Kaltengrund - Zeno Diegelmann - E-Book
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Kaltengrund E-Book

Zeno Diegelmann

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Beschreibung

Die Botschaft des Mörders.

Ein schwerer Schneesturm schneidet die Dörfer der Hohen Rhön von der Außenwelt ab. Doch Kommissar Klaus Seeberg muss in das Dorf Kaltengrund, um den dreißig Jahre zurückliegenden Mord an einem Grenzsoldaten aufzuklären. Während seiner Ermittlungen stößt er bei den Einheimischen auf eine Mauer des Schweigens. Aber er bleibt hartnäckig, denn er glaubt, dass die Spur ihn auch zu den Verantwortlichen für den Mord an seiner Tochter führt ...

Hochspannend – Kommissar Seeberg ermittelt in eigener Sache.

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Seitenzahl: 307

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Informationen zum Buch

Die Botschaft des Mörders

Ein schwerer Schneesturm schneidet die Dörfer der Hohen Rhön von der Außenwelt ab. Doch Kommissar Klaus Seeberg muss in das Dorf Kaltengrund, um den dreißig Jahre zurückliegenden Mord an einem Grenzsoldaten aufzuklären. Während seiner Ermittlungen stößt er bei den Einheimischen auf eine Mauer des Schweigens. Aber er bleibt hartnäckig, denn er glaubt, dass die Spur ihn auch zu den Verantwortlichen für den Mord an seiner Tochter führt.

Hochspannend – Kommissar Seeberg ermittelt in eigener Sache.

Zeno Diegelmann

Kaltengrund

Ein Rhön-Krimi

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Über Zeno Diegelmann

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

»Schau zu mir herunter, du wirst einen Idioten sehen. Schau zu mir hoch, du wirst deinen Gebieter sehen. Schau mich direkt an, du wirst dich selbst sehen.«

Charles Manson, Serienmörder

Prolog

Immer wieder stach er die Heugabel in das trockene Stroh, welches auf der Schubkarre angehäuft vor ihm lag. Die einzelnen Spitzen bohrten sich tief hinein. Dann verteilte er es quer über den Boden der Stallung. Staub wirbelte auf und ließ um ihn herum Wolken von kleinen Partikeln durch die Luft tanzen, die in seiner trockenen Kehle kratzten. Er atmete schwer, richtete sich auf und hielt inne. Hier im Schweinestall war die Sommerhitze wegen des einfachen Dachstuhls gar noch schwerer erträglich als draußen in der prallen Sonne. Das Dach spendete zwar Schatten und schützte die empfindliche Oberhaut der Schweine so vor den direkten Sonnenstrahlen, doch vermochte das einfache Gewerk nicht die stickige Luft draußen zu halten. Schweiß trat ihm auf die Stirn und tropfte von seiner Nasenspitze herab ins Stroh.

Er hielt einen Moment inne und stützte sich auf der Heugabel ab, während sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug hob und senkte. Es war eine schwere Arbeit, die sich täglich in ewiger Monotonie wiederholte. Mit der geübten Routine von vielen Jahren erledigte er die Arbeit ohne ein einziges Murren. Im Gegenteil, die stoische Tätigkeit war für ihn mittlerweile weit mehr als das nötige Tagewerk, sie war zu einer Art Meditation geworden. Seine Gedanken zerstreuten sich dabei ebenso wie das Stroh. Die Schweine quittierten die kurze Unterbrechung ihres gewohnten Ablaufs mit lautem Grunzen und Quieken und wuselten um seine Beine herum. Mit einem Tritt vertrieb er die Viecher, griff nach einem Blecheimer und schüttelte einige wurmstichige Äpfel und Essensreste in den Verschlag. Sogleich stieg der Geräuschpegel und die Tiere machten sich über das Futtergemisch her. Mit Wohlwollen sah er, wie sie binnen kürzester Zeit alles verschlangen, bis nichts mehr davon übrig war.

»So ist’s recht.« Er nickte und sammelte dabei mit Schaufel und Heugabel das mit Fäkalien verdreckte Stroh der Tiere im Nachbarverschlag auf, um es auf die nun leere Schubkarre zu laden. Nachdem er auch den letzten Verschlag so gesäubert hatte, schob er die Karre hinaus zum Misthaufen, der sich in der Mitte des Hofs türmte. Mit einem schwerfälligen Ächzen wuchtete er die Schubkarre am hinteren Ende nach oben und entleerte den stinkenden Inhalt.

Sein Rücken schmerzte und er sah hinauf. Die Sonne stand im Zenit und strahlte mit ihrer ganzen Kraft vom wolkenlosen Himmel. Es war so heiß, dass alles Leben auf dem Hof wie in Zeitlupe vonstattenging. Selbst die Wipfel der umliegenden Bäume bewegten sich keinen Millimeter und sehnten sich nach jedem noch so lauen Lüftchen, in dem sie ihre Äste und Zweige wiegen konnten. Doch es war windstill und die Luft schien zu stehen.

Er stellte die Schubkarre im Hof ab. Atmete tief durch und füllte seine Lungen mit Sauerstoff. Er griff in seine Hosentasche, holte ein Stofftaschentuch heraus und tupfte sich damit den Schweiß von der Stirn. Dann schlug er die Ärmel seines Hemds auf und ging hinüber zu dem Wasserbottich, der im schattigen Eck hinter der Scheune stand. Langsam tauchte er seine Arme bis zu den Ellenbogen ins kühlende Nass und schloss für einen Moment die Augen. Die Frische brannte wie kleine Nadelstiche auf seiner Haut. Er wusch sich die Hände und das Gesicht und schüttelte das Wasser nachlässig von seinen Armen. Er streckte seinen Rücken, bis ein Wirbel seiner Brustwirbelsäule knackte, der ihm seit einigen Wochen zu schaffen machte. Erneut nahm er sein Taschentuch hervor, schnäuzte sich und ging schließlich über den Hof hinüber zum Wohnhaus und trat ein.

