Tempo, aber dann setzt das motorische Gedächtnis wieder ein, und sofort geht alles viel leichter. Binnen kurzem überlasse ich mich stattdessen der Musik des Sturms und ahme die hohen Töne des Windes und den langsamen Herzschlag der Wellen nach.

Als ich fertig bin, hat Nina es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht. »Für einen, der nie übt, gar nicht übel«, sagt sie lächelnd.

»Ich hätte in der Schule Klavierunterricht nehmen können, aber das Rugbyspielen kam dazwischen.«

»Dann bist du ein Naturtalent.«

»Warum schmierst du mir Honig ums Maul?«, frage ich und klappe den Klavierdeckel zu. »Möchtest du, dass ich dich morgen nach St. Martin’s bringe?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ray hat mich zum Frühstück eingeladen, danach fahren wir in seinem Schnellboot rüber.«

»Der alte Knabe ist in dich verknallt. Brich ihm nicht das Herz, hörst du?«

Mein Onkel Ray ist nicht leicht zu beeindrucken. Er ist eingefleischter Junggeselle und nach vielen Jahren auf See nach Bryher zurückgekehrt, um Boote zu bauen. Obwohl er dafür bekannt ist, dass er gern für sich bleibt, darf Nina stundenlang in seiner Werft herumhängen, ohne dass er sie wegschickt.

»Bist du eifersüchtig, Benesek Kitto?« Sie benutzt nur dann meinen vollständigen Namen, wenn sie mich aufziehen will.

»Nicht im Geringsten. Wenn er mich zum Zweikampf herausfordert, habe ich einen nicht unbeträchtlichen Gewichtsvorteil.«

Nina steht abrupt auf. »Hör auf zu prahlen und komm mit ins Bett.«

»Ist das deine Vorstellung von Verführung?«

»Du musst ja nicht.«

»Vielleicht sollte ich häufiger Klavier spielen.«

Ich lasse mich widerstandslos ins Schlafzimmer führen. Unser Sex ist nicht mehr so ungestüm wie am Anfang, aber ich will sie immer noch so sehr, dass ich am liebsten nachhelfen würde, während sie sich auszieht. Als Kind war es mir peinlich, dass ich wie ein Preisboxer gebaut bin, doch die Art, wie sie mich jetzt anschaut, wischt jeden Selbstzweifel beiseite. Sie knöpft betont langsam mein Hemd auf und entfernt Stoffschicht um Stoffschicht, bis uns nichts mehr trennt als das Deckenlicht, das jedes Detail bloßlegt. Ich liebe es zu sehen, wie sie sich bewegt und die Emotionen über ihr Gesicht fließen, und es fällt mir schwer, nicht die Kontrolle zu verlieren, aber als sie schließlich richtig loslegt, hat sich das Warten gelohnt.

Ihr Blick ist noch verschleiert, als wir in die Kissen sinken, ihre bernsteinfarbenen Augen wirken weicher als zuvor. »Also gut, die Sache ist entschieden«, murmelt sie.

»Welche Sache?«

»Ich nehme dich, nicht Ray.«

»Gott sei Dank.«

»Aber ich wünschte, du würdest hin und wieder über deine Gefühle reden.«

»Die hab ich dir doch gerade gezeigt, oder nicht?«

»Das war schön, aber Gespräche sind das, was eine Beziehung zusammenhält.«

»Ich kann es schlecht erzwingen.« Es fällt mir schwer, meine Gefühle in Worte zu fassen. Meine Arbeit als Undercover-Ermittler hat mich gelehrt, meine Emotionen zu verbergen, und diese Angewohnheit streift man nicht so leicht wieder ab.

Sie legt eine Hand an mein Gesicht. »Denk einfach dran, dass ich zuhören werde, wann immer du bereit bist.«

Ich stehe auf, um das Licht auszumachen, und als ich wieder unter die Decke schlüpfe, fallen ihr bereits die Augen zu. Ihr großes Ruhebedürfnis erstaunt mich immer wieder; Nina kann zwölf Stunden am Stück schlafen, ohne sich auch nur ein Mal zu rühren. Sie schmiegt sich an mich und murmelt leise etwas.

»Es wird sich einiges ändern, Ben. Aber du musst bereit dafür sein.«

»Wie meinst du das?«

Ich warte auf eine Antwort, höre jedoch nur ihre ruhigen Atemzüge und den Sturm, der über uns an den Dachziegeln rüttelt. In dem Mondlicht, das durch die Vorhänge dringt, wirkt ihr ovales Gesicht so reglos wie das einer Statue. Ich denke noch über ihre Worte nach, als Shadow an der Haustür scharrt. Das Geräusch erinnert mich an die quietschenden Autobremsen, von denen ich in London häufig wach wurde. Shadows Fell ist klatschnass, als ich ihn hereinlasse, und ich reibe ihn mit einem alten Handtuch trocken. Anschließend legt er sich mir zu Füßen und wärmt sich an der glühenden Asche im Kamin. Ich lasse meinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Ninas Sachen sind überall verteilt. Auf dem Couchtisch liegt eine Ausgabe von Jane Austens Überredung, neben der Tür steht ihr Rucksack, und die Geige, die ihr Mann ihr kurz vor seinem Tod geschenkt hat, lehnt an der Wand. Sie hat sogar erste Kleidungsstücke von sich in meinem Schrank deponiert, was ich wohl als Fortschritt deuten darf. Wenn sie mir irgendwann ihre Eltern vorstellt, weiß ich, dass es ihr wirklich ernst ist.

Als ich zurück ins Bett gehe, beklagt Shadow sich nicht, dass ich ihn allein lasse; er ist froh, am warmen Kamin liegen zu können. Die ominöse Ankündigung meiner Freundin ist bereits halb vergessen; mein Leben hat sich schon jetzt so stark verändert, dass ich es kaum noch wiedererkenne. Von ein paar kurzen Bettgeschichten abgesehen, war ich fünf Jahre lang allein, aber jetzt gibt es Nina in meinem Leben, und ich bin nicht gewillt, sie wieder ziehen zu lassen. Als ich ein letztes Mal zum Fenster schaue, stürmt es noch stärker, und der Nebel drückt auf der Suche nach einem Weg ins Haus gegen die Scheibe.

2

Sonntag, 19. Dezember

Mein Telefon klingelt, bevor ich ganz wach bin. Wenn das Polizeirevier geschlossen ist, kommen Notrufe direkt bei mir an. Ich erkenne die Stimme der Frau am anderen Ende. Gemma Minear ruft von St. Martin’s an; die Verbindung ist schlecht, und ihre Worte werden von einem konstanten Knistern verzerrt. Bevor die Leitung ganz zusammenbricht, informiert sie mich darüber, dass ihre elfjährige Tochter Jade verschwunden sei. Ich rufe sie zurück und rate ihr, sich keine Sorgen zu machen. Kinder lieben es, allein auf Abenteuertour zu gehen, und die Insel St. Martin’s ist nur zwei Meilen lang. Doch die Angst in ihrer Stimme zwingt mich zu handeln.

