Kaltes Blut - Andreas Franz - E-Book + Hörbuch

Kaltes Blut Hörbuch

Andreas Franz

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Beschreibung

In einem wohlhabenden Frankfurter Vorort herrschen Entsetzen und Fassungslosigkeit: Die 15jährige Selina ist aus dem Reitstall, in dem sie sich mit Vorliebe aufhielt, nicht nach Hause zurückgekehrt und wird kurz darauf ermordet aufgefunden. Kommissarin Julia Durant und ihre Kollegen stehen vor einem Rätsel, das noch undurchdringlicher wird, als sich herausstellt, dass Selina schwanger war...

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Zeit:7 Std. 39 min

Sprecher:Julia Fischer

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Andreas Franz

Kaltes Blut

Roman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

In einem wohlhabenden Frankfurter Vorort herrschen Entsetzen und Fassungslosigkeit: Die 15jährige Selina ist aus dem Reitstall, in dem sie sich mit Vorliebe aufhielt, nicht nach Hause zurückgekehrt und wird kurz darauf ermordet aufgefunden. Kommissarin Julia Durant und ihre Kollegen stehen vor einem Rätsel, das noch undurchdringlicher wird, als sich herausstellt, dass Selina schwanger war...

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Prolog

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Epilog

Für meine Frau Inge und meine Mutter Ingeborg (1919–1973)

 

Es gibt Menschen, die besser mit dem Herzen als mit den Augen sehen. Sie gehören dazu. Beide haben mein Leben im positiven Sinne stark beeinflusst und mich vor allem beeindruckt. Und sie tun es immer noch. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank.

Unerwiderte Liebe führt oft zu Hass –doch was kommt danach?

Prolog

Der zurückliegende Tag hatte nasse Kälte gebracht, kein einziger Sonnenstrahl war durch die dunkelgraue Wolkendecke gedrungen. Für die kommenden Tage und Nächte wurden starker Frost und Schneefall angekündigt, und sollten die Meteorologen Recht behalten, so würde es ein sehr schneereicher Jahreswechsel werden.

Er blickte auf die Uhr, zehn nach drei. In dieser Nacht lud er seine Fracht in den Kofferraum, fuhr bis zum Parkplatz in unmittelbarer Nähe des Baggersees, und er war sicher, dass niemand ihn beobachtete, denn es war kalt, die Straßen glatt, dicke Schneeflocken fielen zu Boden. Hinter keinem der Fenster brannte mehr Licht, der Ort schlief, selbst die Straßenlaternen waren an dieser Stelle seit Mitternacht ausgeschaltet. Vor allem im Winter, wenn die Nächte sich unendlich in die Länge zogen, sah man ab spätestens acht Uhr abends kaum noch einen Menschen in den kleinen Straßen und Gassen, außer solche, die mit ihren Hunden noch mal raus mussten, nein, sie verschanzten sich lieber hinter den dicken Mauern ihrer Reihenhäuser, Villen und Bungalows, was ihm jetzt zugute kam.

Kein Geräusch drang an seine Ohren, nicht einmal das Starten eines Flugzeugs. Eine gespenstische Stille hatte alles erfasst, nur der Ostwind jagte heulend über das freie Land. Er schaltete den Motor aus, nahm das Nachtsichtgerät vom Beifahrersitz, setzte es auf und vergewisserte sich, dass er tatsächlich allein war. Er atmete schwer, die letzten Stunden hatten ihm viel abverlangt, sein Körper und seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Er schob das Sichtgerät nach oben, denn jeder Lichtstrahl hätte in seinen Augen geschmerzt, als würde er direkt in die Sonne blicken. Er öffnete die Tür und sah noch einmal um sich. Lautlos hob sich die Kofferraumhaube, er nahm das in festes Leinentuch sorgsam verschnürte Bündel heraus und legte es sich über die Schulter. Das Sichtgerät erneut auf den Augen, ließ er seinen Blick von einer Seite zur andern wandern, bis er an der Stelle ankam, wo das große Schlauchboot lag, das sich selbst aufblies und das er nachher zusammengefaltet wieder mit nach Hause nehmen würde. Es war verboten, auf dem Baggersee Boot zu fahren, doch in dieser Winternacht war das Letzte, was jemand vermuten würde, dass ein Verrückter hier ein Boot zu Wasser lassen würde.

Er legte das Bündel hinein, ging zweimal zum Wagen zurück und holte drei je fünfzehn Kilogramm schwere Eisengewichte und eine etwa fünf Meter lange Kette. Trotz des Sichtgeräts musste er aufpassen, dass er nicht stolperte, doch diese Gegend war ihm derart vertraut, dass er fast jeden Stein und jede Unebenheit kannte. Das Boot schaukelte, als er auch noch die Gewichte hineinlegte und damit begann, beinahe mechanisch die Kette um das Stoffbündel zu wickeln und schließlich die Gewichte mit extra starken Sicherheitsschlössern daran zu befestigen.

Seine Hände waren trotz der Handschuhe kalt, sein Gesicht wie erstarrt. Er war sicher, hier würde niemand suchen, und es gab Stellen, an denen der See bis zu dreißig Meter tief war. Er hatte es selbst ausgemessen und kannte die tiefsten Stellen. Und sogar im Sommer war das Wasser so trüb, dass man kaum mehr als zwanzig oder dreißig Zentimeter unter die Oberfläche sehen konnte. Nachdem er seine Arbeit beendet hatte, nahm er die kalten Ruder und fuhr bis zur Seemitte. Er holte die Ruder ein, warf einen letzten Blick auf das Bündel, ging in die Knie und verlagerte sein Gewicht auf die linke Seite, während er unter den Stoff griff und mit verzerrtem Gesicht seine schwere Fracht über den Bootsrand hievte und ins Wasser plumpsen ließ. In diesem Moment fingen ein paar Enten an zu schnattern, verstummten jedoch gleich wieder. Das Boot wackelte, er hatte Mühe, nicht die Balance zu verlieren. Er hörte, wie Blasen aufstiegen, und er meinte auch zu hören, wie das Bündel schließlich nach einigen Sekunden den Grund des kleinen Gewässers erreichte.

Nein, dachte er, hier wird niemand suchen, denn der See war schon vor längerem zum Sperrgebiet für Schwimmer erklärt worden. Sobald die ersten warmen Tage kamen, würden zwar viele Menschen ihre freien Stunden am Ufer verbringen oder an der Grillstelle, aber sie würden bis auf wenige, die die Verbotsschilder missachteten, nicht ins Wasser springen, da auf den Schildern deutlich darauf hingewiesen wurde, dass eine unberechenbare, kalte Unterströmung selbst einen geübten Schwimmer in den Tod reißen konnte, denn die Unterströmung befand sich nie an der gleichen Stelle, sondern veränderte sich nach scheinbar von ihr selbst aufgestellten Regeln.

Er wartete noch zwei Minuten und ruderte zurück ans Ufer, ließ die Luft aus dem Boot, faltete es zusammen und trug es mit den Rudern zum Auto. Noch immer war er allein mit sich und der Nacht. Er verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln, schaute ein letztes Mal um sich, nahm das Gerät vom Gesicht und setzte sich ins Wageninnere. Er atmete ein paarmal tief durch, startete den Motor und fuhr los. Er hatte es geschafft, und keiner würde je auf ihn kommen. Es war nur ein Mädchen, man würde es als vermisst melden und irgendwann die Suche aufgeben. Er empfand kein Mitleid für sie, auch nicht für ihre Eltern, für die es der traurigste Heiligabend überhaupt werden würde. Aber was interessierte ihn das Weihnachten anderer, was interessierten ihn die Gefühle irgendwelcher Eltern, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte, von denen er nur wusste, dass die Familie ohnehin bald auseinander brechen würde. Außerdem war das Mädchen selbst schuld an seinem Schicksal, es hatte es doch nicht anders gewollt. Er fühlte sich auf eine seltsame Weise glücklich und erleichtert, und sollten die Prognosen der Wetterfrösche tatsächlich eintreffen, so würde der See in den kommenden Tagen womöglich sogar zufrieren, zum ersten Mal seit zehn Jahren wieder.

Nein, er hatte kein Mitleid, und er schwor sich, nie darüber nachzudenken oder zu bereuen, was er getan hatte. Ruhe in Frieden, dachte er auf dem Weg nach Hause, Ruhe in Frieden, mein Engel. Seine Weihnachtsvorbereitungen waren abgeschlossen, alle Geschenke gekauft, den Tannenbaum würde er morgen Nachmittag schmücken, wie es schon bei seinen Eltern Tradition war, eine Tradition, die er in seiner Familie fortsetzte. Merry Christmas.