Die Tür knarzte, und die Dielen knirschten unter dem Gewicht seines Körpers, als er in die Küche trat. Er goss etwas Wasser in ein Glas und trank es in einem Zug aus. Im Anschluss nahm er aus der Speisekammer eine grobe Wurst von der Stange, die er selbst hergestellt hatte, und prüfte mit seinen Fingern, ob sie durch das Trocknen schon die gewünschte Härte erreicht hatte. Zufrieden mit dem Ergebnis nahm er sie, griff nach einem Messer in der Schublade und füllte sein Glas erneut mit Wasser. Dann platzierte er alles zusammen auf einem Holzbrett und ließ sich auf einen der Stühle in der Stube nieder. Auch wenn es gerade erst Mittag war, war er doch schon seit mehreren Stunden auf den Beinen und hatte den Großteil seiner Arbeit bereits erledigt. Erst am Abend würde er noch einmal in den Stall gehen, um nach dem Rechten zu sehen. Bis dahin galt es, die Reste der letzten Schlachtung zu verarbeiten. Frisches Fleisch und hauptsächlich Wurstwaren sicherten der Familie schon seit Jahrzehnten ihr Auskommen. Geräucherte und luftgetrocknete Wurst, die sie am Stück oder kringelweise verkauften und für die ihre Hausschlachtung bekannt war. Nicht wenige Kunden aus der Stadt kamen nur deswegen auf die Märkte in der Region. Zufrieden nippte er an dem Wasserglas, stellte es vor sich auf den massiven Holztisch und schnitt sich ein Stück der groben Bauernwurst ab. Genüsslich kaute er darauf, schluckte es hinunter, trank den Rest des Wassers. Er stieß auf und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Dann erst sah er auf. Sein Blick wanderte hinüber zu den beiden Stühlen an den Kopfseiten des Tisches in der Stube. Regungslos und stumm saßen sie ihm dort gegenüber und starrten ihn an. Sein Vater und seine Mutter. Endlich. Sie hielten die Schnauze. Gaben keine Widerworte mehr. Darauf hatte er sein ganzes bisheriges Leben gewartet. Sechzehn lange Jahre. Sechzehn Jahre der Unterdrückung, des nicht Genügens und der Missachtung. Diese Zeit war nun ein für allemal vorbei.

Zufrieden stand er auf und trat breitbeinig vor sie. Mit vorwurfsvollem Blicken musterte er sie von oben herab. Zuerst überlegte er noch, ob er einen giftigen Spruch in ihre Richtung abgeben sollte, doch dann grinste er lediglich und wandte sich wieder ab. Ein seltsames Geräusch drang an sein Ohr. Seine Augen wanderten nach unten. Der Boden klebte unter seinen Schuhen, und er konnte sie nur schwer von der halbgetrockneten dunklen Masse lösen, in der er stand. Genervt schüttelte er den Kopf, ging in Richtung der Haustür. Die Dielen knarrten bei jedem Schritt, und seine Schuhsohlen hinterließen eine rote Spur aus Blut auf dem Holzboden. Es war Zeit, in die Schlachtkammer zu gehen und den letzten Teil seiner Arbeit vorzubereiten.

Kapitel 1

Sie kniff die Augen zusammen, um den dichten Schneefall abzuwehren. Im Lichtkegel des Autoscheinwerfers ihres SUV wirkten die Flocken wie bedrohliche Schwärme von Wespen, die ihnen ohne Unterlass entgegenflogen. So, als wollten sie das Fahrzeug davon abhalten weiterzufahren und zur Umkehr bewegen. Seit sie vor über einer Stunde in Fulda losgefahren waren, breitete sich der Schneesturm noch heftiger als erwartet aus und wollte kein Ende nehmen. Das Chaos schien kaum mehr kontrollierbar und ein zügiges Fahren war unmöglich geworden. Allzu weit waren sie bislang nicht vorangekommen, und ein gutes Stück der Strecke lag noch vor ihnen.

Ausgerechnet diesmal behalten diese Wetterfuzzis recht, dachte sie sich und schüttelte genervt den Kopf. Im Sommer, wenn man sich auf einen netten Tag im Freien freute, konnte man sicher sein, dass sich eine nicht vorausgesagte Regenwolke genau über einem ergoss. Aber jetzt war alles so eingetreten, wie sie es in den Horrorszenarien der Nachrichten vorhergesagt hatten. Eine extreme Schneefront zog sich von Osten kommend über die Region und begrub alles unter einem weißen Band aus Schnee. Der Wind brachte zudem eine sibirische Kälte mit sich.

»Soll ich mal fahren?«

Psychologin Franziska Hellmich wurde aus ihren Gedanken gerissen. Überrascht schaute sie auf den Beifahrersitz zu Kommissar Seeberg, der auf das Lenkrad deutete. »Ist doch bestimmt anstrengend bei diesem Scheißwetter. Man wird ja wahnsinnig, wenn man die ganze Zeit über im Scheinwerferlicht diese Schneeflocken auf sich zufliegen sieht.«

Sie musterte ihn. Es war nicht das erste Mal. Bis dato war sie sich noch nicht sicher darüber, ob sie Seeberg mochte oder ihn verabscheute. Vielleicht traf sogar beides zu. Einerseits war er allem Anschein nach ein ehrlicher Mann, der sich nicht darum scherte, was seine Kollegen von ihm hielten, und allein das war ihr bereits sympathisch. Viele der Beamten waren arrogante Schnösel, die glaubten, sich ständig vor ihr beweisen zu müssen. Seeberg war hingegen geradeheraus und wohl einer der wenigen im gesamten Fuldaer Polizeipräsidium, dem seine weitere Karriere völlig egal war. Andererseits wirkte er eigentlich immer schlecht gelaunt, griesgrämig und machohaft. Und mit solchen Charakteren konnte die Psychologin in ihrem Umfeld eigentlich noch viel weniger anfangen. Sie konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn. Nein, sie musste Stärke zeigen und durfte sich ihm gegenüber keine Unsicherheit erlauben.