»Bleiben Sie, wo Sie sind, Gemma. Ich bin schon unterwegs.«

Fluchend lege ich auf; meinen freien Tag kann ich jetzt vergessen. Es ist halb sieben, und Nina schläft noch tief und fest. Ich spähe durch die Vorhänge, aber noch ist es dunkel draußen; wenigstens hat der Sturm sich gelegt. Die Inseln Gweal und Illiswilgig sind in Mondlicht getaucht, das Meer sieht unnatürlich ruhig aus, und über dem Wasser liegt ein Nebelschleier.

Ich dusche schnell und esse hastig ein paar Scheiben Toastbrot, dann schreibe ich eine Nachricht für Nina auf einen Zettel, damit sie weiß, was los ist. Shadow kann es kaum erwarten, ins Freie zu kommen; sobald die Tür aufgeht, stürmt er hinaus. Als ich noch undercover für die Londoner Mordkommission arbeitete – eingeengt von Hochhäusern, einem stressigen Alltag und verschmutzter Luft –, ging es mir genauso. Klar wäre ich gern länger im Bett geblieben, aber Morgen wie diese erinnern mich daran, warum ich nach Bryher zurückgekehrt bin. Ich habe die Insel ganz für mich, und das Meer begrüßt mich mit einem leisen Flüstern, während seine flachen Wellen Kies an Land schieben. Das einzige Gebäude in Sichtweite ist das zehn Fußminuten entfernt liegende Hell Bay Hotel, in dessen Bar ein einsames Licht brennt. Dort ist meine beste Freundin Zoe aufgewachsen. Sie lebt heute als Musiklehrerin in Indien, im Augenblick ist sie allerdings zu einem vorweihnachtlichen Besuch auf der Insel. Wir haben uns seit ihrer Ankunft noch nicht gesehen, aber heute Nachmittag müsste ich eigentlich Zeit haben, mal bei ihr vorbeizuschauen – vorausgesetzt, Jade Minear ist bald wieder zu Hause.

Als ich vom Weg aus einen Blick zurückwerfe, sieht mein Haus ziemlich heruntergekommen aus. Meine Mutter hat das einstöckige Gebäude stets tipptopp in Schuss gehalten, während mein Vater zum Arbeiten auf See war, doch jetzt könnte es deutlich mehr Aufmerksamkeit vertragen. Das Mondlicht scheint auf einige kaputte Dachziegel, und die Fensterrahmen bräuchten dringend einen neuen Anstrich. Nina hat recht, wenn sie sagt, dass sich einiges ändern muss, angefangen bei grundlegenden Ausbesserungsarbeiten. Aber die Heimwerkerei muss warten. Mein Chef wäre außer sich, wenn ihm zugetragen würde, ich hätte eine der reichsten Familien der Scilly-Inseln warten lassen.

Shadow rennt voraus, als ich ostwärts in Richtung Church Quay gehe. Der kurze Weg führt mich über den Shipman Head Down, und der Lichtstrahl meiner Taschenlampe huscht über die mit Heidekraut und Farngestrüpp bedeckte Landschaft. Von dem Wildknoblauch, dem Mohn und den Wicken, die hier im Hochsommer blühen, ist derzeit nichts zu sehen. Ich laufe durch das winzige Dorf, das auf Bryher schon als ernstzunehmende Ortschaft durchgeht, doch es liegt im Winterschlaf. Am Vine Café hängt ein Schild mit der Aufschrift GESCHLOSSEN, und es wird bis April, wenn die ersten Tagestouristen der Saison kommen, dort bleiben.

Mein Onkel Ray ist bereits auf den Beinen, als ich um sieben Uhr seine Bootswerft erreiche. Er trägt einen Overall voller Farbflecken und begutachtet eine brandneue Jolle, deren Holz noch abgeschmirgelt werden muss, bevor die erste Harzschicht aufgetragen wird. Ray in seinen Sechzigern ist fast so groß wie ich, hat kurzgeschorenes silbergraues Haar, ein kantiges Gesicht und eine schlanke Statur. Als er sich zu mir umdreht, liegt in seinem Blick mehr Wut, als ich seit Jahren gesehen habe, und er begrüßt mich schroff mit seiner Baritonstimme.

»Warum baust du dir ein Boot, wenn du dich dann nicht darum kümmerst?«

»Tut mir leid, Ray, ich hätte dich anrufen sollen.«

»Der Sturm hat sie heute Nacht fast zerschmettert.«

»Ich hatte eigentlich vor, sie auf den Trailer zu stellen.«

»Das hast du letztes Mal auch schon gesagt. Ich musste sie in dem Dreckswetter mit der Winde die Slipanlage hochziehen.«

»Ich revanchiere mich, indem ich für dich arbeite.« Seine Miene hellt sich auf, auch wenn er in gespielter Verzweiflung den Kopf schüttelt.

»Wie wär’s, wenn du jetzt gleich die Jolle da für mich fertig machst? Oder hast du was Besseres vor?«

»Ich werde auf St. Martin’s gebraucht. Ein Kind ist weggelaufen, ohne irgendwem Bescheid zu sagen.«

»Wer denn?«

»Jade Minear.«

Er schüttelt wieder den Kopf. »Das wird Scott gar nicht gefallen. Er erwartet von allen seinen Kindern Gehorsam.«

»Dann beeile ich mich wohl besser.«

»Pass gut auf in dem Nebel.« Die türkisfarbenen Augen meines Onkels fixieren mich. »Er ist noch nicht fertig mit uns. Wir stecken in einem Wetterkreislauf fest; der Nebel wird noch häufiger zurückkommen.«

Ich bin nicht in der Position, dem etwas entgegensetzen zu können. Ray kennt sich mit den Launen des Meeres besser aus als jeder andere, seit er jahrelang bei der Handelsmarine zur See fuhr. Er führt mich weiter in die Werft hinein, wo mein Bowrider auf einem Trailer ruht. Letztes Frühjahr habe ich mir das sechs Meter lange Motorboot unter Rays Anleitung aus Zedern- und Fichtenholz selbst gebaut. Zum Dank für seine Hilfe durfte mein Onkel ihm einen Namen geben, und passend zu seinem Einsatzort hat er es Morvoren getauft. Auf den Scilly-Inseln gibt es viele Volkssagen über mythische Sängerinnen, die Seemänner in den Tod locken, und Morvoren ist das kornische Wort für Meerjungfrau. Mein Boot hat einen anderen Zweck; ich benötige es für meinen Job als Deputy Commander der Inselpolizei. Vor allem im Winter, wenn die Fähren zwischen den Inseln weniger häufig verkehren, bin ich darauf angewiesen, dass die Morvoren mich zum Polizeirevier nach St. Mary’s bringt. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich mein einziges Transportmittel nicht ausreichend geschützt habe, aber wenn ich mit Nina zusammen bin, ist alles andere in meinem Kopf wie weggewischt.

Dies ist sicherlich der falsche Zeitpunkt, Ray um einen Gefallen zu bitten, doch ich habe keine andere Wahl. »Kannst du Shadow eine Weile bei dir behalten?«

»Ich könnte mir vorstellen, dass er keinen Wert auf meine Gesellschaft legt.«

»Leg ihn an die Leine.«

Der Hund winselt; er spürt, dass ich ihn hier zurücklassen will. Ich schiebe das Boot ins Wasser und werfe den Motor an. Als ich in den Nebel hinausfahre, hallt Shadows Protestgeheul über den Sund. Ich würde ihn ja lieber mitnehmen, aber die mächtigste Familie der Scilly-Inseln kann ich nicht mit einem schlecht erzogenen Wolfshund im Schlepptau aufsuchen.