Dienstag, 18. Juni, mehrere Jahre später

Es war ein brütend heißer Tag, an dem die Temperatur auf beinahe unerträgliche siebenunddreißig Grad stieg. Um kurz nach neunzehn Uhr betraten die junge Frau und das Mädchen das um diese Zeit kaum besetzte Lokal. An einem der hinteren Tische abseits des Eingangs saß ein Pärchen, das tief in ein Gespräch versunken war und von den Eintretenden keine Notiz nahm. Im Raum war es im Gegensatz zu draußen angenehm kühl, es duftete nach italienischer Küche, südländischen Gewürzen und Wein, im Hintergrund klang leise aus versteckten Lautsprechern Musik. Die Frau und das Mädchen ließen sich an einem Tisch neben dem Fenster auf rustikalen Stühlen nieder, von wo aus sie einen guten Blick auf den Parkplatz und einen Teil des Reithofs und die angrenzenden Stallungen hatten. Alles war in gleißendes Sonnenlicht getaucht, und es würde noch fast zweieinhalb Stunden dauern, bis auch die letzten Strahlen der Sonne hinter den Ausläufern des Taunus verblasst sein würden. Allmählich trocknete der Schweiß unter der Kleidung, ein paar Perlen standen auf der Stirn des Mädchens.

»Was möchtest du trinken?«, fragte die Frau mit angenehm weicher Stimme. Sie trug bis zu den Knien reichende schwarze Lederstiefel, eine khakifarbene, eng anliegende Hose und eine kurzärmlige weiße Bluse. Sie hatte ein markantes Gesicht, mit leicht hervorstehenden Wangenknochen, einer schmalen, geraden Nase und einem dezent geschminkten vollen Mund. Ihre Haut war sehr gepflegt, jede ihrer Bewegungen hatte etwas Graziles. Sie sah das Mädchen aus warmen braunen Augen an. »Oder möchtest du lieber etwas essen? Die machen hier eine tolle Lasagne.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie hatte kurzes rötlich-blondes Haar, grüne Augen, sanft geschwungene Lippen, die sich an den Seiten ein wenig nach unten zogen, und sie hatte bereits eine sehr weibliche Figur, die sie unter einem weit geschnittenen blauen T-Shirt und Jeans versteckte. Insgesamt machte sie einen etwas unsicheren Eindruck. »Nur ein Glas Orangensaft, bitte.« Sie hatte sich zurückgelehnt, die Hände gefaltet, den Blick gesenkt. Ihr schien die Situation unangenehm zu sein.

»Wirklich keine Lasagne? Ich lade dich natürlich ein«, sagte die Frau mit aufmunterndem Lachen, aber dennoch leise, so dass nur das Mädchen die Worte hörte.

»Nein, danke, ich habe keinen Hunger.«

Die Frau gab dem Kellner ein kurzes Zeichen, der daraufhin an den Tisch kam und die Bestellung aufnahm. Sie bestellte Rotwein für sich und Orangensaft für das Mädchen. Der Kellner, ein hoch aufgeschossener junger Mann in weißem Hemd, dunkler Hose und ebenso dunkler Weste, brachte wenig später die Getränke.

»Auf dein Wohl und vor allem auf deine Zukunft«, sagte sie und hob ihr Glas.

Das Mädchen lächelte verlegen und nahm einen Schluck von dem Saft, behielt das Glas aber noch in der Hand.

»Du machst einen sehr verspannten Eindruck, Miriam. Was ist los?«

»Nichts weiter. Es ist nichts.«

Die Frau holte eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Tasche, zündete sich eine an, inhalierte und beugte sich nach vorn, die Ellbogen auf den Tisch gestützt.

»Miriam, es gibt einen Grund, weshalb ich mich gerne mit dir unterhalten möchte. Du kommst jetzt schon seit über zwei Monaten regelmäßig zu uns und … Nun, wie soll ich es ausdrücken, ich denke, es wird Zeit, dass wir uns einmal über deine Zukunft unterhalten.« Sie nahm einen weiteren Zug an der Zigarette, den Blick auf das Mädchen gerichtet. »Ich sehe doch, dass das Reiten dir großen Spaß macht. Würdest du nicht gern Mitglied bei uns werden?«

Das Mädchen nickte, verzog aber gleichzeitig den Mund ein wenig. Jede Bewegung, jeder Blick spiegelte Unsicherheit wider.

Die Frau drückte ihre Zigarette nach wenigen Zügen aus, beugte sich noch ein wenig weiter nach vorn und sagte: »Du hast großes Talent, weißt du das? Nein, du weißt es nicht, aber ich kann es sehen und fühlen. Die Art und Weise, wie du mit den Pferden umgehst, zeigt mir, dass du einfach ein Gespür, nein, lass es mich anders ausdrücken, du hast das Gespür für die Tiere. Und glaub mir, die Tiere merken das.« Eine kurze Pause entstand, die Frau nippte an ihrem Wein, stellte das Glas aber gleich wieder auf den Tisch. »Du liebst die Pferde doch, oder? Natürlich, was für eine dumme Frage von mir. Und die Pferde lieben dich. Komm, gib mir deine Hand, ich will dir etwas zeigen.«

Das Mädchen zögerte einen Moment, reichte der Frau aber schließlich die Hand.

»Du hast sehr schöne Hände. Deine Finger sind so zart und zerbrechlich … Du fragst dich bestimmt, weshalb ich dir das sage, und ich will auch nicht lange um den heißen Brei herumreden.« Die Frau hielt noch immer die warme Hand in ihrer und streichelte sanft über den Handrücken. »Weißt du, Pferde sind groß und stark. Ein Tritt von ihnen kann genügen und du bist tot. Aber Pferde sind gleichzeitig sehr empfindsam und zerbrechlich, so wie deine Finger. Und doch bist du in der Lage, mit diesen Fingern ein Pferd zu beherrschen. Aber man beherrscht Pferde nicht, indem man ihnen wehtut, nein, ganz im Gegenteil, sie reagieren schon auf die kleinsten Berührungen, denn Pferde sind die sanftesten Wesen, die ich kenne. Viele meinen, man müsste ihnen die Peitsche geben oder ihnen mit Sporen in die Seite treten, damit sie gehorchen. Doch den Schmerz, den ein derart hochsensibles Wesen dabei empfindet, den erkennen diese Menschen nicht. Man mag es kaum glauben, doch Pferde spüren sogar, wenn eine Fliege über sie drüberkrabbelt. Das aber ist den wenigsten Menschen bekannt. Ein Pferd gehorcht schon, wenn du es mit den Fingern zwischen den Ohren streichelst und es dabei liebevoll anschaust. Komm, schau mich an …«

Das Mädchen hob den Blick, die Stirn nun ein klein wenig in Falten gezogen, und sah der Frau für einen kurzen Moment in die Augen.

»Mit deinen Augen kannst du alles bewirken. Du bist ein wunderbares Mädchen und ein sehr hübsches dazu. Bestimmt hast du schon einen Freund …«

»Nein, ich habe keinen Freund«, wurde sie von dem Mädchen unterbrochen, das die Berührung mit einem Mal nicht mehr als unangenehm empfand.

»Noch nie einen gehabt?«

»Nein, bis jetzt noch nicht«, erwiderte das Mädchen scheu lächelnd und sah die Frau diesmal direkt an. »Außerdem bin ich erst vierzehn, Jungs haben noch Zeit.«

»Ich kenne Mädchen, die haben schon mit zwölf oder dreizehn einen festen Freund«, erwiderte die Frau und schüttelte den Kopf. »Aber ich muss ganz ehrlich sagen, es ist besser, ein wenig zu warten, als sich zu früh … Du weißt schon, was ich meine. Wenn ich eine Tochter in deinem Alter hätte, fände ich es auch nicht gut, wenn … Aber das geht mich nichts an.«

Sie streichelte noch immer über den Handrücken des Mädchens und fuhr fort, indem sie das Thema wechselte: »Was verspürst du eigentlich, wenn du im Sattel sitzt? Ich meine, du bestimmst, wohin das Pferd geht, wie schnell es geht, wann es anzuhalten hat. Was ist das für ein Gefühl?«

»Ich weiß nicht genau, was Sie meinen«, antwortete das Mädchen, dessen Scheu von Sekunde zu Sekunde schwand, auch wenn die Frage sie ein wenig irritierte.

»Nun, ich empfinde es als eine Art Macht. Es ist die Macht über ein Wesen, das eigentlich viel stärker und scheinbar mächtiger ist als ich. Und doch gehorcht es mir. Und weißt du auch, warum das so ist? Ich habe lange gebraucht, um es herauszubekommen, aber schließlich habe ich eine Antwort darauf gefunden. Es gehorcht, weil es spürt, dass ich ihm nichts Böses will. Mein Pferd und ich haben eine sehr innige Verbindung. Es ist ein seltsames, prickelndes Gefühl, wenn ich auf seinem Rücken sitze. Es ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Kennst du das auch?«

Sie streichelte etwas fester über die Hand des Mädchens, das den Blick der Frau diesmal länger erwiderte. Sie waren noch immer allein mit dem Pärchen, das am andern Ende des Raumes saß, und dem Kellner, der ab und zu einen Blick auf die Frau und das Mädchen warf, während er ein paar Gläser wienerte für die Gäste, die in spätestens einer halben Stunde wie fast jeden Abend nach und nach einkehren würden. Die meisten von ihnen waren Mitglieder des Reitclubs, die Crème de la Crème nicht nur der Hattersheimer High Society, allerdings zu einem großen Teil Frauen, die nur manchmal ihre Männer mitbrachten, auch wenn einige Männer regelmäßig hier verkehrten.

»Was für ein Gefühl meinen Sie?«, fragte das Mädchen.

