KALTES KLARES WASSER - Bernd Schmitt - E-Book

KALTES KLARES WASSER E-Book

Bernd Schmitt

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Beschreibung

Für uns ist es selbstverständlich, dass wir den Wasserhahn aufdrehen und es kommt klares, vor allem trinkbares Wasser heraus, zu einem Preis, bei dem wir nicht einmal darüber nachdenken, ob wir es auch zum Duschen oder für die WC-Spülung verwenden. Doch das ist nicht überall so. Selbst in manchen EU-Ländern ist ein Zögern durchaus angebracht, wenn es darum geht, Wasserleitungswasser zu trinken. Und in den meisten Ländern der Dritten Welt ist das definitiv ein utopischer Traum. Als wäre es an sich nicht schon Problem genug, an sauberes Trinkwasser zu kommen, sind diese Länder auch noch die bevorzugte Spielwiese multinationaler Konzerne, die dort um den Besitz der Wasserrechte wetteifern. Die Autoren der Geschichten haben sich ihre Gedanken über die Zukunft des Wassers gemacht. Es liegt an jedem von uns, dafür zu sorgen, dass sauberes Wasser das bleibt, was es ist: ein Menschenrecht!

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Gerhard Schneider (Hrsg.)

Kaltes klares Wasser

Story Center

AndroSF 114

Gerhard Schneider (Hrsg.)

KALTES KLARES WASSER

Story Center

AndroSF 114

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Juni 2020

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Uli Bendick

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat: Gerhard Schneider

Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 194 5

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 894 4

Vorwort

»Kaltes klares Wasser« lautete das Ausschreibungsthema und damit auch der Arbeitstitel der vorliegenden Sammlung von Science-Fiction-Kurzgeschichten. Dieser Titel war so treffend gewählt, dass er nun unverändert für diese Anthologie beibehalten wurde. Aus den vielen Einsendungen wurden die siebzehn besten ausgewählt, teils von bekannteren, teils von unbekannteren Autorinnen und Autoren. Sie sind nachdenklich, lustig, visionär, brutal oder gar verstörend, aber eines haben sie alle gemeinsam: Sie thematisieren ein Problem, das in unserer westlichen Lebenswelt noch nicht jedem bewusst ist. Für uns ist es selbstverständlich, dass wir den Wasserhahn aufdrehen können und es kommt klares, aber vor allem trinkbares Wasser heraus, zu einem Preis, bei dem wir nicht einmal darüber nachdenken, ob wir es auch zum Duschen oder für die WC-Spülung verwenden. Doch das ist nicht überall so. Selbst in manchen EU-Ländern ist ein Zögern durchaus angebracht, wenn es darum geht, Wasserleitungswasser zu trinken. Und in den meisten Ländern der Dritten Welt ist das definitiv ein utopischer Traum.

Als wäre es an sich nicht schon Problem genug, an sauberes Trinkwasser zu kommen, sind diese Länder auch noch die bevorzugte Spielwiese multinationaler Konzerne, die dort um den Besitz der Wasserrechte wetteifern. Sind die Brunnen erst privatisiert, wird es für die durstende Bevölkerung vor allem eines: teuer! Doch man braucht gar nicht so weit zu schauen, um die negativen Folgen einer privatisierten Wasserwirtschaft erkennen zu können: London oder Berlin sind gute Beispiele dafür.

Für private Wasserversorger ist Wasser nämlich nur eines: ein ganz normales Konsumgut, aus dem der maximale Gewinn zu erwirtschaften ist. Die Folgen sind höhere Preise und ein verfallendes Leitungsnetz, weil die nötigen Instandhaltungskosten den Profit schmälern würden. Dass dabei die Qualität oft auf der Strecke bleibt, liegt auf der Hand. Ist ein Netz erst einmal ganz herabgewirtschaftet, darf die Kommune es dann mit Steuergeldern zurückkaufen und sanieren – nur, um es dann womöglich erneut an den nächsten Profitgeier verscherbeln zu müssen.

Die Autorinnen und Autoren der Geschichten in diesem Buch haben sich auf ihre Art Gedanken über die Zukunft des Wassers gemacht. Sie sind herzlich eingeladen, ihren Ideen zu folgen. Es liegt auch an jedem von uns, dafür zu sorgen, dass sauberes Wasser das bleibt, was es ist: ein Menschenrecht!

Gerhard Schneider

Herausgeber

Wien, im März 2020

Bernd Schmitt: Die City

Echter, grüner Rasen, nicht Plastik! Es war keine Illusion, kein Märchen. Sandra strich langsam mit den Fingern darüber, die Halme streichelten die Haut wie die zärtliche Geste eines Geliebten. Ein intensiver Duft ging von dem Gras aus, feucht, erdig. Sie konnte es kaum glauben, diese Leute hatten tatsächlich vor dem Gebäude einen Rasen! Bisher kannte sie ihn nur als winzigen Fleck aus dem Museum, ein halber Quadratmeter. Ehrfürchtig hatte sie ihn damals angesehen, beim Klassenausflug.

»Miss Hill?«

Die raue Stimme des Mannes riss sie aus den Gedanken. Sie sprang hoch wie eine ertappte Sünderin, verschränkte schnell die Hände hinter dem Rücken. Lief das Gesicht rot an? Hoffentlich nicht.

»Sie sind dran. Folgen Sie mir in den Besprechungsraum.«

Sandra verließ das Gras nur ungern. Lieber hätte sie den Rasen genauer erforscht. Er bedeckte eine geradezu gigantische Fläche, mehrere Quadratmeter. Ungewöhnlich, der Pflegeaufwand musste enorm sein. Was für eine Menge Wasser verlangten die vielen Pflanzen?

Der Uniformierte führte sie in einen kühlen Korridor. Die Mauern bestanden aus den üblichen grauen Fertigbauelementen, die sie zu Genüge kannte. Leise summte irgendwo eine Klimaanlage. Sandra strich das blaue Kleid glatt, bemüht, das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Am Ende des Gangs betraten sie ein unscheinbares Zimmer, weiß gestrichene Wände vermittelten gewollte Nüchternheit. Ein grauhaariger Mann in der Uniform der Stadtwache saß auf einem gepolsterten Stuhl. Sandra wurde mit einer Geste dazu aufgefordert, auf einem Sessel daneben Platz zu nehmen. Hinter ihr schloss der andere Uniformierte die Tür und blieb dort stehen.

Das letzte Hindernis vor dem Betreten der City. Im Geiste war Sandra das Ereignis bereits unzählige Male durchgegangen, trotzdem fühlte sie einen Kloß in der Kehle. Die Mundhöhle wurde trocken. Der finale Test, sie musste ihn einfach bestehen, im Interesse ihrer Familie.

»Sandra Hill«, begann der Grauhaarige das Verhör. »Ich bin Chief Inspector Duncan. Beginnen wir mit den Formalitäten. Sie sind siebzehn Jahre alt und wohnen seit der Geburt in Suburb Seven?«

»Korrekt, Sir.«

Duncan schlug die Beine übereinander, musterte Sandra intensiv. Seine braunen Augen hatten einen Glanz, der Sandra frösteln ließ. Es schien, als könnte er Gedanken lesen.