Sobald sich mein Boot von der Küste entfernt, sinkt die Temperatur; die Scheinwerfer schlagen eine Schneise in die Dunkelheit. Auch über der Westküste der Nachbarinsel Tresco hängt Nebel, verschleiert die Hügel und sorgt dafür, dass man den hellen Sand der Appletree Bay kaum erkennt. Als vor mir die Chinks aufragen, achte ich sorgsam darauf, Abstand zu halten. Diese Felsen durchstoßen wie abgebrochene Zähne die Wasseroberfläche und warten nur darauf, den Rumpf jedweden Bootes aufzureißen, das ihnen zu nahe kommt. Sie sind eine Erinnerung daran, dass in diesem Gebiet etliche Schiffswracks auf dem Meeresgrund liegen, von vierhundert Jahre alten Fregatten bis zu modernen Yachten, die der Wind vom Kurs abgebracht hat. Sobald ich den Südzipfel Trescos erreicht habe, in den Crow-Sund einfahre und in östlicher Richtung auf St. Martin’s zuhalte, kann ich aufatmen. Der Horizont färbt sich rosa, und das monotone Tuckern meines Motors ist der einzige Lärm weit und breit: Das Meer liegt ruhig da wie ein Becken voll Quecksilber. Die Nebelschwaden hinterlassen Salzwassertröpfchen auf meiner Haut.

Bis St. Martin’s aus dem Nebel auftaucht, bin ich völlig durchgefroren. Das Eiland hat dieselbe düstere Geschichte wie die anderen vier bewohnten Scilly-Inseln. Vor einigen Jahrhunderten waren die Bewohner bereit zu töten, um den Zöllnern zu entgehen. Heute sind die hundertvierzig Einwohner von St. Martin’s gesetzestreuer als in den Zeiten des Schmuggels, und das milde Klima wirkt sich günstig für sie aus. Dutzende Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt damit, dass sie ganzjährig auf der Blumenfarm der Minears arbeiten und im Winter Narzissen, Nelken und Agapanthus aufs Festland verschicken. Die übrigen Bewohner sind auf den Tourismus angewiesen. St. Martin’s verfügt über ein Karma Hotel der Spitzenklasse, eine Kunstgalerie, eine Bäckerei und mehrere gutgehende Cafés, doch im Winter ist fast alles geschlossen. Wenn sie keine Beschäftigung als Blumenpflücker finden, verdingen sich viele Einheimische während der kältesten Monate auf Trawlern oder Bohrinseln. Ein Drittel der Bevölkerung verlässt die Insel jedoch jeden November und kehrt erst zurück, wenn die Feriensaison beginnt.

Das zerklüftete Profil von St. Martin’s füllt den Horizont aus, als ich mich dem im klaren Morgenlicht liegenden Highertown nähere. Die Insel zeigt der Welt zwei kontrastierende Gesichter, denn ein höher gelegener Landrücken, der vom Toprock im Westen über die gesamte Insel bis zum Chapel Down im Osten verläuft, zerteilt ihre geschwungene Mittelachse. Als ich die geschützte Südseite der Insel erreiche, stelle ich den Motor ab. St. Martin’s besitzt einige der schönsten Buchten der Scilly-Inseln: In Kindertagen haben mein Bruder Ian und ich häufig am Par Beach gespielt; wir haben uns gegenseitig in den weißen Sand eingegraben und am Crabore Ledge Herzmuscheln gesammelt. Als ich am Kai festmache, herrscht gerade Flut, doch wenn das Wasser zurückweicht, kann man hier noch immer die Grundmauern eines jungsteinzeitlichen Dorfs erkennen.

Meine Kleider sind klamm geworden von der Gischt, und ich fröstele, als ich gegen acht Uhr landeinwärts eile. Dabei komme ich an einem gepflegten Kricket-Spielfeld mit einem Pavillon vorbei, den die Gemeinde selbst errichtet hat. Auf meinem Weg hügelan ins Dorf liegt zu meiner Linken das Weinanbaugebiet, dessen schlummernde Rebstöcke darauf warten, im Frühjahr durch das Sonnenlicht zu neuem Leben erweckt zu werden. Ich lasse den Blick auf der Suche nach dem vermissten Mädchen über die Landschaft gleiten, aber wahrscheinlich hat der Hunger sie längst nach Hause an den Frühstückstisch getrieben. Meine Neugier wächst, als ich das Schild der Minear-Farm erblicke. Früher habe ich dort zusammen mit meinem Bruder in den Weihnachtsferien gejobbt. Scott und Gemma Minear leiten den größten Betrieb der Insel und sind Mehrheitseigentümer vieler weiterer Firmen auf St. Martin’s. Als ich das Tor öffne, ist unübersehbar, dass ihre Farm im wahrsten Sinne des Wortes floriert: Die Felder sind dicht mit gelben Narzissen bewachsen, deren zitroniger Duft mir in die Nase steigt. Die Blumen werden bald geerntet und dann als Geschenke für Weihnachten und Neujahr aufs Festland geflogen. Das graue, imposante Farmhaus der Minears ist das größte auf St. Martin’s. Es ist aus einheimischem Granit erbaut und hat ein Schieferdach, die Haustür ist mit glänzender scharlachroter Farbe gestrichen.

Gemma erwartet mich vor der Tür. Sie saugt an einer Zigarette, als wäre sie ihre einzige Sauerstoffquelle. Ich kenne die Familie nicht allzu gut, aber Gerüchten zufolge sind Gemma und Scott Millionäre. Gemmas Kleidung weist allerdings in keiner Weise auf diesen Reichtum hin. Ihr dünner Körper steckt in einem grauen Trainingsanzug, die schwarz gefärbten Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie zertritt die Kippe mit ihrem Turnschuh. Gemma ist zehn Jahre älter als ich, also ungefähr Mitte vierzig, und hat feine Gesichtszüge. Früher gehörte sie zu den Inselschönheiten, aber wie es aussieht, haben Jahre der Sorge ihre Wangen ausgehöhlt, und ihre Haut wirkt ein wenig zu blass. Ihre Stimme bebt vor Angst, als sie mich begrüßt.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Ben. Ich mache mir langsam wirklich Sorgen. Es sieht Jade nicht ähnlich, einfach so wegzulaufen.«

»Gehen wir doch rein und wärmen uns auf, dann können Sie mir die Einzelheiten erzählen.«

Die Diele ist weniger makellos als das Äußere des Farmhauses, und Anzeichen dafür, dass die Familie sich auf das Weihnachtsfest freut, sucht man hier vergebens: Neben der Tür stapeln sich Gummistiefel, an den Wänden hängen drei schlecht gerahmte Seebilder, und die Steinfliesen sind abgewetzt von den Generationen von Minears, die bereits darübergelaufen sind. Gemma eilt durch den Flur, als würde sie für ein Wettrennen trainieren. Das Erste, was mir in ihrer Küche ins Auge fällt, ist ein Familienfoto, das schon ein paar Jahre alt sein muss. Es zeigt alle vier Minear-Kinder mit ihren Eltern in einem Fotostudio. Der Junge und das Mädchen im Teenageralter schauen unbehaglich in die Kamera, aber die Zwillinge strahlen. Sie sind auf dem Bild ungefähr sechs Jahre alt und sehen sich verblüffend ähnlich; beide haben Grübchen in den Wangen und glattgekämmte blonde Haare und halten ihre Hände ordentlich im Schoß gefaltet.