»Ach, lassen wir das jetzt, kommen wir zu etwas anderem. Miriam, ich würde dich gerne als Mitglied in unserem Verein begrüßen.«

»Aber …«

»Kein Aber. Ich kenne dich und deine Mutter schon seit etlichen Jahren, und ich habe mich wirklich gefreut, als du vor ein paar Wochen zum ersten Mal zu uns kamst. Um es kurz zu machen, wir haben einen Fonds extra für junge Leute wie dich. Sagen wir, für einen Monatsbeitrag von sechs Euro kannst du Mitglied werden.«

»Sechs Euro?«, fragte das Mädchen mit ungläubigem Blick ganz aufgeregt.

»Ich sagte doch, wir haben einen speziellen Fonds. Natürlich brauchst du auch das entsprechende Outfit, das ist doch wohl klar …«

»Das Geld dafür hab ich aber nicht«, erklärte das Mädchen mit gedämpfter Stimme.

»Hab ich gesagt, dass du oder deine Mutter die Kleidung bezahlen muss?«, entgegnete die Frau mit einschmeichelnder Stimme und streichelte wieder zärtlich über die Hand des Mädchens. »Natürlich ist auch die Kleidung im Fonds enthalten. Irgendwann, wenn du genug Geld verdienst, kannst du es machen wie schon einige andere vor dir und etwas in den Fondstopf werfen. Was hältst du davon?«

»Aber die Sachen sind sauteuer! … Entschuldigung«, fügte sie verschämt lächelnd hinzu.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich finde auch, dass die Sachen sauteuer sind«, sagte die Frau und lachte auf.

»Aber allein die Stiefel …«

»Mach dir keine Gedanken mehr wegen des Geldes, okay? Ich kümmere mich drum. Wenn du möchtest, gehen wir noch diese Woche einkaufen. Dann bist du auch gerüstet für Frankreich«, sagte die Frau mit unergründlichem Lächeln.

Das Mädchen schaute die Frau fragend an. »Frankreich? Wieso Frankreich?«

»Hast du mir vorhin nicht gesagt, dass du in den Ferien nichts weiter vorhast? Also, pass auf, einige Mitglieder des Clubs veranstalten vom 27. Juni bis 7. Juli eine Fahrt nach Südfrankreich. Selina und Nathalie sind übrigens auch dabei, ob Katrin mitkommt, weiß ich noch nicht genau, aber es sieht ganz gut aus. Unter anderem bereisen wir die Camargue, wo es mit die schönsten Pferde überhaupt gibt. Wild und ungezügelt und voller Lebensfreude, man muss sie einfach einmal gesehen haben. Es sind auch ganz bestimmt alle einverstanden, dass du mitfährst. Aber natürlich muss ich erst mit dir darüber reden, ob du überhaupt willst. Willst du? Wir werden dort auch sehr viel reiten. Und das Schönste ist, die Landschaft ist noch ziemlich unberührt. Also, was ist, willst du?«

»Natürlich, aber …«

»Du sagst immer aber. Nimm doch einfach mal die Dinge so, wie sie dir gegeben werden. Wer weiß, wann du mal wieder ein solches Angebot bekommst.«

»Ich muss trotzdem mit meiner Mutter sprechen.«

»Sie wird nichts dagegen haben. Und sollte es Probleme geben, sag mir Bescheid, ich rede dann mit ihr. Ich denke dennoch, dass du es allein schaffst, sie zu überzeugen. Es ist eine einmalige Chance.«

»Warum tun Sie das alles?«, fragte das Mädchen.

»Warum tut man überhaupt etwas? Ich mag dich und schätze deine Art. Und jemand, der mit Pferden so gut umgehen kann wie du, ist bei uns jederzeit herzlich willkommen. Du wirst es nicht bereuen.«

»Ich darf wirklich mit nach Frankreich?« Das Mädchen lehnte sich zurück und trank einen Schluck von dem inzwischen leicht erwärmten Orangensaft. Sie zitterte ein wenig, noch erschien ihr das alles wie ein wunderschöner Traum, ein Traum in einer großen rosafarbenen Blase, die gleich zerplatzen würde. »Ich war das letzte Mal vor fünf Jahren in Urlaub, als mein Vater noch bei uns gelebt hat. Seitdem war ich immer nur zu Hause. Ich würde schon gerne mitkommen …«

»Dann tu’s einfach. Du bist hiermit ganz offiziell eingeladen. Aber vorher kaufen wir dir noch die entsprechenden Klamotten«, sagte die Frau lachend. »So, und jetzt freu dich einfach und sprich mit deiner Mutter. Und sollte sie wider Erwarten etwas dagegen haben, gib mir Bescheid. Ich regle das dann für dich. Glaub mir, ich bin eine Meisterin im Überreden von sturen Müttern und manchmal auch Vätern. Gebongt?«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll …«

»Das ganze Leben ist ein Geben und Nehmen, das wirst du auch noch feststellen. Ich habe viel genommen, und jetzt gebe ich. Komm, ich zahl nur schnell und setz dich zu Hause ab. Und sprich am besten gleich heute Abend mit deiner Mutter. Du wirst sehen, es ist einfacher, als du denkst. Vertrau mir.«

»Danke.«

»Wann gehen wir einkaufen? Am besten schieben wir’s nicht zu lange auf. Sagen wir, morgen Nachmittag um drei? Da hast du doch keine Schule mehr, oder?«

»Okay, um drei«, erwiderte das Mädchen lächelnd.

Die Frau bezahlte die Getränke, sie erhoben sich und gingen zum Auto, einem metallic blauen Mercedes SLK Cabrio. Der Wind hatte sich gelegt, die Hitze aber blieb, der Wetterbericht versprach jedoch für die kommenden Tage etwas moderatere Temperaturen. Aber Miriam dachte in diesem Augenblick an alles, nur nicht an das Wetter. Sie würde Mitglied in einem exklusiven Reitclub werden, sie würde morgen ein richtiges Reiteroutfit bekommen, und sie würde im Juli für zehn Tage nach Frankreich fahren. Sie hätte schreien können vor Glück, aber sie hatte in den vergangenen Jahren gelernt, vorsichtig mit ihren Emotionen umzugehen. Sie genoss den Fahrtwind auf ihrer Haut, schloss ein paarmal die Augen. Als sie vor dem Hochhaus im Südring hielten und bevor sie ausstieg, streichelte ihr die Frau noch einmal liebevoll lächelnd über die Hände und anschließend übers Gesicht und sagte: »Dann bis morgen um drei. Ich hol dich ab.«

Mittwoch, 10. Juli, 20.30 Uhr

Selina Kautz hatte ihre Voltigierstunde beendet und unterhielt sich noch mit Miriam Tschierke, die erst seit kurzem offizielles Mitglied im Club war, und Katrin Laube, die beide mit einigen anderen ausreiten waren. Nur Nathalie Weishaupt fehlte in der Runde, sie fühlte sich nicht gut, hatte ihre Tage, wie sie sagte, und war deshalb zu Hause geblieben. Sie ließen noch einmal ihre Erlebnisse in Frankreich Revue passieren, die herrliche Landschaft, die traumhafte Pension am Stadtrand von Toulon, die einer Gräfin gehörte, die sich vor vielen Jahren nach Frankreich zurückgezogen hatte und die nicht nur diese Pension führte, sondern auch noch drei weitere exklusive Häuser besaß, alle mit Blick aufs Meer, eine Gräfin, die sich auch wie eine solche benahm, elegant, würdevoll, aber auch distanziert. Obwohl schon weit über siebzig, war sie noch immer ein Energiebündel, und einmal war sie sogar mit ihnen ausgeritten.

Insgesamt hatte die Gruppe aus zehn Personen bestanden, sechs Mädchen und vier Frauen. Es waren wunderbare Tage gewesen, mit ebenso wunderbaren, wenn auch bisweilen etwas verstörenden Erlebnissen, die einige der Mädchen erst noch verarbeiten mussten. Doch keine sprach über die Erfahrungen, die jede Einzelne von ihnen gemacht hatte, zu persönlich waren diese gewesen. Aber es waren keine unangenehmen Dinge, die sie zu verarbeiten hatten, nein, im ersten Augenblick vielleicht fremd, etwas irritierend, aber nach und nach hatte man sich daran gewöhnt und es sogar als schön empfunden. Und sie hatten gemerkt, dass Reiten mehr war, als nur ein Pferd zu beherrschen, nein, Reiten war auch eine körperliche Erfahrung.

Aber darüber sprachen die Mädchen an diesem Abend nicht, als sie am Gatter standen, während sich die Besitzerin des Reitclubs, Emily Gerber, angeregt mit Helena Malkow, der zweiten Vorsitzenden und Voltigiertrainerin, sowie der Tierärztin und Reitlehrerin Sonja Kaufmann und deren Mann Achim unterhielt. Nach einer Weile gesellte sich Werner Malkow, der Ehemann von Helena, zu ihnen, hauchte seiner Frau einen Kuss auf die Wange, auf den sie kaum zu reagieren schien, wechselte ein paar scheinbar belanglose Worte mit ihr und kam dann zu den Mädchen herüber.