»Das würde Ihnen gefallen, nicht wahr?« Ihre Antwort war bestimmt und mit der nötigen Schärfe gewürzt. »Die Frau bittet den Mann darum, das Auto sicher durch den Schneesturm zu bringen. Nein danke. Es ist mein Auto, und ich fahre.«

Der Kommissar zuckte mit den Schultern und ließ den Blick ebenfalls wieder vor sich in die weiße Masse gleiten. »Ich meinte ja nur.«

»Sie kämen in diesem Schneetreiben auch nicht schneller als in diesem Schneckentempo voran. Es geht halt nun mal nicht schneller.«

Kommissar Klaus Seeberg atmete hörbar aus. »So meinte ich das doch gar nicht. Es war lediglich nett gemeint.«

Sie lachte kurz gekünstelt auf. »Als ob Sie nett sein könnten.«

»Na toll, ich wusste sofort, dass das keine gute Idee war, mit Ihnen gemeinsam dort hinaufzufahren. Sie hätten besser zu Hause in Ruhe Weihnachten feiern und mich das alleine erledigen lassen sollen.«

Der Kommissar dachte daran, wie widerwillig er zugestimmt hatte, dass ihn die Polizeipsychologin begleitete. Sie sollte ihn während der nächsten Tage auf seine Diensttauglichkeit überprüfen. Da er nicht auf seinen Dienstausweis verzichten konnte, hatte es für ihn nur diese eine Möglichkeit gegeben. Er hatte keine Zeit, sich mit der lähmenden Bürokratie des Polizeiapparats auseinanderzusetzen. Und dieses eine Mal würde er den verdammten Ausweis noch brauchen. Für diesen einen Fall. Und so hatte er schließlich eingewilligt. Er hätte wohl allem zugestimmt, solange es ihn schnell an sein Ziel gebracht hätte. Hinauf in das kleine Dorf in der Hochrhön. Er war sich sicher, dass er nur dort die noch nötigen Hinweise finden würde, um den alten Fall eines getöteten Grenzers klären zu können. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Vielmehr hoffte er, Hinweise darauf zu finden, wie der Fall des Grenzers mit dem Mord an seiner eigenen Tochter zusammenhing und wer Schuld an diesem Verbrechen trug.

Er hatte das Bild noch genau vor sich: wie er Wolfram Abel¸ den Mörder seiner Tochter, auf dem Dach des Krankenhauses gestellt hatte. Wie Abel kurz vor seinem Tod die Anspielung gemacht hatte, dass der Kommissar doch selbst schuld an ihrem Tod sei, da er den Fall des Grenzers nicht hatte ruhen lassen. Da wusste er, dass er nur dort oben in der Hochrhön die nötigen Antworten erhalten würde. Es hatte irgendwas mit diesem Ort zu tun, in dem Abel aufgewachsen und in dessen Nähe der Leichnam des Grenzers aufgefunden worden war. Nur um was es dabei genau ging, war dem Kommissar bislang völlig unklar. Zwischen den beiden Morden lagen mehr als dreißig Jahre. Die Polizei hatte den Fall des Grenzers nur wieder aufgerollt, da es einen anonymen Hinweis gegeben hatte. Ein stotternder, männlicher Anrufer hatte die Polizei gebeten, sich doch den Fall noch einmal genauer anzusehen. Es gebe Ungereimtheiten, die man damals übersehen habe. Doch als Seeberg das Dorf Kaltengrund erreicht hatte, wurde ihm gleich die Nachricht überbracht, dass seine eigene Tochter womöglich einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Sofort war er wieder nach Fulda zurückgekehrt. Doch war es bereits zu spät gewesen.

»Ich hatte gerade nichts Besseres vor. Und vielleicht sind wir ja Heiligabend schon wieder zu Hause?«

Der Kommissar wandte sich ab und schaute zum Seitenfenster hinaus. Allerdings nicht ohne ein kaum hörbares »Oh Mann« loszuwerden. Es genügte jedoch, um Hellmichs psychologischen Ehrgeiz zu wecken.

»Sie können nicht besonders gut mit Frauen, nicht wahr?«

Seeberg ahnte Fürchterliches. Würde die weitere Fahrt in einer Therapiesitzung enden?

»Was meinen Sie?«

»Frauen. Machen sie Ihnen Angst oder warum sind Sie immer so abweisend?«

Er lachte künstlich auf, überlegte dabei jedoch zeitgleich, ob die Psychologin damit richtig liegen könnte.

»Angst? Warum sollten mir Frauen Angst machen?«

»Weil Sie immer so kurz angebunden sind, wenn es auf dieses Thema kommt. Und Sie arbeiten wohl auch nicht gerne mit Frauen zusammen.«

Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass er mit niemandem gerne zusammenarbeitete, dass er vielmehr ein Einzelgänger sei, der Menschen hasse und insgesamt keine besonders große Freude mehr am Leben habe. Einen Suizidversuch hatte er bereits hinter sich, und wenn er den Tod seiner Tochter endlich vollständig aufgeklärt hätte, würde er den nächsten Versuch unternehmen. Diesmal jedoch hoffentlich mit anderem Ausgang. Da diese Antwort wahrscheinlich nicht gerade dienlich für seine Diensttauglichkeit war, aber Frau Doktor Hellmich anscheinend dringend etwas Diskussionsbedarf hatte, antwortete er in abgewandelter Form. Er wollte ihr psychologisches Ego befriedigen, ihr etwas zum Spielen geben. Etwas, über das sie nachdenken konnte, während sie hinauf in das abgelegene Dorf fuhren. Solange würde sie ihn zumindest nicht nerven und bei seiner Arbeit stören.