Gemma kehrt mir schweigend den Rücken zu, während sie Kaffee in Becher gießt. Ich wüsste gern, warum sie so aufgelöst ist, da ihre Tochter sich doch bestimmt bloß vergnügt. Ich habe es als Kind geliebt, allein auf die Jagd nach Abenteuern zu gehen, und auf einer Insel ohne Verbrechen waren meine Eltern nie besorgt um mich. Als Gemma mir gegenüber Platz nimmt, macht sie auf mich den Eindruck, dass sie schon seit Monaten am Rand ihrer Kräfte ist. Sie zieht den Kopf tief zwischen die Schultern. Spannungen in der Familie könnten die Ursache dafür sein, und nicht, dass ihr Kind sich unerlaubt von der Farm entfernt hat.

»Jade ist eine starke Persönlichkeit, sie wirkt schon fast wie ein Teenager und nicht mehr wie eine Elfjährige«, sagt sie. »Aber so was hat sie noch nie gemacht.«

»Wissen Sie, wann sie das Haus verlassen hat?«

»Der Sturm hat mich gegen drei Uhr in der Nacht geweckt, und als ich ins Zimmer der Zwillinge reingeschaut habe, war ihr Bett leer.« Sie trinkt einen Schluck Kaffee. »Ich hab vorhin mal nachgesehen, welche Kleider fehlen. Sie muss ihre rote Bomberjacke mit der passenden Mütze und dem Schal anhaben.«

»Klingt so, als wäre Rot ihre Lieblingsfarbe.«

»Sie trägt im Moment nichts anderes. Im Gegensatz zu ihrem Bruder möchte Jade gern auffallen.«

»Hat sie ein Handy?«

Gemma schüttelt den Kopf. »Hier sind sich alle einig, dass Kinder erst dann Handys bekommen sollen, wenn sie auf die weiterführende Schule gehen.«

»Guter Plan. Haben Sie Ihre Eltern schon angerufen?«

Gemma sieht verlegen aus. »Mum ist gerade nicht gut auf mich zu sprechen. Wir haben schon eine ganze Weile nicht miteinander geredet, aber sie würde mich anrufen, wenn Jade in aller Herrgottsfrühe bei ihr aufgetaucht wäre.«

»Wo könnte sie sonst sein?

»Die Zwillinge sind gern bei Will und Maria Austell. Seit Will für uns arbeitet, wohnen sie im Wirtschafter-Cottage. Er ist ein Freund von Ihnen, oder?«

»Wir waren in der Schulzeit befreundet, aber ich hab ihn Jahre nicht gesehen.« Gemma schaut noch immer so sorgenvoll drein, dass ich zu gern wissen würde, welche anderen Faktoren noch zu ihrem Kummer beitragen, aber ich muss mich darauf konzentrieren, das Mädchen nach Hause zu bringen. »Schicken Sie Ihren Eltern eine Textnachricht, wenn das leichter ist, als anzurufen. Ich vermute, dass Jade bei ihnen ist oder bei einer Freundin.«

Gemma schüttelt den Kopf. »Mitten in der Nacht sucht Jade doch niemanden auf.«

»Was sagt Ethan denn?«

»Nichts, wie üblich – seine Schwester leistet ihm Hilfestellung bei der Verständigung. Darum will ich auch, dass sie bald wieder nach Hause kommt. Ethan war zwar wach, als ich vorhin nach ihm geschaut hab, aber er konnte mir nicht antworten. Er hat seit Jahren Probleme mit dem Sprechen, und Schreiben ist auch nicht seins. Er macht zwar seine Hausaufgaben, aber ich kann ihn nicht dazu bewegen, aufzuschreiben, was in ihm vorgeht. Es wäre wirklich schrecklich, wenn er das Selbstvertrauen, das er dieses Jahr hinzugewonnen hat, wieder verlieren würde.«

»Jade kommt ganz bestimmt bald gesund und munter zurück. Vielleicht schweigt Ethan, damit sie keinen Ärger bekommt.«

Ich rede immer noch beruhigend auf Gemma ein, als Scott Minear ins Zimmer gestürmt kommt. Vor zehn Jahren sah der Farmer mit seinem markanten Unterkiefer und den hohen Wangenknochen wie ein Hollywoodstar aus. Inzwischen ist er deutlich übergewichtig, trägt sein braunes Haar raspelkurz und hat eine von der vielen Arbeit an der frischen Luft gerötete Haut. Aber all das hindert ihn nicht daran, sich aufzuführen wie der ungesalbte König der Insel. Er ist seit Jahren Bürgermeister von St. Martin’s und hat bislang alle Rivalen um das Amt erfolgreich bekämpft. Die einen halten ihn für eine Kraft des Guten und die anderen für einen Kontrollfreak, aber alle wissen, dass er ein Choleriker ist. Gerüchten zufolge leitet er sein Imperium mit harter Hand. Als ich vor zwanzig Jahren auf der Farm gejobbt habe, hat er regelmäßig die langsamsten Pflücker gefeuert und dabei auch denen gegenüber keine Gnade walten lassen, die das Geld brauchten, um ihre Familien zu ernähren.

»Willkommen im Tollhaus, Inspector«, sagt er und grinst, als hätte er einen erstklassigen Witz gemacht. »Meine Frau verplempert Ihre Zeit. Jade spielt uns ständig Streiche.«

»Vorsicht ist besser als Nachsicht«, antworte ich.

»Das Mädchen ist eine echte Drama-Queen, was mich aber, ehrlich gesagt, nicht stört. Sie hat wenigstens einen starken Willen. Nur hat sie sich ausgerechnet die stressigste Zeit des Jahres ausgesucht für ihre Spielchen.« Minear lässt sich auf einem Stuhl nieder und kommt mir dabei so nah, dass unsere Knie sich fast berühren.

»Warum glauben Sie, dass sie weggelaufen ist, Scott?«

»Jade hat einen schrägen Sinn für Humor; das soll garantiert so eine Art Streich sein.«

»Hatte sie hier zu Hause Ärger?«

»Nicht den geringsten.«

Gemma beugt sich mit ängstlicher Miene vor. »Erzähl Ben von der Sache mit dem Fenster, Scott.«

»Ach, das hatte nichts zu bedeuten«, erwidert Minear verächtlich. »Irgend so ein Idiot hat uns letzte Woche das Wohnzimmerfenster eingeworfen. Gemma hat sich zu Tode erschrocken. Ein neues einsetzen zu lassen hat ein Vermögen gekostet. Einige Leute hier neiden uns unseren Erfolg, aber es kann auch einfach eine Mutprobe unter Kindern gewesen sein. Darum hab ich mir weiter keine Gedanken gemacht.«

»Wann ist das passiert?«

»Letzten Mittwoch, ungefähr um sechs Uhr früh. Ich hab draußen nachgesehen, aber da waren sie schon abgehauen«, sagt er. »Das war ein verdammt großer Stein, und irgendwer hatte mit Leuchtstift ›Devil’s Table‹ daraufgeschrieben.«

»Das ist aber eine seltsame Botschaft.« Der Devil’s Table ist eine uralte Felsformation auf dem May’s Hill in Form eines Altars. Er steht fünf Fußminuten in nördlicher Richtung von der Farm entfernt.