»Sie bewarben sich als Gouvernante bei einer Familie …«, er warf einen Blick auf ein Computerdisplay, »… Hathaway. Alleinerziehende Frau, Diplomatin, oft auf Dienstreise. Ihre Tochter Jenny ist dreizehn.«

Sandra schwieg, rieb die Hände aneinander. Auf diese Weise konnte sie das Zittern verbergen. Als Duncan sie auffordernd ansah, räusperte sie sich.

»Äh, ich habe alle notwendigen Bildungsmaßnahmen erfolgreich abgeschlossen, Sir. Besonders das Wassersparmanagement. Ich wurde Lehrgangsbeste.«

Der Mann zog die Augenbrauen zusammen. Es machte auf sie einen kritischen Eindruck. Sandra verstand die Geste nicht, Wassermanagement war doch ein wichtiger Pluspunkt in der Biografie. Sie hatte den Eindruck, sich rechtfertigen zu müssen und fuhr hastig fort:

»Beispielsweise kann man den Körper mit feuchten Tüchern so schnell reinigen, dass genügend Restfeuchte übrig bleibt. Wenn die Tücher anschließend im Konverter landen, lässt sich das Wasser extrahieren und wiederaufbereiten. Wir rechneten das durch, Sir. Falls hundert Personen so handeln und eine Feuchtigkeitsmenge von …«

Hinter ihr ertönte ein kurzes Prusten. Der Mann an der Tür hielt anscheinend mühsam das Lachen zurück. Sandra verstummte irritiert.

Duncan schenkte seinem Kollegen einen grimmigen Blick und trommelte mit den Fingern auf der Sitzlehne.

»Was lehrte man Sie über die Hausreinigung?«

»Früher konnte man es sich leisten, Böden feucht zu wischen. Seit der Erfindung der Putztücher aus Metamaterial …«

»Keine Vorträge«, unterbrach sie Duncan. »Ich bin kein Dozent, das ist keine Prüfung. Sie wollen in der City arbeiten. Ein großes Opfer, Miss Hill. Niemand darf anschließend wieder in die Suburbs zurückkehren, selbst Mailkontakte sind sehr eingeschränkt, werden zensiert. Was bewog Sie dazu, in Ihrem Alter?«

»Die Situation meiner Familie, Sir«, erwiderte Sandra ehrlich. »Wenn ich hier arbeite, erhält sie die eineinhalbfache Wasserzuteilung. Trotz der vielfältigen Sparmaßnahmen leiden wir unter Durst. Mit kleinen Nebenjobs beschaffte ich uns schon früh Zugang zu Obst. Aber selbst die darin enthaltene Flüssigkeitsmenge löschte den Durst nie vollständig.«

Duncan schwieg, betrachtete das Computerdisplay. Die Stille in dem Zimmer wurde für Sandra langsam unheimlich. Hatte sie etwas Falsches gesagt?

»Die neue Zuteilung und meine Abwesenheit wird die Lage stark verbessern. Außerdem lehrte man uns, dass der treue Dienst für die City gute Staatsbürger auszeichnet. Das will ich sein, das war stets mein Wunsch. Ich möchte mich für das Volk einsetzen, ich will ihm dienen.«

Sandra atmete tief durch. Sie hatte den Spruch oft vor dem Spiegel aufgesagt, so oft, dass ihre Zunge sich vor Trockenheit wie ein in Sand gewälzter Fleischklumpen angefühlt hatte. Bei der Erinnerung an die Szene stiegen bittere Tränen in ihre Augen. Sie kniff die Lippen zusammen. Nicht jetzt, nicht in diesem unpassenden Moment. Ihre Familie hatte sie unterstützt, ihr einen Schluck Wasser aus den eigenen knappen Vorräten angeboten, damit sie weiter üben konnte.

Leider stellte sich wieder das gleiche Gefühl ein. Die Zunge klebte am Gaumen, sie brachte die Worte nur undeutlich heraus. Für die Zuhörer musste es wie ein Nuscheln klingen.

Duncan blickte sie mit steinerner Miene an, schwieg. Die Sekunden schienen sich zu einer Ewigkeit zu dehnen, es geschah nichts. Ein endloser Blick aus dunklen Augen. Sandra schluckte mehrmals, bald gab es keinen Speichel mehr zum Hinunterschlucken. Die Mundhöhle war ausgetrocknet. Sandra geriet in Panik. Was, wenn sie noch länger Rede und Antwort stehen musste? Sie hatte zwar am Morgen extra viel getrunken, vor dem tränenreichen Abschied. Doch der Stress forderte seinen Tribut.

Der grauhaarige Mann gab seinem Kollegen an der Tür einen Wink. Dieser trat an eine Kommode, wandte dadurch Sandra den Rücken zu. Ein seltsam glucksendes Geräusch ertönte, als ob eine große Wassermenge fließen würde. Sandra schüttelte den Kopf. Die Nerven spielten ihr einen Streich, es gab keine andere Erklärung. Wie sollte Wasser aus der Kommode kommen? Die Beamten besaßen höchstens genau abgemessene Mengen in Plastikflaschen, die sie sorgsam vor Dieben hüteten.

Der Beamte drehte sich um. Sandra hielt den Atem an. Er trug einen mit Wasser gefüllten Becher!

Es musste mindestens ein Viertelliter sein.

»Trinken Sie ruhig«, befahl Duncan.

»Das ist ein zu wertvolles Geschenk, Sir, das kann ich nicht annehmen.«

»Trinken Sie es.«

»Aber Sir, von dieser Ration lebt beispielsweise ein Kind …«

»Trinken!« Duncan hieb mit der flachen Hand auf die Sessellehne. Sandra setzte eingeschüchtert den Becher an den Mund und begann, ihn hektisch leer zu trinken. Sie spürte das kühle Nass, wie es die Mundhöhle ausfüllte, die Kehle hinunterrann. Es war eine Erlösung, einfach herrlich. Kurz darauf folgten die Gewissensbisse. Es war zu viel für eine Person, sie hatte dafür nichts gearbeitet. Erst der Gedanke an den nächsten Konverter für menschliche Ausscheidungen beruhigte sie wieder. Die Gemeinschaft würde etwas von der Flüssigkeit zurückerhalten. Man musste stets ein Vorbild sein, Gemeinschaftsgeist zeigen. Das besagte die Lehre.

Duncan fragte irgendetwas, doch die Worte drangen nicht zu Sandra durch. Sie starrte den leeren Becher an. Ein Viertelliter! Wieso verschenkte man ein derartiges Vermögen?

»Wissen Sie, warum es kaum Kontakte zwischen der City und den Suburbs gibt?«

»Sir?« Sandra riss die Augen auf. Es dauerte, bis ihr Verstand den Sinn der Frage begriff. »Äh, nein. Aber es heißt, dass die Regierungsarbeit und die Bewältigung des Wassernotstandes viel Zeit fressen. Ich kann mir auch vorstellen, dass meine zukünftige Arbeitgeberin mit ihren diplomatischen …«

Duncan hob die Hand. Ein Ausdruck von Langeweile lag in seinem Gesicht. Sandra überlegte, dass er diese Art von Gesprächen anscheinend öfter führte. Es stumpfte wohl ab, dauernd die gleichen Antworten zu hören.

»Sie sind ziemlich jung, werden für den Rest Ihres Lebens in der City wohnen«, sagte er. »Jugend hat einen Vorteil. Man ist anpassungsfähig. Halten Sie sich für flexibel?«

»Sir?« Sandra blinzelte verwirrt. Was sollte das bedeuten?