»Nach dem Tod meiner Tochter und dem Auszug meiner Frau habe ich mich, so gut es ging, von Frauen ferngehalten. Keine Affären und erst recht keine Beziehungen. ›Fremde Frauen bringen Grauen‹, hat meine Mutter mich schon als Kind gewarnt.«

Das war glatt gelogen. Aber er war sich sicher, dass der Hinweis auf die eigene Mutter eine Psychologin immer hellhörig machen musste und genug Gesprächspotenzial für die nächste halbe Stunde bieten würde. Und tatsächlich ging Franziska Hellmich darauf ein.

»Ihre Mutter also … interessant. Das ist immerhin schon mal ein Anfang, Herr Seeberg. Sehen Sie, Sie können ja doch etwas von sich preisgeben und selbstreflektiert über ihr Trauma sprechen. Sehr gut.«

Bevor der Kommissar sich zu dem Begriff »Trauma« äußern konnte, sah er in der Ferne Blaulicht. Als es näher kam, erkannte er eine Straßensperre und einen Streifenwagen sowie ein Fahrzeug vom Winterdienst mit einer riesigen Schneeschaufel, das neben dem Einsatzfahrzeug stand. Sie hielten an, und ein Polizist in einer dicken Jacke kam wie das Michelin-Männchen auf sie zugestapft und forderte sie auf, die Seitenscheibe herunterzulassen. Der Streifenpolizist trug zum Schutz vor der Kälte eine Sturmhaube, so dass lediglich seine Augen und der Mund frei waren. Franziska Hellmich drückte den Knopf des Fensterhebers und nickte dem Mann freundlich zu.

»Was ist los? Geht’s nicht weiter?«

»Sie müssen umkehren. Wir haben die Straßen in die Rhön alle dicht machen müssen. Ist einfach zu gefährlich.« Er deutete hinüber zu dem Fahrzeug mit der mächtigen Schaufel. »Selbst die Kollegen vom Winterdienst kommen mit ihrem schweren Gerät momentan nicht weiter. Alle Straßen, die in die Rhön führen, sind verweht und nicht passierbar. Sie müssen umdrehen, es geht nicht anders.«

»Verstehe.« Hellmich zeigte ihren Ausweis. »Es ist wirklich dringend. Wir müssen unbedingt weiter.«

»Wo wollen Sie denn hin?«

»Nach Kaltengrund.«

Der Polizist zog die Brauen zusammen. »Wohin wollen sie?«

»Kaltengrund«, erklärte Hellmich erneut. »Das ist ein kleines Dorf bei Tann.«

»Tann?« Der Polizist schüttelte amüsiert den Kopf. »Vergessen Sie es. Dort kommen Sie nicht hin. Das sind von hier aus mindestens noch acht oder neun Kilometer. Und alles ist zugeschneit. Sie können die Straße wirklich nicht mehr vom Feld unterscheiden. Drehen Sie um und fahren Sie zurück, bevor auch das nicht mehr geht.«

Nun lehnte sich Seeberg vom Beifahrersitz herüber. »Mein Name ist Seeberg von der Kriminalpolizei Fulda. Wir müssen einen Fall untersuchen, der leider keinerlei Aufschub zulässt. Lassen Sie uns durch, wir passen schon auf uns auf.«

»Sie verstehen nicht, Herr Kommissar. Ich sage das nicht nur, um Zivilisten zu schützen. Sie werden einfach nicht durchkommen. Niemand kommt von hier aus weiter. Selbst hinter Ihnen weht es langsam die Fahrbahnen zu. Sehen Sie zu, dass Sie schleunigst zurück nach Fulda kommen oder wenigstens in ein Dorf auf dem Weg. Versuchen Sie nach Schwarzbach oder Hofbieber durchzukommen und warten Sie dort ab, bis sich der Sturm gelegt hat.«

»Das ist wirklich nett gemeint, aber wir probieren es trotzdem. Auf eigene Verantwortung.«

Der Polizist überlegte einen Moment, vergrub seinen Kopf im Kragen seiner Jacke und trat dann einen Schritt zurück.

»Na ja, ich kann Sie nicht zwingen. Aber wenn Sie bei dem Wetter irgendwo von der Fahrbahn rutschen, wird Ihnen keiner zu Hilfe kommen. Das kann wirklich gefährlich werden.«

»Das wissen wir. Danke für Ihr Verständnis, und nun öffnen Sie die Straßensperre.«

Seeberg lehnte sich wieder zurück und gab einem Polizisten ein Zeichen, worauf dieser die Absperrung von der Fahrbahn entfernte. Der Kommissar schüttelte kurz den Schnee von seinem Ärmel und deutete nach vorn.

»Also dann … weiter.«

Er sah zu Franziska Hellmich hinüber, doch diese wirkte nicht ganz so überzeugt. Dies nahm er sofort als Chance wahr, sie vielleicht doch noch loszuwerden. »Hören Sie, Frau Hellmich. Wenn Sie Bedenken haben, ist das völlig in Ordnung. Fahren Sie mit den Kollegen zurück nach Fulda, und ich fahre allein weiter. Wir machen einen Termin, und ich komme nach meiner Rückkehr bei Ihnen vorbei, um über meine Kindheit und Ängste zu sprechen.«

»So, wie Sie auch zur letzten Sitzung vorbeigekommen sind?«

Seeberg hatte bereits Termine gehabt. Außer dem ersten hatte er alle weiteren verstreichen lassen.

»Das war was anderes. Ich verspreche Ihnen, dass ich diesmal kommen werde.«

Hellmich legte den ersten Gang ein und fuhr auf dem rutschigen Untergrund an. »Nix da. Außerdem fehlt es mir gerade noch, dass Sie in meinem neuen Wagen in einem Schneegestöber herumirren. Nein, nein, da komme ich lieber mit. Schlimmer als diese Vorstellung kann die Weiterfahrt sicher auch nicht werden.«

Sie steuerte das Fahrzeug an der Absperrung vorbei weiter in Richtung Tann. Dabei lächelte sie kurz und ahnte nicht, wie schnell sie mit ihrer Vermutung falschliegen würde.