»Weiß der Himmel, was das sollte. Ich bin mal da hingelaufen, aber alles sah aus wie immer. Wenn ich rausfinde, wer das war, werd ich’s ihm mit gleicher Münze heimzahlen.«

»Immer langsam, Scott. Haben Sie den Stein noch?«

»Ich hab ihn wieder auf den Strand geworfen, wo er hingehört. Sie finden eh nie raus, wer dafür verantwortlich ist. Und wer sollte es an einem so kleinen Ort schon freiwillig zugeben?« Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und wirkt amüsiert. »Die Leute sagen, Sie hätten eine neue Freundin – eine elegante Brünette, was man so hört. Warum wohnt eine Lady aus der Stadt denn bei den Redmaynes?«

»Sie hütet das Haus, solange sie in Spanien sind.«

»So einen feinen Job hätte ich auch gern mal.« Die dunklen Augen des Farmers funkeln wie feuchte Schieferstückchen. »Und sie ist Psychologin?«

»Nina macht eine Ausbildung zur Therapeutin.«

»Ich zahle ihr gutes Geld, wenn sie Gemmas Nervenkostüm wieder in Ordnung bringt«, erwidert Minear lachend, doch seine Frau zuckt zusammen. »Sie macht sich ständig Sorgen über Sachen, die sie eh nicht ändern kann.«

»Tut das nicht jeder?«

»Um meinen Schlaf zu stören, bräuchten Sie eine Granate. Und Jade kommt garantiert jede Sekunde durch diese Tür da.« Minear erhebt sich wieder, aber ich bemerke, dass er aufgewühlt ist. »Bleiben Sie zur Ernte, wenn Sie wollen. Die Bezahlung ist besser als damals, als Sie hier Pflücker waren. Und wir legen noch Cider und ein Mittagessen oben drauf.«

»Danke, aber sobald Jade wieder da ist, fahre ich zurück nach Bryher.«

»Früher oder später taucht sie schon wieder auf.«

»Es muss einen Grund geben, Scott. Das hat sie noch nie gemacht.« Gemma spricht leise und beschwichtigend.

Minear starrt seine Frau an. »Die kleine Ziege ist letzte Nacht in unserem größten Feld rumgetrampelt – sie hat Dutzende Blumen platt gemacht, und ich weiß auch, wieso. Die Zwillinge sind komplett verzogen. Sie hängen stundenlang vor diesen verdammten Computerspielen; ich war in ihrem Alter in jeder freien Minute auf dem Feld, sonst hätte ich was hinter die Löffel gekriegt.«

»Gott sei Dank hat sich seitdem einiges zum Besseren verändert«, murmelt Gemma.

Scott dreht sich mir zu. »Geben Sie Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen«, sagt er und weist mit einer Kopfbewegung auf die Felder draußen. »Ich muss heute hundert Kisten für unseren Händler in London füllen, sonst senkt er den Preis. Wann kommst du raus, Gemma?«

»Erst wenn Jade wieder zu Hause ist. Luke hilft dir, und die Pflücker sind auch gleich da.«

Er blickt sie finster an. »Weißt du, wo mein Erntemesser sein könnte?«

»Da, wo du es liegen gelassen hast, nehme ich an. Wahrscheinlich im Verpackungsschuppen, wo die anderen auch sind.«

Scott Minear marschiert ohne Abschiedsgruß davon. Ich bin sicher, dass er sich auch Sorgen um seine Tochter macht, aber zu sehr Macho ist, um es zu zeigen. Als ich hinausschaue, ist er im Gespräch mit seinem ältesten Sohn Luke, aber die Diskussion wirkt sehr einseitig. Der junge Mann reckt das Kinn hoch, während sein Vater ihn anbrüllt. Luke lässt die Standpauke seines Vaters über sich ergehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich hab ihn in der örtlichen Fußballmannschaft spielen sehen – er ist gerade mal achtzehn Jahre alt und schon der beste Stürmer von St. Martin’s –, aber heute ist von seiner sportlichen Leistungsfähigkeit nichts zu erahnen. Gemma hat feuchte Augen, als ich sie wieder anschaue.

»Ist alles in Ordnung mit Luke? Er sieht müde aus.«

»Die Erntezeit ist für uns alle strapaziös.« Ihr Blick verharrt auf der Szene vor dem Fenster. »Luke war mit mir und Scott hier, als der Stein durchs Fenster flog. Und er war auch beunruhigt.«

»Was glauben Sie, wo Jade hingelaufen ist, Gemma?«

»Weiß der Himmel. Ich hab nur Angst, dass was Schlimmes passiert ist.«

»Was denn, zum Beispiel?«

»Sie sollten mal sich mit Dave Carillian unterhalten. Die Zwillinge haben gestern Nachmittag in der Nähe seines Hauses gespielt. Er fasziniert sie aus irgendeinem Grund, aber mir ist er total unheimlich …« Ihre Stimme verklingt. »Der Typ hat sie die ganze Zeit von seinem Fenster aus beobachtet, bis ich sie von dort weggerufen hab.«

»Kennen Sie ihn?«

»Niemand kennt ihn. Der wohnt jetzt seit drei Jahren hier, aber er verkehrt mit niemandem. Warum schließt ein Mann sich derart zu Hause ein?«

»Keiner von der Insel ist wegen Kindesmissbrauchs aktenkundig geworden, wenn Sie darauf hinauswollen. Wenn so einer hierherzieht, wird die Inselpolizei informiert.«

»Gut zu wissen, aber ein komischer Kauz ist er trotzdem. Ich ermahne die Zwillinge ständig, sich von ihm fernzuhalten. Und ich kann nur hoffen, dass er Jade nichts angetan hat.«

»Das halte ich für unwahrscheinlich, aber wenn Jade nicht bald nach Hause kommt, werde ich allen Nachbarn einen Besuch abstatten.«

So wie Gemma denkt nur eine Minderheit der Inselbewohner. Die meisten Leute auf den Scilly-Inseln nehmen Neuankömmlinge mit offenen Armen auf, aber einige wenige bleiben misstrauisch. Zugezogene müssen sich schnell anpassen, indem sie sich ehrenamtlich bei örtlichen Veranstaltungen engagieren und immer ein offenes Ohr für die Leute haben. Eigenbrötler haben es in einer derart kleinen Gemeinschaft von jeher schwer.

»Ich schaue als Erstes im Wirtschafter-Cottage vorbei. Es wird ohnehin Zeit, dass ich mich mal bei Will und seiner Frau sehen lasse. Nehmen Sie bitte in der Zwischenzeit Kontakt zum Rest der Familie auf und rufen Sie mich an, wenn Jade wieder auftaucht.« Ich stehe auf und schlüpfe in meine Jacke. »Es ist kalt draußen. Vielleicht hat Jade einfach keine Lust, bei der Ernte mitzuhelfen, und versteckt sich bei einer Freundin auf dem Dachboden.«

»Hoffentlich haben Sie recht.«

Gemma wirkt kein bisschen weniger angespannt, als ich schließlich gehe.