Duncan gab seinem Kollegen einen weiteren Wink. Diesmal war es ein Becher mit einem Zehntelliter Wasser, den er Sandra in die Hand drückte.

»Ich fühle mich nicht mehr durstig«, wehrte sie ab.

Ein beinahe gehässiges Grinsen huschte über das Gesicht des alten Mannes. Der andere Beamte trat an seine Seite. Aufmerksam wurde Sandra von vier Augen beobachtet. Anscheinend ein Test. Sollte sie den Becher nun trinken oder sich weigern? Was wurde von ihr erwartet?

»Ausschütten, auf den Boden!«, forderte Duncan.

Die Kehle Sandras schnürte sich ein, sie spürte das Klopfen des Herzens bis zum Hals. Auskippen? Mit der linken Hand krallte sie sich an der Stuhllehne fest. Ein kalter Schauer jagte über den Rücken. Die Trockenheit im Mund kehrte zurück.

»Aber, Sir, das ist eine große Menge Wasser …«

»Was wissen Sie über das Gehorchen?«

Es war die Pflicht eines jeden Bürgers. Besonders die Autorität der City-Bewohner durfte nie infrage gestellt werden. In diesen Zeiten der Wassernot stellte ihre aufopferungsvolle Regierungsarbeit die Grundlage des Überlebens dar. Trotzdem fühlte Sandra einen starken inneren Widerwillen, das Wasser auf den Boden zu schütten. Ein Zehntelliter, damit konnte man so unglaublich viel machen.

»Sir, bitte, wenn Sie meinen Gehorsam testen wollen, dann auf einem anderen Weg.« Ihr kam spontan ein Gedanke. Dessen Konsequenzen fürchtete sie zwar ebenfalls, doch es erschien ihr immer noch besser, als kostbares Wasser zu verschwenden. »Ich kann gerne schöne Dinge für Sie tun. Ich bin ein junges Mädchen, vielleicht fällt Ihnen dazu etwas ein.«

»Auskippen!«

Duncans Stimme klang eisig. Auch sein Kollege machte keine Anstalten, Sandras Alternativangebot zu akzeptieren. Zittrig streckte sie den rechten Arm aus, schloss aber die Augen, als das Wasser auf den Boden klatschte. Sie hörte nur das Geräusch, spürte die Feuchtigkeit.

Was für eine brutale Verschwendung! Dieser Gehorsamkeitstest brachte sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Sandra verschränkte die Arme vor der Brust. Die Beamten sollten das Zittern nicht sehen. Sie vermutete, dass ihr Gesicht inzwischen bleich wie ein Leichentuch geworden war.

»Es gibt wichtige Gründe für die Kontaktsperre, das merken Sie bald.« Duncan machte auf sie einen zufriedenen Eindruck. »Ein kleiner Tipp von einem erfahrenen Einwanderungsbeamten: Befolgen Sie streng alle Gesetze. Kein Kontakt zu Ihrer Familie. Sonst wirft man Sie in den Konverter und zapft die Körperflüssigkeit ab.«

Sandra fröstelte. Tote kamen in den Konverter. Das Wasser gehörte der Gemeinschaft, der Körper konnte als Dünger dienen. Selbst im Tod machte man sich so für sein Volk nützlich. Was sollte diese Drohung? Es gab keine Todesstrafe mehr, seit Jahrhunderten.

»Fahr sie zur Familie Hathaway!«

»Sollen wir das Psychoteam vorwarnen?«, erkundigte sich der angesprochene Kollege.

»Sie ist jung. Junge Gehirne sind anpassungsfähig.«

»Na ja. Ich erinnere mich an die Brünette …«

Der grauhaarige Beamte hieb mit der Faust auf die Sessellehne.

»Hathaway!«

Die Worte von Duncan noch im Ohr ging Sandra wie in Trance aus dem Zimmer. Der Mann packte sie am Arm, führte sie zum Aufzug, der in einer Garagenanlage endete. Wenig später fuhr der Wachmann sie mit einem Elektrowagen nach draußen. Sandra presste das Gesicht an die Scheibe. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie die City. Sie lag in einem geschützten Tal, die Berge ringsherum versperrten jeden Blick. Niemand aus den Suburbs wusste, wie es dort aussah. Der einzige Zugang führte durch einen langen Tunnel, mit vielen Wachen, Ausweiskontrollen. Es gab immer nur eine Richtung. Mancher mit guten Noten durfte einen Job in der City annehmen, doch nie kehrte jemand zurück.

Irritiert registrierte Sandra die kleinen Bungalows, welche sich am Straßenrand in die hügelige Landschaft schmiegten. Hochhäuser schien es keine zu geben. Dann schüttelte sie den Kopf angesichts der lächerlichen Gedanken. Natürlich mussten die Bewohner der City anders wohnen. Sie brauchten Ruhe, um sich der anstrengenden Regierungsarbeit widmen zu können. Das erreichte man bestimmt besser mit kleinen, abgeschiedenen Wohnungen. Die Hochhäuser hingegen waren alle so hellhörig. Jeden Streit der Nachbarn oder deren intimste Momente bekam man mit. Dafür hatte Sandra immer das Gefühl gehabt, Teil einer gigantischen Familie zu sein.

Zwischen den Häusern standen seltsame Gebilde in regelmäßigen Abständen. Es dauerte einige Zeit, bis Sandra sie als Bäume erkannte. Sie sahen unterschiedlich aus, es gab kleine und große, und auch welche mit vielen Ästen. Merkwürdig, im Vergleich zu den normierten Kunstbäumen in den Suburbs. Hatten die hier eine andere Fabrik? Sandra überlegte. Möglich wäre es. Bestimmt bekam die City Sonderwünsche erfüllt, durfte verschiedene Plastikkonstruktionen wählen. Es hatte Sinn, Tausende Kunstbäume nach einheitlichem Schema und die wenigen für die City individuell zu produzieren.

Um die Bäume herum erkannte Sandra Leute, anscheinend vertieft in Gespräche. Manche lagen einfach nur auf dem Boden, kaum bekleidet, im grellen Sonnenlicht.

»Wieso ist das nicht verboten?«, fragte sie verwirrt.

»Was?«

»Das Liegen in der Sonne. Der Körper verbraucht zu viel Wasser. Es verdunstet unnütz und kann der Gemeinschaft …«

»Schätzchen, halt die Klappe!«

Sandra kniff den Mund zusammen. Weshalb durfte sie keine sinnvollen Fragen stellen? Unsicher setzte sie ihre Beobachtungen fort. Irgendwann würde sie herausfinden, was es mit diesen komischen Bäumen und den halb nackten Leuten auf sich hatte.

Die Reihe der Bungalows zog sich beinahe endlos hin. Sie wiesen keinen einheitlichen Baustil auf. Jede Familie hatte anscheinend die Möglichkeit, persönliche Varianten der Bebauung zu wählen. Es gab stets große Fenster zur Südseite. Fast jedes Gebäude besaß eine eigene Auffahrt für die Elektroautos. Zwischen Häusern und Straße erkannte Sandra überall eine ausgedehnte grüne Fläche. War das Rasen? Sie schüttelte den Kopf. Höchstens ein Plastikimitat. Die Bewässerung allein würde Unmengen an Wasser verbrauchen. Zur Ablenkung von der Langeweile führte sie in Gedanken einige Berechnungen durch und kam zum gleichen Schluss. Es war unmöglich.