Kapitel 2

»Seeberg?«

Das Mobiltelefon des Kommissars hatte geklingelt und ihm angezeigt, dass sein Kollege Kohler ihn aus dem Büro anrief.

»Hallo, Klaus. Hier ist Reinhard. Es gibt Probleme.«

»Inwiefern?«

»Der Chef macht Stress!«

»Der Chef-Chef oder sein kleiner Adjutant?«

Er konnte Kohlers Lachen am anderen Ende der Leitung vernehmen.

»Der Vize. Bornemann hat wegen der Sache mit Wolf Abel richtig Stress gemacht. Er hat wohl selbst vom Staatsanwalt Pinnow Druck bekommen und versucht nun zu retten, was zu retten ist.«

Seeberg wusste, dass er den letzten Fall nur unter speziellen Voraussetzungen gelöst hatte. Voraussetzungen, zu denen gehörte, dass er den direkten Dienstweg missachtet hatte.

»War ja fast abzusehen. Ich war halt nicht offiziell im Dienst und hatte keinerlei Befugnis.«

»Ja, eben. Und deswegen will Pinnow auch, dass du umgehend umdrehst und ihm persönlich Meldung machst. Ich hatte gerade ein äußerst unschönes Telefonat mit ihm.«

»Hast du ihm nicht gesagt, dass ich auf dem Weg in die Rhön bin?«

»Natürlich habe ich das. Er ist schier ausgerastet, als er davon gehört hat, und hat verlangt, dass du umgehend umkehrst.«

»Das geht nicht, Reinhard. Du weißt, dass ich dort hinmuss … wegen Laura.«

»Ja, ich weiß«, kam die Antwort beinahe flüsternd zurück. »Aber vielleicht wäre es dennoch gut, wenn du erst hier alles klären würdest und danach in die Rhön fährst.«

»Vergiss es.«

»Klaus, ich kann dich ja verstehen, aber die Luft wird echt dünn für dich, wenn du nicht …«

Seeberg beendete das Gespräch und schaltete sein Mobiltelefon komplett aus.

»Probleme?«, fragte Franziska Hellmich.

»Nein. Alles okay. Kein Netz mehr gehabt. Fahren Sie weiter.«

Sie fuhren einige Minuten schweigend weiter in den Schneesturm hinein. Seeberg war es nicht wichtig, ob er die Rückendeckung des Präsidiums hatte oder nicht. Dieser eine Fall würde eh der letzte sein, den er noch lösen wollte. Diesen einen, der ihm eine Erklärung gab, warum seine Tochter sterben musste. Danach konnten sowohl der Polizeivizepräsident Bornemann als auch der Staatsanwalt Pinnow wie ein Rudel Hyänen über ihn herfallen und ihn für immer vom Dienst suspendieren. Beide warteten schon lange darauf. Dem Kommissar war das egal. Es gab gerade Wichtigeres. Und dies duldete keinen Aufschub.

»Warum ausgerechnet jetzt?«, fragte Franziska Hellmich plötzlich. Obwohl die Polizeipsychologin im dichten Schneetreiben konzentriert auf die Fahrbahn blicken musste, bemerkte sie, dass der Kommissar einige Sekunden benötigte, um ihr zu antworten. Er war in Gedanken anscheinend woanders gewesen. Sie wusste, dass ihre Begleitung dem Kommissar nicht recht gewesen war. Aber es war die einzige Möglichkeit, um seinen psychischen Zustand unter die Lupe zu nehmen und dadurch seine Diensttauglichkeit zu prüfen. Diesmal würde er ihr nicht durch die Lappen gehen. Sie hatte eine hohe Verantwortung gegenüber ihrem Arbeitgeber, aber auch sich selbst und Klaus Seeberg gegenüber. Er hatte einen Suizidversuch hinter sich, den er nur mit viel Glück überlebt hatte. Sie würde jede freie Sekunde nutzen, um ihr Bild von diesem Mann zu vervollständigen. Sie wollte eine ausgewogene und gerechte Einschätzung darüber geben, ob man solch einen Menschen mit einer Waffe seinen Dienst verrichten lassen sollte oder nicht. Klaus Seeberg räusperte sich und richtete sich auf seinem Beifahrersitz auf.

»Was meinen Sie damit?«

Sie wandte den Blick kurz von der Straße ab und sah in seine Richtung.

»Na ja, ich meine, warum diese ganze Angelegenheit ausgerechnet jetzt vor Ort überprüft werden muss und nicht Zeit hat bis nach dem Schneesturm? Ich meine, der Mord an diesem Grenzer ist über dreißig Jahre her, warum kann es dann nicht noch ein oder zwei Wochen warten, bis sich zumindest der Schneesturm gelegt hat?«

Er ließ sich mit seiner Antwort Zeit, um sich zu sortieren. Klaus Seeberg war als Erstes das Bild seiner toten Tochter in den Kopf geschossen. Dann das Gesicht ihres Mörders. Wolfram Abel. Er hatte dem kräftigen Mann gegenübergestanden, als dieser zugab, die grausame Tat begangen zu haben. Er war der Mörder seiner Tochter gewesen und nicht der Mann, der dafür verurteilt wurde und ins Gefängnis gegangen war. Darüber gab es keinen Zweifel mehr. Aber was hatte Abel noch gleich gesagt, kurz bevor er in die Tiefe gestürzt war? Sie sind doch selbst schuld daran. Was mussten Sie damals auch unbedingt nach Kaltengrund kommen? Kaltengrund. Das Dorf, in dem der Mörder aufgewachsen war. Das Dorf an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Das Dorf, an dessen Waldrand der tote Grenzer entdeckt worden war. Es musste noch mehr hinter der Sache stecken, als man bislang vermutet hatte. Die beiden Fälle hatten irgendeinen gemeinsamen Nenner, und er musste herausfinden, welcher das war.