3

Ethan liegt noch im Bett und hält die Augen geschlossen. Er hat letzte Nacht kaum geschlafen, und jetzt fürchtet er sich davor, seiner Familie gegenüberzutreten. Als seine Mutter ihn nach Jade gefragt hat, hat er kein Wort herausgebracht; er möchte ja erzählen, was passiert ist, aber seine Stimme lässt ihn wieder mal im Stich. Schuldgefühle lasten wie Bleigewichte auf seiner Brust. Warum hat er Jade nicht davon überzeugt, den Zettel zu ignorieren, auf dem stand, dass sie um Mitternacht zum Kai kommen sollten? Jade hat ihn in ihre Jackentasche gesteckt, bevor sie losgegangen sind, darum kann er ihn seiner Mum nicht einmal mehr zeigen. Jeder von der Insel könnte ihnen diese Nachricht zugestellt und dann auf dem Feld gewartet haben, um sie abzufangen. Bilder ziehen ihm durch den Kopf wie der Nebel von letzter Nacht. Selbst mit zugekniffenen Augen sieht er Jades aufgeregte Miene vor sich, danach folgen nur noch Schatten, die durch den Nebel tanzen. Sein Herz beginnt zu rasen, wenn er an die Hand des Fremden zurückdenkt, die sich in seine Schulter gekrallt hat. Er versucht, sich das Gesicht des Angreifers in Erinnerung zu rufen, aber er bekommt es einfach nicht zu fassen.

Als der Junge sich zwingt aufzustehen, keimt plötzlich Hoffnung in ihm auf. Es sieht aus, als wäre seine Schwester zurückgekehrt, doch der Spiegel, über den sein Blick geglitten ist, zeigt nur ihn selbst. Ein schmächtiges Kind mit rotblonden Haaren starrt ihm daraus entgegen. Fast könnte es Jade sein, doch es gibt ein paar feine Unterschiede. So voller Furcht waren die Augen seiner Schwester noch nie.

Ethan nimmt seine Piccoloflöte aus dem Regal und spielt ein paar Töne; sie klingen hell und tröstlich. Er tritt ans Fenster und stellt sich in das Winterlicht, das nicht die geringste Wärme transportiert. Als er die Augen schließt und sich konzentriert, schlägt das Herz seiner Schwester noch neben seinem, nur etwas schwächer als zuvor. Normalerweise hört er ihren Atem, auch wenn sie getrennt sind, und ihre Gedanken finden einen Widerhall in seinem Kopf, aber jetzt herrscht nichts als Stille.

Der Nebel hat sich verzogen, als er aus dem Fenster schaut. Auf dem nächstgelegenen Feld sind die Pflücker bereits bei der Arbeit. Mit schnellen, präzisen Bewegungen ernten sie die Blumen, fügen sie zu Bündeln von je fünfzig Stück zusammen und umwickeln sie mit brauner Schnur. Ethan weiß, dass er nach unten laufen und helfen sollte, aber ihm ist, als wären seine Füße am Boden festgeklebt. Er kann nur am Fenster stehen bleiben und den Horizont mit den Augen absuchen wie ein Soldat im Wachdienst.

4

Das alte Wirtschafter-Cottage steht ein Stück zurückgesetzt vom Weg neben dem größten Feld der Minears. Man sieht ihm sein Alter ebenso an wie meinem Haus; die Schornsteineinfassung hat sich gelöst, und das Dach hat sich abgesenkt. Zwei Mountainbikes neben dem Eingang sind der einzige Hinweis darauf, dass neue Bewohner eingezogen sind. Als ich durch das Fenster hineinschaue, küssen ein Mann in den Dreißigern und eine dunkelhaarige Frau sich mit solcher Hingabe, dass sie die Welt um sich herum zu vergessen scheinen. Ich lasse ihnen noch einen Moment Zeit, dann betätige ich den Türklopfer.

Als Will Austell schließlich an die Tür kommt, erkenne ich ihn kaum wieder. Darauf, dass er aus einer flippigen Hippiefamilie stammt, würde heute niemand mehr kommen. Sein Nasenpiercing ist verschwunden, und die blonden Dreadlocks sind einem akkuraten Haarschnitt gewichen, aber seine Körpersprache ist noch dieselbe. Seine Bewegungen sind so fließend und anmutig wie die eines Tänzers, als er auf mich zutritt, um mich in die Arme zu schließen.

»Mein Gott, Ben, wie schön, dich zu sehen. Warst du schon immer so groß?«

»Eins dreiundneunzig, als ich das letzte Mal nachgemessen hab.«

»Du siehst aus wie ein verdammter Riese.« Er macht einen Schritt zurück und bittet mich herein. »Komm, ich stell dir Maria vor. Ich hatte eh längst vor, mal mit ihr nach Bryher zu kommen.«

Die Frau, die in der Küche steht, ist eher auffallend als schön. Sie hat eine zarte Statur, weit auseinanderstehende Augen und einen breiten Mund. Erst als Maria mit ausgestreckter Hand auf mich zukommt, finden ihre Gesichtszüge zu einem harmonischen Gesamteindruck; ihr Lächeln ist so herzlich, dass es schwerfällt, den Blick von ihr abzuwenden.

»Du musst Zauberkräfte besitzen«, sage ich. »Wie hast du diesen Rebellen dazu bewegen können zu heiraten?«

»Leicht war es nicht. Aber ich bin zum Glück ein geduldiger Mensch.«

»Früher war er eine rastlose Seele.«

»Du meinst, er hatte viele Freundinnen? Verrat mir bitte all seine Geheimnisse.«

»Das könnte Stunden dauern.«

Durch ihren weichen spanischen Akzent wirkt Maria noch charmanter. Sie erzählt mir, dass Will sehr froh sei, wieder zu Hause zu sein, dass er spätabends spazieren gehe, nur um die Luft zu riechen und sich mit der Natur der Insel zu verbinden. Während wir plaudern, lasse ich meinen Blick durch ihre Küche wandern. An der Wand hängt Wills Gitarre, und die Pinnwand ist übersät mit Fotos, die beweisen, wie weitgereist die beiden sind; ich sehe Selfies, die an karibischen Stränden und in einem Dutzend exotischer Städte aufgenommen worden sind.

»Ich möchte mich bloß schnell erkundigen, ob einer von euch letzte Nacht oder heute Morgen Jade Minear gesehen hat.«

Will schaut mich verdutzt an. »Die Zwillinge waren am frühen Abend hier, um sich unsere neuen Räder anzusehen. Sie lieben alles, was mechanisch funktioniert.«

»Das war gegen sechs«, sagt Maria. »Wir waren gerade dabei, das Abendessen zu kochen.«

»Und seitdem nicht mehr?«

»Wir waren beschäftigt, mein Freund«, antwortet Will. »Wir sind gerade erst aufgestanden.«

Als seine Frau errötet, stößt er ein Lachen aus, das mich zwei Jahrzehnte in die Vergangenheit katapultiert. Will war damals ein ziemlicher Aufreißer; er wohnte in einem Wohnwagen auf St. Martin’s, spielte in einer Band und war mit den hübschesten Mädchen zusammen. Ich weiß noch, wie er, den Kopf in den Nacken gelegt und vollkommen in die Musik versunken, neben den Freudenfeuern getanzt hat, die wir jeden Sommer am Strand entzündet haben. Er wirkte wie ein Freigeist und träumte von großen Abenteuern, bis seine Familie urplötzlich wegzog und wir uns aus den Augen verloren.