Der Wagen stoppte an einem Bungalow, die Glashaube über den Sitzen glitt zur Seite. Eine frische und feucht riechende Brise wehte Sandra ins Gesicht. Sie sog die Luft tief in die Nase ein. Der Duft nach Blumen lag darin, ganz anders als daheim. Dort roch es nur nach Plastik und den Reinigungschemikalien der Kleidung. Die Notwendigkeit der Absorption unerwünschter Körperbakterien, verbunden mit dem Speichern des verdunstenden Wassers hatte seinen Preis. Irgendwann nahm alles den Geruch der Chemikalien an, sogar das Essen. Dafür erbrachten die Kleider im Konverter am Abend dringend benötigtes zusätzliches Wasser. Sandra schmunzelte, als sie sich daran erinnerte. Der Abendgruß, so hieß der Vorgang inoffiziell. Die Familie versammelte sich um die Maschine und jeder durfte trinken. Es war herrlich, man schwatzte fröhlich und ausgeglichen, denn die Zunge klebte nicht am Gaumen. Es war stets eine wunderbare Einstimmung für die Nacht gewesen.

Der Polizist packte sie wieder am Arm, schob sie die Auffahrt nach oben. Sandra betrachtete die grüne Fläche. Sie roch genauso erdig wie die vor dem Einwanderungsbüro. Insekten summten herum, ließen sich auf kleinen Blühpflanzen nieder, die büschelartig inmitten des Rasens wuchsen. Rote und gelbe Blütenblätter zeigten den Besuchern ihren Glanz. Die Luft in der Nähe der Pflanzen schien zu vibrieren vor Kraft. Das Brummen der Insekten drang immer lauter in Sandras Ohren.

Die Türklingel ertönte melodisch. Die Tür selbst bestand aus bunten Glasscheiben, die einen Blick in das Innere ermöglichten. Sandra bemerkte einen dunklen Boden aus braunen Brettern. Anscheinend ein Holzimitat, wie damals in der Schule. Polstermöbel standen säuberlich angeordnet um einen großen Bildschirm. Wieder drückte der Polizist die Klingel, doch niemand kam.

»Das gibt es doch nicht, der Termin steht bereits lange fest.«

»Sir, vielleicht können wir später …«

»Geschenkt!« Unwirsch betätigte er erneut den Knopf. Endlich erschien eine kleine Gestalt, öffnete. Das konnte nur Jenny sein, die dreizehnjährige Tochter ihrer zukünftigen Chefin. Sandra erschrak nicht beim Anblick des Mädchens, der vielen Sommersprossen in deren Gesicht oder des weißen Bademantels, den sie um den Körper geschlungen hatte. Nein, was sie entsetzte, war das blonde Haar des Kindes, es tropfte vor Nässe! Was für eine Verschwendung!

»Sandra Hill, deine zukünftige Gouvernante. Hiermit abgeliefert. Wo ist deine Mutter?«

»Im Büro, die Besprechung dauert länger. Sie können die Neue bei mir lassen, hat sie gesagt.«

Der Polizist gab eine Art Grunzen von sich und verschwand grußlos. Sandra huschte in die Wohnung. Sie roch anders, nicht nach Plastik oder Chemikalien. Eine Spur Blumenduft, vermengt mit Gras, lag in der Luft. Auch schien keine Klimaanlage zu laufen, die Temperatur war höchstens wenige Grade tiefer als außerhalb. Achtete niemand auf das Hitzeproblem? Je heißer die Umgebung, umso mehr Wasser verlor der Körper. Sandra spürte steigende Verwirrung, beschloss aber, ihren Einstand so gut wie möglich zu machen. Das arme Mädchen hatte tropfnasse Haare. Etwas musste geschehen. Zeit, das Gelernte im Fach Wassermanagement in die Tat umzusetzen.

»Wo liegen in eurer Wohnung die Kondenstücher? Wir müssen das Wasser aufsaugen und in den Konverter geben.«

Auf Sandra fiel ein langer Blick aus zwei großen blauen Augen. Jennys Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Sandra bemerkte erstmals feuchte Stellen am Bademantel. Die Abwesenheit der Mutter wurde offensichtlich für allerlei Unsinn genutzt, beispielsweise gigantische Wasserverschwendung.

»Das Wasser in deinen Haaren«, sagte Sandra. »Es wird verdunsten, man muss es auffangen.«

»Hä? Natürlich verdunstet es bei der Hitze. Das weiß doch jeder.«

Sandra blinzelte, als sie das spöttische Grinsen bemerkte. Hielt Jenny sie etwa für beschränkt?

»Komm erst mal nach draußen«, meinte das Mädchen und rannte davon. Sandra sah die Abdrücke ihrer kleinen Füße auf dem Boden. Nässe! Sie hinterließ nasse Spuren! Entsetzt lief sie Jenny hinterher. In dem Haushalt wurde es Zeit für eine ordnende Hand. Mit dem Wasserverlust hätte man einen Menschen einen ganzen Tag lang versorgen können.

Die Sonne blendete Sandra, als sie das Gebäude verließ. Ihre Füße traten in etwas Weiches, das nachgab. Irritiert blieb sie stehen. Um sie herum wuchs Gras. Ungläubig kniete Sandra sich hin, strich mit den Fingern darüber. Das gleiche zarte Gefühl, kein Zweifel. Das Gras bedeckte eine riesige Fläche, größer als das Haus selbst. Es endete erst an der hohen Mauer, die den Bungalow umgab. In der Mitte erkannte Sandra ein großes Rechteck, das blausilbrig schimmerte. Sie runzelte die Stirn. Was war das? Jenny konnte sie nirgendwo erblicken. Hatte die Kleine sich versteckt?

Um die schimmernde Fläche herum wuchs kein Gras, es existierte eine gepflasterte Ebene. Auf ihr standen Plastikstühle, ein Tisch und mehrere Dinge, die wie Liegen aussahen. Die fremdartige Zone funkelte im Licht der Sonne, der Wind trug Feuchtigkeit zu Sandra herüber. Auch schien die leichte Brise in der Lage zu sein, die Fläche zu bewegen. Es klatschte leise, wenn das blaue Zeug gegen das Pflaster schlug.

Vorsichtig näherte Sandra sich dem Unbekannten. Die Feuchtigkeit wurde intensiver, mit jedem Zentimeter. Es schnürte ihr die Kehle zusammen, trotzdem zwang Sandra ihre Beine dazu, weiterzugehen. Schritt für Schritt.

Langsam erkannte sie mehr. Das blaue Leuchten kam vom Innern einer Grube, rechteckige Kacheln spiegelten das Licht. Die Grube hatte gigantische Ausmaße, mindestens zehn Körperlängen in die eine und etwa drei in die andere Richtung. Das komische Zeugs darin strahlte blau durch die Einwirkung der Kacheln und silbern vom Sonnenlicht. Vorsichtig blieb Sandra am Rand stehen. Etwas schwamm darin, es sah aus wie eine tote Fliege. War diese Substanz gefährlich? Aber was konnte es sein?

Die Erkenntnis ließ Sandra erbleichen. Sie schlug die Hände vor den Mund. Wasser! Die Grube enthielt eine unglaublich große Menge Wasser. Ein Speicher! Es musste ein Speicher sein. Wahrscheinlich der Vorrat für ein ganzes Jahr. In Sandras Kopf überschlugen sich die Gedanken. Jenny, das dumme Ding, setzte es der Hitze der Sonne aus. Die Verdunstung erreichte ein nicht tolerierbares Niveau. Als Gouvernante war es ihre Pflicht, das Vermögen der Gastfamilie zu schützen. Eine Plane, sie brauchte dringend eine Plane!