»Hallo«, sagte er mit jovialem Lächeln, ein groß gewachsener, schlanker Mann Anfang vierzig, mit noch vollem dunklen Haar und einem solariumgebräunten Gesicht. Er hatte ein grünes Polohemd von Lacoste und eine beige Sommerhose an. Sein Blick wanderte von einem Mädchen zum andern und schien sie dabei, obwohl er immer nur für den Bruchteil einer Sekunde bei einer blieb, sehr eindringlich zu mustern. Er hatte sehr gepflegte Hände mit langen Fingern, am linken Handgelenk blitzte eine schlichte, aber teure Uhr, doch außer dieser Uhr und seinem Ehering trug er keinen Schmuck.

»Na, gut erholt aus Frankreich zurück? Meine Frau erzählte jedenfalls, ihr hättet euch bestens amüsiert. Und das Wetter soll auch vom Feinsten gewesen sein«, sagte er mit sonorer Stimme, die sicher manche Frau verrückt machte.

»Hm.« Miriam Tschierke lächelte zurückhaltend und senkte sofort den Blick, als Werner Malkow sie direkt ansah. Katrin Laube hingegen zog die Mundwinkel ein klein wenig nach unten. Sie konnte ihn nicht sonderlich leiden, ihr kam es jedes Mal so vor, als würde er sie und auch die anderen Mädchen mit den Augen ausziehen, mit seinem stechenden Blick aus den stahlblauen Augen ihr förmlich die Kleider vom Leib reißen. Und es ging sogar das Gerücht, er habe irgendwann einmal ein Verhältnis mit einem Mädchen ihres Alters gehabt, mit welchem, wusste sie jedoch nicht. Es war wie gesagt nur ein Gerücht, doch wenn er wie jetzt vor ihr stand und sie musterte, glaubte sie vorbehaltlos, was die andern hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Andererseits sagte sich Katrin, solange er sich nicht an sie heranmachte, konnte es ihr egal sein, ob das Gerücht der Wahrheit entsprach oder nicht.

»Sehr begeistert klingt das aber nicht, oder? Na, ich denke, es war ein Erlebnis für jede von euch. Wann bekommt man schon einmal diese phantastische Landschaft und vor allem diese außergewöhnlichen Pferde zu sehen. Ich war schon ein paarmal dort und … Ach was, Hauptsache, es hat euch gefallen. Einen schönen Abend noch, und passt auf euch auf.«

Miriam, Selina und Katrin sahen sich nur an und warteten, bis Werner Malkow außer Hörweite war, dann sagte Selina mit abfällig heruntergezogenen Mundwinkeln: »Schleimer.«

»Der ist halt so, wir haben doch mit ihm zum Glück nichts zu tun«, entgegnete Katrin gelassen, während Miriam gar nichts sagte, sondern Werner Malkow nur mit seltsamem Blick hinterhersah.  

»Trotzdem, wenn ich mir bloß vorstelle, dass er mich anfasst …« Selina schüttelte sich. »Nee, der ist einfach nicht mein Fall. Er stresst nur.«

»Und wer ist dein Fall?«, fragte Katrin spitzbübisch grinsend und lehnte sich ans Gatter. »Thomas vielleicht?«

»Spinnst du? Der holt sich doch jedes Mal einen runter, wenn er mit einer von uns nur gesprochen hat. Der tickt nicht ganz sauber. Aber irgendwie tut er mir auch Leid. Er ist halt total verklemmt …«

»Oder schwul«, bemerkte Miriam trocken, woraufhin die andern beiden lachen mussten. »Aber so übel ist sein Vater nun auch wieder nicht. Er ist halt anders.«

»Ich lass jedem seine Meinung«, sagte Katrin schulterzuckend. »Aber du bist doch hoffentlich nicht verknallt in ihn, oder?«

»Quatsch«, entgegnete Miriam mit hochrotem Kopf.

»Und wieso wirst du dann rot? Du bist doch in ihn verknallt. Wenn ich da was merke!«, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger und einem noch breiteren Grinsen.

»Leck mich.«

»Hört jetzt auf«, mischte sich Selina ein und schlug mit einem Mal moderatere Töne an. »Er ist zwar ein Schleimer, aber …«

»Und was ist mit Achim? Ist der vielleicht dein Fall?«, bohrte Katrin weiter.

»Geht so. Aber er sieht heute wieder spitzenmäßig aus«, sagte Selina mit schmachtender Stimme und sah zu ihm hinüber, und als ob er es spürte, wandte er seinen Kopf in die Richtung der Mädchen und nickte ihnen freundlich lächelnd zu.

»Er ist einfach süß«, bestätigte Miriam mit gespielt verträumter Miene. »Warum gibt’s solche Männer eigentlich nicht für uns? Ich meine, er sieht überirdisch aus, hat Kohle ohne Ende und …«

»Ja, ja, am liebsten du mit ihm ganz allein, und dann erzählst du ihm all deine schmutzigen Gedanken, und dann treibt ihr’s überall«, sagte Katrin dreckig grinsend. »Achtung, er kommt. Übrigens, ich würde auch nicht nein sagen, wenn er mich fragen würde, ob …«

»Ob was?« Selina tat ahnungslos.

»Später. Hi, Achim«, begrüßte sie ihn mit dem strahlendsten Lächeln. Sie lehnte sich mit dem Rücken an das Gatter, um so ihre Oberweite noch besser zur Geltung zu bringen, und reichte ihm die Hand. »Auch mal wieder hier? Wie geht’s denn so?«

»Dasselbe wollte ich euch fragen. Mir geht’s blendend. Irgendwie ist mir zu Ohren gekommen, dass der Frankreich-Trip euch allen sehr gut getan hat«, sagte er und sah von einem Mädchen zum andern. Im Gegensatz zu Werner Malkow gab er jedoch keiner das Gefühl, dass er gerne etwas mit ihr angefangen hätte. Er war nett, unaufdringlich und vielleicht gerade deswegen für die Mädchen ein zumindest in Gedanken begehrenswertes Objekt der Begierde, wenn auch unerreichbar, denn er war seit über zwölf Jahren glücklich mit Sonja Kaufmann verheiratet, sie hatten einen sechsjährigen Sohn, und überhaupt waren die Kaufmanns von allen Erwachsenen auf dem Hof die beliebtesten, dicht gefolgt von Emily Gerber und ihrem Mann. Zu Helena Malkow jedoch hatte keines von den Mädchen einen besonderen Draht. Sie war zwar eine hervorragende Voltigiertrainerin, aber sie hatte auch eine recht burschikose Art und ein übersteigert dominantes Auftreten. Über Sonja Kaufmann wurde hinter vorgehaltener Hand sogar getuschelt, sie sei so etwas wie eine Pferdeflüsterin, denn mittlerweile hatte es sich nicht nur in Deutschland herumgesprochen, wie gut sie mit den Tieren umgehen konnte und selbst scheinbar hoffnungslose Fälle erfolgreich behandelte. Manche brachten ihre Pferde über viele hundert Kilometer zu ihr, um sie kurieren zu lassen, und sie zahlten nicht selten freiwillig tausend Euro und mehr für eine Behandlung, die sich aber in den meisten Fällen letztlich lohnte. Sie war ein Naturtalent, es schien, als könnte sie mit den Pferden direkt kommunizieren, als gäbe es eine Sprache, die sowohl Mensch als auch Tier gleichermaßen verstanden, und wenn man sie bei ihrer Arbeit beobachtete, was sie jedoch nicht sonderlich mochte, dann wurde jedem schnell klar, dass sie eine Verständigungsebene gefunden hatte, die nur einigen wenigen Auserwählten vorbehalten war.

Achim Kaufmann arbeitete als Klimaforscher. Er hatte angeblich sogar schon zwei wissenschaftliche Werke über so einen Wetterkram, wie die Mädchen es nannten, veröffentlicht. Er kam mindestens zweimal in der Woche auf den Hof, wenn auch nicht so oft wie Werner Malkow oder Andreas Gerber, die fast jeden Tag für wenigstens ein paar Minuten vorbeischauten. Kaufmann war sechsunddreißig, sah aber immer noch wie ein Student aus. Wann immer man ihm begegnete, war er leger gekleidet, und so auch heute. Er trug ein dunkelblaues Hemd, dessen beide obersten Knöpfe offen standen, eine khakifarbene Hose und ein Paar braune Slipper, um den Hals hatte er eine dünne Goldkette, am linken Handgelenk eine viereckige Designeruhr.

»Warum bist du eigentlich nicht mitgekommen?«, fragte Katrin mit naiv-laszivem Augenaufschlag, eine Waffe, die sie trotz ihrer jungen Jahre bereits sehr gezielt einzusetzen wusste, was sie aber nur machte, wenn ihr Vater nicht in Reichweite war, der dem Hof schon einige finanzielle Zuwendungen hatte zukommen lassen, aber ansonsten zu Hause mit harter Hand regierte.

»Die Zeit«, erwiderte Achim Kaufmann mit jungenhaftem Lachen. »Ich konnte mir leider nicht freinehmen. Und außerdem, was hätte ich als einziger Mann da schon zu suchen gehabt?«

»Oh, da wäre uns schon was eingefallen, nicht wahr?«, sagte Katrin frech und sah Selina und Miriam an, die beide vor Scham am liebsten im Erdboden versunken wären.