»Hast du es eigentlich wirklich auf die Kunstakademie geschafft?«, frage ich.

»Nein, bedauerlicherweise nicht. Die Realität hat mich eingeholt, und mir blieb leider keine andere Wahl, als zur Armee zu gehen.«

»Machst du Witze? Du in Uniform – das ist für mich absolut unvorstellbar.«

»Es fühlte sich auch nie richtig an«, sagt er leise. »Und ich war mir sicher, dass du inzwischen Lehrer bist. Du hattest deine Nase ständig in dicken amerikanischen Romanen.«

»Meine Regale sind auch immer noch voll davon. Wie kommt’s, dass du auf die Scillys zurückgefunden hast?«

»Maria hat als Krankenschwester in einem Feldlazarett gearbeitet, als wir uns kennenlernten. Ich hab ihr von den Inseln erzählt, und sie wollte sich ansehen, warum ich so gern hier bin.«

»Im neuen Jahr trete ich eine befristete Stelle im St. Mary’s Hospital an«, fügt Maria hinzu und legt den Arm um ihren Mann. »Will erledigt ein paar Bauarbeiten für die Minears. Wir geben uns ein Jahr, um auszuprobieren, ob dieser Lebensstil etwas für uns ist. Aber du wolltest etwas über Jade wissen, oder?«

»Sie ist irgendwohin ausgebüxt. Könntet ihr mich bitte anrufen, wenn ihr sie seht?«

»Das Mädchen wirkt ziemlich unerschrocken. Ich wette, es ist alles in Ordnung.« Will nimmt meine Visitenkarte entgegen und starrt darauf. »Du kannst unmöglich Deputy Commander der Inselpolizei sein. Als ich von hier wegging, warst du ein schlaksiger junger Kerl, der zu schüchtern war, um Mädchen anzusprechen.«

»Das hat sich Gott sei Dank gegeben.«

»Dann komm bald mal mit deiner Frau auf einen Drink vorbei, oder wir treffen uns im Pub«, sagt Will, während er mir durch den Flur folgt. »Wenn wir irgendwas tun können, was die Suche nach Jade betrifft, ruf uns an, ja?«

»Mach ich. Und lasst uns bald zusammen was trinken gehen. Nina wird sich freuen, deine Frau kennenzulernen.«

»Das geht allen so. Ich muss in einem früheren Leben viele Karmapunkte gesammelt haben.«

Will Austell drückt mir zum Abschied die Schulter, hält sich aber nicht lange mit mir auf und eilt zurück in die Küche, zu Maria. Mein alter Freund ist offensichtlich glücklich. Aber außer, dass Jade und Ethan gestern am frühen Abend hier waren, hat mein Besuch nichts Neues über das Verschwinden des Mädchens zutage gefördert.

Mein nächster Besuch führt mich auf ein Grundstück, das wenige hundert Meter nördlich der Minear-Farm liegt. Dave Carillian ist einer der wenigen ständigen Bewohner von St. Martin’s, die ich nicht vom Sehen kenne. Seit ich der Inselpolizei angehöre, habe ich den Großteil der zweitausend Einwohner der Scilly-Inseln irgendwann mal getroffen, aber ein Grund, Carillian aufzusuchen, hat sich bislang nie ergeben. Sein hässliches, wie ein Ferienchalet wirkendes Haus liegt auf halber Höhe von May’s Hill; es sieht aus wie ein Bungalow, auf den nachträglich noch ein Stockwerk draufgesetzt wurde, und das Dach ist mit einem Sammelsurium unterschiedlicher Ziegel gedeckt. Während ich vor der Tür warte, werfe ich einen Blick durch das Panoramafenster in Carillians Wohnzimmer. Die Wände sind magnolienfarben gestrichen, und von dem Wirbelmuster des braunen Teppichbodens abgesehen, weist es wenige besondere Merkmale auf. Ich sehe keinen Fernseher, nur mit Büchern vollgepackte Regale und ein altmodisches Radio.

Der Mann, der am Eingang auftaucht, scheint über mein Eintreffen erschrocken zu sein und beäugt mich durch einen schmalen Türspalt. Carillian gehört einer Generation von Männern an, die immer noch sieben Tage die Woche Hemd und Krawatte tragen. Seine Strickjacke sieht aus, als wäre sie vor Jahrzehnten mal selbst gestrickt worden, und seine Cordhose ist einige Zentimeter zu kurz. Carillian ist in seinen Sechzigern, untersetzt und, mit Ausnahme einiger über den Schädel verteilter grauer Haarbüschel, komplett kahl. Ich spüre, dass er mich lieber abweisen würde, als einem Fremden zu erlauben, seine Türschwelle zu übertreten.

»Könnte ich Sie bitte kurz sprechen, Mr. Carillian? Ich bin DI Kitto von der Inselpolizei.«

»Na, dann kommen Sie schon rein, bevor die ganze Wärme nach draußen zieht«, grummelt der Mann leise, als er mich einlässt. Er hat einen kornischen Akzent.

Beim Betreten seiner Küche fühle ich mich in die Siebziger zurückversetzt. Ich sehe einen Resopaltisch mit einem einzelnen Holzstuhl, in der Ecke brummt ein altmodischer Kühlschrank, und die Türen der Küchenschränke hängen schief in den Angeln. Der in der anderen Ecke stehende Plastikweihnachtsbaum sieht so aus, als würde er jedes Jahr irgendwo hervorgezerrt und dabei immer wieder Plastiknadeln verlieren, denn seine Äste sind fast kahl. Carillian hat sein Zuhause so eingerichtet, dass Besucher sich abgeschreckt fühlen, denn es gibt keinerlei Sitzgelegenheit für sie. Mit der Sauberkeit nimmt er es aber offenbar sehr genau. Hier riecht es so intensiv nach Bleichmittel, als hätte er den Linoleumboden und die Arbeitsflächen gerade erst gründlich geschrubbt, was mich mit Unbehagen erfüllt. Im Haus ist es eiskalt, aber das könnte auch an der Wirkung seines Blicks liegen. Seine kleinen Augen fixieren mich derart intensiv, dass ich mich fühle, als läge ich unter einem Mikroskop.

»Sie halten Ihren Haushalt in Schuss, Mr. Carillian. Bei Ihnen ist es weitaus sauberer als bei mir.«

»Ordnung hat eine beruhigende Wirkung auf die Seele, finden Sie nicht?«

»Das kann ich leider nicht beurteilen. Ich habe es noch nie geschafft, diesen Zustand herzustellen.«

Sein Lächeln wirkt verkrampft. »Sind Sie aus einem bestimmten Grund hier, Inspector?«

»Ich suche Jade Minear. Haben Sie sie in letzter Zeit gesehen?«

»Ist sie eine von den Zwillingen von der Farm?«

»Ihre Mutter hat sie gestern Nachmittag vor Ihrem Haus spielen sehen.«

»Ja, das hab ich mitbekommen, aber ich hab nicht weiter auf sie geachtet. Danach hab ich sie erst gestern Nacht wieder gesehen.« Er bleibt reglos stehen und lässt die Arme hängen.