Sandra wollte sich umdrehen, sah aus den Augenwinkeln nur einen Schatten. Dann traf sie ein Stoß in den Rücken, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Grube.

Die Nässe war unglaublich kalt, das spürte Sandra zuerst. Es war eine Kälte, die rasch durch die Kleider drang, bis auf die Haut. Sie strampelte mit den Beinen, fand rettenden Boden und streckte den Körper. Prustend kam sie an die Oberfläche, ihre Haare hingen wirr ins Gesicht. Die Grube war nicht so tief wie erwartet, sie konnte stehen.

Am Rand bog sich Jenny vor Lachen und hielt sich den Bauch fest. Sie hatte den Bademantel abgelegt, darunter trug sie einen kurzen Slip und einen lila BH. Bevor Sandra reagieren konnte, rannte das Mädchen auf sie zu, sprang hoch und klatschte hinter ihr ins Wasser. Große Fontänen spritzten auf, fielen auf Sandra, benetzten den steinernen Rand und das Gras.

Sandra fühlte das Blut aus ihrem Gesicht weichen. Verloren! Es musste mindestens ein halber Liter Wasser sein, der soeben nutzlos ins Nichts entwichen war.

»Wie konntest du das tun?«, schrie sie Jenny an. »Das Wasser ist versickert, vernichtet für die Nutzung durch Menschen. Du hast deiner Familie einen großen Schaden zugefügt.«

Jenny bekam erneut diesen merkwürdigen fragenden Gesichtsausdruck. Sie tauchte unter und kam direkt neben Sandra an die Oberfläche.

»Was faselst du da?«

Mühsam erklärte sie Jenny die Zusammenhänge, den Verlust des Wassers, die schrecklichen Auswirkungen auf das Vermögen ihrer Familie.

»Okay, das Wasser verdunstet oder versickert. Wo ist das Problem?«

Sandra rollte mit den Augen. Was für ein dummes Kind! In der City schien man entweder wenig zu lernen oder das arme Kind hatte einen geistigen Schaden. Vielleicht hatte ihre Mutter deswegen eine Gouvernante engagiert. Jennys Intelligenzquotient erreichte bestimmt nur ein weit unterdurchschnittliches Niveau.

»Es zu ersetzen ist das Problem!«, erklärte Sandra in belehrendem Ton.

Jenny lachte, tauchte erneut unter und kam auf der anderen Seite der Grube wieder hoch. Sie öffnete einen mit dem Mauerwerk verbundenen Kasten, langte mit den Fingern hinein. Irgendwo ertönte zuerst ein Grollen, wie Eisenräder, die auf einem Betonboden entlangschrammten. In der Mitte der Grube stieg eine Blase auf, zerplatzte mit Getöse. Kurz darauf schoss eine Wasserfontäne nach oben, dick wie der Oberschenkel eines Mannes. Sie erreichte eine Höhe von etwa drei Metern, fiel dort in sich zusammen und verteilte das kühle Nass über die ganze Fläche der Grube.

»Wenn der Pool Nachschub braucht, schaltet man einfach die Zufuhr an«, rief Jenny gegen den Lärm des Wassers herüber.

Pool? Was ist ein Pool? Sandra grübelte erst über das unbekannte Wort, dann registrierte ihr Verstand die Fontäne. Gellend schrie sie Jenny an, sie abzustellen. Das Mädchen gehorchte.

Erleichtert lehnte Sandra sich an die Wand der Grube, schloss die Augen. Was sollte sie tun? Dieses idiotische Kind verschwendete kostbares Wasser mit einer Inbrunst, die durch Mark und Bein ging. Sandra fühlte ein Zittern am ganzen Körper. Die Kälte des Wassers drang immer tiefer ein. Nur der Kopf wurde angenehm von der Sonne erwärmt. Das brachte sie auf ein weiteres Problem. Auch über ihre Haare verdunsteten in dem Moment unglaubliche Mengen an Wasser. Sie musste aus der Grube, doch die Kleider trieften vor Nässe. Es würde auf den Boden tropfen, im Nichts verschwinden. Entsetzt erkannte Sandra, dass sämtliche Handlungsalternativen zur Vernichtung von Wasser führen würden.

»Mami hat schon gesagt, dass du komisch sein würdest«, meinte Jenny. »Aber du übertriffst meine Vorstellungen.«

Sandra strich mit den Händen die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Wasserverschwendung überall! Was sollte sie tun?

»Du spielst leichtfertig mit dem Vermögen deiner Familie! Wieso bist du überhaupt in dem Vorratsspeicher?«

»Was für ein Speicher?«

»Diese Grube! Sie enthält gigantische Mengen Wasser. Man darf nicht einfach darin eintauchen.«

Jenny sah sie an, als wäre sie das Dummerchen. Nur mühevoll hielt Sandra ihre Emotionen im Zaum. Man sollte das Mädchen hart bestrafen!

»Es ist ein Pool! Natürlich ist darin Wasser. Ich bin jeden Tag drinnen, es kühlt herrlich ab. Du bist ganz schön komisch.« Jenny glitt mit dem Rücken über das kostbare Nass, ruderte mit den Armen. »Warum schwimmst du nicht auch?«

»Was ist ›schwimmen‹? Ich kenne kein solches Wort.«

Jenny brach in schallendes Gelächter aus, legte die Strecke bis zum Rand in wenigen Sekunden zurück und hüpfte aus der Grube. Sie setzte sich auf die Steine. Sandra sah die Wassertropfen. Sie rannen das Gesicht des Mädchens herunter, bildeten ein Rinnsal am Kinn, welches sich am Hals verstärkte. Zum Schluss verschwand es im Gras. Sandra schnürte es die Kehle zu. Waren denn alle verrückt geworden?

Laute Schritte rissen sie aus den Gedanken. Eine Frau in einem eleganten schwarzen Kleid kam aus dem Haus, legte eine Aktenmappe auf den nächstbesten Stuhl. Das musste Mistress Hathaway sein, die Diplomatin.

Sandra schluckte nervös. Das Desaster war vollkommen. Der erste Tag im neuen Job und die vernichtete Wassermenge erreichte bereits astronomische Ausmaße.

»Du bist Sandra Hill?« Der Ton klang unerwartet freundlich, nur mit einer Spur Distanz. Die Frau hatte die Haarfarbe mit Jenny gemeinsam. Lediglich die Augen blickten forschend.

»Ich habe sie reingeworfen«, prahlte die Tochter sofort. »Sie ist wirklich komisch, redet dauernd von Wasser.«

»Okay, gib ihr Zeit zum Eingewöhnen.« Sie beorderte Jenny ins Haus, um einen Bademantel zu holen. Als Nächstes musste Sandra die Grube verlassen, sich komplett ausziehen und den Mantel überstreifen.