»Katrin, Katrin.« Er schüttelte den Kopf, ein mahnender Unterton in der Stimme, doch seine Augen blitzten schelmisch auf. »Lass das mal nicht meine Frau hören. Sie würde sonst noch auf dumme Gedanken kommen.«

»Katrin hat doch nur Spaß gemacht«, mischte sich jetzt Selina ein. »Stimmt doch, Katrin?«

»Weiß ich ja«, sagte Achim Kaufmann mit vergebendem Lächeln, »aber ich geh jetzt besser wieder rüber zu den andern, wir sehen uns vielleicht nachher noch im Restaurant. Bis dann.«

»Wenn ich mir jemals einen Mann wünschen dürfte, dann müsste er wie Achim sein und auch so aussehen«, sagte Katrin, nachdem er weit genug weg war. »Aber leider kann man den nicht kaufen.«

»Klonen, man müsste ihn klonen. Dann könnte jede von uns ein Exemplar von ihm haben.«

»Miriam, du bist und bleibst eine Träumerin! Das machen die vielleicht in fünfzig oder sechzig Jahren, wenn wir alt und grau sind und keinen Mann mehr brauchen«, sagte Selina. Und an Katrin gewandt: »Und du hältst dich in Zukunft bitte ein bisschen mehr zurück, das war eben oberpeinlich.«

»Darf ich keinen Spaß mehr machen? Na ja, was soll’s«, seufzte Katrin und grinste schon wieder. »Für uns fällt irgendwann auch noch was Gescheites ab.« Und nach einer kleinen Denkpause: »Hast du eigentlich wieder einen Freund? Ich meine, was macht …?« Sie wechselte urplötzlich das Thema, ließ die Frage aber unvollendet und sah Selina nur prüfend an.

Selina zögerte mit der Antwort, blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. »Es ist aus und vorbei. Und außerdem, was soll ich mit einem Freund? Ich hätte gar keine Zeit für einen. Jungs wollen immer nur das eine. Und das ist genau das, was ich nicht will. Zumindest noch nicht. Und du?«

»Ich hatte mal einen«, meinte Katrin, die körperlich reifste der drei. »Aber das war vor einem Jahr und hat bloß einen Monat gedauert. Der Idiot wollte mit mir nur ins Bett. Wenn mein Vater das rausgekriegt hätte, der hätte mich umgebracht …«

»Und, habt ihr’s gemacht?«, fragte Miriam neugierig.

»Das würdest du wohl gerne wissen. Wer weiß, vielleicht, vielleicht auch nicht«, erwiderte Katrin mit vielsagendem Lächeln. »Ich werd’s euch jedenfalls nicht auf die Nase binden. Was ist, wollen wir noch ein bisschen rübergehen und was trinken?« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung des Restaurants. »Achim ist eben reingegangen.«

»Von mir aus«, sagte Miriam, und Selina stimmte ebenfalls zu.

Es war einundzwanzig Uhr, das Restaurant war wie immer um diese Zeit gut gefüllt, aber sie fanden noch einen freien Tisch und bestellten sich jede eine Cola. Achim Kaufmann und Werner Malkow, die eine enge Freundschaft verband, saßen an der Bar, Andreas Gerber kam kurz darauf herein, klopfte beiden freundschaftlich auf die Schulter und setzte sich zu ihnen. Sie tranken Bier, Achim Kaufmann zündete sich einen Zigarillo an. Das Stimmengewirr war zu laut, als dass die Mädchen verstehen konnten, über was die Männer sich unterhielten. Achim Kaufmann verließ schon nach einer halben Stunde das Restaurant, wenig später gefolgt von Andreas Gerber und Werner Malkow. Dessen Sohn Thomas steckte den Kopf durch die Tür, erblickte seine Mutter und kam zu ihr an den Tisch. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie schüttelte den Kopf und warf ihm einen scharfen Blick zu, woraufhin Thomas knallrot wurde und mit gesenkten Schultern mehr hinausschlich als -ging.

Die Mädchen beobachteten die Szene. Sie fragten sich schon lange nicht mehr, weshalb die Männer nur selten mit ihren Frauen an einem Tisch saßen, genauso wenig, warum Thomas so unglaublich verklemmt war und sich trotz seiner neunzehn Jahre in mancher Hinsicht noch wie ein kleiner Junge benahm. Und sie fragten sich auch nicht mehr, warum er so häufig die Mädchen und jungen Frauen lüstern ansah, wenn er sich unbeobachtet wähnte. Aber die meisten wussten mittlerweile, dass er ein verkappter Spanner war, doch er war harmlos, viel zu schüchtern, er traute sich nicht einmal, eine von ihnen anzusprechen, geschweige denn, einer direkt in die Augen zu schauen. Im Prinzip bedauerten sie ihn, gingen ihm aber aus dem Weg, sofern dies auf dem Hof möglich war.

Sie unterhielten sich eine weitere halbe Stunde, bis Selina zur Uhr blickte und meinte: »Sorry, aber ich muss jetzt wirklich los. Ich hab meinen Eltern versprochen, spätestens um zehn zu Hause zu sein. Jetzt wird’s doch wieder später. Wir sehen uns dann morgen.«

»Wir können doch mitkommen«, sagte Miriam.

»Ach was, ich muss mich unheimlich beeilen, meine Eltern stehen auf Pünktlichkeit.«

»Na gut, wie du willst. Dann bis morgen. Und pass auf dich auf, würde der alte Malkow jetzt sagen«, meinte Katrin grinsend. »Und wenn er mit dir allein wäre, würde er über dich herfallen und seine glitschigen Hände …«

Selina winkte nur genervt ab und verließ das Restaurant, nicht ohne sich vorher von Helena Malkow, Emily Gerber und Sonja Kaufmann, die gerade aufgegessen hatten, zu verabschieden und ihnen eine gute Nacht zu wünschen. Ein letzter Blick in den Stall, sie ging noch einmal zu ihrem Pferd Chopin, einem Hannoveraner, den sie vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Sie streichelte ihm über die Blesse, flüsterte ein paar Worte, die Ohren des Pferdes spitzten sich, als verstünde es genau, was Selina ihm gerade sagte.

»Sie ist ein echter Schatz.« Sonja Kaufmann sah Selina lächelnd nach. »Ein richtiges Juwel, findet ihr nicht?«

»Ja, sie ist nett, wie alle unsere Mädchen. Frankreich war schon eine Reise wert«, sagte Emily Gerber ungewohnt ernst, ohne von ihrem Glas aufzuschauen.

»Was ist mit dir? Bedrückt dich etwas?«

»Nein, nein, alles bestens.«

»Wir werden noch viel Freude an ihnen haben, denk dran«, meinte Sonja Kaufmann. »Die Einzige, die mir ein bisschen Sorgen bereitet, ist Nathalie. Ich glaube, es war keine so gute Idee, sie mitzunehmen. Ich muss unbedingt mit ihr sprechen und einiges klarstellen.«

»Mach dir keine Gedanken wegen Nathalie«, sagte Helena Malkow beruhigend und legte eine Hand auf die von Sonja Kaufmann. »Ich habe das bereits getan. Es ist alles wieder in Ordnung. Sie war nur ein wenig durcheinander. Den Grund, weshalb sie heute nicht gekommen ist, kennt ihr ja. Hätte sie mich sonst angerufen und die Stunde abgesagt? Sie klang am Telefon völlig normal. Glaubt mir, ich kann mich auf mein Gefühl verlassen. So, und jetzt bestell ich uns noch ein Glas Wein, damit bekommt man nämlich die nötige Bettschwere.«

»Für mich nicht, ich muss gehen«, sagte Emily Gerber und erhob sich. »Tschüs, bis morgen.«

»Tschüs.« Helena Malkow sah Emily Gerber nach und anschließend Sonja Kaufmann ratlos an und zuckte mit den Schultern. Sie bestellte noch eine Flasche Wein, während Sonja Kaufmann sich eine Zigarette anzündete und Helena Malkow durch den ausgeblasenen Rauch hindurch anschaute.

Mittwoch, 22.15 Uhr

Selina Kautz befand sich mit dem Fahrrad auf dem Heimweg nach Okriftel und fuhr entlang des Spielplatzes, von wo es nur noch wenige hundert Meter bis zu ihrem Elternhaus waren. Es war fast dunkel geworden, sie war in Gedanken versunken, als mit einem Mal, ohne dass sie es vorher bemerkt hätte, ein anderes Fahrrad neben ihr war und der Fahrer so dicht vor ihr bremste, dass sie beinahe hinfiel. Sie hob erschrocken den Kopf und war erleichtert, als sie das ihr bekannte Gesicht im letzten Schatten der Dämmerung sah.

»Hi, Selina, können wir kurz reden?«

»Idiot, ich wär beinahe hingeflogen!«, fuhr sie ihn an. »Was ist, ich hab keine Zeit, meine Eltern warten auf mich.«

»Dauert auch nicht lange, ist aber wichtig. Können wir uns fünf Minuten auf die Bank setzen?«

»Fünf Minuten, aber keine Minute länger.«

Sie stellten ihre Räder neben der Bank ab und setzten sich, wobei Selina einen Abstand von etwa fünfzig Zentimetern einhielt.