Seeberg schaute zum Seitenfenster hinaus in den dichten Schneefall und überlegte, was er Hellmich antworten sollte. Auch wenn er lieber geschwiegen hätte, erwartete die Psychologin eine Antwort. Eine ehrliche. Er begann zögerlich.

»Wissen Sie, dieser Abel …«

»Der Mörder Ihrer Tochter?«, fiel ihm Hellmich ins Wort, und er nickte.

»Er hat mir kurz vor seinem Tod eine Art Hinweis gegeben, dass ich selbst schuld daran gewesen sei, dass meine Tochter ermordet wurde.«

»Wollen Sie also nur herausfinden, was das mit Ihrer Tochter zu tun hat, oder den alten Fall prüfen?«

»Beides.«

»Sie denken, dass es da tatsächlich einen Zusammenhang gibt?«

»Wenn ich herausfinden will, was er damit meinte, darf ich jedenfalls keine Zeit verlieren. Durch den Schneesturm wissen sie oben in dem Dorf sicher noch nichts vom Tod Abels. Das könnte von Vorteil sein. Vielleicht ist das der einzige Joker, den wir haben. Also dürfen wir keine Zeit verlieren.«

»Verstehe«, antwortete sie. »Aber was könnte Abel damit gemeint haben?«

Der Kommissar zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich habe keine Ahnung. Darüber zermartere ich mir schon die ganze Zeit den Kopf. Aber es hat wohl genau mit diesem Fall aus den achtziger Jahren zu tun. Damals kam dieser besagte Ost-Grenzer bei seinem Fluchtversuch ums Leben. Und kurz bevor meine Tochter Laura damals entführt und getötet wurde, bekam die Polizei einen anonymen Hinweis. Wir sollten uns den Fall doch noch einmal ansehen.«

»Und was hat das mit Ihnen zu tun?«

»Ich war es, der damals dazu verdonnert wurde, nach Kaltengrund zu fahren, um sich die Sache noch mal genauer anzusehen.«

»Und Sie sind dort hinaufgefahren.«

»Nicht wirklich. Man benachrichtigte mich, dass Laura … na ja, Sie wissen schon. Da bin ich natürlich sofort umgekehrt.«

»Und was hat dieser Abel damit zu tun? Nur weil dieser Mörder behauptet, dass Sie daran Schuld haben …? Ist doch Blödsinn, was weiß der schon?«

»Ja eben! Was weiß er schon? Zumindest wusste er von der Sache und dass ich damit betraut worden war. Woher bitte? Und nicht nur das. Raten Sie mal, woher dieser Abel stammt.«

»Lassen Sie mich raten … aus Kaltengrund?«

»Exakt. Es sieht für mich also gewaltig danach aus, dass es da tatsächlich irgendeinen Zusammenhang gibt und er deshalb davon mitbekommen hat. Ich habe noch keine Ahnung, wie, aber er hatte Insiderwissen. Und wenn er davon wusste, gibt es vielleicht noch jemand anderen dort oben, der mehr weiß. Und genau den werden wir suchen.«

Franziska Hellmich schaltete an einer Steigung in den zweiten Gang herunter und der Motor des Wagens schrie kurz auf. Dann kroch er weiter die Straße entlang. Jedenfalls solange man noch einen Weg vermuten konnte. Die Verwehungen am Straßenrand waren so hoch, dass nur noch das obere Drittel der erhöhten Leitpfosten herausragte.

»Verstehe. Was weiß man denn über den Fall des Grenzers?«

Der Kommissar holte tief Luft und ließ diese dann mit einem Seufzer aus seinen Lungen entweichen. »Keine Ahnung, nicht viel. War halt ein Fluchtversuch, und er wurde dabei von seinem eigenen Kollegen erschossen. Tragisch, aber eigentlich kein Fall, der danach aussah, als ob da irgendwas anderes dahintersteckte.« Seebergs Stimme klang angespannt. Nicht genervt, aber er war von Natur aus niemand, der gern viele Worte machte. Daher war es ihm am liebsten, wenn er allein arbeiten konnte. Doch Hellmich war nun einmal mit an Bord und wollte alles wissen.

»Sonst nichts? Nun sagen Sie schon, gab es Zeugenaussagen? Berichte?«

»Was weiß ich«, raunzte er in ihre Richtung. »Es ist lange her, und ich hatte ja fast gar nichts untersuchen können.« Seeberg hoffte darauf, dass er die Psychologin in den nächsten Tagen beschäftigen konnte. Vielleicht war es gut, ihr ein paar Nüsse zum Knacken zu geben, an denen sie sich abarbeiten konnte, um sein Psychogramm zu erstellen. Bis das geschehen war, hatte er hoffentlich schon genug Erkenntnisse gesammelt. Es würde also nicht schaden, ihr einige Infos zu geben. Im besten Fall würde sie ihm mehr vertrauen und das Urteil über seine Dienstfähigkeit positiv beeinflussen. Er sollte sich also etwas bemühen. »Sorry, war nicht so gemeint. Soweit ich mich erinnern kann, hatte sich wohl der Grenzer der NVA auf bundesdeutsches Gebiet abgesetzt. Könnte also durchaus sein, dass er einfach die Gunst der Stunde nutzen wollte, um abzuhauen. Aber was hat Abel dann damit zu tun? Keinen Schimmer. Zumal er damals höchstens ein Teenager gewesen sein kann.«

»Wurde er denn zur Tat befragt?«, fragte die Psychologin.