»Es tut mir leid, dass der Übergang so krass gewesen ist«, sagte die Diplomatin, ohne den Blick von Sandra zu lassen. Merkwürdigerweise verlor sie kein Wort über die Wasservernichtung. Es schien ihr völlig egal zu sein. »Ich wurde unerwartet aufgehalten. Dein Zimmer liegt im Erdgeschoss, direkt neben dem von Jenny. Da ich meistens unterwegs bin, brauche ich jemanden, der das Haus in Ordnung hält und die kleine Hexe bändigen kann.«

Sandra schluckte. Das war schon mal gründlich schiefgegangen. »Ma’am, das Wasser …«

»Der Job ist schwer, er erfordert größere Umgewöhnungen«, fuhr die Hausherrin fort, ohne auf den Einwand einzugehen. »Ich heiße Helen, du darfst mich ruhig so ansprechen, das erleichtert viel. Die City ist anders, es ist eine Menge anders. Bei allem, was dir vielleicht durch den Kopf schießen wird, solltest du nur an deine Familie denken.«

Das dürfte kein Problem sein. Sie folgte Helen ins Gebäude, beobachtete mit steigendem Entsetzen die feuchten Fußtritte, die sie verursachte. Doch die Diplomatin ignorierte es. Sie öffnete die Tür in ein kleines Zimmer. Es sah unerwartet gut aus, enthielt ein breites Bett, das für zwei Personen reichen würde, einen mit Kleidern gefüllten Schrank und vor allem roch es wie das ganze Haus: nach einem Hauch Blumen.

»Deine Familie bekommt nur so lange eine höhere Wasserversorgung, wie ich mit deiner Arbeit zufrieden bin. Ist das klar?«

Sandra nickte automatisch, bekam jedoch einen kritischen Blick zugeworfen.

»Ist das wirklich klar?«

»Selbstverständlich.«

Helen atmete tief ein, forderte sie dazu auf, sich auf das Bett zu setzen. Wasser tropfte vom Kopf auf den Bademantel, wurde vom Stoff aufgesogen.

»Zuerst Folgendes: Vergiss alles, was man dir über den Umgang mit Wasser beigebracht hat!«

Sandra klappte der Unterkiefer herunter. Was wollte diese Frau?

»Das da draußen ist ein Swimmingpool. Man springt hinein, das Wasser verdunstet, doch das ist unwichtig!«

»Aber …«

»Unwichtig!« Helen wedelte mit dem Zeigefinger. »Das Trinkwasser ist nicht rationiert, du darfst ebenfalls aus unseren Vorräten an diversen Obstsäften so viel trinken, wie du möchtest.«

»Äh … ich verstehe irgendwie, also …«, stotterte Sandra.

Die Diplomatin stand auf, öffnete eine weitere Tür, die in ein Badezimmer führte. Es enthielt neben der üblichen Ausstattung einen komischen viereckigen Kasten mit durchsichtigen Wänden. Helen schob eine Wand zur Seite und winkte. Vorsichtig tippelte Sandra zu ihr. Eine ebenfalls rechteckige Schüssel am Boden gab ihr Rätsel auf, ebenso die Geräte am Mauerwerk. Als Helen eines berührte, schoss ein fein gebündelter Wasserstrahl aus einer Düse.

»Wir waschen uns in der City nicht mit Tüchern. Das ist eine Dusche, man macht sich nass, streicht Seife auf den Körper und wäscht danach alles mit Wasser ab.«

»Das ist ein Witz!«, entfuhr es Sandra. Diese Dusche gab weiterhin große Menge der kostbaren Flüssigkeit ab. Sie verschwand in einem Loch am tiefsten Ende der Schüssel. Helen tat nichts dagegen. Sandra starrte den Vorgang ungläubig an, das Zittern am ganzen Körper wurde stärker, der dicke Kloß im Hals kam zurück.

»Bitte! Stoppen Sie das! Es soll aufhören!«

»Nein!«

Sandras Unterkiefer zitterte, die Zähne schlugen laut aufeinander. Kalte Schauer jagten über die Haut, stellten die Haare in die Höhe. In den Beinen trat ein komisches Gefühl auf, wie nach einer langen Wegstrecke. Sie musste sich festhalten, die Umgebung begann zu schwanken.

Immer noch liefen unglaubliche Mengen Wasser in der Dusche.

»Bitte! Es soll aufhören, es ist eine Verschwendung!«

»Es ist unwichtig!«

Was hatte Helen gesagt? Die Worte drangen nur dumpf zu Sandra hindurch. Sie starrte auf das Wasser, es verschwand in dem kleinen, dunklen Loch. Verloren, einfach verloren! Sandra schrie auf, stürzte zur Dusche hin, bedeckte die Öffnung mit ihren Fingern. Aber es gab nur einen minimalen Rückstau. Warum konnte sie es nicht verhindern?

»Wir betreiben kein Wassermanagement!«

Helen verstärkte den Wasserfluss. Sandra presste die Finger in die Öffnung, bis sie weiß anliefen. Das Wasser floss davon, einfach so.

»Sieh mich an!«

Sandra ignorierte die Anweisung, schob mit Inbrunst die Finger in den Abfluss. Es musste doch einen Weg geben, eine Möglichkeit, diesen Wahnsinn zu verhindern. Helen zerrte sie mit grober Gewalt weg, der Bademantel rutschte vom Körper, aber Sandra registrierte es nicht.

»Die Grube draußen ist ein Pool, ich schwimme darin, meine Tochter schwimmt darin und du darfst es auch«, erklärte Helen. »Das Wasser dient uns zum Vergnügen.«

Sandra zitterte stärker, die Zähne klapperten in schnellem Stakkato. Hinter ihrem Rücken klatschten Unmengen Wasser auf den Boden, wurden dort von einem schwarzen Loch verschlungen.

Kein Wassermanagement!

Das musste ein finaler Test sein, etwas anderes war doch völlig unmöglich. In den Suburbs gab es trotz der Bedeutung des Wassermanagements nie genug davon, nur wenn es ab und zu einmal regnete. Man lief nach draußen, streckte die Arme in die Höhe. Leider gab es so einen Festtag nur selten.

Helen packte sie mit beiden Händen, für eine Diplomatin besaß sie eine unglaubliche Kraft. Die Frau drückte sie in die Dusche, Sandra fiel auf die Knie. Das Wasser floss angenehm warm über ihren nackten Körper, doch das Frösteln nahm trotzdem zu.

»Es gibt kein Wassermanagement in der City!«

Die Bedeutung der Worte drang erst langsam in Sandras Verstand vor. Dann begriff sie es, es traf sie mit voller Wucht. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, sie stieß einen gellenden Schrei aus, wollte hinaus aus der Dusche, weg von der schier endlosen Menge Wasser, die auf ihre Haut prallte. Helen hielt sie fest. Sandra schrie und hämmerte mit den Fäusten auf die Bodenwanne. Sie schrie, heulte und schrie erneut, bis nur noch ein heiseres Krächzen aus ihrer Kehle kam. Die Stimmbänder versagten, sorgten für eine düstere Stille, die nur vom Rauschen des Wassers unterbrochen wurde. Es lief über ihren Kopf, sammelte sich am Kinn und landete schließlich in dünnen Fäden in der Duschwanne. Sandra rollte sich zusammen und starrte mit leerem Blick auf das kleine schwarze Loch, in welchem das Wasser und ihr bisheriges Leben glucksend verschwanden.