»Selina, ich hab’s nicht mehr ausgehalten. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich in den letzten Wochen durchgemacht habe. Warum willst du nichts mehr von mir wissen? Nenn mir doch bitte einen vernünftigen Grund, nur einen. Bitte!«

»Das hab ich doch schon ein paarmal gemacht! Hör zu, zum letzten Mal, es hat nichts mit dir zu tun, glaub mir. Ich fühle mich einfach noch zu jung, um mich festzulegen. Du bist ein netter Typ, ich mag dich, aber ich liebe dich nicht …«

»Netter Typ«, stieß er höhnisch hervor, »wie sich das anhört! Ein Arschloch kann unter Umständen auch ein netter Typ sein. Wir kennen uns jetzt schon seit fast zwei Jahren, und ich habe bis vor kurzem wirklich gedacht, es könnte mal was mit uns werden. Ich liebe dich über alles, und das sag ich nicht nur so dahin. Ich dachte …«

»Das ist es doch«, unterbrach ihn Selina mit einer schnellen Handbewegung. »Du hast gedacht. Du hast immer gedacht, aber nur das, was du denken wolltest. Was ich dachte, hat dich nie wirklich interessiert. Und das ist das Problem. Du bist zwar siebzehn, aber im Kopf kommst du mir manchmal wie ein kleiner Junge vor. Tut mir Leid, wenn ich dir das so sagen muss, aber du hast einfach noch nicht herausgefunden, was Mädchen oder Frauen wollen.«

»Du hast es mir nie gesagt.«

»Doch, das habe ich. Ich habe dir gesagt, du sollst mir nicht immer so große Geschenke machen, auch wenn du es dir leisten kannst. Und du hast immer alles bestimmt, du hast bestimmt, wann wir wohin gehen, aber du hast mich nie gefragt, ob ich das wirklich will. Du hast auch nie akzeptiert, dass ich ab und zu meine Ruhe haben wollte, einfach nur allein sein, Musik hören, Klavier spielen oder etwas lesen. Selbst das Reiten war dir nicht recht. Und ständig hast du angerufen oder hast plötzlich vor der Tür gestanden und meine Eltern …«

»Deine Eltern haben noch vor kurzem gesagt, dass sie es toll finden, was wir für ein super Verhältnis haben. Dein Vater hat sogar gemeint, er könnte sich vorstellen, dass ich eines Tages …« Er biss sich im letzten Moment auf die Zunge, um nichts Unbedachtes von sich zu geben.

Selina sah ihn mit gekräuselter Stirn an, als wüsste sie genau, was er weiter sagen wollte, und erwiderte nur: »Mein Vater ist aber nicht ich, und damit basta. Ich hasse diese Vergleiche. Und somit sind die fünf Minuten vorbei. Es ist aus, bitte akzeptiere das. Und es war nie wirklich ernst zwischen uns, dazu sind wir einfach zu jung. Und wir sind viel zu verschieden. Ich möchte noch keine feste Beziehung eingehen. Und das meine ich ernst.«

»Aber …«

»Nein, kein Aber mehr. Lass mich bitte in Ruhe, das ist alles, was ich von dir verlange. Und wenn du mich wirklich liebst, dann geh einfach. Und mach dir bitte keine falschen Hoffnungen mehr.«

»Können wir nicht wenigstens Freunde bleiben?«

»Was für einen Sinn hätte das? Nein, es würde am Ende doch nur wieder darauf hinauslaufen, dass du mir sagst, wie sehr du mich liebst.«

»Eine Frage noch, bevor ich fahre. Hast du schon einen andern?«

»Und wenn?«

»Selina, bitte! Beantworte mir nur diese eine Frage, damit ich endlich weiß, woran ich bin. Ich werde sonst noch wahnsinnig. Wenn du mir sagst, es gibt einen andern, werde ich das Feld räumen und dich nie mehr belästigen. Versprochen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, da ist niemand. Zufrieden? Ich hab fürs Erste die Nase voll. Außerdem will ich mich wieder mehr auf die Schule konzentrieren. Und ich brauch die Ferien, um mich zu erholen. Reicht dir das?«

»Es gibt also keinen andern?«, fragte er noch einmal nach.

»Selbst wenn es so wäre, welchen Unterschied würde das machen? Zwischen uns ist alles vorbei, du hast deinen Fußballverein, ich mein Pferd. Mich interessiert Fußball herzlich wenig und du kannst mit Pferden nichts anfangen. Wenn du es so willst, ja, ich habe einen Freund – mein Pferd. Es stellt keine Bedingungen und ist immer für mich da. Und das ist alles, was ich brauche. Und jetzt lass mich bitte allein.«

Als er keine Anstalten machte, aufzustehen, sagte sie: »Fahr schon, ich muss noch einen Augenblick allein sein. Bitte, bitte, bitte!«

»Okay, hab schon verstanden«, erwiderte er mit belegter Stimme. Die Tränen in seinen Augen sah Selina nicht. »Dann mal tschüs, oder besser gesagt, adieu. Ich wünschte mir, ich wäre jetzt ganz weit weg, damit ich dich nicht immer sehen muss. Ich werde dich immer lieben.«

»Vergiss mich einfach«, sagte sie in seltsamem Ton.

Er stand auf, schwang sich auf sein Fahrrad, nicht ohne vorher noch einmal einen Blick auf Selina zu werfen. Sie sah kurz zu ihm auf und schüttelte kaum merklich den Kopf.

Ein älteres Ehepaar mit einem Dackel kam an ihr vorbei. Sie sahen sie an, lächelten und nickten, als sie Selina erkannten, und gingen weiter bis zur Wegbiegung. Nachbarn. Selina blieb noch einige Minuten sitzen, kein Mensch war mehr zu sehen, obwohl es ein warmer Abend war. Nur die Geräusche startender Flugzeuge und Stimmen wie aus weiter Ferne. Ein paar wenige dünne Wolken zogen über den jetzt fast dunklen Himmel, einige funkelnde Sterne, die durch den Neumond noch heller funkelten. Das Ehepaar blieb an der Biegung noch einen Moment stehen, sie machten kehrt und kamen mit langsamen Schritten zurück, nahmen diesmal jedoch vorher eine Abkürzung in die Siedlung.

Es war zehn vor elf, als Selina ihr Fahrrad bestieg und losfuhr. Sie bemerkte nicht den Mann in dem nachtblauen Auto, der den Motor erst startete, als er sie nur noch schemenhaft im Rückspiegel sah. Er wendete und fuhr langsam in großem Abstand hinter ihr her. Selina, dachte er, während er eine CD mit Klavierstücken von Chopin einlegte, du bist ein kleiner Engel und ein kleiner Teufel zugleich. Doch ab sofort wirst du nur noch mein kleiner Engel sein. Mit großen, großen Flügeln. Er lächelte versonnen.

Donnerstag, 12.35 Uhr

Helga Kautz lief seit weit über einer Stunde ruhelos durch die Wohnung. Sie hatte im Reitsportverein angerufen, aber außer dem Stallburschen niemanden angetroffen, bei Miriam und Katrin, die beide sagten, dass Selina um kurz nach zehn gestern Abend das Restaurant verlassen habe, um nach Hause zu fahren. Auch Helena Malkow, Emily Gerber und Sonja Kaufmann konnten das nur bestätigen. Zuletzt wählte Helga Kautz die Nummer von Maren, einer Schulfreundin, bei der Selina in der Vergangenheit des Öfteren übernachtet hatte, in letzter Zeit allerdings kaum noch, da Marens Bekanntschaften und Lebensstil ihr nicht zusagten. Außerdem hatte Selina erzählt, dass Maren zu kiffen angefangen habe, mindestens eine Schachtel Zigaretten am Tag rauche und inzwischen regelmäßig zur Flasche greife. Aber es war ein Strohhalm, an den sie sich jetzt klammerte, auch wenn sie wusste, dass dieser Strohhalm ihr keinen Halt geben würde. Sie hatte Marens Mutter am Apparat. Ob Selina mit Maren zusammen war, konnte sie nicht sagen, nur dass Maren über Nacht bei einer Freundin geschlafen habe und immer noch dort sei. Helga Kautz bedankte sich und legte den Hörer auf.

Maren war die letzte Hoffnung gewesen, eine Hoffnung, die sich jetzt zerschlagen hatte. Wie hätte es auch anders sein sollen, war doch der Kontakt zwischen den beiden in den letzten Monaten immer weniger geworden, was einzig und allein an der oft unberechenbaren Art von Maren lag; mal bekam sie aus heiterem Himmel Wutausbrüche, dann wieder verfiel sie scheinbar grundlos in tiefste Melancholie und weinte stundenlang, sie sagte, Selina sei ihre einzige wahre Freundin, erzählte im nächsten Augenblick aber anderen Mädchen haarsträubende Lügengeschichten über Selina. Vor einem halben Jahr war Maren mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert worden, vor drei Monaten folgte ein schwerer Nervenzusammenbruch, sie litt unter Depressionen, und das Letzte, was Helga Kautz erfahren hatte, war, dass die Ursache für Marens Depressionen eben in übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum bestand. Obwohl Marens Eltern angesehene Bürger im Ort waren, wusste Helga Kautz von Selina, dass sie sich selbst hin und wieder einen Joint drehten, einmal sogar vor den Augen der Mädchen, und es demnach wenig verwunderlich erschien, dass Maren es ihnen nachmachte und dabei eine Grenze überschritt, eine Grenze, die sie nicht kannte.