»Nicht, dass ich wüsste. Unsere spärlichen Informationen haben wir lediglich vom Bundesgrenzschutz erhalten. Denen wurden damals als Erstes die Schüsse aus einem Waldstück nahe der Grenze gemeldet. Als die Beamten an dem Tatort ankamen, fanden sie die Leiche des erschossenen Ost-Grenzers. Er war tödlich am Kopf getroffen worden und hatte sich noch bis ins Unterholz auf die Westseite geschleppt. Dort ist er seinen Verletzungen erlegen. Die NVA wird eigene Berichte gemacht haben, aber die sind nicht mehr da.«

»Hat man denn den Schützen ausfindig machen können?«

»Nein.« Seebergs Nacken spannte, und er streckte sich. Dadurch versuchte er zu überspielen, dass seine Hände wieder zu zittern begannen. Er hatte seit einiger Zeit keine Tabletten mehr genommen. Und das, nachdem er über Monate hinweg Medikamente gegen alles Mögliche konsumiert hatte. Benzodiazepine und Barbiturate gegen Schlafstörungen, Citalopram gegen die Depression. Zum Schluss alles zusammen, um sich einfach nur zu betäuben. So war er langsam abhängig geworden, und sein Körper rebellierte nun mit aller Deutlichkeit gegen den Entzug. Er schüttelte sich kurz, versteckte seine Hände unter den Achseln und fuhr mit seiner Erklärung fort. Hellmich schien nichts bemerkt zu haben.

»Es folgte das übliche Spiel. Die DDR leugnete alles und bezichtigte den Bundesgrenzschutz sogar, dass er den Grenzer selbst erschossen hätte. Um weitere diplomatische Spannungen einzudämmen, übergab man den Leichnam schließlich der DDR und hörte nie wieder was von der Angelegenheit. Aber da man den Toten auf westdeutschem Gebiet gefunden hatte, war es eben dennoch ein Fall für die bundesdeutschen Gerichte. Die entschieden, dass das Ganze ein gescheiterter Fluchtversuch mit Todesfolge war, und stellten die Ermittlungen aufgrund der Tatsache ein. War nicht verwunderlich, man wusste ja nicht einmal genau, gegen wen oder was man ermitteln sollte. Schließlich blockte die DDR-Regierung alles ab, damit sie nicht zugeben musste, dass möglicherweise einer ihrer Männer flüchten wollte und sie diesen mit Waffengewalt daran gehindert hat.«

Die Psychologin biss sich auf die Unterlippe und setzte die Informationen zu einem schlüssigen Bild zusammen.

»Also hatte weder die eine noch die andere Seite ein besonderes Interesse daran, den Fall tatsächlich zu untersuchen.«

Seeberg nickte zustimmend.

»Bis dann nach dreißig Jahren dieser anonyme Anruf bei uns einging. Der Anrufer behauptete, dass es sich bei dem damaligen Vorfall nicht um einen Fluchtversuch gehandelt hätte. Wir sollten doch mal genauer nachfragen, das habe man damals versäumt. Das sei man dem Toten schließlich schuldig.«

»Okay, jetzt verstehe ich das Ganze langsam. Und Sie wurden nach Kaltengrund zitiert, um diesen Fragen nachzugehen. Aber als Sie auf dem Weg dorthin waren, erhielten Sie die Nachricht, dass Laura entführt worden war, und fuhren zurück.«

»So ist es. Ich fuhr zurück. Doch es gab zu der Entführung meiner Tochter weder Zeugen noch einen Brief mit Lösegeldforderungen. Nichts! Zwei Tage später fand man Laura ermordet an einem Feldrand.«

Einen Moment herrschte betretenes Schweigen im Fahrzeug. Hellmich konnte spüren, wie sich der Kommissar zusammenriss, um seinen Emotionen nicht hilflos ausgeliefert zu sein. Sie konnte nur erahnen, was er alles durchgemacht haben musste. Sie erinnerte sich jedoch noch gut daran, dass der Fall das gesamte Polizeipräsidium und alle Kollegen bewegt hatte. Der Kommissar genoss trotz seiner oftmals ruppigen Art sehr hohes Ansehen innerhalb der Kollegenschaft, und man litt und hoffte mit ihm. Leider umsonst. Nach dem Vorfall war er vom Dienst freigestellt und erst nach einigen Monaten wieder zu einem neuen Fall zitiert worden, bei dem es kein Vorankommen gab und man seine Hilfe benötigte. Seeberg hatte daraufhin nicht nur diesen, sondern noch einen weiteren Fall geklärt. Doch bei diesem letzten hatte sich angedeutet, dass der Täter wahrscheinlich auch etwas mit dem Tod von Seebergs Tochter zu tun hatte. Der Kommissar hatte ihn schließlich überführt und gestellt. Doch bevor Abel, der Mörder der kleinen Laura, nähere Aussagen machen konnte, war er bei seiner Festnahme vom Dach der städtischen Klinik gestürzt und zu Tode gekommen.

Ihre Aufgabe, die Diensttauglichkeit des Kommissars festzustellen, war komplex. Sie hielt Seeberg für einen außergewöhnlich guten Beamten. Doch konnte er seine Emotionen in Extremsituationen wirklich kontrollieren? Oder würde im erstbesten Moment eine Sicherung bei ihm durchbrennen und er selbst zu einer Bedrohung für die Kollegen oder die Allgemeinheit werden? Er war nicht gerade ein Paradebeispiel für einen Mann, dem man eine Waffe anvertrauen würde, um die Bürger zu beschützen.