Gard Spirlin: Aus meiner Träne wird ein Fluss

»Ingar und Rana, bitte melden!«

Ari sprach immer drängender in sein Headset. Inzwischen war es ihm fast schon egal, ob sein Signal abgehört werden konnte oder nicht. Er war diesbezüglich nie sicher, obwohl ihm Rana versichert hatte, dass die im allgegenwärtigen Datenstrom des Evernets verborgene Audioverbindung unmöglich aufzuspüren sei. Im Prinzip vertraute er der Hackerin, aber so tief im feindlichen Territorium überkam ihn ein ungutes Gefühl, wenn er den Funk benutzen musste. Zum x-ten Mal starrte er auf das grüne Symbol in seinem Head-up-Display, das ihm den offenen Comlink anzeigte. Er wartete schon viel zu lange vergeblich auf die Bestätigung, dass die beiden erfolgreich den Rückzug angetreten hatten. Das Letzte, was er von ihnen gehört hatte, war Ingars Meldung kurz vor zwei Uhr morgens gewesen: Rana war es gelungen, die Überwachungskameras lahmzulegen. Daraufhin hatten er und Derk das Tor des Wartungstunnels an der Staumauer aufgebrochen und damit begonnen, die Kisten mit dem C4 inmitten der Basis der mächtigen Talsperre aufzustapeln und die Zünder zu installieren. Damit waren die beiden jetzt schon seit über zwanzig Minuten fertig, aber auf ihre entsprechende Meldung an das andere Team hatten sie keine Antwort mehr erhalten.

Ari wechselte einen Blick mit Derk, doch der zuckte nur hilflos die Schultern. Eigentlich müssten sie sich jetzt in Sicherheit bringen und den Sprengstoff zünden, wie es ihr Missionsziel vorschrieb. Allein von ihnen hing es ab, ob ihre Leute in den Lowlands, die von den Bewohnern des Oberlandes nur verächtlich »Duster« genannt wurden, im nächsten Jahr endlich wieder die Chance auf eine normale Ernte haben würden.

Wie die Nilflut im alten Ägypten würde der berstende Staudamm das lebensspendende Nass freigeben, das im viel zu lange brachliegenden Kanalsystem der Tiefebene aufgefangen und verteilt über das Jahr zur Bewässerung genutzt werden würde.

Kollateralschäden im Oberland nahm man vonseiten der Widerstandsbewegung, der Aris Gruppe angehörte, in Kauf. Waren diese doch in deren Augen nur der gerechte Ausgleich dafür, dass Jahr für Jahr Abertausende Duster durch Dürre und Hunger ums Leben kamen. Die Hüter des Wassers, wie sich die Führungseliten des übermächtigen Nescol-Konzerns selbstgefällig nannten, nutzten ihre Macht ohne jeden Skrupel aus. Sie verlangten für die ohnehin viel zu kargen Wasserrationen, die sie den Lowlands zugestanden, überdies auch noch horrende Preise.

Der Konzern, der aus dem Zusammenschluss mehrerer multinationaler Nahrungsmittelgiganten hervorgegangen war, hatte schrittweise die politische Macht an sich gerissen, nachdem er in immer mehr Gebirgsregionen der Welt die Wasserrechte durch Lobbyismus und Korruption okkupiert hatte. Gestützt auf ein Heer von Lohnsklaven und einen privaten Sicherheitsdienst, der in Wahrheit nichts anderes als eine brutale Söldnerarmee war, schützte er seine Territorien militärisch mit brachialer Gewalt.

Dennoch war es Aris kleiner Truppe gelungen, alle Absperrungen zu überwinden und den bei einem Überfall erbeuteten Sprengstoff zu deponieren.

»Zum Teufel, was ist bei euch los? Meldet euch endlich!«

Wieder keine Antwort. Kurz rang Ari noch mit sich, dann stand sein Entschluss fest.

»Ich klettere hinauf und hole sie da raus«, sagte er an Derk gewandt. »Du verschwindest jetzt und schlägst dich nach Hause durch, egal, was hier passiert, hast du verstanden?«

Derk nickte. Wenn Ari in diesem Tonfall sprach, erübrigte sich sowieso jeder Widerspruch. Er drückte seinem Anführer und Freund zum Abschied kurz die Hand und verschwand lautlos wie ein Schatten im Dunkel der Nacht.

Ari steckte den Fernzünder in seine Tasche und hängte sich sein kurzes Sturmgewehr um. Er war sich über seine Motivation für diese Rettungsmission selbst nicht ganz im Klaren. Tatsache war, dass er und Ingar durchaus ersetzbar waren. Bei Derk lag der Fall anders, der Sprengstoffexperte war zu wertvoll, um sein Leben über Gebühr aufs Spiel zu setzen. Und das galt in noch höherem Ausmaß für Rana: In den Lowlands gab es nur sehr wenige Menschen, deren Know-how so unentbehrlich wie das der Hackerin war. Nur mit ihrer Hilfe hatten sie überhaupt bis hierher vordringen können. Er versuchte, sich einzureden, dass allein dieser Umstand zu seiner Entscheidung geführt hatte. Insgeheim wusste er aber ganz genau, dass er die kahl geschorene junge Frau, deren zierlicher Figur man ihre Zähigkeit überhaupt nicht ansah, auf keinen Fall zurückgelassen hätte. Dazu liebte er ihr breites Lachen viel zu sehr.

Die Felswand an der linken Seite der Staumauer war steil, aber nicht unüberwindbar. Immerhin waren auch die beiden anderen hier hochgeklettert. Leider hatte Ari vergessen oder vielmehr verdrängt, dass Ingar ein geübter Kletterer war, der mit Ranas Fliegengewicht am Seil hinter sich wahrscheinlich keine Probleme auf dieser Route gehabt hatte. Zum Glück hatte Ari wenigstens genug Licht für den Aufstieg: Das Logo der Nescol, eine stilisierte weiße Welle auf blauem Grund, wurde riesenhaft vergrößert auf die Staumauer projiziert. Das Streulicht dieser kilometerweit sichtbaren Machtdemonstration war ausreichend hell, sodass Ari seinen Weg die Felswand hinauf gut erkennen konnte. Allerdings sah er dadurch auch, wie tief er hinunterstürzen würde, wenn er nur einen einzigen Augenblick lang unachtsam wäre.

Eine Zeit lang ging es ganz gut voran, aber im oberen Drittel der Wand wurden die sicheren Griffe und Tritte immer seltener und der Fels immer steiler. An einer Stelle, wo der raue Kalkstein einen Überhang bildete, sah er keine andere Möglichkeit mehr, als sich an einem Stück Wurzelgeflecht hochzuziehen, das vom darüber liegenden Felsabsatz herunterhing. Doch selbst hier in den Bergen, wo die immer spärlicheren Regenwolken noch hin und wieder zu Niederschlag kondensierten, war das Wurzelwerk dürr und ausgetrocknet. Gerade als er sich zum Absatz hochziehen wollte, gab das Geflecht ruckartig nach. Panisch griff Ari mit der anderen Hand nach einem zweiten Wurzelstrang, doch auch dieser begann, sich aus seiner Verankerung im spärlichen Erdreich zu lösen. Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung katapultierte er sich nach oben und bekam gerade noch eine dickere Wurzel zu fassen. Keuchend verharrte er bewegungslos und wartete darauf, ob auch diese auszureißen drohte. Doch zu seiner unendlichen Erleichterung hielt sie seinem Gewicht stand. Mit letzter Kraft zog er sich ächzend auf den Absatz hinauf und ließ sich neben der verkrüppelten Kiefer fallen, deren Wurzel ihm in seiner Not Halt gegeben hatte. Aber zu einer langen Verschnaufpause war keine Zeit, bald würde die Morgendämmerung beginnen. Er zwang seine zitternden Muskeln zum Gehorsam und zog sich an der dürren Travestie eines Baumes wieder auf die Beine.