Doch darüber wollte Helga Kautz jetzt nicht nachdenken, zu sehr beschäftigte sie die Frage, wo Selina war. Sie hatte gestern, bevor sie in den Reitclub fuhr, gesagt, sie übernachte bei einer Freundin, aber nicht, bei welcher. Sie hatte jedoch versprochen, spätestens um neun heute Morgen zu Hause zu sein, weil sie um zehn einen wichtigen Zahnarzttermin hatte. Und jetzt wusste keiner, wo sie war, schien sie wie vom Erdboden verschluckt. Und ihren Freundinnen aus dem Reitclub hatte sie erzählt, sie fahre nach Hause. Das war es, was ihr am meisten Kopfzerbrechen und auch Angst bereitete. Warum hatte Selina gelogen? Und wen hatte sie angelogen? Solange sie zurückdenken konnte, war eine der Tugenden von Selina, immer die Wahrheit zu sagen. Und jetzt? Wo war sie? War ihr etwas zugestoßen? Die furchtbarsten Gedanken schossen Helga Kautz durch den Kopf, Gedanken, die sie nicht denken wollte, die aber immer stärker von ihr Besitz ergriffen.

Höllenqualen.

Helga Kautz hatte ein paarmal versucht, ihren Mann zu erreichen, doch er war auf einer Baustelle und hatte sein Handy wie so oft ausgestellt, nur seine Mailbox war an. Sie rief mehrere Male kurz hintereinander an, hinterließ eine Nachricht nach der andern und bat dringend um Rückruf. Um halb eins meldete er sich schließlich. Und nachdem ihm seine Frau stockend und unter Tränen erzählte, was los sei und welche Sorgen sie sich mache, setzte er sich sofort in sein Auto und raste nach Hause. Um Viertel nach eins fand er eine völlig aufgelöste Frau vor, die immer wieder nur stammelte: »Hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen, hoffentlich ist ihr nichts zugestoßen!«

Peter Kautz versuchte, sie zu beruhigen, nahm sie in den Arm, doch sie zitterte trotz der Wärme. Er telefonierte noch einmal mit all jenen, mit denen Selina gestern und in letzter Zeit Kontakt hatte, vergeblich. Er zwang sich, einen kühlen Kopf zu bewahren, fuhr nach den fruchtlosen Telefonaten sämtliche Straßen in Okriftel und Eddersheim ab, ohne eine Spur von der sonst so zuverlässigen Selina zu finden.

Um halb drei ging er die wenigen Meter zum Spielplatz, wo Selina sich schon als kleines Kind vergnügt und sich später oft mit ihrem Freund aufgehalten hatte. Nichts. Um fünf nach drei, nachdem alle Anrufe und alle Suche vergeblich waren, nahm er mit fahrigen Fingern (die Angst kroch wie eine kalte Faust in ihm hoch und presste sich immer fester gegen seinen Magen) den Telefonhörer in die Hand und rief bei der Polizei in Hattersheim an.

»Hier Peter Kautz. Was muss ich tun, um meine Tochter als vermisst zu melden?« Seine Stimme war gefasst, obwohl ihm hundeelend war. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Am besten bei uns vorbeikommen. Seit wann vermissen Sie Ihre Tochter?«

»Sie hat uns gesagt, sie würde die Nacht über bei einer Freundin bleiben, und wollte heute Morgen um neun zu Hause sein, weil sie einen Zahnarzttermin hatte. Aber keine der Freundinnen, die wir kennen, wissen etwas von einer Verabredung mit ihr. Selina ist an sich ein sehr zuverlässiges Mädchen.«

»Wie alt ist sie?«

»Fünfzehn.«

»Und wann wurde sie zuletzt gesehen?«

»Sie hat um kurz nach zehn gestern Abend den Reitsportverein in Eddersheim verlassen, um nach Hause zu fahren. Hat sie zumindest ihren Freundinnen dort erzählt. Das ist etwas, das meine Frau und mich stutzig macht. Wir haben ehrlich gesagt schreckliche Angst, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte.«

»Gut, dann kommen Sie bitte so schnell wie möglich her, und bringen Sie ein Foto Ihrer Tochter mit.«

»Wir sind in zehn Minuten da.« Peter Kautz gab seiner Frau, die das Gespräch mitgehört hatte, mit der Hand ein Zeichen. Er bat die neunjährige Anna, auf den achtzehn Monate alten Elias aufzupassen, sie seien bestimmt nicht länger als eine Stunde weg.

»Meinst du, dass Selina etwas passiert ist?«, fragte Anna mit ängstlicher Stimme.

»Keine Ahnung«, sagte Peter Kautz und versuchte ein Lächeln, wobei er ihr sanft über das blonde Haar strich. »Nein«, verbesserte er sich schnell und rang sich erneut ein Lächeln ab, »ihr ist bestimmt nichts passiert. Sie hat wahrscheinlich nur die Zeit vergessen. Du kennst das doch von dir selbst. Mach dir keine Sorgen, wir werden sie schon finden. Und sollte sie zwischenzeitlich heimkommen, dann soll sie mich bitte sofort auf dem Handy anrufen. Und pass gut auf Elias auf.«

Das ungute Gefühl wurde immer stärker, die kalte Faust rumorte immer wilder in seinen Eingeweiden, die quälende Ungewissheit zermürbte ihn.

Donnerstag, 15.25 Uhr

Polizeirevier Hattersheim.

Zwei uniformierte Beamte hielten sich in dem Zimmer im ersten Stock des erst wenige Jahre alten Gebäudes auf. Einer der Männer, den Peter Kautz auf Mitte bis Ende fünfzig schätzte, erhob sich und reichte erst Helga Kautz, dann ihrem Mann die Hand und wies auf zwei Stühle.

»Bitte nehmen Sie Platz, ich werde die Anzeige gleich aufnehmen. Haben Sie das Foto Ihrer Tochter dabei?« Nachdem Peter Kautz es ihm überreicht hatte, setzte er sich an seinen Computer, startete das Programm und begann routinemäßig das Protokoll einzutippen, während der andere Beamte den Raum verließ. Er stellte kurze und knappe Fragen, wann und wo genau Selina geboren war und so weiter, Fragen, die allesamt von Peter Kautz beantwortet wurden.

Als er die Daten gespeichert hatte, drehte er sich um und sagte mit freundlicher Stimme und fast gütigem Blick, als könnte er sich in die Lage der Eltern versetzen: »So, und jetzt erzählen Sie mir etwas mehr über Ihre Tochter. Kam es in der Vergangenheit schon einmal oder sogar öfter vor, dass sie einfach so weggeblieben ist?«

»Nein, sie hat grundsätzlich Bescheid gesagt«, entgegnete Peter Kautz nervös, kaum dass der Beamte es ausgesprochen hatte. Er stand auf und ging ruhelos im Raum umher, den Blick zu Boden gerichtet. »Wir wussten bis jetzt immer, wo sie ist.« Mit einem Mal blieb er stehen, sah den Beamten an und schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, Selina ist eine exzellente Schülerin. Sie hat das vergangene Schuljahr als Klassenbeste abgeschlossen. Die Lehrer haben sogar überlegt, sie eine Klasse überspringen zu lassen.«

Der Beamte lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und sah die verzweifelten Eltern an. »Was ist mit Alkohol, Drogen? Es tut mir Leid, aber ich muss Ihnen diese Frage stellen.«

»Nein, Selina hat nie in ihrem Leben irgendwas davon angerührt. Sie hasste jegliche Form von Drogen, Alkohol eingeschlossen.«

»Aber sie hat Ihnen gestern gesagt, sie würde die Nacht über bei einer Freundin bleiben. Doch keine ihrer Freundinnen weiß irgendetwas davon. Das ist schon seltsam. Könnte es unter Umständen sein, dass sie … Ich meine, ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber könnte die Möglichkeit bestehen, dass sie ausgerissen ist?«

Peter Kautz stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch, sah den Beamten mit glühenden Augen an, schlug mit einer Hand auf den Tisch und entgegnete mit aufgebrachter Stimme: »Nein, sie ist nicht ausgerissen! Wir haben noch zwei weitere Kinder, und Selina liebt ihre Geschwister über alles. Und noch was, wir führen eine harmonische Ehe und ein glückliches Familienleben, falls Sie das interessiert. Ich weiß genau, was Sie denken, nämlich dass das die meisten Ehepaare und Eltern behaupten. Aber ich sage die Wahrheit. Meine Frau und ich sind seit siebzehn Jahren verheiratet. Uns geht es finanziell sehr gut, und Selina hätte nie einen Grund gehabt, einfach abzuhauen. Vor allem hat sie mit uns, das heißt vorwiegend mit meiner Frau, bisher über all ihre Probleme gesprochen.«

»Fehlt irgendetwas aus ihrem Zimmer? Hat sie Geld?«

»Nein«, meldete sich Helga Kautz jetzt zu Wort, die bisher regungslos dagesessen und aufmerksam und doch besorgt das Frage- und Antwortspiel verfolgt hatte. »Selina ist gestern Nachmittag wie üblich in den Reitclub gefahren, ohne irgendetwas sonst mitzunehmen. Und sie bekommt ein ihrem Alter entsprechendes Taschengeld. Außerdem zahlen wir jeden Monat einen bestimmten Betrag auf ein Konto ein, auf das sie allerdings erst ab ihrem achtzehnten Geburtstag Zugriff hat.«

»Und was ist mit einem Freund?«

»Sie hatte einen, bis vor etwa drei Monaten. Sie fühlte sich noch zu jung für eine feste Beziehung.«

»Haben Sie schon mit ihm gesprochen? Ich meine, heute.«

»Nein, wieso?«, fragte Peter Kautz mit gerunzelter Stirn.