»Verstehe«, antwortete Hellmich erneut in dem Wissen, dass niemand diese Gefühle wirklich verstehen konnte. Das eigene Kind auf diese grausame Art und Weise zu verlieren, musste die Hölle sein. »Und nun denken Sie, dass die Anspielung Abels, dass Kaltengrund etwas mit dem Tod Ihrer Tochter zu tun hat, die Fragen beantworten könnte.«

»Zumindest klang es so. Ich denke, wenn ich die Sache mit dem Grenzer löse, wird sich auch das Rätsel um Laura lösen.« Er sprach betont klar und langsam, dadurch zähmte er seine Emotionen. Ihm war bewusst, dass die Psychologin diese Fragen nicht nur aus reinem Mitgefühl stellte, sondern aus beruflichen Gründen. »Abels Vater lebt noch dort oben auf einem abgeschiedenen Hof. Ich muss ihn sprechen und zwar, bevor er vom Tod seines Sohns erfährt. Vielleicht kann er mir erklären, was sein Sohn mit dieser seltsamen Äußerung meinte.«

»Was ist mit der Mutter?«

»Nun ja, das ist etwas bizarr.« Er lächelte und erinnerte sich an die Aussage des Vaters, den er schon einmal, vor einigen Tagen, jedoch noch zum abgeschlossenen Fall besucht hatte. »Die Mutter ist vor einiger Zeit gestorben, und ihr Mann hat sie im eigenen Garten beerdigt.«

»Wie bitte? Er hat sie … zu Hause begraben?«

Sie glaubte sich verhört zu haben und wiederholte die Aussage des Kommissars. Sie konzentrierte sich nicht auf die Straße und der Wagen begann zu schlittern. Der Kommissar griff reflexartig in das Lenkrad. Doch Hellmich hatte den Wagen bereits wieder unter Kontrolle und schlug dem Kommissar auf die Finger.

»Hände weg! Ich habe hier alles im Griff.«

Der Kommissar schaute sie angestrengt an.

»Das sehe ich. Soll ich nicht doch lieber …«

»Also, noch mal«, ignorierte sie den Einwand des Kommissars und fragte ein weiteres Mal. »Der alte Abel hat seine Frau im Garten begraben? Hat er sie etwa umgebracht?«

»Nicht, dass wir wüssten.«

»Aber warum dann?«

»Weil er es so wollte und sie wohl auch. Ziemlich verrückt das Ganze, oder?«

»Aber … aber das geht doch nicht! Es gibt doch sicherlich Gesetze, die das verbieten.«

»Natürlich. Aber dort oben ticken die Uhren eben noch anders. Und ich bin mir sicher, dass das alles irgendwie zusammenhängt. Ich muss nur herausfinden, wie.«

Die Straße schlängelte sich über eine Kuppe hinab in eine Senke. Es konnte nicht mehr weit sein. Irgendwo hinter dem nächsten Waldstück musste bald Kaltengrund mit seinen eigentümlichen Bewohnern auf sie warten. Das konnte interessant werden, befand sie. Sowohl aus ermittlungstechnischer als auch aus psychologischer Sicht. Sie überlegte, ob sie sich wohl auch mit dem Vater von Wolfram Abel unterhalten konnte. Als Psychologin hatte man nicht allzu oft die Möglichkeit, mit dem Vater eines Mörders zu sprechen, der dazu noch seine eigene Frau im Garten beerdigt hatte. Vielleicht lag eine Schizophrenie zugrunde oder ein anderes psychologisches Problem. Die Gedanken euphorisierten sie so sehr, dass sie für einen winzigen Moment unaufmerksam wurde. Plötzlich begann das Heck des Wagens erneut zu schlingern, doch diesmal heftiger. Sie versuchte das Lenkrad herumzureißen, was das Ganze noch schlimmer machte. Sie konnte den Wagen nicht mehr abfangen. Das Fahrzeug drehte sich in einem von ihr als endlos empfundenen Moment und rutschte schließlich ganz von der Fahrbahn in Richtung des Grabens. Sie hörte den Kommissar aufschreien, als das Auto über den Graben krachte und einen kleinen Abhang hinunterrutschte. Durch den heftigen Aufprall auf der einen Seite überschlugen sie sich.

Hellmich begann hysterisch zu schreien. Ihr Körper wurde hin und her geschleudert. Sie spürte einen heftigen Schlag auf ihren Kopf. Die Rollbewegung des Fahrzeugs stoppte. Sie hörte ihren Atem. Dann legte sich Stille über das Fahrzeug. Ihre Augen wurden schwer. Dunkelheit trat ein.

Kapitel 3

Die jährliche Jagd war Wolfram Abels einziger Kontakt zur Dorfjugend. Bei dem Brauchtum war neben dem Erlegen von Rot- und Schwarzwild vor allem das Vernichten von Alkohol das Ziel. Er war wie jeden Morgen gegen vier Uhr in der Früh aufgestanden und hatte bereits alle Arbeiten im Stall erledigt. Dann hatte er sich das Jagdmesser und das Gewehr des Vaters geschnappt und war hinunter ins Dorf gelaufen. Vor Dänners Hof sah er von weitem schon die anderen Jugendlichen stehen. Da die Geselligkeit im Vordergrund stand, jagte man immer in Gruppen, die Dorfjugend bildete stets eine eigene. Alle waren älter als Wolf. Peter war achtzehn, Uwe ebenfalls und Georg sogar schon einundzwanzig.

»Na endlich«, wurde er von Georg ungeduldig begrüßt. »Mensch, Abel, wo warst du denn so lange?«

»Ich musste noch das Vieh füttern«, gab er trocken zurück. »Der Vater fühlt sich nicht gut, und da musste ich heute alles ganz allein machen. Tut mir leid.«

»Na ja, passt schon. Hier, trink erst mal einen.«

Georg hielt ihm eine Flasche mit Schnaps hin, und Wolf nahm einen Schluck. Der Korn brannte in seiner Kehle, und er musste sich kurz schütteln. Die anderen kicherten, sie waren sichtlich angetrunken.

»Ihr seid wohl schon länger am Saufen, was?«

Peter zeigte mit dem Finger in Georgs Richtung.

»Wir haben ja auch einen guten Grund. Kannst den Georg jetzt nämlich Papa nennen.«