Der weitere Weg hinauf war zum Glück einfacher zu begehen, aber zum Ausgleich musste er dafür darauf achten, von keiner Patrouille entdeckt zu werden. Behutsam, die Waffe schussbereit, wagte sich Ari weiter vor. Doch alles blieb ruhig und so sah er sich kurz darauf einem etwa drei Meter hohen Stacheldrahtzaun gegenüber, der von grellen Scheinwerfern beleuchtet war. Links und rechts konnte er in einiger Entfernung Kameras auf Zaunpfosten montiert sehen, doch keine schwenkte in seine Richtung. Rana hatte offenbar gute Arbeit geleistet und die Überwachungskameras deaktiviert. Direkt vor sich sah er das Loch, das Ingar in den Zaun geschnitten hatte. Durch dieses waren die beiden zur Überwachungszentrale am Beginn der Mauerkrone geschlüpft, um auch die Kameras zu sabotieren, die die Staumauer im Blick behielten. Noch immer war alles ruhig, aber Ari bekam mehr und mehr das ungute Gefühl, dass diese Ruhe trog. Das gähnende Loch im Zaun, die Abwesenheit von Sicherheitspersonal, das Schweigen am Funk – all das roch überdeutlich nach einer Falle. Dennoch hatte er letztendlich keine Wahl: Der einzige Weg zu seinen Kameraden führte durch die Lücke in der Absperrung. Er biss die Zähne zusammen und holte tief Luft. Dann sprintete er über die hell erleuchtete Fläche geduckt zum Zaun, hechtete durch das Loch, rollte sich geschickt ab und rannte sofort Haken schlagend weiter. Er erwartete jeden Moment, von einer Kugel getroffen zu werden, aber wieder blieb alles ruhig, als er im Schatten der Überwachungszentrale in Deckung ging.

Der Grund dafür wurde ihm sofort klar, als er vorsichtig um die Ecke des Gebäudes in Richtung Staumauer blickte: Umringt von vier Sicherheitsleuten in schwerer Ausrüstung standen Ingar und Rana im Scheinwerferlicht auf der Mauerkrone. Einer ihrer Bewacher, offenbar der Anführer, winkte mit seinem Gewehr auffordernd zu Ari herüber. Die anderen hatten ihre Waffen drohend auf die beiden Gefangenen gerichtet. Diese Situation war unmöglich misszuverstehen. Durch zusammengebissene Zähne fluchend trat er hinter der Ecke hervor, legte sein Gewehr mit sehr vorsichtigen Bewegungen auf dem Boden ab, hob die Hände über den Kopf und begann langsam auf die Gruppe zuzugehen.

»Na, was haben wir denn da? Noch so einen beschissenen Duster-Terroristen!«, höhnte der Anführer, als Ari in etwa zehn Meter Entfernung stehen blieb.

»Wolltest wohl dein Liebchen retten – oder vielleicht doch eher deinen schwulen Freund?«

Ari schwieg. Er wusste, dass der Söldner nur auf einen Vorwand wartete, ihn zu erschießen, das konnte er in seinen Augen lesen. Und es würde ihm Spaß machen. Der Kerl war genau der Typ, der andere zu seinem Vergnügen quälte und tötete. Er musterte die anderen Sicherheitsleute, doch diese waren alle vom gleichen Schlag. Davon zeugte auch das Gesicht von Ingar, das übel zugerichtet war. Rana hingegen hatten sie bisher offensichtlich verschont, Ari konnte nur vermuten, dass sie die junge Frau für einen ganz anderen Zweck aufsparen wollten. Doch das würde er nicht zulassen.

»Was ist, hat es dir die Sprache verschlagen? Aber vielleicht kannst du ja gar nicht sprechen, ihr Affen aus der Tiefebene habt es wahrscheinlich nicht von eurer Affenmutter gelernt!«

Nein, du Arsch, meine Mutter ist von einem von euch ermordet worden, als sie für mich und meine kleine Schwester Wasser stehlen war, dachte Ari verbittert. Aber das war jetzt egal, er musste versuchen, zumindest Rana hier herauszukriegen. Er musterte Ingar und sah, dass seine von brutalen Schlägen aufgeplatzten Lippen lautlos Worte formten: »Rette sie!«

Er ahnte, was er vorhatte, und nickte ihm unmerklich zu.

»Meine Mutter hatte tatsächlich keine Zeit, mir das Sprechen beizubringen. Sie musste nämlich die Nachgeburt großziehen. Leider war diese undankbar und ist abgehauen. Jetzt steht sie gerade auf einer Staumauer und labert wirres Zeug.«

Ari sah das bösartige Aufleuchten in den Augen des Anführers, als dieser wild das Gewehr hochriss und auf ihn anlegte. Er warf sich zur Seite und der die Nacht zerreißende Schuss verfehlte ihn nur um Haaresbreite. In diesem Moment, da alle Aufmerksamkeit abgelenkt war, handelte Ingar. Er wirbelte herum, entriss dem ihm am nächsten stehenden Wachmann blitzschnell das Gewehr und schlug ihm brutal den Kolben ins Gesicht. Dann legte er auf die Wache hinter Rana an, doch bevor er noch abdrücken konnte, bellte ein weiterer Schuss aus der Waffe des Anführers und streckte ihn nieder. Dieser hatte sofort reagiert, als er hinter sich den Tumult hörte. Womit er allerdings nicht rechnete, war die Pistolenkugel, die ihn aus Aris im Hosenbund versteckter Waffe in den Hinterkopf traf.

Rana startete durch und sprintete auf Ari zu. Fast hätte es geklappt.

Ari schoss wie wild weiter, doch gegen die automatischen Waffen der beiden verbliebenen Söldner hatte er keine Chance. Sie bestrichen die ganze Breite der Mauerkrone mit einem mörderischen Dauerfeuer, dem nichts und niemand entkommen konnte. Rana fiel, von mehreren Projektilen in den Rücken getroffen zu Boden und blieb zuckend liegen. Auch Ari taumelte unter dem Einschlag unzähliger Kugeln in seiner Brust nach hinten und brach zusammen. Hart schlug er mit seinem Kopf auf dem rissigen Beton der Staumauer auf.

Seltsam, er spürte gar keinen Schmerz. Eine tiefe Ruhe umfing ihn. Seitlich liegend konnte er Rana sehen, die ihm das Gesicht zugewandt hatte. Sie atmete noch, aber das Leben rann in einem stetigen Strom aus ihr heraus und bildete eine große Lache um sie herum. Ari spürte, wie ihm das Bewusstsein zu schwinden begann. Er fasste in seine Tasche. Seine Augen suchten noch einmal Ranas Gesicht. Schade, es hätte so schön werden können, dachte er. Ranas Lippen flüsterten. Er konnte es nicht hören, aber er wusste, was sie sagte. Tu es!, las er in ihrem Blick. Dann lächelte sie ihm zu, während ihre Augen brachen.

Es würde ein gutes Jahr werden. Er sah die goldenen Ähren sich im Winde wiegen wie ein Meer. Er sah Kinder aus einem Brunnen trinken und lachend davonlaufen. Er freute sich darauf. Seine Mutter rief ihn ins Haus. Eine Sache noch, Mutter, antwortete er. Ich komme gleich! Dann drückte er den Zünder.