»Wie ist sein Name?«

»Dennis Kolb.«

»Wie lange waren er und Selina zusammen?«

»Ein, anderthalb Jahre, genau weiß ich es nicht. Aber sie kennen sich schon viel länger.«

»Wie alt ist er?«

»Siebzehn.«

»Und wie hat er die Trennung verkraftet?«

»Du meine Güte, woher sollen wir das wissen?! Das war eine Sache zwischen Selina und ihm. Wir haben uns da nicht eingemischt. Selina ist psychisch und emotional sehr reif und weiß ziemlich genau, was sie will. Sie ist einfach ein besonderes Mädchen, in jeder Beziehung. Was sie macht, macht sie perfekt. Sie ist vor vier Jahren in den Reitsportclub eingetreten und war schon mit dreizehn hessische Vizemeisterin im Voltigieren. Und sie kann hervorragend Klavier spielen. Und wir haben sie zu nichts von alledem gezwungen, sie hat alles aus freien Stücken gemacht, weil sie es wollte. Sie ist unglaublich ehrgeizig. Deshalb sehen weder ich noch meine Frau auch nur den geringsten Grund, weshalb sie einfach so verschwunden sein sollte. Genügt Ihnen das? Außerdem würde sie nie im Leben ihr Pferd einfach aufgeben. Wir haben es ihr vor drei Jahren zum Geburtstag geschenkt.«

»Haben Sie die Telefonnummer von diesem Dennis Kolb?«, fragte der Beamte, als hätte er die letzten Worte gar nicht mehr mitbekommen.

»Nicht im Kopf. Aber er steht im Telefonbuch. Sein Vater heißt Robert, sie wohnen Im Höhlchen.«

Der Beamte nahm das Telefonbuch, schlug es auf und suchte die Nummer. »Aha, hier haben wir’s ja schon. Dann möchte ich Sie doch bitten, mal bei den Kolbs anzurufen.«

Peter Kautz tippte die Nummer ein und meldete sich, als am andern Ende abgenommen wurde. Die Mutter von Dennis war am Apparat. Er war zu Hause und kam kurz darauf ans Telefon.

»Hallo, Dennis, hier Kautz. Ich habe eine Frage: Hast du gestern zufällig Selina gesehen?«

»Warum?«

»Dennis, bitte, sag nur ja oder nein.«

»Ja, gestern Abend. Was ist denn los?«

»Wo habt ihr euch gesehen?«

»Am Spielplatz. Wir haben uns ein paar Minuten unterhalten, dann bin ich nach Hause gefahren.«

»Und um welche Zeit war das?«

»Kurz vor halb elf. Selina hatte nicht viel Zeit, sie hat gesagt, sie müsste nach Hause.«

»Sie hat dir gesagt, sie müsste nach Hause? Hat sie das wirklich gesagt?«, fragte Peter Kautz sichtlich erregt. »Sie hat gesagt, sie müsste nach Hause?«, wiederholte er die Frage noch einmal.

»Ja, ganz bestimmt. Um was geht’s denn?«

»Sie ist verschwunden. Angeblich wollte sie bei einer Freundin übernachten. Hat sie dir gegenüber nichts davon erwähnt?«

»Nein, ich schwöre es. Aber sie ist noch einen Moment auf der Bank sitzen geblieben, nachdem ich losgefahren bin. Glauben Sie, dass ihr etwas passiert ist?«, fragte er besorgt.

»Das wissen wir nicht. Wir sind gerade bei der Polizei, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Es könnte sein, dass die Polizei sich …« Bevor er zu Ende sprechen konnte, nahm ihm der Beamte den Hörer aus der Hand.

»Herr Kolb, ich werde gleich mit einem Kollegen bei Ihnen vorbeikommen und Ihnen ein paar Fragen stellen. Bleiben Sie bitte so lange zu Hause. Wir sind in etwa einer Viertelstunde bei Ihnen.«

»Ist gut.«

Der Beamte legte auf und sah die Eltern von Selina nachdenklich an. Nach einer Weile sagte er: »Tja, ich denke, wir sollten aufgrund der vorliegenden Fakten eine Suchmeldung herausgeben. Ich werde mich gleich mit den Kollegen von der Kripo Hofheim in Verbindung setzen, und die werden ihrerseits alles Notwendige in die Wege leiten. Unter anderem werden sie den Hessischen Rundfunk und FFH informieren, damit noch heute die Vermisstenmeldung im Radio bekannt gegeben wird. Mehr kann ich im Augenblick nicht für Sie tun. Und sollte Ihre Tochter sich bei Ihnen melden, lassen Sie mich das bitte umgehend wissen.«

»Natürlich. Und vielen Dank.«

»Das ist unsere Aufgabe. Hoffen wir nur, dass die Sache ein gutes Ende nimmt«, sagte er, wobei Peter Kautz nicht die besorgte Miene entging.

Er seufzte auf, seine Frau hatte wieder Tränen in den Augen. Sie verließen das Revier und fuhren heim. Um halb fünf hielten sie vor dem Haus, das Peter Kautz selbst entworfen hatte, kurz nachdem er vor acht Jahren sein eigenes Architekturbüro eröffnet hatte. Ein weißer, hübsch verzierter, kaum mannshoher Eisenzaun, eine Doppelgarage mit reichlich Platz für den Jaguar und das 500er Mercedes Coupé, eine mittelgroße Rasenfläche mit einem Pool. Doch das alles war jetzt nur noch nebensächlich. Alles, was sie wollten, war, ihre Tochter wiederzusehen und in die Arme zu schließen. Die Hoffnung schwand jedoch mit jeder Minute mehr, die verstrich.

Donnerstag, 16.58 Uhr

Julia Durant war heute etwas früher gegangen, weil sie noch einen Friseurtermin hatte und sich danach einen gemütlichen Abend allein machen wollte. Sie setzte sich um zehn vor fünf in ihren Corsa. Der Tag war anstrengend gewesen, nicht weil sie einen besonderen Fall zu bearbeiten hatte – die letzten zwei Wochen waren sogar bis auf einen Mord an einem der Polizei hinlänglich bekannten Junkie und Dealer in der Taunusanlage, um den sich jedoch die Kollegen aus dem Rauschgiftdezernat und der Mordkommission gleichzeitig kümmerten, erstaunlich ruhig gewesen –, sondern weil die Aufarbeitung eines riesigen Stapels liegen gebliebener Akten für sie schlimmer war als jede andere Arbeit. Akten zu wälzen, Berichte zu schreiben hasste sie wie die Pest, und sie wünschte sich an solchen Tagen immer, ein paar Heinzelmännchen würden über Nacht kommen und am nächsten Morgen wäre der Schreibtisch blitzblank aufgeräumt. Das Einzige, was sie tröstete, war, dass es Hellmer und Kullmer nicht anders erging, die die Büroroutine ebenso hassten.

Um halb sechs hatte sie ihren Termin, anschließend würde sie ein langes Bad nehmen, das Buch über übersinnliche Phänomene zu Ende lesen und nebenbei Musik hören und früh zu Bett gehen. Dominik Kuhn, mit dem sie seit etwas über einem Jahr zusammen war, hatte angerufen und gesagt, er habe noch eine Sitzung, was nichts anderes hieß, als dass er mit Sicherheit nicht vor dreiundzwanzig Uhr, vermutlich aber erst gegen Mitternacht nach Hause kommen würde, denn die Sitzungen endeten meist damit, dass in irgendeinem Lokal noch etwas getrunken wurde und er die Zeit darüber vergaß. Aber es machte ihr nicht viel aus, zumindest nicht mehr. In letzter Zeit war ihr Zusammenleben längst nicht mehr das, was sie sich unter einer Partnerschaft vorstellte. Sie merkte, wie ihre Interessen nicht miteinander harmonierten und wie ihre so unterschiedlichen Berufe einfach nicht förderlich für eine Beziehung, ja, eigentlich sogar die reinsten Beziehungskiller waren. Außerdem mochte sie es nicht, wenn er ständig Fragen stellte, die ihre Arbeit betrafen, auch wenn er mittlerweile nicht mehr für die Bild-Zeitung, sondern als Pressesprecher für FFH tätig war, aber dennoch über exzellente Kontakte, vielleicht sogar bessere als zuvor, zu den elektronischen und Printmedien verfügte. Sie war sich im Klaren, dass sein Job all seine Kraft in Anspruch nahm, und sie bewunderte auch seinen Einsatzwillen, auf der Karriereleiter noch weiter nach oben zu klettern, dennoch wünschte sie sich wenigstens ab und zu ein wenig mehr Zuwendung seinerseits.