»War sie in Begleitung ihres Bruders?«

»Die zwei sind übers Feld gerannt, als ich die Vorhänge in meinem Schlafzimmer zugezogen habe.«

»Wann war das?«

»Gegen halb zwölf, ich gehe immer um dieselbe Zeit nach oben.«

»Erinnern Sie sich, in welche Richtung sie gelaufen sind?«

»Zum Kai in Highertown, glaube ich. Einer von den beiden war rot gekleidet. Ich hab die Handschuhe und den Schal gesehen, aber der Nebel hat sie gleich darauf wieder verschluckt.« Er sieht mich prüfend an. »Das Ganze erschien mir nicht weiter beunruhigend. Die zwei treiben sich dauernd da draußen herum.«

»Woher wissen Sie das?«

Der Blick des alten Mannes weicht mir aus. »Na ja, ich sehe eben häufig Leute, die den Weg hochkommen.«

»Sogar nachts?«

»Nur, wenn ich zufällig hinausschaue, aber ich weiß ja, wie Kinder sich verhalten. Ich hab als Junge selbst um Mitternacht Streifzüge unternommen.«

»Sie sind möglicherweise der Letzte, der Jade gesehen hat, bevor ihre Mutter um drei Uhr bemerkt hat, dass sie nicht zu Hause war.«

»Wenn, dann ist das reiner Zufall.«

»Kommen die Minear-Zwillinge Sie manchmal hier besuchen?«

»Warum sollten sie?«

»Weil Sie ein Nachbar sind? Ihre Mutter sagt, dass sie häufig draußen auf dem Weg spielen.«

»Ich hätte ihnen nicht aufgemacht, auch wenn sie an meine Tür geklopft hätten.« Sein Ton wird scharf. »Meine Mutter hat sich ihr Leben lang um die Nachbarn bemüht. Und was hatte sie davon? Was sie wirklich über sie dachten, kam erst bei ihrer Beerdigung raus. Wissen Sie, wie viele von ihnen gekommen sind?«

»Keine Ahnung.«

»Mit mir waren es fünf. Der Rest hat sich noch nicht mal die Mühe gemacht, sich entschuldigen zu lassen.« Über das Gesicht des Mannes huscht ein Ausdruck der Wut.

»Tut mir leid, das zu hören. Hatten Sie eine Anstellung auf dem Festland?«

»Wovon sollte ich sonst leben?« Meine einfache Frage scheint Carillian zu verärgern. »Ich war Bauzeichner in Truro, bis die Computer mich überflüssig gemacht haben. Dann bin ich zurück nach Mousehole gezogen, um mich um meine Mutter zu kümmern. Vor zehn Jahren.«

»Es ist Ihnen bestimmt nicht leichtgefallen, Ihr Zuhause aufzugeben.«

»Meine Vergangenheit hat mit dem, was geschehen ist, nichts zu tun. Die Situation dieses Mädchens ist nicht mein Problem.« Seine schlechte Laune schlägt auf seinen Tonfall durch.

»Sie könnte einen Unfall gehabt haben, und solange sie nicht gefunden wurde, ist das ein Problem, das uns alle angeht. Würden Sie mich also bitte anrufen, falls Sie Jade sehen?«

Carillian murmelt wütend vor sich hin, sein Benehmen wird von Minute zu Minute seltsamer. Als ich ihm mein Kärtchen überreiche, schiebt er erst seine Brille weiter nach oben, bevor er es studiert. »Benesek ist ein ungewöhnlicher Name. Wissen Sie, woher er stammt?«

»Nein, nur dass er kornisch ist.«

»Er ist von dem lateinischen Wort benedictus abgeleitet, das so viel bedeutet wie ›von Gott gesegnet‹. Ihre Eltern müssen sich sehr über Ihre Geburt gefreut haben.« Diese Aussage erwischt mich auf dem falschen Fuß, aber ich ringe mir ein Lächeln ab.

»Sie hatten sich eigentlich ein Mädchen gewünscht, haben sich dann aber auch mit mir zufriedengegeben. Danke, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben, Mr. Carillian.«

Seine kryptische Ausdrucksweise und seine empfindliche Art könnten erklären, warum die Inselbewohner ihn meiden. Manche würden sagen, dass er dem Stereotyp eines Kinderschänders entspricht: Er lebt isoliert, ist übertrieben wachsam und verfügt über eine eingeschränkte Sozialkompetenz. Doch es gibt eine Menge Sonderlinge auf den Scillys, und seine kühle Distanziertheit könnte einfach von Schüchternheit herrühren. Wenn Menschen sich nicht in die Gemeinschaft einfügen können, zieht es sie häufig an den Rand der Gesellschaft, weil sie glauben, in einer entlegenen kleinen Gemeinde wäre das Leben einfacher. Dabei vergessen Sie, wie viel Durchhaltevermögen man braucht, um die langen Winter zu überstehen. Trotz der Verdächtigungen von Gemma Minear habe ich keinen Grund anzunehmen, dass Carillian einem der Zwillinge etwas angetan hat, doch seine abweisende Art und seine zwanghafte Sauberkeit geben mir zu denken.

 

Es ist neun Uhr morgens, als unser Gespräch zu Ende ist. Mein Boss wird jetzt eine halbstündige Bootsfahrt entfernt damit beschäftigt sein, die Sachen auf seinem Schreibtisch neu zu arrangieren. Ich weiß aus Erfahrung, dass DCI Madron über Gefahren am liebsten schon informiert würde, bevor sie überhaupt eintreten. Seine Neigung, in Panik zu verfallen, zwingt mich dazu, bei jedem Gespräch genau auf meine Wortwahl zu achten. Mein Vorgesetzter kriegt schon bei dem kleinsten Hinweis darauf, dass er übergangen worden sein könnte, eine Krise. Als ich ihn nun anrufe und ihm mitteile, dass Jade Minear vermisst wird, hört er mir schweigend zu und saugt dann geräuschvoll die Luft ein.

»Verärgern Sie bloß ihren Vater nicht! Ich weiß ja, wie hitzköpfig Sie sind, Kitto.«

»Es hat sich noch nie jemand über mein Verhalten beschwert, Sir.«

»Das ist bloß eine Frage der Zeit. Haben Sie gehört? Scott Minear kann uns das Leben zur Hölle machen.«

»Inwiefern?«

»Er nutzt seine Rolle als Bürgermeister aus, um die Entscheidungen des Gemeinderats zu unterminieren. Minear unterstützt zwar lokale Projekte wie die Grundschule, aber er liebt es, anderen grundlos in die Parade zu fahren.« Der DCI seufzt laut. »Ich schicke sofort Eddie rüber. Reden Sie mit den Inselbewohnern und finden Sie raus, was passiert ist.«

»Das tue ich bereits; die Zwillinge wurden wahrscheinlich gegen halb zwölf gestern Nacht zuletzt gesehen. Sie waren zusammen unterwegs.«

»Das ist ja schon mal ein Anfang. Verschwenden Sie keine Zeit, Kitto. Bringen Sie dieses Mädchen heute noch nach Hause.«